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Eine neue Form der Trauerkultur
Sterben, Tod und Trauer gehören ebenso zum natürlichen Lebensbogen eines jeden Menschen wie die Freude über Liebe, Heirat und Geburt.
Die engagierten Bestatter Nicole Rinder und Florian Rauch bieten in ihrem Praxis-Ratgeber neue ganzheitliche Ansätze, um die Zeit der Trauer individuell zu gestalten. Durch heilsame Rituale, zahlreiche Praxisbeispiele und einen Serviceteil bietet dieser vierfarbig bebilderte Trauerbegleiter auf vielseitige Weise Rat und Trost in schwerer Zeit. Dieses Buch wurde geschrieben für Angehörige, Trauerbegleiter und Menschen, deren Tod bevorsteht und die ihr »letztes Fest« aktiv mitgestalten möchten.
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Seitenzahl: 244
NICOLE RINDERFLORIAN RAUCH
DAS LETZTE FEST
NEUE WEGE UND HEILSAME RITUALE IN DER ZEIT DER TRAUER
UNTER MITARBEIT VON STEFAN LINDE
GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Copyright © 2016
Gütersloher Verlagshaus in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstraße 28, 81673 München
Neuausgabe des erstmals 2012 im Irisiana Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, erschienenen Buches der Autoren.
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Layout: Christian M. Weiß, Fürstenfeldbruck
Umschlag: Geviert – Büro für Kommunikationsdesign, München
ISBN 978-3-641-18826-9V001
www.gtvh.de
Inhalt
Vorwort
Worum es uns geht
Leben
Trauer bedeutet Leben
Sprechen wir über Ihren Tod
Leben Sie Ihr Leben
Den Tod einmal ganz persönlich nehmen
Jeder Tag ist ein guter Tag
Trauern
Trauer ist der Weg zur Heilung
Chanten – die heilsame Kraft des Singens
Trauer ist keine Krankheit
Den Schmerz nicht bekämpfen
Weinen ausdrücklich erlaubt!
Trauer hört nie auf – sie verändert sich lediglich
Trauer als Teil des Lebens
Die Zeiten der Trauer
Zeit der Verleugnung
Zeit der Verzweiflung
Zeit der Vereinsamung
Zeit der Vergebung
Zeit der Versöhnung
Anstoß zur aktiven Trauerarbeit
Halt und Orientierung durch Rituale
Wirkung von Ritualen
Ohne Abschied keine heilsame Trauer
Der plötzliche Tod
Sich dem Schicksal stellen
Den Verlust annehmen
Kinder begegnen dem Tod
Von Beginn an dabei
Peter will einen Abschied
Kinder auf den Abschied vorbereiten
Wenn der Abschied unmöglich scheint
Sintflut der Gefühle – Tsunami 2004
Die Gewissheit des Todes – der erste Schritt zum Abschiednehmen
Der Abschied ohne Verstorbenen
Abschied nach langer Ungewissheit
Das Ritual der Kleider
Kleidung bei Kindern
Sich von der Kleidung des Verstorbenen trennen
Die Rituale des Abschieds
Waschen und Anziehen des Verstorbenen
Schmücken des Raums
In Ruhe ankommen lassen
Bemalen des Sarges
Beschreiben des Verstorbenen
Betreten des Raums
Den Tod mit allen Sinnen begreifen
Das letzte Geschenk – Sargbeigaben
Erinnerungen schaffen
Den Sarg schließen
Die Trauerfeier – das letzte Fest
Der Leichenschmaus
Das Grab als Ort der Erinnerung
Wie ich selbst trauern lernte
Die Diagnose – Verleugnung
Ohne Hoffnung – Verzweiflung
Unfähig zu handeln – Vereinsamung
Wichtigste Entscheidung – Vergebung
Das Särglein bemalen – Versöhnung
Begleiten
Warum Trauerbegleitung so wichtig ist
Trauer braucht Zeit
Keine falschen Beschwichtigungen
Reden bedeutet Heilung
Die zweite Stütze – zuhören
Alarmzeichen – wenn Trauer krank macht
Umgang mit den eigenen Gefühlen
Einfache Regeln der Trauerbegleitung
Día de los Muertos
Danksagung
Auswahl hilfreicher Internetadressen
Literaturempfehlungen
Über dieses Buch
Vorwort
Alles im Leben hat seine Zeit: das Geborenwerden und das Sterben, das Weinen und das Lachen. Wir sind Nicole Rinder und Florian Rauch und arbeiten seit 15 Jahren in der Trauerbegleitung für AETAS in München. »Aetas« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Lebensspanne, Zeit des Lebens. AETAS steht für eine neue, moderne Trauerkultur, die den tiefen, heilsamen Sinn des Trauerns zu den Menschen zurückbringen will.
