Das Leuchten der Berge - Katie Powner - E-Book

Das Leuchten der Berge E-Book

Katie Powner

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Beschreibung

Seit vielen Generationen lebt die Familie Jensen in dem verschlafenen Ort Moose Creek mitten in den Bergen von Montana. Die Menschen dort meinen, alles voneinander zu wissen. Doch das ist ein großer Irrtum. Als Bea und ihr Mann Jeremy desillusioniert aus dem sonnigen Kalifornien nach Moose Creek zurückkehren, weil sich ihre berufliche Perspektive dort zerschlagen hat, steht auch für Beas Vater Mitch so manche Hoffnung auf dem Prüfstand. Und da ist noch Oma June, die gut darin ist, Geschichten zu erzählen. Aber es gibt eine, die sie nie erzählt hat. Da ihr Gedächtnis langsam nachlässt, läuft ihr die Zeit davon, diese Geschichte zu erzählen. Doch wenn sie die Wahrheit enthüllt, wird die Familie Jensen nie mehr dieselbe sein …

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Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Katie Powner ist eine junge aufstrebende Autorin, die mit ihrer bunt zusammengewürfelten Familie (mit leiblichen, adoptierten und Pflegekindern) in der weiten Landschaft Montanas lebt. Sie schreibt bevorzugt zeitgenössische Romane, in denen die Themen Heilung von Beziehungen und die Rolle des christlichen Glaubens wichtige Bestandteile sind.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Die amerikanische Originalausgabe ist im Verlag Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan in 11400 Hampshire Avenue South, Bloomington, Minnesota 55438 erschienen.

© 2021 by Katie Powner

© 2025 der deutschen Ausgabe Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Namen, Charaktere, Ereignisse und Dialoge entstammen der Vorstellungskraft der Autorin. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen, ob lebend oder tot, ist rein zufällig.

Erschienen im Januar 2025

ISBN 9783961226962

Umschlaggestaltung: Hanni Plato unter Verwendung bildgebender Generatoren

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

Übersetzung: Renate Hübsch

www.gerth.de

Für Julia Marie (Leskiw) Reis

Seh ich ’nen hochhackigen Schuh,

’nen Teddy, ein rotes Kanu,

dann denk ich: Du.

1

Geheimnisse sind wie Pennys. Einen besitzt jeder, selbst die Ärmsten unter uns. Manche dieser Pennys sind neu und glänzend, andere sind fleckig und mit den Jahren abgegriffen. Ich hätte meinen schon vor Jahren in den Gallatin River werfen sollen, dann könnte ich ihn heute nicht herausholen und zwischen den Fingern drehen und mich fragen, warum oder ob.

»June? Bist du hier draußen?«

Die Fliegengittertür knarrt, als Randolf auf die Veranda tritt, und ich stecke mein Geheimnis weg. Er lässt sich in den hölzernen Schaukelstuhl neben mir sinken.

»Es ist immer noch so schön.«

Ich nicke. Der Herbst liegt in der Luft, aber heute scheint die Sonne, und der Berg, der hoch und stolz vor uns steht, ist noch blau. Bald wird er kantig und weiß sein, aber heute sieht er fast freundlich aus. Ich habe lange genug hier gelebt, um zu wissen, dass er es nicht ist.

Randolf streckt den Arm aus und legt seine knorrige Hand auf meine. Ich mag es, ihr Gewicht zu spüren, sie ist wie ein Anker.

»Ich warte auf das Licht.«

Diesmal nickt er. »Hast du heute mit Mitch gesprochen?«

»Nein.«

Ich hatte vorgehabt, meinen Sohn anzurufen. Randolf erinnert mich jeden Morgen daran. Aber die Angst hält mich ab. Ich will nicht fort aus meinem Zuhause.

»Da ist es.« Ich zeige auf den Berg, als ob Randolf nicht mit eigenen Augen das Licht sehen könnte, das dort erscheint, wenn die untergehende Sonne genau den richtigen Stand am Himmel erreicht.

Randolfs ohnehin zerfurchtes Gesicht legt sich in noch mehr Fältchen, als er lächelt.

