Das letzte Memo - Andreas Krebs - E-Book
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Das letzte Memo E-Book

Andreas Krebs

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Beschreibung

Ein Toter, ein angesehenes Familienunternehmen und illegale Chemiewaffenexporte - eine unfassbare Kombination und doch genau so passiert! Als ein unauffälliger Mitarbeiter des Unternehmens RheinHansa unter mysteriösen Umständen stirbt, nehmen Kriminalhauptkommissarin Claudia Janssen und ihr Lebensgefährte, Rolf Lindner, der Sicherheitschef der Firma, die Ermittlungen auf. Zunächst arbeiten sie getrennt, doch bald sind sie gezwungen, ihre Nachforschungen gemeinsam fortzusetzen. Was sie nach und nach aufdecken, reicht weit über den Todesfall hinaus: illegale Chemieexporte in Krisengebiete und mögliche Korruption bis in die höchsten Ebenen des Unternehmens. Inmitten der Intrigen und Machtspiele wird der Büroalltag mit seinen eigenwilligen Chefs und skurrilen Kollegen zur Bühne für bissigen Humor. Doch als das letzte Memo auftaucht, verändert sich alles.

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Hinweis für unsere Leserinnen und Leser:

Dieses Buch enthält einige Abkürzungen und Fachbegriffe, die alle mindestens einmal im Text erklärt werden. Um Ihnen das Lesen so angenehm wie möglich zu gestalten, haben wir am Ende des Buches ein Glossar zusammengestellt. Dort finden Sie eine Übersicht und kurze Erklärungen zu diesen Begriffen, falls Sie Fragen haben und/oder nochmal nachschlagen möchten.

Um den Lesefluss zu erleichtern, haben wir uns in diesem Buch für die Verwendung einer einheitlichen Sprachform entschieden. Selbstverständlich sind dabei stets alle Geschlechter mitgemeint. Wir schätzen die Vielfalt und Gleichberechtigung jedes Einzelnen.

Sämtliche Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Auch wenn wir auf unser Insiderwissen und viele Jahre Erfahrung mit hervorragenden, mittelmäßigen und weniger kompetenten Führungskräften sowie auf inspirierende, herausfordernde und dunkle Momente zurückgreifen konnten, sind die dargestellten Figuren reine Prototypen und haben keinerlei Bezug zu real existierenden Personen.

Wir wünschen Ihnen viel Freude und Spannung mit unserem Buch!

Über das Buch und die Autoren

In diesem Kriminalroman treffen Spannung und Insiderwissen aufeinander: Ein mysteriöser Todesfall in einem angesehenen Familienunternehmen, illegale Machenschaften und das komplexe Zusammenspiel von Macht und Moral.

Die Autoren, selbst ausgewiesene Experten der Unternehmenswelt, entführen die Leser in eine authentische und zugleich unterhaltsam ironische Darstellung des Unternehmensalltags. Mit tiefem Verständnis für die zwischenmenschlichen Dynamiken und Intrigen in großen Konzernen verleihen sie der Geschichte eine feine Prise schwarzen Humors und bieten Einblicke, die nur echte Insider bieten können. Die Ermittlungen decken nicht nur die Mechanismen eines korrupten Systems auf, sondern beleuchten auch das fesselnde Beziehungsgeflecht zwischen den Charakteren.

Das kultige Ermittler-Paar, Claudia Janssen und Rolf Lindner, mit seiner ganz besonderen Beziehung, die Inhaberfamilie der RheinHansa, mit ihren Werten und ihrer langen Unternehmensgeschichte, sowie die vielschichtige Belegschaft – von engagierten Mitarbeiter über vorbildliche bis hin zu weniger guten Chefinnen und Chefs – und die hochaktuelle Thematik illegaler Dual-Use-Exporte bieten ein einzigartiges Leseerlebnis.

Andreas Krebs und Christian Velmer sind globale Führungskräfte mit jahrzehntelanger Erfahrung in internationalen Unternehmen und bringen diesen reichen Erfahrungsschatz auf faszinierende Weise in ihr Buch ein. Sie haben auf fast allen Ebenen selbst gearbeitet: im Außendienst, als Sachbearbeiter, Abteilungsleiter, Geschäftsführer, Vorstand und Aufsichtsrat. Beide haben in jeweils sieben Ländern gelebt – in Lateinamerika, Asien, Europa und Nordamerika. Gemeinsam verstehen sie es, Realität und Fiktion so zu verweben, dass dieser Krimi gleichermaßen authentisch, spannend und unterhaltsam ist.

Mehr über das Buch und die Autoren finden Sie auf unserer Webseite: www. krebsvelmer-krimi.com

INHALT

Prolog

DIENSTAG, 6. September

MITTWOCH, 7. September

DONNERSTAG, 8. September

FREITAG, 9. September

SAMSTAG, 10. September

SONNTAG, 11. September

MONTAG, 12. September

DIENSTAG, 13. September

MITTWOCH, 14. September

DONNERSTAG, 15. September

FREITAG, 16. September

SAMSTAG, 17. September

SONNTAG, 18. September

MONTAG, 19. September

EPILOG

Glossar

Danksagung

PROLOG

Sonntag, 4. September

Der Sachbearbeiter war verwirrt. Er stand mitten im Wald, den Aktenkoffer unter den rechten Arm geklemmt, als wollte er ihn vor fremdem Zugriff schützen.

Der Mann, der vor ihm stand, streckte beide Hände aus. Er wollte den Koffer haben. Die Papiere darin. So war es vereinbart gewesen. Deshalb hatten sie sich getroffen, man hatte ihn dazu gedrängt.

Seine Frau hatte sich gewundert, als er ihr erklärte, er wolle noch mal kurz in den Wald fahren und Pilze sammeln. Angeblich sei das Wetter günstig. In Wahrheit war der Regen erst für die kommende Nacht angesagt worden. Aber als sie ihn mit seinem Körbchen in der Hand vor sich sah, hatte sie nur genickt und scherzhaft gesagt: »Komm nicht zu spät zurück. Sonst gibt’s kein Abendbrot.«

Und so war er losgefahren, tief hinein in den Langenheimer Forst, bis zu diesem abgelegenen Parkplatz, den nur wenige kannten.

Er war möglichst früh losgefahren, damit er genügend Zeit hatte, um auch wirklich Pilze zu sammeln. Die Pilze sind mein Alibi, hatte er gedacht, als er auf den Waldweg eingebogen war. Aber wieso eigentlich? Ich tue doch gar nichts Schlimmes. Ich will nur etwas loswerden. Damit man mich in Zukunft in Ruhe lässt. Ich habe meine Arbeit immer korrekt erledigt. Ich muss mir keine Vorwürfe machen.

So dachte er, aber er wusste, dass es nicht stimmte. Genau das war sein Problem. Deshalb stand er nun mitten im Wald mit dem Aktenkoffer unter dem Arm. Und ihm gegenüber streckte ein Mann ungeduldig die Hände aus.

Nachdem er genug Pilze gesammelt hatte, war er zurückgekommen, hatte den Korb auf dem Beifahrersitz abgestellt, sich selbst hinters Steuer gesetzt und gewartet. Nach einigen Minuten war seine Verabredung eingetroffen – pünktlich, immerhin! – und hatte seinen Wagen schräg gegenüber unter einer dunklen Fichte geparkt. Hatte das Seitenfenster heruntergelassen und ihm freundlich zugenickt. Dann war er ausgestiegen und hatte sich umgeschaut.

Der Sachbearbeiter war ebenfalls ausgestiegen, den Koffer in der Hand. Die beiden Männer waren aufeinander zugegangen. Der andere hatte sich immer wieder umgeschaut, in den Wald gespäht. Nicht etwa ängstlich, sondern – erwartungsvoll. Wieso?

Motorengeräusch, knirschende Reifen.

Der Sachbearbeiter hielt den Koffer jetzt vor der Brust, fest umklammert.

Er hörte ein Motorengeräusch, es kam immer näher. Sein Herz raste.

Ein drittes Fahrzeug bog auf den Parkplatz ein und stoppte gegenüber. Die drei Autos bildeten ein Dreieck, in dessen Mitte die beiden Männer standen.

Der dritte Mann stieß die Tür auf und stieg aus. Er trug Gummistiefel. Nicht etwa Wanderschuhe, so wie er, oder Schnürstiefel wie sein Gegenüber.

Eigenartig. Der Mann kam ihm bekannt vor. Wo hatte er ihn schon mal gesehen?

Da fiel es ihm ein.

Der Sachbearbeiter machte einen Schritt nach hinten. Dann noch einen.

»Was ist denn?«, fragte der Mann, mit dem er verabredet war.

»Hallo!«, rief der Mann mit den Gummistiefeln. Er sprach Deutsch mit einem eigenartigen Akzent.

Der Sachbearbeiter drehte sich um und ging eilig zu seinem Wagen zurück.

»He, was ist denn? Warten Sie doch!«, hörte er hinter sich.

»Was will er? Hat er es dabei?«

»Ja doch! Der Koffer!«

»Halt!«

Der Sachbearbeiter öffnete die Fahrertür, stieg ein, stellte den Koffer vor den Beifahrersitz und betätigte den Knopf für die Zentralverriegelung, nur ganz knapp, bevor der andere den Wagen erreichte. Dann startete er den Motor.

Der Mann, mit dem er verabredet gewesen war, rannte zu ihm, versuchte, die Fahrertür zu öffnen, dann die hintere Tür, vergeblich. Er lief zur Heckklappe, zerrte daran und musste beiseite springen, als der Passat zurücksetzte.

Der Sachbearbeiter wendete behutsam, umfuhr vorsichtig den Mann, der sich ihm mit ausgebreiteten Armen in den Weg stellte, und lenkte seinen Wagen auf den Waldweg. Er gab Gas und schaltete in den zweiten Gang. Schneller als zwanzig Stundenkilometer konnte man auf dieser holprigen Piste nicht fahren. Und warum auch? Er wollte nur nach Hause. Ein kurzer Blick auf die Uhr beruhigte ihn: Bis zum Abendbrot war noch genügend Zeit.

