5,99 €
Trauer ist eine Antwort der Seele
Wenn Kinder trauern, wenn sie Fragen zu Tod und Sterben haben, brauchen sie Halt und Orientierung. „Wie Kinder trauern“ ist von Fachleuten geschrieben, die täglich mit Kindertrauer zu tun haben. Sie wissen, was es bedeutet, wenn Kinder reagieren: mit Fragen, mit Schweigen, mit Wut, mit Appetitlosigkeit, mit Rückzug. Erklärend und beratend stehen sie Erwachsenen zur Seite, damit Kinder ihre Trauer in einem verständnisvollen, schützenden Umfeld leben können.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 228
Über dieses Buch
Wenn Kinder trauern, wenn sie Fragen zu Tod und Sterben haben, brauchen Sie Halt und Orientierung. Dieses Buch ist von Fachleuten geschrieben, die täglich mit Kindertrauer zu tun haben. Sie wissen: Kindertrauer ist anders. Doch die Kinder vor der Erfahrung der Trauer beschützen und abschirmen zu wollen, ist selten ein guter Weg. Erklärend und beratend stehen die Trauerexperten Erwachsenen zur Seite, damit Kinder ihre Trauer in einem vertrauens- und verständnisvollen, verlässlichen Umfeld leben können.»Der Tod trifft uns alle, aber Kinder trifft er in besonderem Maße. Gut, dass es solche Menschen gibt, die sich mit Leidenschaft und Herz dafür einsetzen, dass Kinder die schwierige Zeit der Trauer behütet überstehen.« Pfarrer Rainer Maria Schießler
Tita Kern ist Psychotraumatologin und Systemische Familientherapeutin. Sie gründete das Pilotprojekt »KIDS – Kinder nach belastenden Ereignissen stützen« beim ASB München. Seit 2013 ist sie die fachliche Leiterin der AETAS Kinderstiftung.Nicole Rinder erfuhr nach dem Tod ihres Sohnes, wie tröstend es ist, Zeit für den Abschied zu haben. Dies wollte sie auch anderen Menschen ermöglichen. Seitdem arbeitet sie als Trauerbegleiterin und führt zusammen mit Florian Rauch das Bestattungsunternehmen AETAS.
Florian Rauch ist Geschäftsführer eines Bestattungsunternehmens. Er entwickelte ein ganzheitliches Konzept zur Trauerbegleitung, das er 2000 mit der Gründung von AETAS in die Praxis umsetzte.
Mehr Informationen unter www.aetas.de
Wenn ein Mensch stirbt, ist das für alle, die diesen Menschen gekannt und geliebt haben, ein großer Schock. Nichts ist mehr, wie es war – das gilt nicht nur für Erwachsene. Kinder brauchen in dieser Situation ganz besonders die Unterstützung ihrer Bezugspersonen, um erfassen zu können, was geschehen ist, und um zu lernen, mit den damit verbundenen Gefühlen umzugehen.
Dieses Buch soll Ihnen eine Hilfe und Stütze für den gemeinsamen Trauerprozess sein. Wenn Große mit einer klaren Haltung und der eigenen inneren Überzeugung, dass Trauer nichts Gefährliches ist, offen mit trauernden Kleinen umgehen, können sie wertvolle Wegbegleiter sein. Versuchen Sie Ihrem Kind vorzuleben, wie es ist, die Trauer als einen Helfer anzunehmen. Geben Sie Ihrem Kind den Freiraum, diese Erfahrung zu machen.
Tita Kern
Nicole Rinder
Florian Rauch
Wie Kinder trauern
Ein Buch zum Verstehen und Begleiten
Unter Mitarbeit von Ina Raki
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Die Namen aller zitierten Personen wurden geändert.
Bilder im Innenteil © AETAS
Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt München
Umschlagmotiv: © plainpicture/Angela Franke
Herstellung und Gestaltung: Heidi Nübling
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-19419-2V002
www.koesel.de
Inhalt
Wenn Kinder dem Tod begegnen – Ein paar Worte vorab
Ludwig und die Trauer um Marie
Wer wir sind und warum wir dieses Buch geschrieben haben
Was ist Trauer?
Warum uns die Trauer solche Angst macht
Trauer ist gesund
Wann brauchen Trauernde Hilfe?