Die für uns sichtbare Lebensspanne hat einen Anfang und ein Ende – unsere Geburt und den Tod. Menschen kommen zu uns, um zu trauern, aber auch um ihr seelisches Wohlbefinden wiederzugewinnen. Wir sind Begleiter für bestimmte Zeiten im Leben eines Menschen. Wir begleiten Menschen in der schwierigsten Übergangssituation, die wir in unserem Leben erfahren können – nach dem Verlust eines geliebten Menschen durch den Tod.
Trauer erfahrbar machen
Wir unterstützen diese Menschen dabei, in der geschützten Atmosphäre unseres Hauses eigene Wege der Trauer zu entdecken und aus der Trauer heraus neue Lebensperspektiven zu finden, die Trauer nicht unterdrücken, sondern erfahrbar machen. Als erfahrene Trauerbegleiter eines Bestattungsunternehmens wissen wir, dass der Tod viele Fragen aufwirft. Deshalb ist es uns sehr wichtig, Raum und Zeit zum Trauern zu schaffen. Bei uns ist jeder willkommen, der sich mit dem Tod auseinandersetzen muss. Es sind Menschen mit »leichten« Verlusten, wie nach dem Tod betagter Eltern, deren Ableben verständlich und vorbereitet war, auch wenn es noch so wehtut. Insbesondere möchten wir mit diesem Buch aber Menschen ansprechen, die von einem sehr schweren Verlust getroffen wurden – Eltern von verstorbenen Kindern oder Menschen, die der Tod eines Angehörigen überrascht hat. Die emotionale Belastung nach diesem Tod eines geliebten Angehörigen ist enorm.
Der Trauer einen Platz geben
Ein plötzlicher Tod macht die Situation noch schrecklicher und unverständlicher. Nicole Rinder hat in den vergangenen Jahren einige Hundert Eltern begleitet, die ein Kind verloren haben. Sie selbst hat dieses Schicksal durchlitten, ein so dramatisches Erlebnis, dass es ihr Leben völlig verändert und in eine neue Bahn geworfen hat. Sie hat sich entschlossen, ihre Geschichte in diesem Buch zu erzählen, als Hilfe für Eltern, als Zeichen, dass sie nicht allein sind – als Hilfe, wie sie mit dieser Situation umgehen können.
Die jahrelange praktische Erfahrung im täglichen Umgang mit Betroffenen gibt uns die Gewissheit, jedem, der zu uns kommt, ein wertvoller Begleiter zu sein. Dieses Buch ist der Abschluss eines Weges, den wir selbst gegangen sind aus der Erkenntnis heraus, dass unsere Trauerkultur sinnentleert geworden ist und völlig neue Impulse braucht. Wir möchten der Trauerkultur wieder einen Platz als natürlicher Teil des Lebens geben und schildern, wie wir Angehörige in ihrem Trauerprozess mit praktischen Übungen unterstützen; damit machen wir viel mehr, als »nur« bestatten.