Er schaute in den Rückspiegel und sah gestikulierende Arme. Er warf einen Blick durchs Seitenfenster und sah Beine, die durchs Unterholz preschten. Kurz nahm er das Gas weg, als der Wagen unsanft durch zwei tiefe Schlaglöcher ruckelte. Er schaltete zurück in den ersten Gang und rollte vorsichtig weiter.

Das Sicherheitsglas des Heckfensters zerplatzte, es regnete Kristalle. Sein Kopf wurde jäh nach vorn gestoßen und prallte gegen das Lenkrad. Er hörte einen Knall. Sein rechter Fuß zuckte und drückte das Gaspedal herunter. Der Passat machte einen Satz, ruckte wie ein erschrockenes Tier und prallte gegen den dicken Stamm einer Buche.

Der Sachbearbeiter war unfähig sich zu bewegen. Sein Kopf lag seitlich auf dem Lenkrad, als wäre er dort festgenagelt. Er wunderte sich, dass der Korb mit den Pilzen nicht umgefallen war.

Hände tasteten die Beifahrertür ab, zerrten vergeblich am Türgriff. Schwere Schläge gegen die Scheibe. Das Glas splitterte. Die Tür wurde aufgerissen. Ein kräftiger Arm zog den Aktenkoffer heraus. Er stieß gegen den Korb, der umkippte und seinen Inhalt preisgab.

Die schönen Pilze … Der Gedanke ließ ihn nicht los, aber er konnte nichts mehr tun.

DIENSTAG, 6. SEPTEMBER

1

Luca Fontana stieg auf. Als der Airbus 320 eine Kurve beschrieb und sich leicht zur Seite neigte, schaute der Abteilungsleiter für den Bereich Europa, Naher Osten und Afrika der Chemie-Sparte des RHEIN-HANSA-Konzerns durchs Kabinenfenster. Er freute sich auf den Kaffee. Der schmeckte im Flieger zwar nicht so gut wie in seinem geliebten Mailand, wurde aber vom Kabinenpersonal der Business Class mit ausgesuchter Höflichkeit serviert. Vor allem leise, denn nichts fand er deprimierender, als den Tag in Gesellschaft eines röchelnden deutschen Kaffeeautomaten zu beginnen. Manche der Flugbegleiter kannten ihn schon: Er war das, was man einen Vielflieger nennt. Heute ging es geschäftlich nach Barcelona.

Blauer Himmel über Langenheim, die Stadt lag unter ihm wie ein Miniaturwunderland. Geschäftig nicht zuletzt dank der RHEIN-HANSA AG. Die berühmte Firma hatte die Stadt im Rheinland auf allen Kontinenten bekannt gemacht. Und ich bin ein wichtiger Teil davon, stellte Fontana zufrieden fest, als die Flugbegleiterin ihm lächelnd seine Tasse servierte, natürlich »schwarz und Zucker bitte doppelt«, dazu ein Schoko-Croissant.

Und da war auch schon das Betriebsgelände zu sehen, gut zu unterscheiden von den umliegenden Siedlungen, ein wahres Konglomerat an Verwaltungsgebäuden verschiedener Epochen, angefangen bei Backstein bis hin zu Beton und Glas und Produktionsstätten mit ihrem charakteristischen industriellen Wildwuchs, der durch den Wandel der Produktpalette sowie Neu- und Umbauten über die letzten hundert Jahre entstanden war: mal sachlich-karge, mal auftrumpfend-kühne Industriearchitektur, in der sich Stahlgerüste türmten, Rohrsysteme wucherten, Tanks und Schornsteine aufragten, dazwischen Straßen und Verbindungswege, Stahlgassen und Aluminiumtunnel.

12.000 Mitarbeiter allein am Hauptstandort. Eine für Deutschland unverzichtbare Produktionsstätte für Chemikalien aller Art, zahlreiche pharmazeutische Produkte und eine breit gestreute Palette an Haushaltsreinigern. 26 Milliarden Euro Umsatz weltweit, 30.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in 96 Ländern, Tendenz: moderat steigend, mit einigen Spitzen in asiatischen und lateinamerikanischen Teilmärkten, aber auch einigen Wachstumsproblemen im gesamten Chemiebereich.

Fontana spähte nach unten auf das kleiner werdende RHEIN-HANSA-Gelände, als der Airbus einen Schwenk machte und Langenheim verschwand. Nun schaute er zufrieden in den weiten blauen Himmel und biss genussvoll in sein Schoko-Croissant. Für den Augenblick war er dem Alltag enthoben, er konnte sich glücklich schätzen. Denn die RHEIN-HANSA-Mitarbeiter dort unten lebten keineswegs in einer Wunderland-Idylle und waren auch nicht »abgehoben«. Sie hatten mit der Wirklichkeit zu tun, zum Beispiel Rolf Lindner, der stellvertretende Leiter der Global Corporate Security des Unternehmens …

2

Rolf Lindner schaute fasziniert die steile Anhöhe hinauf. Der verbeulte feuerrote Audi 80 hing in der Luft, pendelte träge über den trüben Wellen. Meine Güte, dachte er, die tun es wirklich. Der Teleskoparm des Krans wurde ein ganzes Stück weit über den Baggersee ausgefahren und stoppte. Der Mann im Führerhaus steckte den Kopf aus dem Fenster. Die Gestalt hinter dem Lenkrad des Audis pendelte vor und zurück.

»Autsch!«

»Hier spielt die Musik, mein Lieber!« Claudia zerrte und zupfte an Rolfs Armen, Schultern, Ellbogen und Handgelenken, während er sich wand wie ein Regenwurm am Angelhaken. »Wenn du nicht ruhig stehen bleibst, wird das nie was werden«, sagte sie.

»Verflixt und zugenäht! Wieso bleibt meine Hand immer an der gleichen Stelle stecken?«

»Weil du so ungeduldig bist.«

»Aber …«

»Geh noch mal raus.«

»Was?«

»Den Arm rausziehen, wir fangen von vorne an.«

»Das darf doch nicht wahr sein.« Rolfs Blick schweifte über das Ufer des Baggersees. Die Beamten der Sondereinsatzgruppe Tauchen der Freiwilligen Feuerwehr trugen schon Sauerstoffflaschen und diverse Bergungsutensilien zum Boot.

Sanfte Wellen plätscherten ans Ufer. Das Wasser war dunkelgrün, der Himmel grau. Der gestrige Regen hatte den Boden aufgeweicht. Ein kühler Wind wehte.

Der Tauchanzug war eine Tortur, jedenfalls für ihn. Claudia hatte ihren Anzug in einer Minute übergezogen. Sogar in diesem Neopren-Ding sah sie großartig aus, schlank und sportlich

»Gleich haben wir es geschafft.« Nun wurde sie doch ungeduldig. Endlich verschwand sein leichter Bauchansatz unter dem schwarzen Gummi. Aber die Wölbung war leider immer noch zu sehen.

»Ich sehe dämlich aus, oder?«, fragte er missmutig. Er fühlte sich wie ein Frosch, den jemand aufrecht auf die Hinterbeine gestellt hatte und nicht wusste, wie er sich nun verhalten sollte.

»Hab dich nicht so. Im Wasser bist du flink wie eine Robbe.«

Rolf war sich nicht sicher, ob das ein schmeichelhafter Vergleich war. In diesem unbequemen Anzug fühlte er sich träge wie eine Robbe an Land. Und überhaupt war ihm dieser See zu trüb.

»In der Karibik ist das Wasser glasklar, es gibt Korallen und bunte Fische, das Wasser ist warm …«

»Komm jetzt, die Kollegen warten.«

»Man kann im Bikini schnorcheln …«

»Ich sehe dich schon im Bikini.« Claudia lachte.

»Diese Übung hier ist absolut überflüssig.«

Sie bückte sich nach der Tarier-Weste, die den Auftrieb im Wasser kontrolliert, und den Flossen. »Komm jetzt, man kann nie genug trainieren.«

Rolf folgte ihrem Beispiel. Die diversen Schläuche der Tarierweste schlenkerten vor seinem Gesicht, als er hinter ihr her tapste. Er dachte an seinen Chef. Der hatte gestern, als Rolf ihn daran erinnerte, dass er heute eine »praxisorientierte Sicherheitsübung« machen würde, mit kaum unterdrückter Bewunderung gesagt: »Taucheinsatz? Donnerwetter, Lindner! Hut ab. Und das in Ihrem Alter …« Aber vielleicht war die Bewunderung nur gespielt gewesen. Und das mit dem Alter … Außerdem hatte Rolf sich bei dieser Gelegenheit mal wieder darüber geärgert, dass sein Chef ihn immer als »Lindner« ansprach. In einem Ton, den er sich wahrscheinlich in seiner Bundeswehrzeit angewöhnt und beim Werkschutz beibehalten hatte. Dass er inzwischen die »RHEIN-HANSA Global Corporate Security» leitete, hatte auf seinen Sprachmodus leider keine Auswirkung gehabt.

Jemand stieß einen Schrei aus. Die Blicke ruckten nach oben. Der knallrote Audi stürzte nach unten, landete mit einem deftigen Platschen auf der Wasseroberfläche und versank gurgelnd. Die rote Karosserie verschwand im graugrünen Nass. Kurz hatte es so ausgesehen, als würde der Dummy hinter dem Steuer vor Schreck die Arme in die Höhe werfen.

Am Ufer mühte Rolf sich mit den Flossen ab. Hatte man die erstmal an, sollte man sich besser nur noch rückwärts bewegen. Deshalb suchte er sich schnell einen Platz zum Sitzen.

»Alle an Bord? Es geht los«, informierte der Übungsleiter.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch saß Rolf neben Claudia, während das Boot auf den See hinaustuckerte.

»Kann man da unten überhaupt genug sehen?«

»Wir haben auch eine Tauchlampe für Sie, Herr Lindner, LED.«

Einer der Taucher half ihm beim Anschnallen der Tarierweste mit der Sauerstoffflasche.

Claudia war die einzige Frau, aber alle wussten, dass sie als Erste Kriminalhauptkommissarin in Düsseldorf die Mordkommission leitete. Manche sagten sogar respektvoll »Frau Kommissarin« zu ihr.