»Was der alte Kauz wohl heute Abend vorhat?«

Ich drücke seine Hand. »Nach einem Schatz suchen natürlich.«

»Ah ja. Ja, natürlich.«

Das alte Märchen tröstet mich. Als Mitch noch klein war, sagte ich immer: »Schau! Miner* McGee hat seine Stirnlampe angemacht«, und Mitch runzelte dann die Stirn und fragte: »Wohnt da oben wirklich Miner McGee?«

Der Junge war immer skeptisch, Bea war da ganz anders. Nein, als Mitchs Tochter kam, mein einziges Enkelkind, hat sie darum gebettelt, dass ich die Geschichte erzähle, wieder und wieder, und sie hat sie aufgesaugt wie Wasser. Nie hat sie hinterfragt, warum ein alter Mann ganz allein dort oben leben sollte, und sie wunderte sich auch nicht, warum das Licht nur an sonnigen Tagen erschien. Ihre einzige Sorge war: »Was ist, wenn er den Himmelsdiamanten nie findet?«

»Er wird ihn finden«, sagte ich dann. »Er wird nicht aufgeben.«

Die Sonne sinkt tiefer, und das Licht verschwindet. Die Geschichte verblasst. Erst ist Mitch erwachsen geworden und aus der Geschichte herausgewachsen, dann Bea.

Ich frage mich, was mein Sohn macht.

Randolfs Stiefel schrammen über die alte Veranda, als er sich aus seinem Sitz quält. »Kommst du auch?«

»In einer Minute.«

Er trottet ins Haus, sein rechtes Bein zieht er ein wenig nach. Seine Schultern sind gebeugt unter der Last von einundsiebzig Jahren eines harten Lebens. Allmächtiger, ich liebe diesen Mann. Fünfundvierzig gemeinsame Jahre – und ich habe mir nie ein anderes Leben gewünscht. Ich habe nie daran gezweifelt, dass wir jeden Sturm, den Montana uns über den Weg schickt, gemeinsam überstehen können.

Bis jetzt.

* Miner ist das englische Wort für Bergmann.

2

Bea Michaels rieb sich die Augen, blinzelte dreimal und sah noch einmal hin. Ah ja. Die beiden blauen Linien waren immer noch da.

»Himmel noch mal.« Ihre Version eines viel stärkeren Begriffs klang ein wenig lahm. »Himmel, Himmel, Himmel noch mal.«

Ein Ansturm von Gefühlen überflutete ihr Herz – ihren ganzen Körper. Freude, Angst, Verwirrung, Besorgnis und Erstaunen kämpften um die Herrschaft, ließen ihre Wangen erröten und ihre Zehen kribbeln. Das konnte nicht real sein. Konnte nicht wahr sein. Aber das kleine weiße Stäbchen sagte, es sei wahr.

Sie würde Mutter werden.

Ein erstickter Lach- und Weinkrampf entrang sich ihrer Kehle, und sie schlug die Hand vor den Mund. Tränen brannten in ihren Augen. Es gab ein Baby in ihr. Jetzt, in diesem Augenblick, wuchs ein Kind von ihr und Jeremy in ihr. Aber sie war doch selbst kaum mehr als ein Kind, oder? Auch, wenn sie vor ein paar Monaten einundzwanzig geworden war – nie hatte sie sich weniger erwachsen gefühlt.

Sie hatte gedacht, sie würde mehr Zeit haben, sich vorzubereiten. Mehr Zuversicht für die Zukunft. Mehr … irgendwas.

Das Geräusch der zuschlagenden Wohnungstür ließ sie aufschrecken. Jeremy war zurück. Aber sie war nicht imstande, ihn jetzt zu sehen. Sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte.

Warum hast du mich verlassen, Mom? Sie schnappte nach Luft und schlug ihre Hände vors Gesicht.

Jeremy fand sie weinend im Badezimmer vor.

»Hey, Bea.« Er lief zu ihr und legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. »Alles in Ordnung? Was ist denn los?«

»J-ja.« Sie bemühte sich, die Worte zwischen ihren Schluchzern hervorzubringen. »Ich weiß es nicht. Meine M-Mom wird niemals … n-niemals …«

Sein Gesicht wurde weicher, und er zog sie an sich. »Vermisst du heute deine Mutter?«

»Nein!«, jammerte sie und wand sich aus seinen Armen. Warum flennte sie so? Sie war nicht zum Flennen erzogen worden. »Ich meine, ja. Aber – aber – sieh mal.«

Da sie nicht die richtigen Worte fand, hielt sie ihm das weiße Stäbchen hin.