Das Buch soll Menschen Hilfe bieten, die sich nach einer neuen Orientierung sehnen und nach einer zeitgemäßen Sinngebung suchen, die den Tod wieder fassbarer macht. Es soll Impulse geben, aus dem passiven Erleiden in eine aktive und gestaltende Trauer überzugehen, die uns den Trauerprozess erleichtern kann. Unsere Aufklärung soll Menschen in ihrem Selbstbewusstsein stärken, sich mit ihrer Trauer aktiv auseinanderzusetzen, damit sie ihr Recht auf eine gesunde Trauer einfordern können. Wir möchten das Bewusstsein schaffen, dass auch der Hinterbliebene Rechte hat, auf den Prozess seiner Trauer Einfluss zu nehmen, und dass er sich dafür die richtigen Trauerpartner suchen darf. Und wir möchten vermitteln, dass sich für eine gesunde Trauer zunächst unser Denken, unsere Einstellung zum Tod ändern muss – und dass sie sich ändern kann, wenn wir Tod und Trauer als eine Aufforderung begreifen, uns zu öffnen und positive Impulse für eine Wandlung zu setzen. Wir wollen das ins Abseits gedrängte Sterben und Trauern zurück in die Mitte der Familien und unsere Gesellschaft holen:
Denn Sterben, Tod und Trauern gehören genauso zum natürlichen Lebensbogen jedes Menschen wie die Freude über Liebe, Heirat und Geburt.
Der Abschied und das letzte Fest
Unser Ziel ist es, Trauernden Mut zu machen, ihre Entscheidungen wieder selbst zu treffen, um so ihren ganz persönlichen Abschied von einem Menschen würdevoll zu begehen. In diesem Zusammenhang stellen wir auch einige praktische Übungen vor. Ein Verzeichnis der Übungen in diesem Buch finden Sie auf der vorderen Innenklappe.
Der Trauernde soll lernen, mit dem Tod des geliebten Menschen zurechtzukommen, seine neue Identität zu finden und den Verlust in die neue Lebenssituation zu integrieren. Der Verlust soll gewürdigt und akzeptiert und Bestandteil des eigenen Lebens werden. Denn – auch das werden Sie in diesem Buch erfahren – die Trauer nach einem schweren Verlust hört nie wirklich auf, sie kommt immer wieder. Aber sie verändert sich, wenn wir uns »trauen zu trauern«. Unser Ziel muss sein, mit dem Verlust leben zu können und nicht daran zu zerbrechen. Dafür sind drei Schritte notwendig:
• Wir müssen wieder etwas über uns selbst und über das Leben erfahren.• Wir müssen wieder erfahren, wie wir erfüllend Abschied nehmen von unseren Toten.• Wir müssen erfahren, wie wir Trauernden wirklich helfen können, ohne zu schaden und ohne zu verletzen.Aufbau des Buchs
Gemäß diesen drei Schritten haben wir das Buch in drei Abschnitte untergliedert, die je nach Art der Betroffenheit einen raschen Einstieg zum Wesentlichen ermöglichen. In jedem Abschnitt finden Sie Übungen und Rituale, die Ihren Trauerweg erleichtern und unterstützen können.
Leben Dieser Teil des Buchs bietet einen Zugang für Suchende, denen künftig ein Abschied/Tod bevorsteht und die den Mut und die Klugheit haben, sich schon vorab damit zu befassen. Es soll zum Nachdenken über die Endlichkeit des eigenen Seins anregen und helfen, daraus die richtigen Schlüsse für eine lebensbejahende Sicht auf das eigene Leben zu ziehen.
Trauern Dieser Teil des Buchs bietet einen Zugang für Menschen, die wissen wollen, was mit ihnen in der Trauer geschieht. Es zeigt die Stationen, die wir auf dem Trauerweg durchschreiten und durchleiden. Wir müssen Trauer verstehen, damit wir diesen schmerzhaften Prozess aktiv gestalten können. Vor allem aber möchten wir, dass Sie erkennen, welche unermessliche Bedeutung ein erfüllter Abschied für Ihren Trauerprozess hat.
Begleiten Dieser Teil des Buchs bietet einen Zugang für all jene, die Trauernden nahestehen und wissen wollen, nach welchen einfachen Grundregeln sie einem Trauernden helfen und ihn begleiten können.
Worum es uns geht
Wenn Sie glauben, in diesem Buch ginge es nur um Tod und Sterben, dann täuschen Sie sich. Nein, es geht um Ihr Leben. Der Tod spielt hier nur eine Nebenrolle. Wir wollen ihm nicht mehr Gewicht geben, als ihm zusteht – und viel weniger, als er sich herausnimmt, wenn er unser Leben befällt.