Auch er hatte Respekt vor seiner Lebensgefährtin. Mit ihren 42 Jahren war sie zwar nur zwei Jahre jünger als er, aber er fand sie »jugendlich«. Sich selbst würde er nicht mehr so einordnen. Aber Claudia neben sich zu haben, war eine Art Energiereservoir. Wer sonst hätte ihn jemals dazu überreden können, mit dem Tauchen anzufangen? Und in der Karibik Urlaub zu machen? Jetzt musste er doch lächeln. In Wahrheit hoffte er, am Strand bei Reggae-Klängen wieder an seine Jugendlager-Erinnerungen an der Ostsee anknüpfen zu können … mit einem quirligen Mädchen im Arm, also jetzt Claudia natürlich.

»Gut, dass der Wagen so rot ist«, sagte einer der Kollegen aus der Sondereinsatzgruppe Tauchen (SEG-T). »Dann finden wir ihn wenigstens da unten.« Ein zweiter lachte. Der See war glücklicherweise maximal fünfzehn Meter tief.

Nachdem das Boot verankert war, ließ sich ein Taucher nach dem anderen rückwärts ins Wasser fallen.

Die Übung fand offiziell unter der Bezeichnung »Bergung eines im See verunfallten Pkw mit simulierter Personenrettung« statt.

Rolf bewegte sich zusammen mit einem der Tauchkollegen mit zögernden Flossenschlägen nach unten. Aufsteigende Luftblasen nahmen ihm die Sicht. Er versuchte, sich an einem Taucher in der Nähe zu orientieren, aber der glitt ziemlich schnell in die Tiefe. Flink wie eine Robbe fühlte er sich nicht. Als er unten angekommen war und zuschaute, wie die Experten der SEG-T sich an dem Wagen zu schaffen machten und als Erstes den Dummy herausholten, konnte er nicht erkennen, wer von den Tauchern Claudia war. Kurz hatte er Angst, sie könnte verlorengegangen sein. Die ganze Situation im trüben Wasser mit dem irritierenden Licht der Stablampen und der diffus schimmernden Karosserie wurde ihm zunehmend unangenehm. Er meldete sich ab und war der Erste, der auftauchte und ins Boot geholt wurde.

Claudia war Gott sei Dank die Zweite, die nach oben kam. Im Boot half er ihr beim Abschnallen der Sauerstoffflasche.

»Das war ja spannend«, sagte sie. »Und wir haben sogar jemanden gerettet.« Sie deutete scherzhaft auf den Dummy, der von einem anderen Taucher auf das Boot gelegt worden war und seiner Ansicht nach viel toter als ein echter Toter aussah in seiner puppenhaften Schlaffheit, mit der starren unpersönlichen Fratze.

»Sollten wir ihn nicht an Land bringen und wiederbeleben?«, schlug Rolf vor.

Der Kollege von der SEG-T legte unschlüssig eine Hand auf die Steuer-Pinne.

Zwei Taucher stießen durch die Oberfläche. Der Teleskoparm ließ den Bergungshaken herunter. Die Taucher griffen danach.

»Die haben noch zu tun«, sagte Claudia. »Fahren Sie uns vorsichtig an Land.«

»In Ordnung, Frau Kommissarin.«

Am Ufer angekommen, schleppten sie den Dummy von Bord und brachten ihn am Strand in die stabile Seitenlage, »damit alles seine Ordnung hat«, wie Claudia scherzhaft meinte.

Dann halfen sie sich gegenseitig beim Ausziehen der Tauchanzüge. Die zweite Tortur des Tages. Zum Glück wurden sie abgelenkt durch das Geschehen auf dem See. Der Kran zog gerade den Audi aus dem Wasser. Motorhaube, Kofferraumdeckel und alle vier Türen standen auf, die Scheiben waren eingeschlagen worden, damit der »Zugriff auf verunfallte Fahrzeuginsassen und gefährdete Wertgegenstände« erfolgen konnte, wie es im Vorfeld geheißen hatte.

Ein Taucher hob die Hand und machte das »Okay«-Zeichen. Der Teleskoparm schwenkte zur Seite und hievte das Fahrzeug ans Ufer.

3

Claudia wunderte sich darüber, dass Rolf es auf einmal so eilig hatte. Er zog sich hastig seine Jogging-Klamotten über und schnürte die Sneakers. Schon vorhin hatte sie bemerkt, dass er heute seine ältesten, ausgeleierten Sachen anhatte. Kaum fertig, sprang er auf und schaute sich um. Tatendurstig, wie sie fand. Das überkam ihn gelegentlich, dann musste er »dringend etwas Nützliches tun«, wie er gern erklärte. In solchen Momenten entdeckte sie in ihm den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war. »Ich war ein bisschen unstet früher, unkonzentriert, meinten die Lehrer«, hatte er ihr einmal erzählt. »Aber wenn ich dann etwas fand, woran ich mir die Zähne ausbeißen konnte, war ich nicht mehr davon abzubringen.«

Sie deutete auf den Grill, den die Kollegen von der SEG-T schon bereitgestellt hatten. Daneben standen Säcke mit Holzkohle, ein Kasten Bier, ein Kasten Limo und mehrere Kühlboxen mit Grillgut und Beilagen. Ein Tapeziertisch lag daneben im Gras. Oben im Einsatzwagen lagen einige Klappstühle.

»Wir könnten schon mal den Tisch aufbauen und den Grill einheizen. Die Kollegen werden Hunger haben und …«

»Noch zu früh«, sagte Rolf und stapfte davon.

»Bitte?«

Er hob den Arm und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den demolierten Audi. »Es gibt was zu tun!«

»Na, hör mal!«, protestierte sie. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich hier die emsige Hausfrau spiele.« Das wäre das Allerschönste, dachte sie. Zumal bei ihnen die Rollen in der Küche anders verteilt waren. Rolf konnte gut kochen, also überließ sie ihm diese Aufgabe. Bei ihrem ersten Candlelight-Dinner hatte sie, nachdem ihm beim Kerzenanzünden mehrfach die Streichhölzer abgebrochen waren, mit dem Feuerzeug aushelfen müssen. Später hatte sie erklärt: »Ich habe mehr technischen Sachverstand, ich räume dann die Spülmaschine ein.« Was Rolf abgelehnt hatte, denn nach der zweiten Flasche Chianti bestand die Gefahr des Glasbruchs. Eins hatte sie bereits umgestoßen, als sie ihm unvermittelt einen feuchten Kuss auf die Nase verpasst hatte. Er war manchmal, und das hatte sie an diesem denkwürdigen Abend gemerkt, wirklich »süß«. Was er gar nicht gern hörte.

Wie lange war das jetzt her …?

Apropos technischer Sachverstand. Jetzt wurde ihr klar, was er im Schilde führte. Er ging um den Audi herum und drückte Türen, Motorhaube und Kofferraumdeckel zu. Dann kletterte er den Hang hinauf zum Einsatzfahrzeug und kam beladen mit allerlei Utensilien wieder herunter. Darunter befand sich ein merkwürdiges Gerät, das aussah wie das Skelett einer vorsintflutlichen Flutechse. Ein Stahlschneider. Der wurde nun zum Einsatz gebracht und eine Luke in das Dach des Fahrzeugs geschnitten.

Claudia schaute nur gelegentlich hin. Sie war mit dem Grill beschäftigt. Einer der Taucher, ein schlaksiger junger Mann mit dunklen Haaren und Sommersprossen, hatte plötzlich freundlich lächelnd neben ihr gestanden und vorschlagen, dass sie sich gemeinsam ums Essen kümmern. »Die kleinen Jungs vom Bauspielplatz werden bald Hunger kriegen«, meinte er.

Und nun stand sie am Grill und wachte über Würste und Nackensteaks, während er die karierte Tischdecke auf dem Klapptisch ausbreitete, Stühle ranschaffte und Teller und Besteck hinlegte.

Nachdem sie die Karosserie zerlegt hatten, kamen die Männer endlich herüber. Rolf trat zu ihr neben den Grill und sagte verwundert: »Nanu?«

»Viele Männer, die nicht wissen, wie man Kartoffeln schält, glauben, sie könnten am Grill den Küchenmeister herauskehren. Warum sollte ich dann nicht auch eine gewisse Begabung dafür haben?«

»Ich meinte eigentlich das Fleisch …«

Sie hob eine Wurst hoch. »Soja-Bratwurst Thüringer Art. Die Kollegen haben an alles gedacht. Genauer gesagt Sascha dort drüben, der für die Verpflegung der Truppe verantwortlich ist.« Sie deutete auf den jungen Mann mit den Sommersprossen.

»Aha«, sagte Rolf unschlüssig und schaute an sich herunter. Sein Jogginganzug war dreckig, seine Hände schwarz.

»Da ist ein See mit viel Wasser zum Waschen«, sagte Claudia und lächelte.

Er zwinkerte ihr zu. »Du weißt einfach immer, worauf es ankommt.« Dann ging er sich waschen, die anderen folgten ihm.

Irgendwann wurde Claudia am Grill abgelöst und sie hockten sich ins Gras, denn inzwischen war die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und es wurde angenehm warm.

Die Kollegen von der SEG-T hatten ein Boule-Spiel dabei und steckten einen Platz ab. Der Audi wurde mit dem Kran wieder auf den Abschleppwagen gehievt. Jemand beklagte, dass sie eine Menge Glas auf dem Grund des Sees hinterlassen hätten. Umweltfreundlich sei das nicht.

Claudia merkte, wie Sascha sie zum wiederholten Mal von der Seite her anschaute. Sie rückte ein Stückchen in Richtung Rolf.

Ihr Diensthandy klingelte.

»Janssen?«

Rolf schaute sie fragend an.

»Ja, verstehe. Ja, kann ich … Schick mir die Koordinaten aufs Handy. Ich fahr sofort los. Kein Problem. Danke.«

Sie stand auf und steckte das Handy ein.

»Was ist?«, fragte Rolf.

»Ein Toter im Langenheimer Forst. Ich muss los. Nimmst du meine Ausrüstung mit?«

»Klar, mach ich.«

»Also dann, bis später …«, sagte sie zu Rolf und in die Runde: »Tschüss und vielen Dank für alles!«

Bier- und Limo-Flaschen wurden angehoben. Vielstimmiges Abschiedsgemurmel. Kaum war sie in ihren Mini Cooper gestiegen, vibrierte das Handy.