Hinweise auf Traumata und Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)
Auf einen Blick
Wie Kinder Trauer erleben
Kindertrauer ist anders
Altersabhängige Vorstellungen vom Tod
Traueraufgaben für Kinder
Traueraufgabe: Den Verlust als Realität akzeptieren
Traueraufgabe: Gefühle zulassen und aushalten
Traueraufgabe: Mit dem Verlust umgehen
Traueraufgabe: Eine neue Verbindung leben
Wie sich Trauer für Kinder anfühlen kann und wie sie sich zeigt
Wie die Großen die Kleinen unterstützen können
Wie Sie erkennen, ob ein Kind professionelle Hilfe braucht
Auf einen Blick
Die Zeit des Sterbens – Wie Sie Kinder einbeziehen
Sich gedanklich auf Situationen und Gespräche vorbereiten
Wann mit Kindern sprechen?
Wie mit Kindern sprechen?
Die richtigen Worte finden
Kontakt zwischen Kindern und Sterbenden – was ist möglich, was ist gut?
Die Grenzen des Verkraftbaren erkennen
Auf einen Blick
Die Zeit des Abschieds
Das letzte Fest braucht junge Gäste
Wie Sie Kinder in die Rituale der Trauer einbeziehen
Was Kinder über den Tod wissen wollen
Die richtigen Worte finden
Ungünstige Formulierungen vermeiden
Auf einen Blick
Die Zeit der Trauer
Abschied und Trauer in den Alltag integrieren
Rituale finden, die beim Trauern helfen
Besondere Tage begehen, schöne Erinnerungen weiterleben lassen
Auf einen Blick
Selbst trauern und gleichzeitig Halt bieten
Auch Große dürfen trauern – sie sollten es sogar
Die Farben der Trauer erleben
Was Große brauchen, um für ihr Kind stark zu sein
Wie professionelle Bezugspersonen helfen können
Auf einen Blick
Wenn der Tod ganz plötzlich kommt
Warum der Abschied nach einem plötzlichen Tod besonders wichtig ist
Suizid – ein Tod, der viele Fragen offenlässt
Die richtigen Worte finden
Ungünstige Formulierungen
Auf einen Blick
Zusätzliche Herausforderungen für Groß und Klein
Wenn Eltern sterben – Ängste und Sorgen
Verheimlichen – keine gute Idee
Die richtigen Worte finden
Auf einen Blick
Rituale und stärkende Hilfen für die Zeit vor und nach dem Tod
Umgehen lernen und Kraft sammeln – Das Ruderboot
Rituale für die Zeit des Sterbens
Ein Handabdruck voller Liebe
Tröster und Erinnerer finden
Erinnerungsbrief oder -buch
Rituale für die Zeit der Trauer
Wichtige Tage gestalten
Jahresabschlussritual
Gute Orte finden
Erinnerungen aufbewahren und pflegen
Eine Hand voll Erinnerungen
Ein buntes Erinnerungsglas
Wunschsteine und Wunschbaum
Wander-Erinnerungsbuch
Das SMS- und E-Mail-Buch
Anhang
Literaturempfehlungen rund um Tod, Sterben und Trauer
Literaturempfehlungen zum Lesen mit Kindern
Filme für Kinder
Hilfreiche Adressen und Kontakte
Quellenverzeichnis
Als Ludwigs kleine Schwester tot geboren wurde, wollten seine Eltern das, was sehr viele in dieser Situation spontan tun möchten: ihn vor dem Leid schützen, vor der Trauer, die diese Situation mit sich brachte. Denn plötzlich warteten Abschied und Schmerz statt Freude und Willkommen auf die kleine Familie.
Das Herz von Ludwigs Schwesterchen Marie hatte kurz vor der Entbindung aufgehört zu schlagen. Andrea und Bernhard, die Eltern, hatten ihre kleine Marie verloren, bevor das gemeinsame Leben beginnen konnte.
Gern hätten Ludwigs Eltern das Geschehene ungeschehen gemacht. Das ging nicht. Deshalb versuchten sie zumindest, es vor ihrem siebenjährigen Sohn Ludwig zu verheimlichen.
Mit diesem Wunsch und ihrem eigenen tiefen Schmerz um ihre kleine Tochter, um all das ungelebte gemeinsame Leben, das sie mit ihr nicht haben würden, saßen sie nun vor uns – und waren bestürzt, als wir den Abschied mit ihnen besprechen wollten. Ludwig sollte seine tote Schwester sehen? Sich verabschieden? Mit all der Trauer konfrontiert werden, die sie selbst kaum aushalten konnten? Aber warum?! Die beiden schauten sich und uns entsetzt an.