Wir möchten Ihnen helfen, den Tod eines geliebten Menschen mit anderen Augen zu sehen, ihn vielleicht ganz anders zu erleben – zwar als Verlust und als Ende, aber eben nicht nur: Denn vielleicht zeigt Ihnen der Tod auch neue Wege auf, führt Sie in einen neuen Raum, der neugierig und Mut macht, Ihr Leben zu hinterfragen und neu zu gestalten.
Wir werden den Weg dorthin aber nur dann finden, wenn wir lernen, um die Menschen, die wir jetzt verlieren und für immer entbehren müssen, wieder richtig zu trauern. Denn genau das haben wir in den vergangenen Jahrzehnten verloren: das uralte Wissen, den Trauerweg zu gehen und unseren Schmerz zu durchleben. Nur das macht eine Akzeptanz des Todes möglich.
Eine neue Trauerkultur
Die Fähigkeit, Trauer und Tod als Teil des natürlichen Lebens zu begreifen, droht in der modernen Gesellschaft völlig in Vergessenheit zu geraten. Die Verstädterung sowie die Anzahl der Singlehaushalte und der Alleinerziehenden nehmen zu. Unsere einst auf Familie, Dorfgemeinschaften, Parteien, Vereinen und sozialem Zusammenhalt basierende Gesellschaft wird zum Auslaufmodell. Auch die Kirche scheint unfähig zur Erneuerung und verliert ihre Bindungsfähigkeit. Wir atomisieren im Konkurrenzkampf einer wirtschaftsorientierten und wertefernen Gesellschaft, wir vereinzeln. Im Alter wird das nicht besser.
Darüber hinaus nimmt die Überalterung unserer Gesellschaft zu. Die Lebenserwartung ist seit 1900 um durchschnittlich 30 Jahre gestiegen. Dank der modernen Medizin und gesunder Ernährung erhöht sie sich jährlich weiter um zwei Monate auf heute schon 80,07 Jahre. Dabei liegen Frauen mit 82,44 Jahren deutlich über dem Durchschnitt, Männer mit 77,82 Jahren deutlich darunter. Insgesamt wurden wir aber nie so alt wie heute. Und noch nie haben wir das Sterben und die Trauer so aus unserem Lebensumfeld verdrängt wie heute. Wir haben gelernt, wie man länger lebt – aber wir haben verlernt, Sterbende würdevoll zu begleiten und unsere Toten sinnerfüllt zu betrauern und zu bestatten.
(K)Ein Witz
Sagt die Nichte: »Als ich noch jünger war, hasste ich es, auf Hochzeiten zu gehen. Alle möglichen Tanten drängten sich um mich, pikten mich in die Seite und kicherten: ›Du bist die Nächste! Du bist die Nächste!‹ Sie haben mit diesem Mist erst aufgehört, als ich anfing, bei Beerdigungen mit ihnen dasselbe zu machen.«
Dieser Witz ist nicht wirklich lustig – weil er so treffend die Wahrheit beschreibt, wie wir sie tagtäglich erleben. Wir verstecken Tod und Trauer: Unglaubliche 800 000 bis 900 000 Menschen sterben jedes Jahr allein in Deutschland. Und trotzdem bekommen wir im Alltag kaum etwas davon mit. Obwohl fast jeder wenigstens einmal im Jahr im Verwandten- und Bekanntenkreis davon betroffen sein müsste. Bloß nicht zu viel Aufsehen, bitte keine Tränen, »von Beileidsbekundungen bitten wir Abstand zu nehmen« – nur keinen Schmerz zeigen. Da sind wir plötzlich alle Indianer. Wir müssen funktionieren in Job und Familie. »Gefühlsduselei« stört da nur. Trauer und Tod sind zu Tabuthemen geworden. Sterben kennt der moderne, aktive, ewig jugendlich-dynamische Mensch von heute nicht mehr.