Die Koordinaten waren da.

4

Die grüne Farbe ihres Cabrios passte zum Mischwald im Langenheimer Forst. Es roch nach Moos und feuchter Erde, kühle Luft wehte ihr ins Gesicht, denn sie hatte das Verdeck geöffnet. Das Navi führte sie direkt zu einem tief im Wald gelegenen Parkplatz mit Rastplatz und Schutzhütte. Der Forst diente als ausgedehntes Naherholungsgebiet, das eher zum Wandern als zum Spazierengehen einlud. Hier in der Nähe hatte sie mal Rolf zum regelmäßigen Joggen überreden wollen. Es war dann auf unregelmäßiges Wandern und ein paar Fahrradtouren hinausgelaufen, immerhin. Allerdings hatte Rolf sich kürzlich ein E-Bike angeschafft, was sie in ihrem sportlichen Ehrgeiz als Mogelei empfand.

Noch vor dem Parkplatz standen zwei Streifenwagen, ein Rettungswagen und ein Einsatzfahrzeug der Spurensicherung auf dem Waldweg. Kriminalkommissar-Anwärterin Katharina Haupt, mit der sie unterwegs telefoniert hatte, wartete neben dem letzten Fahrzeug und winkte ihr zu. Sie war im dritten Ausbildungsjahr an der Polizeihochschule in Münster und stolz darauf, in der Mordkommission Praxiserfahrung sammeln zu dürfen. Dies dürfte wohl ihre erste Leiche sein.

Falls sie irritiert war, dass ihre Chefin im sehr legeren Freizeit-Look auf sie zuging, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie selbst trug Jeans, Sweatshirt und Lederjacke, hatte braune, kurzgeschnittene Haare. An ihren weißen Sneakern klebten dicke Erdklumpen.

Sie begrüßten sich und die Kollegin berichtete.

»Eine männliche Leiche in einem VW Passat. Der Fundort liegt ein Stück weiter im Wald. Das Fahrzeug ist gegen einen Baum geprallt, geringer Blechschaden. Ein Spaziergänger ist darauf aufmerksam geworden und hat die 110 angerufen. Sicherungsangriff erfolgte durch zwei kurz hintereinander eintreffende Streifenwagen, Auswertungsangriff durch die Kollegen des Tatort-Dienstes und, äh, mich. Jetzt, äh, Sie natürlich, Entschuldigung. Gefahrenabwehrende Maßnahmen waren nicht erforderlich, da außer dem Toten und dem Zeugen niemand anwesend war. Der Tatort wurde bereits abgesperrt.« Sie deutete in den Wald.

Zwischen den Baumstämmen konnte Claudia das rot-weiße Polizeiband aufschimmern sehen. Innerlich schmunzelte sie ein wenig über den Eifer der jungen Kollegin und ihr Polizeischulen-Vokabular.

»Der Notarzt ist schon wieder weggefahren und …«

»Wieso sind wir hier?«, fragte Claudia.

Haupt schaute sie irritiert an. »Wie bitte?«

»Ein Auto-Unfall mit Todesfolge. Dafür ist die Verkehrspolizei zuständig.«

»Oh, nein …« Die junge Polizistin hob den Zeigefinger. »Es handelt sich um ein Tötungsdelikt. Der Tote, also der Mann … das Opfer … wurde von einem Projektil getroffen … daher …«

»Erschossen?«

»Zumindest angeschossen, sagte der Notarzt. Wahrscheinlich verblutet.«

»Zeitpunkt?«

»Äh … der Notarzt meinte, der Mann sei mindestens schon einen Tag tot. Er meinte auch, der Tote müsse zunächst über dem Lenkrad gelegen haben, dann sei die Totenstarre eingetreten, und als die wieder abgeklungen ist, sei der Tote wahrscheinlich seitlich nach rechts abgerutscht und hängt jetzt schief über der Mittelkonsole …« Haupt brach ab und verzog das Gesicht.

»Gut. Das kriegen wir alles noch haarklein von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung«, sagte Claudia. »Was ist mit dem Zeugen?«

»Der wartet im Einsatzfahrzeug.« Sie deutete nach vorn.

»Hat schon jemand mit ihm geredet?«

»Ja, also ich. Aber … nicht verhört. Nur zugeredet. Der Mann war verstört. Er brauchte erstmal …« Sie suchte nach dem richtigen Wort.

»Zuspruch?«

»Ja. Er sagte immer wieder das Gleiche: ›Da kennt man einen … und dann liegt er da … mausetot‹. Das hat er mehrfach wiederholt.«

»Haben Sie ihn schon belehrt?«

»Oh, äh, nein. Hätte ich?«

»Machen wir jetzt«, Claudia ging los, »bevor ich mir den Toten anschaue. Frische Eindrücke bei Zeugen sind die besten. Haben Sie einen Notizblock dabei?«

»Nein, das ist jetzt …«

»Nehmen Sie das Gespräch mit dem Handy auf, okay?«

»Ja, gut.«

»Wie heißt der Mann?«

»Gregorius, Walter.«

Vor dem Einsatzfahrzeug stand eine uniformierte Beamtin und grüßte Claudia freundlich: »Hallo, Frau Janssen.«

»Hallo, Frau Kollegin. Wie geht es dem Zeugen?«

»Na ja, er klammert sich an seinem Körbchen fest. Frau Haupt hat ihm eine Flasche Wasser hingestellt, aber die rührt er nicht an.«

Die Beamtin zog die Seitentür auf. Auf der Rückbank saß ein älterer Herr, ungefähr 70 Jahre alt. Auf dem Schoß hatte er einen geflochtenen Korb, der allerdings leer war.

»Guten Tag, Herr Gregorius«, sagte Claudia und nahm ihm gegenüber Platz. »Dürfen wir Ihre Aussage aufzeichnen?«

Ihre junge Kollegin setzte sich neben sie und aktivierte die Aufnahmefunktion des Handys. Der Angesprochene nickte nur.

»Wenn Sie Angaben zur Sache machen können, sind Sie gehalten, die Wahrheit zu sagen, andernfalls könnten Sie sich gegebenenfalls strafbar machen. Haben Sie das verstanden?«

Der Mann lächelte dünn: »Ja, hab ich. Das ist wie im Fernsehen …«

»Sie haben den Toten gekannt?«

»Ja, das heißt nein. Also nur vom Sehen. Wir sind beide Pilzsucher. Da trifft man sich gelegentlich. Wir kannten einige Stellen. Er hat mir mal einen Tipp gegeben, ich ihm. Man kann aber nicht sagen, dass wir uns oft getroffen hätten. Einmal im Jahr oder alle zwei läuft man sich über den Weg, grüßt oder nickt sich mal zu.«

»Kennen Sie seinen Namen?«

»Jetzt ja, vorher nicht. Der eine Polizist hat seinen Ausweis gefunden. Horst-Dieter Bergmanns.« Er hielt kurz inne. »Wir haben uns nie bekannt-gemacht. Ich war heute eigentlich gar nicht auf Pilze aus, da gehe ich nämlich viel früher los. Ich wollte bloß ein bisschen durch den Wald gehen.« Er deutete auf den Korb. »Den habe ich immer dabei für den Fall, dass … Aber als ich auf dem Waldweg um die Kurve kam … Also, ich dachte, was für ein merkwürdiger Autounfall. Dann sah ich den Mann hinterm Steuer und hab gleich angerufen und gewartet. Das war eigenartig, also verstörend. Aber die Polizei war ja schnell hier.«

»Waren noch andere Personen in der Nähe?«

»Nein, niemand. Der Parkplatz ist recht abgelegen. Man fragt sich, wieso es den hier überhaupt gibt, so weit im Wald drin. Als hätte man vergessen, den Weg abzusperren. Wissen Sie, ich bin immer zu Fuß unterwegs. Man sollte die Natur nicht mit Autos belästigen.«

»Ist Ihnen irgendwann einmal etwas an Herrn Bergmanns aufgefallen?«

Der Zeuge dachte nach. »Nur eins: Er mochte die Jäger nicht.«

»Wieso das denn?«

»Wegen der Pilze. Vor drei Wochen, als ich ihn das letzte Mal traf, haben wir kurz geredet. Er war sehr verärgert, weil die Jäger, die immer schon früh auf die Pirsch gehen, ihm den besten Platz für Steinpilze zertrampelt hätten. Steinpilze! Das konnte ich verstehen.«

»Hat er erwähnt, dass er Auseinandersetzungen hatte?«

»Er meinte, er hätte es aufgegeben, sie auszuschimpfen. Es hätte keinen Zweck. Aber wütend war er schon.«

Mehr Hinweise waren dem Mann nicht zu entlocken. Claudia gab der uniformierten Kollegin den Auftrag, dafür zu sorgen, dass der Zeuge nach Hause gebracht wurde.

»Hat schon jemand die Angehörigen des Toten informiert?«

»Soweit ich weiß, nicht.«

Claudia ging mit ihrer Assistentin über den mit Bucheckern übersäten Waldboden bis zur Absperrung. Sie zog sich Schuhüberzieher, Haarhaube und Schutzhandschuhe an und lief über den abgesicherten Trampelpfad zur Unfallstelle. Ihre Assistentin blieb hinter dem gelben Band zurück.

Der Passat war vom Waldweg abgekommen und mit nicht sehr hoher Geschwindigkeit frontal gegen eine stattliche Buche geprallt. Die Heckscheibe und das Seitenfenster auf der Fahrerseite waren zerstört, das Beifahrerfenster auch, nur die zersprungenen Ränder der Scheibe hingen noch im Rahmen. Die Beifahrertür stand offen. Auf dem Beifahrersitz lag ein umgekippter Korb, ähnlich dem des Zeugen. Im Korb lagen ein paar Pilze, aber der größte Teil davon war herausgefallen, einige lagen im Fahrzeug, andere auf dem Waldboden. Wer hatte die Tür geöffnet und warum? Hatte der Täter nachsehen wollen, was er angerichtet hatte? Prüfen, ob das Opfer wirklich tot war?