Solche Blicke sind uns aus vielen unserer Gespräche nur zu vertraut. Die erste Reaktion der meisten Eltern ist es, dass sie ihre Kinder vor der Begegnung mit Tod und Trauer bewahren möchten. Wir verstehen diesen Wunsch und er ist uns auch aus unserem eigenen Erleben bei der Trauer um geliebte Menschen vertraut. Abschied und Trauer gehören für alle Menschen zu den schwierigsten Aufgaben. Oft erscheinen sie kaum aushaltbar. Doch wenn wir darauf stoßen, müssen wir uns stellen, ein Leugnen oder Ausweichen schützt uns nicht. Um den Schmerz zu verarbeiten, muss Trauer erlaubt sein. Denn wenn wir uns und unseren Kindern das Trauern verbieten, wird ein Abschiednehmen unmöglich.
Wir haben über viele Jahre hinweg erfahren dürfen, wie sehr es Trauernden hilft, sich vom Verstorbenen zu verabschieden. Ihn noch einmal zu sehen, zu berühren, ihm etwas mit in den Sarg zu geben … all das sind Chancen, die helfen, den Weg zu einem Abschied anzutreten.
So schlugen wir auch Ludwigs Eltern vor, dass die gesamte Familie sich von der kleinen Marie verabschieden dürfe. Wir würden in einem unserer Abschiedsräume alles vorbereiten. Marie würde dort gebettet sein. Alle drei, die Eltern und Ludwig, würden Gelegenheit bekommen, sie zu sehen, zu begreifen und sich von ihr zu verabschieden.
Ludwigs Eltern reagierten mit den gleichen entsetzten Aussagen und Fragen, die wir schon von vielen Eltern gehört hatten:
»Warum soll er das denn sehen? Das ist doch schrecklich!«
»Er ist noch so klein, man kann ihm doch kein totes Kind zeigen!«
»Das soll er nicht erleben, das würde ihn traumatisieren!«
Die Eltern planten, dass Ludwig an dem Tag ganz normal zur Schule gehen sollte. Auch zur Beerdigung sollte er nicht mitkommen. Nein, Andrea und Bernhard würden ihn später einmal mit ans Grab nehmen und ihm dann »alles zeigen«. Ich, Nicole Rinder, fragte daraufhin vorsichtig nach, was genau sie ihm denn zeigen und erklären wollten, da Marie nach ihrer bisherigen Aussage gegenüber Ludwig zu krank gewesen sei, um hierbleiben zu können, und deshalb direkt in den Himmel gegangen war.
Ludwigs Eltern stockten. Richtig, es wurde auch ihnen klar: Es wäre schwierig, Ludwig zu erklären, dass Marie sich im Himmel und gleichzeitig in einem Grab befand.
Im weiteren Gespräch veränderte sich bei Ludwigs Eltern der Blick auf diesen Abschied. Andrea wurde klar, dass auch sie selbst sich tief im Herzen einen Abschied von Marie wünschte, auch wenn sie gleichzeitig große Angst vor der Situation hatte. Ich bestärkte sie behutsam darin, sich den Abschied möglich zu machen: »Wenn Sie nur einen kleinen Funken des Wunsches in sich spüren, Ihr Kind zu sehen, dann tun Sie es. Das ist die einzige Möglichkeit, die Sie dafür bekommen werden. Sie können es nicht mehr nachholen.«
Die Eltern selbst hatten Marie nach der Geburt nicht gesehen. In der leider sehr typischen – eher angstmachenden – Art waren sie nach der Entbindung gefragt worden, ob sie ihr totes Kind sehen wollten. Aber natürlich müssten sie auch nicht … Wer so gefragt wird, neigt oft dazu, das Angebot abzulehnen. Auch die meisten Kinder werden im Übrigen genau auf diese Art »gefragt«. Und damit wird ihnen die Chance auf eine echte eigene Entscheidung genommen.