Jeremy starrte es verständnislos an. »Ähm …«

»Es ist ein Schwangerschaftstest.«

Er riss die Augen auf.

Sie wischte sich die Tränen ab und ermahnte sich, mit dem Geheule aufzuhören, bevor sie sagte: »Er ist positiv.«

»Du meinst …?« Er suchte in ihrem Gesicht nach einer Erklärung.

»Ja.« Sie fing wieder an zu weinen. »Du wirst Vater.«

Erstaunen war nun in seinem Gesichtsausdruck zu lesen und ließ ihr Herz ein wenig höherschlagen. Ihr gelang ein zittriges Lächeln und er stieß ein nicht gerade feines Wort aus.

Sie schlug ihm auf den Arm. »Fluche nicht.«

»Tut mir leid.« Er legte einen Arm um ihre Taille und schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht anders.«

Bea sah auf ihren Bauch. »Aber sie wird dich hören.«

Er kniete sich so hin, dass sein Gesicht auf der Höhe ihres Bauches war. »Sie, hm?«

Bea atmete tief durch. Sie würde das schaffen. »Oder er. Oder ein Er und eine Sie. Wer weiß?«

Er stand auf und warf ihr einen feierlichen Blick zu. »Himmel noch mal.«

»Genau.« Ihre geschwollenen Augen wurden groß. »Wow. Himmel noch mal.«

Er zog sie an sich. »Siebter Himmel, würde ich sagen.«

Sie lehnte sich an ihn. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

Er schlang seine Arme fest um sie und legte seinen Kopf an ihren. Sie atmete seinen Duft ein und war dankbar für seine Gegenwart – seine Stärke. Ein paar Minuten lang war es still in ihrem winzigen Badezimmer, bis auf das Ping, Ping, Ping aus dem Wasserhahn, den der Vermieter wohl nie reparieren würde.

Als Jeremy sprach, war seine Stimme schwer. »Du bist traurig, weil deine Mutter das nicht mehr miterlebt.«

Bea nickte an seiner Brust. Manchmal verstand er ihre Gefühle besser als sie selbst, obwohl er eine Kindheit voller Schwierigkeiten und Vernachlässigung erlebt hatte – oder vielleicht gerade deshalb.

»Sie wird sie nie kennenlernen. Oder ihn.« Das Baumwollhemd ihres Mannes dämpfte Beas Stimme. »Sie wäre so begeistert gewesen, Großmutter zu sein.«

In gewisser Weise waren die letzten zwei Jahre wie im Flug vergangen: ihre stürmische Romanze, Jeremys College-Abschluss, die Hochzeit. Aber in anderer Hinsicht waren es die längsten zwei Jahre ihres Lebens gewesen. Mom war ihre beste Freundin gewesen. Ihre Vertraute. Der Krebs hatte sie so schnell dahingerafft, dass es Bea manchmal gar nicht wirklich vorkam. Wie sollte sie das Leben ohne ihre Mutter durchstehen?

»Ich habe Angst.«

Das war etwas, das niemand in ihrer Familie je gern zugab, aber es war eine Erleichterung, diese Worte laut auszusprechen. Jeremy löste seinen Griff und legte seine Stirn an ihre. »Ich auch.«

Sie wich seinem Blick aus. »Und du weißt, was das bedeutet.«

Er trat einen Schritt zurück und seufzte. »Ruf ihn noch nicht an.«

»Aber …«

»Lass uns das Wochenende, um uns einfach zu freuen. Zur Feier des Ereignisses führe ich dich morgen zum Essen aus, wohin du willst. Und am Montag kannst du mit ihm reden.«

Bea ergriff seine Hand und drückte sie. Der Gedanke an Essen war gerade nicht sehr verlockend. Es war ihr flaues Gefühl im Magen, das sie nun fünf Tage hintereinander verspürt hatte und was zuerst den Verdacht hatte aufkommen lassen, sie könnte schwanger sein. Aber ein Gespräch mit ihrem Vater war auch keine sehr verlockende Perspektive.