Der Tote hing schräg über der Mittelkonsole in einer ungelenken Körperhaltung. Kleine rostbraune Flecken auf dem blau-weiß gestreiften Kragen seiner blauen Windjacke und der rechten Schulter. Der Mann hatte graue Haare in klassischem Fassonschnitt und trug eine Brille mit Metallfassung. Auf seiner beigefarbenen Breitcordhose waren große braune Flecken zu sehen. Offenbar war Blut aus Mund und Nase nach unten getropft.

Ein Kollege im Schutzanzug trat zu ihr: »Der Schütze stand dort drüben am Rand des Parkplatzes. Entfernung 84,36 Meter.«

»Wie wurde der Mann identifiziert?«

Der Kollege hielt ihr eine Plastiktüte hin, in dem ein Personalausweis steckte: Horst-Dieter Bergmanns, geboren am 29.04.1961. »Gleiche Angaben wie auf dem Fahrzeugschein.« Der Beamte deutete zur heruntergeklappten Blende, wo der Schein feststeckte. »Der Mann wurde Montagmorgen als vermisst gemeldet. Wohnte gar nicht weit von hier.«

»Schwanenweg 10«, las Claudia.

5

»Guten Tag, Herr Klausner.«

Frau Schmitz trat ein, mit dem Laptop in der Hand. Sie trug, passend zu ihrem kastanienbraunen Pagenkopf, ein hellgraues Business-Kostüm mit blauer Bluse und dezent-gelbem Halstuch und lächelte den Leiter des Bereichs »Mid-Size and Distributor Countries« freundlich an. In Mails und Memos kürzte sie sich gerne als ACS, ab.

»Holá y buenos dias!«, sagte Klausner gutgelaunt und fügte hinzu: »Pünktlich auf die Sekunde, Frau Schmitz!«

14.30 Uhr. Die Zeit konnte er an der großen Wanduhr gegenüber am Gebäude des Werkschutzes (jetzt Global Corporate Security) ablesen, die er durch seine drei Bürofenster sehen konnte. Das Farbenspiel der Sonne auf den roten Klinkern verschaffte ihm Entspannung, wenn die Geschäftszahlen in seinem Kopf ein Eigenleben entwickelten.

Auch wenn er es niemals offen aussprechen würde, war er sehr zufrieden damit, dass es aufgrund der baulichen Gegebenheiten im Chemie-Gebäude nie zu großen Umbauten gekommen war. Es gab hier keine Großraumbüros wie in der Pharma-Abteilung, sondern individuelle Räume. Unter den Kollegen wurde das nie thematisiert, aber Klausner hatte den Eindruck, dass die meisten, so wie er, gern mal »die Tür hinter sich zumachten«. Nachteil war, dass man ständig zum Telefon greifen musste, um etwas abzuklären oder sich mit den Assistenten oder Assistentinnen kurz abzustimmen.

Frau Schmitz war tatsächlich auf die Sekunde genau eingetreten, aber die Bemerkung hatte er aus Verlegenheit gemacht. Denn obwohl sie schon zwei Monate in seiner Abteilung als Trainee absolviert hatte und überhaupt nicht herauskehrte, dass sie zur Gründer- und Inhaberfamilie gehörte, war Klausner ihr gegenüber leicht gehemmt. Also gab er sich locker, jedoch in dem Bewusstsein, auch die Freundlichkeit nicht übertreiben zu dürfen. Eine schwierige Gratwanderung.

Schmitz schien das zu spüren und half ihm, wenn es sich anbot, mit freundlichen Bemerkungen wie dieser:

»Sie haben immer so schöne Blumen, Herr Klausner.« Sie betrachtete den üppigen Herbstblumenstrauß auf seinem runden Bürotisch.

»Eine Angewohnheit aus meiner Zeit in México«, sagte Klausner. Er sprach es spanisch aus. »Mein damaliger Chef, Alberto Ruiz y Campa, sagte immer: Kein Tag ist so trist, dass er nicht von schönen Blumen gerettet werden könnte.«

»Ein schöner Ausspruch.«

»Ja, finde ich auch. Nehmen Sie doch Platz, Frau Schmitz.«

Die Blumen brachte Klausner jeden Montag persönlich ins Büro mit. Mittwochabend packte er sie sorgfältig in Zeitungspapier ein und machte sie daheim seiner Frau zum Geschenk. Das Zeitungspapier stammte von der FAZ, die auf einem extra dafür aufgestellten Lesepult lag. Als leitender Mitarbeiter bekam er sie jeden Tag vom Postboten ins Büro gebracht und nahm sie abends mit nach Hause, wo er leider nur sehr selten dazu kam, sie genauer zu studieren, bestenfalls mal den Sportteil. Er achtete stets darauf, nur die Seiten des Wirtschaftsteils für das Einwickeln der Blumen zu verwenden. Gelegentlich fragte ein Mitarbeiter, ob er die Zeitung ausleihen oder vielleicht sogar abends mitnehmen dürfte, aber das lehnte Klausner stets entschieden ab.

Schmitz nahm auf einem der vier Stühle am runden Tisch Platz, das Tablet auf dem Schoß. Klausner ging zum Drucker und nahm einen Stapel heraus. Damit setzte er sich an den Tisch und legte ihn ordentlich vor sich hin. Schmitz wischte über den Bildschirm und hatte nun Zahlenkolonnen vor Augen.

Klausner blickte irritiert zur Tür. »Wo bleiben denn die anderen?«

»Frau Schnittker bekam gerade einen Anruf von Herrn Fontana aus Barcelona. Sie sollte ihm rasch etwas heraussuchen.«

»Hm.«

»Er wird ja morgen auf jeden Fall dabei sein, soweit ich das mitbekommen habe.«

»Ja, gut.« Innerlich bezweifelte Klausner, dass Fontanas Anwesenheit bei der anstehenden Präsentation für ihn selbst von Vorteil wäre. Mit seinem Chef war er auch nach über einem Jahr Zusammenarbeit noch nicht warm geworden. Was auch daran lag, dass Fontana ständig unterwegs war – allerdings nie in seinen Mid-Size-Ländern. Klausner mutmaßte, dass Fontana sich für seinen Bereich überhaupt nicht interessierte, weil ihm Randmärkte (spöttisch auch »non-core« genannt) und Länder mit Vertrieb durch Fremdfirmen unbedeutend vorkamen. Klausner selbst hatte nach einigen Jahren in Lateinamerika auf ein anspruchsvolleres Arbeitsgebiet spekuliert. Sein Pech war gewesen, dass während seiner Zeit in Mexiko der Gewinn aufgrund einer tückischen Hyper-Inflation eingebrochen war und seine zögerlichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung leider nicht gegriffen hatten. Das hatte seiner Karriere einen Dämpfer verpasst.

»Und Herr Bergmanns? Wo bleibt er denn? Er ist doch sonst immer pünktlich.«

Schmitz schaute ihn überrascht an. »Herr Bergmanns ist seit gestern nicht im Haus.«

»Seit gestern …«

»Er hat am Freitag alles vorbereitet …« Sie deutete auf ihren Bildschirm. »Aber ich dachte auch, dass ich mit ihm zusammen …«

»Was sagt denn Frau Schnittker?«

»Sie sagte, Herr Bergmanns sei gestern nicht dagewesen und heute auch nicht. Mehr wisse sie nicht. Wahrscheinlich ist er krankgeschrieben.«

»Bergmanns krankgeschrieben?«

Der hat doch noch nie gefehlt, dachte Klausner, ausgerechnet jetzt! Morgen ist doch der Budget Kick-off für den Chemiebereich. Dafür brauchen wir ihn in jedem Fall. Schließlich betreut er die Länder mit Distributoren, also ohne eigene RHEIN-HANSA-Niederlassung, seit vielen Jahren.

Bei Präsentationen machte Klausner eher eine unglückliche Figur, das wusste er. Eloquent und präzise ein solides Zahlenwerk präsentieren, über die Lage in fünfzehn Monaten nicht bloß spekulieren, sondern konkrete Behauptungen aufstellen, fand er schwierig. Andere liefen in dieser Situation zur Hochform auf, zogen eine regelrechte Show ab. Klausner jedoch klebte meistens an den Papieren, die Bergmanns ihm vorgelegt hatte, und hoffte, dass niemand zu konkrete Fragen stellte.

Frau Dr. Hornburg, die zuständige Bereichsvorständin, erwartete neue Impulse, das stand fest. Wenn die ausschließlich von Fontana kamen, der wusste, wie man die mageren Perspektiven beim RHEIN-HANSA-Sorgenkind »Chemie« effektvoll kaschierte, dann würde Klausner blass dastehen.

Da kann ich vor dem Spiegel üben, solange ich will, dachte er sorgenvoll, irgendwann fasse ich mir doch unwillkürlich an die Brille oder die Krawatte und gerate ins Schwitzen.

Er blätterte durch den Stapel Ausdrucke. »Ich will nur noch mal kurz einen Blick auf die Zahlen werfen, Frau Schmitz. Holen Sie sich gern einen Kaffee. In einer halben Stunde sind wir dann so weit.«

»Gern, Herr Klausner.« Sie stand auf und ging.

Klausner ging stirnrunzelnd Bergmanns Vorlage für das Pre-Budget-Meeting durch. Seine Präsentation würde Teil der Gesamtpräsentation für den Wirtschaftsraum Europa/Nahost/Afrika sein, EMEA im Fachjargon. Seine Miene hellte sich auf, als er feststellte, dass Bergmanns mit den Länderchefs den Bereich »Mid Size and Distributor Countries« klar und übersichtlich aufbereitet hatte. Dann stutzte er.