Der Tod wird verbannt
Wir wollen uns auf den Tod nicht mehr einlassen, weil wir ihn nicht mehr als sinnstiftend erleben, als möglichen Übergang etwa ins Paradies, als nächsten Schritt zur Wiedergeburt oder auch »nur« als Schlusspunkt eines sinnerfüllten Lebens. Der Tod wird nicht mehr als naturgegeben hingenommen; wir tun alles, um ihn aus unserem Alltag zu verbannen.
Wir wissen ja auch gar nicht mehr, wie das Trauern funktioniert. Wer sollte uns noch zeigen, wie viel Trost uns die Rituale eines geführten Trauerprozesses schenken können? Es gibt kaum noch jemanden, der uns vorleben könnte, dass der Tod zum Leben gehört wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter und dass Trauern ein natürlicher Heilungsprozess ist. Wer stützt uns heute noch, wem vertrauen wir, wenn es ans Sterben geht? Wer darf heute noch hoffen, im Schutz seiner Familie und der gewohnten Umgebung friedlich sterben zu dürfen?
Weh dem, der stirbt
Die meisten Menschen sterben heute in Krankenhäusern oder Altersheimen. Und meist sind sie dabei allein. Im Regelfall wird das Sterbezimmer nach dem Tod umgehend geräumt und gereinigt – es soll für die nächsten Patienten aufnahmebereit sein, das steigert den Umsatz. Auch aus Rücksicht auf andere Patienten sind die Pflegekräfte zur Eile angehalten, denn für viele ist und bleibt die Anwesenheit des Todes und eines Toten in unmittelbarer Umgebung ein schlechtes Omen, etwas, das belastet und dem eigenen Heilungsprozess schadet. Den Verstorbenen im Krankenzimmer oder einem eigens eingerichteten Trauerraum aufzubahren und den Angehörigen einen Abschied in einer würdevollen Umgebung zu ermöglichen ist heute immer noch die Ausnahme. Mitgefühl ist keine Kassenleistung. Im Regelfall kommt der Tote umgehend in die Kühlkammer der Prosektur im Krankenhauskeller. Von dort in den Sarg des Beerdigungsunternehmers. Und dann gleich unter die Erde. Für viele bedeutet das, dass sie den verstorbenen Mann, die verstorbene Frau, das verstorbene Kind nicht noch einmal sehen dürfen.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Die Ausstellung des Totenscheins gibt den Startschuss für eine unmenschliche Rallye. Binnen 96 Stunden, nachdem der Arzt den Tod beurkundet hat, muss die Leiche laut Bestattungsgesetz schon unter der Erde sein. Der Mensch wird nicht betrauert, er wird entsorgt durch die ungemein effiziente Verwaltungskette der Krankenhäuser, Altenpflegeeinrichtungen, Ämter, Kirchen, Friedhofsverwaltungen und Bestattungsunternehmen. Der Verstorbene wird in Urnen eingedost, in Gräbern endgelagert oder im Meer verklappt, in spätestens vier Tagen.
Die für den Heilungsprozess des Trauernden so unglaublich wichtige Zeit für die persönliche Auseinandersetzung mit der Tatsache des Todes und für die Verarbeitung des Geschehenen findet keinen Raum. Beim Tod außer Haus haben Angehörige fast keine Chance auf einen stillen und harmonischen Abschied. Keine letzte Berührung. Kein Zeichen der Fürsorge und Verbundenheit.
Eingespielte Logistik
Wie tief diese Beerdigungsrallye mit ihren Entscheidungszwängen in den Trauerprozess eingreift, begreifen wir zunächst nicht einmal. Starb der Angehörige z. B. an einem Montag, müssen bis Mittwoch oder Donnerstag Verwandte und Freunde informiert, die Trauergesellschaft eingeladen, ein Termin mit dem Pfarrer vereinbart, der Leichenschmaus organisiert, Blumengebinde und Kränze bestellt, Kranzschleifen betextet, ein Sarg ausgewählt und Trauerkarten ausgesucht werden – Entscheidungen über Entscheidungen.