Ich schlug den Eltern deshalb vor, Ludwig offen zu fragen, ob er Marie sehen und kennenlernen wolle. Und Ludwig wollte. Am Tag des Abschieds kamen Andrea, Bernhard und Ludwig zu uns. Ludwig schien keine Angst zu haben. Seine Eltern dagegen wirkten angespannt und voller Angst. Munter fragte mich Ludwig: »Gehen wir jetzt zu meiner Schwester?«
Sein Vater Bernhard ermahnte ihn nervös: »Jetzt wart’ halt, Ludwig.«
Vor dem Abschiedsraum angekommen, erklärte ich allen dreien noch einmal, wie Marie aussehen würde. Dass sie kleine rote Fleckchen im Gesicht und etwas dunklere Lippen hatte, die Fingerchen ganz schrumpelig vom Fruchtwasser waren … Als die Tür aufging, lief Ludwig zielstrebig zu Marie, die auf einer kleinen Decke lag. Er kniete sich neben sie und rief: »Ah, guckt mal!«
Seine Eltern verharrten zögernd an der Tür, während Ludwig Marie lieb berührte und sofort begann, sie zu beschreiben: »Schau, die Lippen sind wirklich ganz dunkel. Und sie ist sooo klein …«
Die Eltern entspannten sich merklich, sie waren erleichtert, weil Ludwig so natürlich mit der Situation umging. Kaum hatten sie ein wenig durchgeatmet, ging es schon weiter. Ludwig fragte mich ganz selbstverständlich: »Darf ich sie auf den Arm nehmen?« Die Eltern erschraken und schauten mich mit großen Augen an.
Mich berührte Ludwigs Wunsch sehr und ich nickte nur. Ludwig setzte sich, ich legte ihm Marie behutsam in den Arm. Er, ganz der stolze Bruder, blickte liebevoll auf sie. Dann sagte er zu seinem Vater: »Papa, nimm sie auch mal.« Der Vater schluckte, und zum ersten Mal seit der Geburt konnte er seine Tränen zulassen. Er weinte vor Schmerz um den Tod seiner Tochter und aus Stolz auf seinen Sohn.
Kurz darauf saßen sie alle beieinander, Marie war umringt von ihrer Familie, wanderte von einem Schoß auf den anderen. Sie wurde genau angeschaut und beschrieben. Die gleiche Stupsnase wie der Bruder und schon so viele dunkle Haare wie die Mama. Es war eine unglaublich berührende, ruhige und wohltuende Atmosphäre. Später betteten Ludwig und seine Eltern gemeinsam die kleine Marie in den Sarg und legten ihr Geschenke mit hinein. Es stand in diesem Moment schon nicht mehr zur Frage, ob Ludwig bei der Beerdigung dabei sein würde.
Später erfuhren wir, dass Ludwig und seine Eltern sich mit diesem Tag eine wertvolle Erinnerung an ihre kleine Marie und den Abschied von ihr geschaffen hatten. Statt in Zukunft bedrückt zu schweigen, hatten sie die Möglichkeit gewonnen, miteinander über Marie und ihren Tod zu sprechen. Diese bereichernde Erfahrung wurde ein Teil ihres Lebens. Der Abschied von Marie wurde zu etwas, was sie gemeinsam erlebt hatten. Die Eltern erzählten uns später, dass sie nun ganz unbeschwert und offen miteinander, mit Ludwig und mit anderen Menschen über diese Zeit sprechen können.
Das hier beschriebene Erlebnis mit Ludwig ist eines, das für viele steht: Kinder nehmen so häufig die Angst aus der Situation, weil sie ganz natürlich mit Tod, Abschied und Trauer umgehen können. Nicht die Kinder, sondern wir, die Erwachsenen, sind oft diejenigen, die Angst davor haben. Das erfahren wir beinahe täglich in unserem Bestattungsinstitut AETAS Lebens- und Trauerkultur, welches Florian Rauch 2000 gründete und mittlerweile mit Nicole Rinder gemeinsam leitet. Einer unserer Schwerpunkte liegt auf Abschieden, bei denen auch Kinder betroffen sind. Lange haben wir überlegt, wie wir diesen Kindern nicht nur in den Tagen zwischen Tod und Beisetzung beistehen können, sondern auch noch in den Wochen und Monaten danach. 2007 entstand in München ein Projekt speziell mit diesem Schwerpunkt, das von Tita Kern und Simon Finkeldei konzipiert und geleitet wurde. Im Jahr 2013 konnten wir schließlich gemeinsam einen Herzenswunsch umsetzen: Wir gründeten unter dem AETAS-Dach die AETAS-Kinderstiftung, in der wir Kinder und ihre Familien in und nach besonders belastenden Lebenssituationen individuell begleiten. Ein großer Teil dieser Kinder hat sterbende Eltern, musste einen plötzlichen Todesfall erleben oder ist von Suizid betroffen. Tita Kern leitet die Stiftung.