»Na so was …« Klausner schaute zur Tür, die sich gerade hinter Schmitz geschlossen hatte. Beim Weiterblättern lächelte er vor sich hin: Die laufenden Aufträge für die kommenden sechs Monate in seinem »Non-Core«-Bereich sahen nicht nur gut aus, sie waren brillant. Über 15 Prozent Wachstum! Und in den Ländern ohne Niederlassung sogar noch höher. Im Gesamtbereich Chemie wie auch im Teilbereich EMEA stagnierte die Lage bei zwei Prozent. Er hingegen stand richtig gut da. Die Gruppe der eigenständigen Mid-Size-Länder wuchs aktuell um sieben Prozent, die Distributoren-Länder hatten in diesem Jahr sogar um sagenhafte 17 Prozent zugelegt. Für das neue Geschäftsjahr hatte Bergmanns die Zahlen schon etwas zurückgenommen und für die Mid-Size-Länder fünf und für die Distributor Countries 14 Prozent prognostiziert. Das war fantastisch! Klausner fing an, sich auf den Budget Kick-off zu freuen. Wenn er das jetzt noch halbwegs souverän präsentierte …

Es klopfte. Frau Schmitz war zurück.

Klausner empfing sie lächelnd, verteilte seine Blätter übersichtlich auf dem Schreibtisch und erklärte den Inhalt.

»Ja«, sie klappte ihren Laptop auf, »ich habe mir das eben noch mal auf dem Display angeschaut und fand es …« Sie schaute Klausner fragend an. »… na ja, ziemlich toll, also sehr positiv zufriedenstellend, oder?«

Klausner nickte.

»Man könnte es natürlich …«, fuhr Schmitz zögerlich fort, offenbar unsicher, ob sie etwas Kritisches sagen durfte.

»Nur zu!« Klausner nickte immer noch zufrieden vor sich hin.

»Also, man könnte die Zahlen und Tabellen grafisch und farblich noch lebendiger gestalten. Indem man die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Punkte lenkt mit ein paar optischen Tricks und …« Begeistert referierte sie über diverse Darstellungsmöglichkeiten, bis Klausner vor lauter Kurven, Diagrammen und 3D-Modellen beinahe den Überblick verloren hatte.

Da kam ihm eine kühne Idee und er hob eine Hand, um sie in ihrem Redefluss zu stoppen: »Sagen Sie mal, Frau Schmitz … Trauen Sie sich zu, das Ganze in den nächsten zwei Stunden komplett präsentationsfertig zu machen? Dann könnten wir morgen …« Er schaute sie fragend an.

»Na klar. Also, wenn Sie möchten … sehr gerne!« Sie klappte den Laptop zu und klemmte ihn unter den Arm.

»Warten Sie, eine Sache noch …« Er rückte seine Brille zurecht. »Nehmen Sie ein paar kleine Korrekturen vor. Die Wachstumserwartungen für dieses Jahr können überall um zwei bis drei Prozent runter, die Kosten um zwei bis drei Prozent rauf … im nächsten Jahr entsprechend ähnlich. Dann passt der Trend, das Gesamtbild stimmt …«

Schmitz schaute ihn erstaunt an. »Aber die Zahlen sind doch eindeutig besser, die Mengenplanung steht doch schon fest, mindestens sechs Monate im Voraus, wenn nicht zwölf. Das sind doch feste Bestellungen, oder?«

»Natürlich, Sie haben ganz recht, Frau Schmitz. Aber meine Erfahrung sagt mir …« Er strich mit Daumen und Zeigefinger über den Krawattenknoten und überlegte kurz. »Nun, es kann nicht schaden, auch Unwägbarkeiten in die Planungen einzubeziehen, zumal in diesen Ländern und mit externen Partnern … Nicht, dass uns da noch was auf die Füße fällt …« Wie schnell das ging, wusste er aus eigener leidvoller Erfahrung. »Besser wir bauen eine strategische Reserve bei der Finanzplanung ein. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, gerade in einem Familienunternehmen.«

Schmitz schaute ihn aufmerksam an.

»Wir sichern uns ab, hier und dort … Wir könnten zum Beispiel den Umsatz bei unseren Eigengesellschaften runterfahren auf plus elf Prozent, die Distributoren bleiben konstant, denn da kann man sowieso nie richtig planen. Und hier, bei Portugal und Griechenland, nehmen wir einen Kostenplatzhalter rein … Ist das machbar für Sie?«

Sie zögerte kurz. »Ja, sicher, das ist kein Problem. Macht man das grundsätzlich so bei der Budget-Planung?«

»Nun …« Klausner rückte die Brille zurecht. »Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber bei solchen Ländern gibt es immer Unwägbarkeiten. Wir sollten keine »Best case«-Zahlen als Planung abgeben. Bei diesen Märkten bleibe ich bei meinem Motto: Hope for the best, plan for the worst.«

»Da haben Sie sicher Ihre Erfahrungen …«

»Dicho verdadero, wahr gesprochen, vielen Dank«, sagte Klausner jovial und schaute demonstrativ auf die Uhr.

»Also, dann … will ich mal loslegen.« Sie ging zur Tür.

»Vielen Dank, Frau Schmitz«, wiederholte Klausner und meinte es aufrichtig.

Da wird der gute Fontana sich morgen aber wundern, dachte er zufrieden.

Zur Belohnung verordnete er sich ein Stück Kuchen und brach zum zweiten Mal an diesem Tag in die Kantine auf. Im Flur begegnete er dem Chemie-Stabsleiter Glanz und Herrn Kurz, den Assistenten vom Leiter Americas, die sich sehr wunderten, als er ihnen fröhlich zurief: »Mahlzeit, meine Herren!«

6

Langenheim, Schwanenweg 10. Kollegin Haupt parkte den Dienstwagen vor einem Doppelhaus mit üppig bepflanztem Garten hinter einem Jägerzaun. Der weiße Mercedes AMG E63 S war vor einem knappen Jahr im Düsseldorfer Rotlicht-Milieu konfisziert worden, die Kollegen rissen sich darum, ihn fahren zu dürfen.

Claudia schaute durch das Beifahrerfenster zum Eingang, zu dem ein Plattenweg führte. Eine Rose, die sich um einen schlichten Vorbau aus Holz rankte, blühte zum zweiten Mal in diesem Jahr. Im Vorgarten wucherte ein Rhododendron, ansonsten war alles gut gepflegt. Das Haus war anscheinend erst kürzlich gedämmt und neu verputzt worden – elfenbeinfarben mit einem Stich ins Grünliche.

Warum mache ich mir über so was Gedanken, fragte sich Claudia. Weil ich nicht da rein will. Aber das gehört leider auch zum Job.

Sie atmete tief durch und schob die Tür auf. Ihre Kollegin folgte ihr über den Plattenweg. »Bitte keine Werbung. Danke!«, stand auf dem Zeitungskasten. Klingelknopf aus Messing. Drinnen ertönte ein harmonisches Glockenspiel.

Die Frau, die aufmachte, war recht jung, höchstens dreißig. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen angespannter Erwartung und Furcht. Sie erkannte sofort, dass es sich um zwei Polizistinnen handelte.

»Frau Bergmanns?«

»Ja, das heißt, ich bin die Tochter. Klinger, Stefanie.« Sie hielt inne.

»Wir sind von der Kriminalpolizei, Frau Klinger.« Claudia hielt ihren Ausweis hoch. »Dürfen wir reinkommen?«

»Ist etwas passiert?«

»Ja, leider.«

Stefanie Klinger drehte sich abrupt um. »Kommen Sie.«

Die Ehefrau des Opfers stand in der Mitte des kleinbürgerlich eingerichteten Wohnzimmers und rang nervös die Hände.

»Mutti, da ist die Polizei.« Stefanie Klinger trat neben ihre Mutter, als wollte sie für alle Fälle bereitstehen.

»Guten Tag, Frau Bergmanns, mein Name ist Claudia Janssen. Ich …«

Frau Bergmanns kam jäh auf sie zu. »Was ist?«

Claudia zuckte leicht zurück. »Ihr Mann wurde tot im Wald aufgefunden. Er ist mit dem Auto gegen einen …«

Frau Bergmanns stieß einen gepressten Schrei aus, der tief aus ihrer Brust kam. Als wollte der Schmerz, der dort festgesessen hatte, endlich ausbrechen. Dann knickten ihre Beine ein. Die Tochter und Claudia konnten sie gerade noch auffangen und auf die Couch legen. Frau Bergmanns war plötzlich aschfahl und atmete schnell. Claudia fühlte ihren Puls. Er raste. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn der Frau, die mit weit aufgerissenen Augen zur Decke starrte. Sie bekam keine Luft mehr.

»Krankenwagen«, sagte Claudia zu ihrer Kollegin. Die zog rasch ihr Handy heraus und tippte 112. Dann ging sie in den Hausflur und gab den Notruf durch.

Nach einigen bangen Minuten, in denen Claudia das Schlimmste befürchtete und sich wegen ihrer zu direkten Vorgehensweise Vorwürfe machte, kamen die Sanitäter. Frau Bergmanns musste ins Krankenhaus. Ihre Tochter war schon auf dem Weg zum Carport, als Claudia sie aufhielt: »Frau Klinger, bitte, lassen Sie uns kurz sprechen. Sie sollten sich erst beruhigen, bevor sie losfahren.«

Klinger blieb stehen. »Ich bin ruhig.« Ihre Hände zitterten. Sie hatte nicht mal die Haustür geschlossen. Haupt stand auf der Schwelle.

Claudia führte die Frau behutsam ins Haus zurück. Sie setzten sich ins Wohnzimmer.

»Sie haben recht, Entschuldigung. Ich muss mich erstmal sammeln. Und … ja, also … was ist denn eigentlich passiert?«

Claudia schilderte die Unfallszene im Wald.

Frau Klinger riss die Augen auf. »Angeschossen? Das kann doch nicht …«

»Es ist gut möglich, dass es ein tragischer Unfall war, ein Versehen, ein …«

»Macht das einen Unterschied?«

»Für die Polizei schon. Deshalb …«

»Aber für meine Mutter und mich …« Frau Klinger wusste nicht weiter.

»Sie hatten Ihren Vater als vermisst gemeldet?«

»Ja, aber ehrlich gesagt, Ihre Kollegen … die meinten, wir könnten erstmal nur warten. Es sei normal, dass mal jemand für ein paar Tage verschwindet. Na ja!« Das schien sie zu empören.