Der Hinterbliebene muss managen, vermitteln, sprechen und organisieren wie bei einem Großprojekt, obwohl er lieber schweigen, erinnern und Einkehr halten würde. Alles Dinge, die in dieser Lebenssituation nicht möglich sind. Nur vier Tage bis zum ewigen Grab – da bleibt für keinen trauernden Menschen ausreichend Zeit, das Ungeheuerliche zu begreifen und wirklich Abschied zu nehmen. Hektik und Stress statt der so dringend notwendigen Besinnung gerade in den für die spätere Trauerbewältigung so wichtigen ersten Tagen zwischen Sterbestunde und Beerdigung. Schließlich geht es hier um den wichtigsten Abschied in unserem Leben – den Abschied für immer. Wir lassen unsere Toten grußlos ziehen. Sieht so der Tod aus, wie wir ihn für uns selbst wünschen würden? So nackt, so kalt und so gefühllos? Die Fehler, die hier gemacht werden, werden nachwirken. Weil wir Versäumtes nie wieder nachholen können.
Der zweite Tod durch Bürokratie und Verwaltung
Wie gut, dass es für diese Lebenslage Beerdigungsunternehmen gibt. Sie werben mit dem »Rundum-sorglos-Slogan«: Wir nehmen Ihnen alles aus der Hand! Sterbebilder aus dem Katalog, ein Sterbespruch, zwei Lieder, ein Normsarg, ein Normgrabstein mit Norminschrift, die Formulare für die Friedhofsverwaltung, die Sterbeurkunde, Kränze, Blumengebinde, ein Trauerredner nebst Orgelspiel – alles perfekt und reibungslos abgewickelt vom Bestatter. Bei der Katalogbeerdigung wird einem tatsächlich wie versprochen alles aus der Hand genommen. Der Trauernde nickt nur noch willenlos ab. In seiner Überforderung überlässt er die Verantwortung für eine würdevolle Trauer einer Entsorgungsindustrie, die den Tod standardisiert und damit nicht mehr erfahrbar macht.
Der durchorganisierte Tod
Der vorherrschende Gedanke, dem Trauernden in dieser Zeit alle Entscheidungen, jede Mühe abzunehmen, ist grundfalsch. Der durchorganisierte Tod mit seinen Entscheidungszwängen und Scheinbeschäftigungen hält uns von dem eigentlichen, so ungemein wichtigen Prozess des aktiven Trauerns fern. Wir erhalten keine Zeit, selbst herauszufinden, welche Trauer wir für uns und den Verstorbenen für sinnerfüllt halten. Wir lassen uns unsere Toten nehmen. Das ist schlicht unmenschlich.
Kaum jemand weiß heute noch, was wir uns damit antun. Wenn Trauer nicht gelebt und erfahren werden darf, verharren und versteinern die Trauernden schließlich in ihrem Leiden; sie kommen nicht ins Gestalten, ins kreative Tun, in die aktive Auseinandersetzung mit ihren eigenen Wünschen und Idealen, wie sich ihre Trauer Bahn brechen soll. Eine Trauer, die nicht aufgesetzt und fremdbestimmt ist, sondern sich aus uns selbst heraus entwickelt, unseren eigenen Bedürfnissen entspricht und damit erst ihre heilsame Wirkung entfalten kann. Dieses aktive Gestalten bedeutet Bewegung, und Bewegung schafft Veränderung und neue Perspektiven für eine positive Entwicklung in der Zukunft – nachdem wir die alten Vorstellungen begraben mussten.
Erst später und oft zu spät wird der Trauernde merken, welchen Schaden er sich – ohne eigene Schuld – unter diesem immensen Druck selbst zugefügt hat. Er hatte niemanden, der es ihm hätte sagen und Alternativen zeigen können. Das möchten wir hier tun.