Der wichtigste Ansatz in unserem Institut und in der Kinderstiftung ist nicht das »Verarbeiten« der Trauer mit der Intention, diese Trauer schnellstmöglich zu beenden. Uns geht es vielmehr darum, Gefühle der Trauer in das eigene Leben zu integrieren und gut damit weiterzuleben.
Für dieses Buch haben wir unsere Erfahrungen gesammelt. Die Texte um das Thema Tod herum erstellten vor allem Florian Rauch und Nicole Rinder. Die Inhalte, in denen es um die Begleitung von Kindern während des Sterbens und nach dem Tod eines nahestehenden Menschen geht, steuerte vornehmlich Tita Kern bei. Die Texte zur Begleitung trauernder Menschen allgemein spiegeln unser aller Erfahrungen wider.
In unserer Arbeit durften wir schon unzählige wunderbare Kinder und deren Mamas, Papas, Großeltern, Tanten oder Patenonkel kennenlernen. Sie alle beeindruckten uns mit ihrem großen Mut und der unermüdlichen Hoffnung, dass der Weg durch diese schwere Zeit zu schaffen ist. In der Begegnung mit ihnen haben wir unendlich viel gelernt. Wir möchten in diesem Buch unsere Erfahrungen mit diesen wundervollen Menschen weitergeben, um Sie für Ihren persönlichen Weg zu stärken.
Es sind keine einfachen Wege, die wir beschreiben. Immer wieder lauern Stolpersteine und oft gibt es nur die Möglichkeit, einen einzelnen Schritt nach dem anderen zu machen. Mal allein und mal mit Hilfe.
Die zehnjährige Hannah beschreibt, was ihr auf dem Trauerweg geholfen hat: »Den Elefanten habe ich als Krafttier für mich gebastelt. Er gibt mir immer Kraft, wenn ich sie brauche. Wann brauche ich Kraft? Wenn ich wütend bin, wenn ich traurig bin, wenn ich Angst habe oder wenn ich aufgeregt bin. Wenn einer aus der Familie stirbt, egal ob Mama, Papa oder Geschwisterkind, dann verliert man sehr viel Kraft. Daher hätte ich gerne hundert dieser Krafttiere und vielleicht noch viel mehr. Es ist ein gutes Gefühl, einen Helfer an der Seite zu haben.«
Das wünschen wir Ihnen von Herzen: Helfer an Ihrer Seite, Freunde und Wegbegleiter, damit Sie Ihren eigenen Weg finden, für sich und für Ihre Kinder. Wir hoffen, dass dieses Buch ein paar Antworten und Anregungen beisteuern und damit auch ein wenig Unterstützer sein kann für das, was vor Ihnen liegt.
Tita Kern
Nicole Rinder
Florian Rauch
»Mein Krafttier«, Hannah, 10 Jahre
Es ist nicht zu beschreiben, wie kalt und leer es ist.
Ich versuche, nicht zu zeigen, wie sehr ich dich vermiss.
Meine Freunde tun ihr Bestes, aber das Beste ist nicht gut genug.
Für das, was du mir gabst, hat diese Welt kein Substitut.
(…)
Bei Gott, es fehlt ein Stück, haltet die Welt an.
Es fehlt ein Stück, sie soll stehen.
Und die Welt dreht sich weiter, und dass sie sich weiterdreht, ist für mich nicht zu begreifen. Merkt sie nicht, dass einer fehlt?
Haltet die Welt an, es fehlt ein Stück.
Haltet die Welt an, sie soll stehen.
Aus dem Lied »Haltet die Welt an« von Glashaus
Die Worte aus dem Lied von Glashaus geben wieder, was die meisten Menschen nach dem schmerzlichen Verlust einer geliebten Person empfinden: Das Gefühl, dass das Leben nicht mehr vollständig ist. Dass ein Teil davon herausgerissen wurde. Unwiderruflich. Ein Mensch fehlt für immer.