»Sie haben es aber aufgenommen. Sonst wüsste ich es nicht.«

»Ja, nur jetzt ist es doch …«

»Ihr Vater hatte einen Korb mit Pilzen bei sich im Wagen. Ein Zeuge, ebenfalls ein Pilzsammler, hat ausgesagt, er habe ihn ab und zu mal im Wald getroffen …«

»Was hat das denn mit seinem Tod zu tun?«

»Ging Ihr Vater öfter noch abends zum Pilzsuchen oder Wandern in den Wald?«

»Abends? Nein. Er ging immer morgens. Am Samstag meistens. Sehr früh morgens. Ja, wieso ist er denn am Sonntagabend … verstehe ich nicht.«

»Das hat er sonst nicht getan?«

»Nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist das eher ungewöhnlich.«

»Ist er immer allein gegangen?«

»Meine Mutter mag gar keine Pilze. Die hat er sich immer selbst zubereitet oder eingemacht. Es stehen Dutzende Gläser davon im Keller. Ich glaube, das Sammeln war seine Leidenschaft.«

»Sie sind nie mitgegangen?«

»Ich wohne schon lange nicht mehr hier.«

»Der Zeuge berichtete, es hätte manchmal Auseinandersetzungen mit Jägern gegeben. Hat er darüber mal etwas gesagt?«

»Sie meinen doch nicht etwa, ein Jäger hat ihn …«

»Wir wissen überhaupt noch nichts über den Tathergang, Frau Klinger.«

»Hören Sie, bitte …« Frau Klinger hob die Hände. »Das klingt alles völlig absurd, was Sie da reden. Mein Vater war ein ruhiger, besonnener Mensch. Ein sehr korrekter Mensch. Ordentlich. Fast schon penibel. Vor allem ruhig. Und freundlich. Was Sie mir hier erzählen …«

»Wo hat er gearbeitet?«

»Bei der RHEIN-HANSA AG. In der Chemie-Sparte. Er ist dort Sachbearbeiter. Seit einer halben Ewigkeit. Morgens in die Firma, abends zurück. So kenne ich ihn. Alles in seinem Leben war festgelegt. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Meine Mutter hat heute Morgen da angerufen.«

»In der Firma?«

»Ja, sie wollte wissen, ob er vielleicht dort ist. Das war eine eigenartige Idee, aber … Natürlich war er nicht dort. Mutti hat sich nicht getraut, zu sagen, er würde vermisst. Sie hat bloß gefragt, ob ihr Mann zu sprechen sei. Da hat Frau Schnittker, die Sekretärin in der Abteilung, gesagt, er sei nicht da. Danach hat sie, also meine Mutter, mich angerufen und ich musste kommen, weil sie völlig am Ende war.« Frau Klinger stand auf. »Aber das können wir später noch besprechen«, sagte sie bestimmt. »Ich muss jetzt zu meiner Mutter!«

»Ja, natürlich.«

Diesmal schloss Frau Klinger die Haustür ab und stieg in ihren Ford Fiesta.

»Fahren Sie bitte vorsichtig«, gab Claudia ihr mit auf den Weg.

7

Rolf Lindner trat in sein Büro, schloss die Tür hinter sich und schaltete mit der gleichen schwungvollen Handbewegung die Bildschirme des Video-Überwachungssystems ein. Er ließ sich auf seinen Sessel fallen und scannte mit geübtem Blick die beiden großen Split-Screens, auf denen Bilder aus allen Ecken und Winkeln des RHEIN-HANSA-Geländes zu sehen waren. Wenn nötig, konnte er aus seiner »Kommandozentrale« jede Kamera einzeln bewegen oder sie an eventuell verdächtige Objekte heranzoomen. Als stellvertretender Leiter der Global Corporate Security hatte er natürlich gute Mitarbeiter, die dafür da waren, die Augen aufzuhalten, aber seit seiner Zeit bei einer taktischen Spezialeinheit im Dezernat für Wirtschaftskriminalität war er der Ansicht, dass es auch die Aufgabe der GCS-Leitung war, den Überblick zu behalten, um bei plötzlich auftauchenden Problemen sofort reagieren zu können.

Täglich rollten Lkw mit wertvoller Ladung, oft genug auch mit Gefahrengütern, vom Betriebsgelände und lieferten RHEIN-HANSA-Produkte in alle Welt. Nachlässigkeiten konnte die GCS sich nicht leisten, das war sein Credo. Und hier musste er manchmal ganz dezent bei seinem altgedienten Chef Klaus Bone »nachjustieren«, denn der war noch im traditionellen Werkschutz groß geworden. Zwar gehörte das, was einmal der klassische Werkschutz geleistet hatte, eigentlich nicht zu Rolfs Kernaufgaben, aber als stellvertretender Leiter und Leiter der Abteilung Investigation und Recherche wollte er sich regelmäßig vergewissern, ob im Unternehmen alles optimal verlief. Zumal es sehr spannend war, zum Beispiel den Trubel im Lkw-Abfertigungsbereich zu beobachten, wo Tag für Tag Hunderte von Fahrzeugen durchgeschleust wurden. Daher also sein Reflex zum Einschalten der Bildschirme, sogar jetzt am Nachmittag, wo er nur mal zum Check-in reingekommen war.

Nachdem Claudia den Baggersee in ihrem Mini verlassen hatte, hatte Rolf vor dem Problem gestanden, wie er die Tauchausrüstungen nach Hause schaffen könnte. Ein Kollege von der SEG-T bot dann an, sie mitzunehmen und zwischenzulagern. Und da war ihm der Gedanke gekommen, kurz noch mal bei RHEIN-HANSA reinzuschauen, weil das Werksgelände in der Nähe lag. Der Kollege hatte ihn netterweise dort abgesetzt.

Wenn er die Monitore einschaltete, ließ er die Blenden seiner vier Fenster halb herunter. Da er ein Eckzimmer hatte, schien die Sonne fast immer herein. Nun warf sie ein Streifenmuster über die cremefarbenen Wände, vor denen einige moderne Rollschränke standen, die aber nur halb gefüllt waren, weil auch bei der Global Corporate Security alle Akten inzwischen digitalisiert waren. Nur sein Chef arbeitete noch ernsthaft mit Papier und Kugelschreiber.

Vor vier Jahren, kurz nach seinem vierzigsten Geburtstag, war Lindner, nach seiner Zeit im Wirtschaftsdezernat der Kripo Köln und als Forensik-Experte bei den Wirtschaftsprüfern »Global Transparency Ltd.«, zum RHEIN-HANSA-Konzern gekommen. Dort war man von seinem vielfältigen beruflichen Hintergrund sehr angetan gewesen – nicht zuletzt seinen »Praxisjahren« bei einer Sonderermittlungstruppe im Bereich internationale organisierte Wirtschaftskriminalität.

Schwerpunktmäßig war Rolf zuständig für den Bereich »Investigation«. Wurden irgendwo sicherheitsrelevante Vorfälle gemeldet, sei es im Meldeportal oder per Hotline, gingen seine Mitarbeiter dem nach. Sie waren »die Kripo« des Konzerns und ermittelten bei einfachen Vorfällen wie dem Verlust von Gegenständen und Sachbeschädigungen, aber auch bei Verdacht auf Datendiebstahl, Wirtschaftsspionage oder schweren Unterschlagungen durch die eigenen Mitarbeiter.

Die Firmenleitung schätzte seine smart-intelligente Art bei komplexen Themen. Damit ergänzte er die Herangehensweise seines Chefs Klaus Bone der sich lieber mit Themen wie Reise-Sicherheit und Personenschutz oder der Analyse von Sicherheitsrisiken befasste.

Einer der Gründe, warum man Rolf geholt hatte, war, dass die RHEIN-HANSA AG früh erkannt hatte, dass in der Welt von heute und in Zukunft neue Aufgaben- und Themenbereiche wie »Cyber Security«, »Crisis Management«, »Supply Chain Security« und »Threat Management« sehr viel wichtiger geworden waren.

Rolf hatte über seinen Kernbereich hinaus bei der GCS ein breites Betätigungsfeld und war auch für alles »Internationale« zuständig. Englisch war für ihn kein Problem, nachdem er ein halbes Jahr lang in den USA verbracht hatte. Das Kunststück war, Bone hin und wieder zu suggerieren, er sei der Kompetente und Entscheidungsfreudige, sein Stellvertreter hingegen nur »der gute Berater« und »ausführendes Organ«, auch wenn sein Einfluss deutlich weiter ging.

Kaum hatte er sein Büro bezogen, hatte Rolf sich gewundert, wie laut es in diesem Gebäude zuging. Das lag an den Werkstätten in den unteren Stockwerken und an dem internen Werksverkehr, dessen Hauptroute am Gebäude vorbeiführte. Aber nach all den Jahren in diversen Großraumbüros – mal gut klimatisiert und miserabel ausgestattet (bei der Kripo), mal schlecht klimatisiert und mit Hightech-Ausrüstung (bei den Wirtschaftsprüfern) – wusste er den Vorteil der »eigenen vier Wände« zu schätzen.

Zwei helle Streifen des Sonnenlichts fielen über das Foto seiner Tochter, die darauf mit Köbes an der Leine vor dem Brandenburger Tor zu sehen war. Das Bild war vor zweieinhalb Jahren aufgenommen worden, da hatte Hannah gerade ihr Medizinstudium in der Hauptstadt begonnen. Wie die Zeit vergeht! Sie hätte Köbes gern dortbehalten, aber auf seinen Hund, einen fidelen Maltipoo, wollte Rolf nicht verzichten, auch wenn er ihn tagsüber einer Nachbarin überlassen musste.

Er setzte sich an den Schreibtisch und ging die Mails und Memos durch. Ihm fiel nichts Dringendes ins Auge. Na gut, es waren noch einige Dokumente zu sichten, denn Ende der Woche stand eine Krisensitzung an wegen der Auswirkungen territorialer Konflikte auf diverse Lieferketten. Aber da fehlte noch Input der Kollegen von der »Business Continuity«, und es machte keinen Sinn, sich mit halbfertigen Diskussionen zu beschäftigen. Außerdem lag der Bericht eines Analytikers von den Philippinen vor, worin die geschäftlichen Auswirkungen der Machtübernahme durch Angehörige einer früheren Herrscher-Familie analysiert wurden, inklusive Standortsicherheit und möglichen politischen und wirtschaftspolitischen Risiken.