Das unwiederbringliche Versäumnis
Wir erleben in unserer Arbeit immer wieder, dass uns Trauernde von früheren Sterbefällen in der Familie erzählen und berichten, sie seien erst Tage nach der Stressphase »Organisation Beerdigung« zu sich gekommen. Erst dann realisierten sie, dass sie nicht den Kauf einer Wohnung oder eines Autos abgewickelt, sondern einen geliebten Menschen für immer verloren hatten. Sie schildern diese Zeit zwischen Sterbestunde und Beerdigung oft wie eine Art Rausch, aus dem es ein jähes Erwachen gibt. Eben steht man noch am Grab wie in Trance, sieht sich wie in einem Film, bekommt die Hände geschüttelt, bis sie schmerzen, hört, wie die Erde auf den Sargdeckel fällt. Dann ist die Beerdigung vorbei, die Angehörigen sind gegangen – und plötzlich ist man einsam und allein. In dieser Leere tauchen nun plötzlich die Gedanken auf, die im Beerdigungsstress der vergangenen Tage verdrängt wurden. Diesen Albtraum erlebt fast jeder Trauernde: Mit einem Schlag tut sich im Leben des Trauernden ein Abgrund auf, der sich nicht so schnell schließen lässt wie ein Sargdeckel. Die Wahrheit ist umso schmerzhafter, je weniger Zeit wir bekommen haben, uns auf diesen weiteren Schock einzustellen, und je weniger wir unsere Trauer schon durch die aktive Gestaltung des letzten Festes zulassen konnten. Weil der Abschied keiner war, der uns trösten wird, an den wir uns versöhnlich erinnern, ohne dass wir plötzlich die Leere eines großen Versäumnisses in uns spüren.
Trauer braucht Zeit
Der Trauerprozess hat schon zu Beginn großen Schaden genommen, weil uns die Chance unwiederbringlich genommen wurde, den Verlust im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Damit fehlt etwas Entscheidendes für die weitere Entwicklung in der Trauer. Der fehlende Abschied ist nicht mehr rückholbar. Der Trauernde muss zusätzlich zu seinem Schmerz fortan auch noch damit umgehen, etwas sehr Wichtiges versäumt zu haben. Und das ist leider keine Ausnahme, sondern Realität. Doch Trauer braucht Zeit und einen wirklichen Abschied vom Verstorbenen.
In all den Jahren, in denen wir Menschen begleiten durften, mussten wir immer wieder feststellen, wie schwer es ihnen heute fällt, einen natürlichen Trauerprozess zu durchschreiten. Deshalb ist eine Rückbesinnung auf die Stärken unserer traditionellen Trauerkultur und die Entwicklung neuer, sinnkräftiger Trauerrituale dringend notwendig. Als Trauerbegleiter versuchen wir seit über elf Jahren, so viele Menschen wie möglich an die uralten Erfahrungen der Trauerkultur heranzuführen, sinnerfülltes Wissen, das in unserer modernen, hektischen Zeit so leichtfertig in Vergessenheit geraten ist. Wir möchten diese Erfahrungen wiederbeleben und helfen, sie in einen modernen Kontext zu integrieren.
Eine persönliche Geschichte
Ich bin Florian Rauch und war die ersten Jahre meines Berufslebens im Management eines großen deutschen Beerdigungsunternehmens tätig. Das war reine Bürotätigkeit. Es ging um Zahlen, wenig um Gefühle. Mit Toten kam ich nur selten in Berührung – bis ich Geschäftsführer einer großen Filiale wurde. Ich begann, Trauerfeiern und Beerdigungen durchzuführen. Zunehmend erlebte ich, wie sehr die durchorganisierte Trauer an den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht. Dafür ist sie zu effizient, zu schnell, zu gefühllos. Ich erlebte, wie Eltern, die gerade ihr Kind verloren hatten, keine Möglichkeit bekamen, es noch einmal anzuschauen, keine Zeit, den Verlust zu begreifen, anzunehmen und wirklich Abschied zu nehmen. Solche verstörenden Eindrücke häuften sich. Ich empfand meine Arbeit zunehmend als unbefriedigend. Wenn man als junger Beerdigungsunternehmer zum ersten Mal einen Toten aus der Pathologie des Krankenhauses abholt und sieht, wie kalt das abläuft, beginnt man, seinen Beruf zu hinterfragen, und sucht nach Möglichkeiten, wie es besser gehen könnte.