Wenn von Trauer die Rede ist, denken die meisten an den Tod. Getrauert wird, wo gestorben wurde. Ist Trauer also eine Ausnahme in unserem ansonsten trauerfreien Leben? Wenn wir etwas genauer hinschauen, wird schnell klar: Nein. Trauer gehört in vielen Lebensbereichen ganz selbstverständlich zum Leben dazu. Jeder hat schon einmal eine Trennung, eine Kündigung, einen Umzug miterlebt. Phasen, in denen es darum geht, Abschied zu nehmen. Ein Lebensabschnitt endet, ein neuer beginnt. Ein Teil des Lebens verändert sich unwiderruflich. Etwas wird nie mehr so sein wie vorher. Zum letzten Mal diesen Weg gehen, ein letztes Mal diese Tür öffnen, nur noch dieses eine Mal durch diese Räume gehen …
Damit umzugehen, ist nicht einfach. Für jeden gibt es einfachere, aber auch schlimme und schwierige Abschiede. Der Verlust eines geliebten Menschen zählt sicher zu den letzteren. Allein die Vorstellung, dass uns das passieren könnte: dass ein Mensch, der uns wichtig ist, plötzlich nicht mehr in unserem Leben ist, nicht mehr morgens neben uns aufwacht, uns nicht mehr abends gute Nacht wünscht, nie wieder lachen wird, nie wieder weinen, nichts mehr erzählen … sein Platz am Esstisch leer bleibt … allein die bloße Vorstellung davon macht den meisten Menschen so viel Angst, dass sie ihr um jeden Preis ausweichen möchten.
Viele Eltern möchten auch ihren Kindern diesen Schmerz ersparen. Das Dilemma dabei ist aber: Wir können es nicht. Der Tod kommt. Wir haben nicht die Chance, ihm auszuweichen. Wir haben die Wahl, uns entweder verzweifelt, aber vergeblich vor dem Schmerz zu verstecken – oder die Trauer über den Verlust anzunehmen, den gesamten Trauerprozess zu erleben.
Trauer heilt den Schmerz. Niemals so, dass er danach »weg« ist. Doch so, dass er anders wird und wir mit dem Verlust weiterleben können. Unweigerlich wird das Leben nach diesem Todesfall ein anderes sein als vorher. Es wird aber – selbst, wenn das zunächst oft nicht vorstellbar ist – auch wieder schöne und leichte Momente geben. Es kann wieder ein gutes Leben werden. Die Trauer kann sich neben all dem ins Leben integrieren, was schön ist und gut. Sie wird weiter da sein, immer wieder einmal auftauchen. Aber sie wird nicht für immer alles andere überdecken.
Die Trauer kann helfen, das Gefühl zu überwinden, dass der Welt für immer etwas fehlt, sie für alle Zeit kaputt, unvollkommen, zerstört sein wird. Doch dafür müssen wir uns dieser Trauer erst einmal stellen.
Um einen Menschen zu trauern, den wir geliebt haben, ist ganz normal. Unser Herz wird schwer und wir erleben einen großen Schmerz. Die Trauer ist dabei wie ein Weg, der gegangen werden muss. Dass es so schwerfällt, sich auf diesen Weg zu machen, hat neben unserem Bedürfnis, dem Schmerz entkommen zu wollen, auch noch andere Gründe. Unsere Gesellschaft hat sich diesbezüglich verändert. Unser Glaube an die Planbarkeit ist groß geworden. Der Tod aber ist größer und erschüttert diesen Glauben zutiefst, fegt ihn weg: Der Tod ist nicht planbar und alles, was er an Veränderung mit sich bringt, ebenso wenig.
Niemand will, dass ein geliebter Mensch stirbt. Wir hoffen, dass nach Krankheit die Genesung folgt oder nach einem Unfall alles wieder gut wird und der geliebte Mensch bei uns bleibt. Wir verdrängen, dass der Tod kommen kann. Bis zu einem gewissen Punkt ist das auch in Ordnung. Aber spätestens, wenn jemand stirbt, muss man sich damit auseinandersetzen. Das Leben hat es so vorgesehen, dass wir sterben. Alle Menschen, alle Lebewesen müssen sterben. Das Mantra der Moderne – »alles muss gut klappen, alles kann perfekt sein, alles ist möglich, wenn man nur will, wir sind unserem Schicksal nicht ausgeliefert« – wird mit dem Tod ad absurdum geführt.