Rolf trat ans Fenster und spähte durch die Jalousie zum Rhein. Ein Frachtschiff zog gemächlich vorbei, dann ein Ausflugsschiff. Hatte er nicht mit Claudia über die Möglichkeit einer Radtour an die Mosel gesprochen? Sie waren zu keinem Ergebnis gekommen, weil plötzlich eine Diskussion über sein neues Fahrrad entbrannt war. Ja, es war ein E-Bike, ein Specialized Turbo Tero 4.0 EG mit allen Schikanen, also »unsportlich«! Claudia war manchmal ein bisschen streng in ihren Ansichten.

Es klopfte und schon stand sein Chef in der Tür, ohne ein »Herein« abzuwarten.

»Lindner! Dachte mir doch, dass ich Sie gehört habe. Haben Sie schon den Philippinen-Bericht auf dem Schirm? Eine Auswertung wäre nicht schlecht, aber wer könnte das übernehmen?« Er schaute auf seine Uhr. Wenn er ein Thema loswerden wollte, tat er immer so, als stünde er gerade unter Zeitdruck. »Und haben Sie schon mitbekommen, dass unserem Werk in Sezuan die vorübergehende Schließung droht? In Brasilien wird gestreikt aufgrund der neuen Sozialgesetze der Regierung … Und ich kann nicht mehr sitzen, weil mich dieser Ischias-Nerv fertig macht …«

»Die Themen stehen schon auf der Agenda der nächsten Sitzung.«

»Ja, aber da bin ich beim Arzt.«

»Kein Problem, Herr Bone, ich sorge dafür, dass die Positionspapiere an die zuständigen Abteilungen …«

»Danke, Lindner! Kriege, Krisen und Ischias, das will man keinem wünschen.«

»Bestimmt nicht.«

»Es geistert da auch eine Anfrage des Zolls herum, die inzwischen bei der Revision gelandet ist. Ich schicke Ihnen das mal weiter, damit Sie den Vorgang auch kennen. Vielleicht machen Sie sich mal schlau zu diesen komplizierten EU-Regelungen, um die es hier zu gehen scheint.«

»Ist das nicht Sache der Zollabteilung? Ich bin sicher, die melden sich bei uns noch mit mehr Details, wenn wir aktiv werden sollen.«

»Danke. Also dann … schönen Feierabend.« Bone machte kehrt und verschwand, ohne die Tür zu schließen.

Auf dem Rhein tuckerte jetzt ein Tankschiff vorbei, womöglich beladen mit einem RHEIN-HANSA-Produkt.

Ich hätte nicht kommen sollen, dachte Rolf missmutig. Dann fiel ihm ein, dass er noch geräucherten Tofu kaufen musste, weil er abends für Claudia kochen wollte. Schlagartig besserte sich seine Laune.

8

»Wir haben jede Menge Spuren am Tatort gesichert, auf Folie oder mit Gips, die in einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stehen könnten«, sagte der Kollege, der den Tatortbefundbericht für Claudia Janssen und die anderen Beamten der Mordkommission zusammenfasste. Er deutete auf den großen Bildschirm, wo er Fotos und mithilfe des Computers erstellte Skizzen nebeneinander angeordnet hatte. Zunächst hatte der schlaksige Kollege mit dem dunklen Vollbart ihnen eine Luftaufnahme präsentiert, auf der man den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Aber dann hatte er eine Skizze daraus entwickelt, auf der Pfeile und Linien die am Tatort gefundenen Bewegungsspuren in einen Zusammenhang setzten. Alles unter Vorbehalt.

»Wir sind hier noch zu fünfzig Prozent in der Spekulationsphase. Außerdem müssen wir bedenken, dass zwischen dem vorläufig berechneten Zeitpunkt der Tat und dem Zeitpunkt des Leichenfunds circa 36 Stunden vergangen sind. Es hat in der Nacht leicht geregnet, der Waldboden war feucht, teilweise matschig. Außerdem sind Tiere dort herumgelaufen, haben die Leiche allerdings ignoriert, obwohl die Beifahrertür des Unfallfahrzeugs offenstand. Marderspuren auf dem Sitz, aber keine postmortalen Bissspuren …«

Claudia sah, wie Kommissar-Anwärterin Haupt das Gesicht verzog.

»Wir haben vorläufig vier Orte definiert, an denen sich das mutmaßliche Geschehen konzentriert hat«, fuhr der Kollege fort. Er deutete abwechselnd auf die Schwarzweiß-Skizze mit den Pfeilen und Linien und auf die Luftaufnahme, über der die Zeichen und Linien der Skizze in Weiß lagen, weil der Wald sehr dunkel war. Aber dank der eingezeichneten Waldwege und Umrisse, die den Parkplatz im Detail beschrieben, konnte man jetzt mehr sehen als nur einen Wald mit lauter Bäumen.

»Nummer eins ist der Unfallort mit der Leiche im Fahrzeug, das gegen einen Baum gefahren ist. Nummer zwei ist der Parkplatz, wo drei Fahrzeuge gestanden haben, möglicherweise zum gleichen Zeitpunkt, aber dazu stehen die Laborergebnisse noch aus. Nummer drei ist der Ort, an dem die Spuren von drei Personen zusammentreffen. Die Spuren führen von den Autos zu dieser Stelle direkt vor dem Rastplatz. Die Parkplatzoberfläche ist eine wassergebundene Decke mit Schlaglöchern und aufgewühlten Stellen. Der Platz wurde lange Zeit nicht mehr gewartet, sodass das Erdreich hier und da wieder zutage tritt. Dort und am Rand ist der Boden sehr weich. Wir konnten drei verschiedene Fußspur-Arten identifiziert, die zur mutmaßlichen Tatzeit dort hinterlassen wurden.«

»Darf ich was fragen?« Haupt wurde ein bisschen rosig im Gesicht. Sie starrte die Skizzen auf dem Whiteboard fasziniert an.

»Nur zu.« Claudia warf ihr einen ermunternden Blick zu.

»Was für Schuhe … also ich meine: Deuten die Spuren auf bestimmte Arten von Schuhen hin?«

Der bärtige Kollege nickte bedächtig. »Ja, klar, das ist wichtig. Wir haben Abdrücke gesichert. Die sind nun im Labor. Aber ehrlich gesagt … die könnten sich als wenig aussagekräftig erweisen. Womit ich sagen will, sie sind nur ein Hauch von Spuren. Bis auf – und jetzt komme ich zu Ort Nummer vier …« Er deutete an die entsprechende Stelle auf der Skizze. »Von Ort Nummer drei zu Ort Nummer vier führt eine Fußspur über weichen fetten Waldboden und durch hohe Gräser und Farne. Da haben wir sehr deutliche Abdrücke gefunden. Daran werdet ihr noch eure Freude haben. Nummer 4 ist der Ort, von wo aus der Schütze den Schuss auf den fahrenden Wagen abgegeben hat. Der Fahrer wurde getroffen, verlor die Kontrolle und der Wagen prallte gegen den Baum. Von dort wiederum führen die gleichen Spuren in gerader Linie zum Unfallfahrzeug, und zwar zur Beifahrertür. Die wurde geöffnet und die Pilze kullerten heraus.«

»Was ist mit Fingerabdrücken auf der Tür und am oder im Fahrzeug?«, fragte Claudia.

»Keine. Türgriff und der Bereich darum wurden abgewischt. Wir haben Textilfasern am Griff gefunden, die werden noch analysiert.«

»Die Person an Ort Nummer vier hat gezielt auf den Wagen geschossen?«, fragte Claudia.

»Die Person ist dort hingelaufen, nach Spurenlage mit weit ausholenden Schritten, blieb dort stehen und feuerte aus 84 Metern Entfernung einen Schuss ab. Aber ob der gezielt war, wissen wir nicht.«

»Wildspuren in der Nähe?«

»Massenweise. Rotwild.«

»Der Schütze könnte also auch ein Jäger gewesen sein, der auf Wild zielt und den Fahrer zufällig getroffen hat.«

Der Bärtige zuckte mit den Schultern. »Könnte sein, klar. Aber fürs Spekulieren seid ihr zuständig.«

»Was ist mit der dritten Person? Die auf dem Parkplatz«, fragte Haupt. »Also mit den Spuren dieser Person. Wo führen die hin?«

»Zurück zu Ort Nummer zwei.«

»Dann ist diese Person wieder in ihr Auto gestiegen?«

»Dieser Schluss liegt nahe«, sagte der Bärtige.

»Und dieses Fahrzeug war …« Claudia deutete fragend auf die Skizze.

»Das linke.«

»Und das fuhr dann in welche Richtung?«

»Dazu gibt die Spurenlage nichts her. Aber es gab nur eine Möglichkeit, von dort wegzufahren. Wenn das Fahrzeug vom Parkplatz nach rechts abgebogen wäre, wäre es vor einem Schlagbaum zum Halten gekommen und hätte wenden und zurückfahren müssen.«

»Also ist dieses Fahrzeug am Unfallort vorbeigefahren?«

»Das wäre logisch und wahrscheinlich.«

»Deutet etwas darauf hin, dass dieses Fahrzeug angehalten hat, um nach-zuschauen?«

»Nein. Auch keine Fußspuren bis auf die der Person, die von Ort Nummer vier kam.«

»Und was hat diese Person dann gemacht?«, fragte Haupt.

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Spuren vom Ort Nummer eins, also dem Unfallfahrzeug, zurück zu Ort Nummer vier führen. Dort ist viel Gras und Farn niedergetreten worden, jede Menge Fußabdrücke. Die sind so angeordnet, dass anzunehmen ist, dass die Person nach Rückkehr zu Ort Nummer vier dort diese Spuren verursacht hat. Auf einem Farnblatt wurde ein wenig Asche gefunden. Vielleicht Zigarettenasche. Das wird sich noch herausstellen.«

»Keine Kippe?«, fragte Claudia.

»Nee.«

»Keine Patronenhülse?«

»Nein.«

»Sonst noch was?«

»Das ist alles, was ich für euch habe. Die Details wird das Labor liefern. Alle Tatort- und Spurenfotos haben wir euch schon übermittelt. Das war’s erstmal. Ich mache jetzt Feierabend.«