Früher war der Tod ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Nicht weniger schmerzlich empfunden von denen, die einen Menschen verloren, aber weniger geleugnet als heute. Auch der Umgang mit Kindern, sei es beim Abschied von einem Toten oder auch in anderen Situationen, war früher ein anderer. Kinder liefen oft »mit«, waren selbstverständlicher bei allem dabei. Das ist auch heute noch in anderen Kulturen der Welt so.
Doch in unserer Gesellschaft erschweren einige Aspekte den Umgang mit dem Unvorhersehbaren, das zum Leben dazugehört. Zum einen ist uns sehr wichtig, dass alles möglichst gut klappt. Wir möchten glauben, dass wir jederzeit die Kontrolle haben, alles zum Guten wenden können. Zum anderen spielt eine Rolle, dass die Großfamilie verloren gegangen ist. Nur noch ganz selten leben heute mehrere Generationen unter einem Dach.
Noch vor etwa hundert Jahren sah das auch bei uns ganz anders aus: Die Großfamilie war der Normalfall. Kinder wurden zu Hause geboren und auch gestorben wurde zu Hause. Der Tote wurde tagelang in einem Raum aufgebahrt, jeder konnte zu ihm gehen und Abschied nehmen. Es gab ein Kommen und Gehen von Familie, Freunden und Nachbarn, Menschen jeden Alters. Der Tod gehörte zum Leben dazu, ganz selbstverständlich.
Heute werden viele Erwachsene erstmals mit dem Tod konfrontiert, wenn ihre eigenen Eltern sterben. Nicht selten sitzen wir in unserem Bestattungsinstitut Menschen gegenüber, die uns erklären, dass sie noch nie einen Toten gesehen haben und das jetzt auch nicht mehr brauchen. Beerdigungen finden sie schrecklich, sodass sie diese wenn möglich meiden.
Der Grund dafür ist oft große Unsicherheit und Angst. Angst, die eigenen Emotionen nicht im Griff zu haben, von Gefühlen überrollt zu werden. Den natürlichen Umgang mit den Toten erlebt kaum noch jemand. Kaum einer bekommt noch gezeigt, wie das gehen kann. In Alten- und Pflegeheimen wird hinter verschlossenen Türen gestorben. Nur in wenigen Krankenhäusern gibt es Abschiedsräume, in denen man den Toten sehen und beginnen kann, den Tod zu begreifen. Meist werden die Verstorbenen vom Krankenzimmer umgehend in die Kühlung transportiert. Und in diesem Moment beginnt die »Bestattungsrallye«, wie wir es nennen: Die Hinterbliebenen haben Aufgabenlisten abzuarbeiten, für Trauer ist da keine Zeit. Auch nicht für ein Begreifen.
Viele Menschen sind in dieser Situation unsicher, haben Angst. Der Schmerz ist zu groß und soll möglichst schnell wieder aufhören. Sind Kinder betroffen, sollen sie erst recht nicht zu viel davon mitbekommen, sind doch die Erwachsenen selbst heillos überfordert. Und so behalten sie – auf den ersten Blick – die Kontrolle über das Geschehene, indem sie versuchen, einfach ihre To-do-Liste abzuarbeiten: Papierkram, Organisation, Leute benachrichtigen, Einladungen, Abmeldungen, Blumenschmuck, Grabstein … Zu funktionieren, das gibt für die erste Zeit auch Halt. Doch die Tage zwischen Tod und Beisetzung sind für den zukünftigen Umgang mit dem Verlust mitentscheidend. Insofern wäre es sinnvoll und hilfreich, in dieser Zeit auf der einen Seite für Stabilität zu sorgen, um sich auf der anderen Seite mit dem Tod und der dazugehörigen Trauer auseinandersetzen zu können. Manche verlieren sich in diesem Gefühlschaos. So kann es passieren, dass Kinder von all dem noch stärker ausgeschlossen werden. Denn auch in der Erziehung gilt heute oft: Alles soll reibungslos laufen. Falls das nicht gelingt, sind die Eltern für Fehler verantwortlich. So betrachtet wird verständlich, warum die meisten Eltern bei einem Todesfall im Umfeld des Kindes herausgefordert sind: Sie sind selbst mit Trauer und ihren eigenen Gefühlen konfrontiert, müssen noch dazu in einer absoluten Ausnahmesituation für ihr Kind da sein. Jede Reaktion des trauernden Kindes wird zudem noch von außen beobachtet und bewertet. Hier die richtigen Prioritäten zu setzen, sich und dem Kind Raum zum Trauern zu verschaffen, das ist oft unglaublich schwer.
Entwicklungen, die Hoffnung machen
Zum Glück gibt es in den letzten Jahren auch positive Veränderungen im Umgang mit dem Tod. So ist es in Hospizen oder auf Palliativstationen selbstverständlich, dass die Angehörigen sich im Zimmer oder in eigens dafür vorgesehenen Abschiedsräumen verabschieden dürfen. Leider sieht die Wirklichkeit aber noch eher so aus, dass die meisten Menschen im Krankenhaus oder Pflegeheim sterben. Dort entscheidet die Hausphilosophie darüber, wie mit den Toten umgegangen wird. Die meisten Betroffenen bekommen keine Möglichkeit zum Abschied.
Die verschiedenen Phasen oder, wie wir es bevorzugt nennen, Farben der Trauer (siehe hierzu auch ab Seite 123) können das Leben hinterbliebener Menschen lange begleiten und sich in verschiedenen Gefühlen zeigen, etwa in Wut, Schmerz, Trauer, Angst, Freude, Verzweiflung oder Schuldgefühlen. Da in unserer Gesellschaft oft Geduld fehlt und wir dazu neigen, unangenehme Gefühle zu vermeiden, stellen sich viele Menschen im Trauerprozess schon bald die Frage, ob das, was sie im Zusammenhang mit dem Tod eines nahestehenden Menschen erleben, noch »normal« ist. Oder sie spüren, dass diese Frage in ihrem Umfeld aufkommt. Dass andere Menschen ungeduldig werden, den Anspruch haben, dass »jetzt aber genug getrauert« ist. Wann aber ist »genug« getrauert?
Es hilft keinem Trauernden, getrieben zu werden zu einem »jetzt ist es genug«, »jetzt ist es wieder gut«. Ganz im Gegenteil: Gefühle wollen gelebt werden. Den meisten Trauernden fällt es ohnehin schwer, die schmerzhaften Gefühle zuzulassen. Noch schwieriger aber ist für viele, dass sie sich geradezu genötigt fühlen, ihre Gefühle zu unterdrücken und schnell in den Alltag zurückzukehren, so als wäre nichts gewesen. Das ist unmöglich. Viele Trauerforscher beschreiben, dass Trauer eine gesunde, lebensnotwendige Reaktion auf Verlust und Trennungsereignisse ist.
Viele Trauernde wünschen sich auch selbst ein Ende der Trauerzeit und haben gleichzeitig Angst davor, mit diesem Ende auch die Verbindung zum verstorbenen Menschen zu verlieren, ihn zu vergessen. Doch das wird nicht der Fall sein: Es darf einen Teil der Liebe geben, der beim verstorbenen Menschen bleibt. Und gleichzeitig darf ich mir auch erlauben, ein Leben ohne den Verstorbenen zu führen. Erst wenn der Tag nicht mehr gefüllt und bestimmt wird mit Erinnerungen und Sehnsucht nach dem Verstorbenen, kann man frei sein für Neues.
Die Zeit der Trauer wird immer wieder mit so tiefen Gefühlen erlebt, dass viele Betroffene Angst bekommen, »verrückt« zu sein. Und das stimmt auch, wenn man dieses Wort wirken lässt: Sie wurden ver-rückt, weg von ihrem bisherigen Platz im Leben, von ihrem bisherigen und geplanten weiteren Lebensweg. Sie müssen jetzt einen neuen Weg gehen, einen ohne den Verstorbenen. Das, was vorher wichtig war, ist jetzt vielleicht ohne Belang. Aspekte, Momente, Details, die bisher bedeutungslos schienen, bekommen dagegen großen Wert. Der Blick auf die Welt und das Leben kann sich nach einem Todesfall völlig verändern. Auch wenn jemand nach drei, sechs oder zehn Jahren in einer bestimmten Situation berührt und an den Verstorbenen erinnert wird, ist das ganz normal.
Wir erleben oft, dass Trauernde oder Menschen in ihrem Umfeld sich sorgen, dass aus einer intensiven Trauer psychische Störungen wie Depressionen, Angsterkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen entstehen könnten: »Wieso ist Mutter denn immer noch nicht über Vaters Tod hinweg, das ist doch jetzt schon drei Jahre her?«, fragt man sich.