»Okay.«

Sie ließ sich von Jeremy aus dem Bad in das kleine Wohnzimmer führen, das gleichzeitig als Esszimmer diente und mit der Küchenzeile verbunden war. Er überredete sie, sich auf den Futon zu setzen, und bestand darauf, das Abendessen zuzubereiten. Sie lächelte innerlich. Er würde ein guter Vater sein. Aber …

Würde sie eine gute Mutter sein?

Weitere Tränen begannen zu fließen. Mutter – ein so unschuldig klingendes Wort, aber es klang in ihrem Kopf wie eine Sirene. Ihre Mutter war tot. Und die Art, wie ihr Vater sie nach ihrem Tod von seiner Trauer ausgeschlossen hatte? Nun, es war fast so, als hätte sie beide verloren.

Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass es nur sie und Jeremy gab. Zwei Herzen gegen den Rest der Welt. Frei, um zu tun und zu lassen, was sie wollten. Frei, ihren eigenen Weg in die Zukunft zu gehen. Aber jetzt sah sie Jeremy zu, wie er in der Küche hantierte, und dachte an den Schimmel, den sie im Schlafzimmerteppich gefunden hatten. An den Kabelbrand, den sie vor Kurzem erlebt hatten, als der Ofen einen Kurzschluss gehabt hatte. Und die schlechte Nachricht, die sie diese Woche von Jeremys Arbeitgeber erhalten hatten.

Hier konnten sie nicht bleiben. Alles war im Begriff, sich zu ändern.

Wieder einmal.

Sie legte die Hände auf den Bauch. Das war real. Sie bekam ein Baby.

Himmel noch mal.

3

Der Himmel erstreckt sich so weit und breit wie die offenen Arme von Jesus«, das hat seine Mutter immer gesagt. Mitch Jensen ließ einen Arm aus dem Fenster seines Trucks hängen und genoss die Sonne, die jedoch leider nicht von Dauer sein würde, denn es konnte morgen schon schneien. Trotzdem konnte er sich nicht an einen schöneren Herbstanfang erinnern.

Er bog in eine lange Kieseinfahrt ein und verlangsamte das Tempo. Diesmal verursachte der vertraute Anblick seines Elternhauses etwas in seiner Brust, das er nicht gewohnt war. War das eine Vorahnung oder bereits Erschöpfung, obwohl es erst Montag war?

Als er den Motor des Wagens abstellte, umgab ihn Stille – Stille von genau der richtigen Art. Nicht unnatürlich und gezwungen, als würde die Natur angesichts einer potenziellen Gefahr verstummen, sondern lebendige Stille. Moose Creek war eine kleine Stadt mit nicht viel mehr als einer Straßenkreuzung, zwei Kneipen, einem schlichten Restaurant und einem Postamt, aber im Vergleich hierzu war es geradezu chaotisch. Er war dankbar, dass seine Eltern, die geradezu unbeugsamen Randolf und Juniper Jensen, den größten Teil der umliegenden Ländereien hatten verkaufen können, sodass sie auch jetzt noch hier leben konnten, nachdem sein Vater vor ein paar Jahren die Viehzucht aufgegeben hatte.

Mitch wappnete sich innerlich, als die Verandastufen unter seinem Gewicht ächzten. Sein Vater hatte ihn alle paar Tage angerufen und ihn gebeten, vorbeizukommen. Dabei hatte er Andeutungen gemacht, dass etwas mit seiner Mutter nicht stimmte, und wollte wissen, ob Mitch in letzter Zeit mit ihr gesprochen hatte. Deshalb war Mitch sich nicht ganz sicher, was ihn bei diesem Besuch erwartete.

Er hatte seinen Vater gefragt, ob seine Mutter krank sei, und der hatte geantwortet: »Is möglich.« Aber das sagte er immer. Zu allem. Is möglich.

Seine Mutter hatte auf keinen seiner Anrufe reagiert und er hatte sie und seinen Vater seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Und soweit er wusste, hatten sie das Haus nicht mehr verlassen, noch nicht einmal, um in die Kirche zu gehen, was ein sicheres Zeichen für eine ernstere Krankheit war, denn sie verpassten nie einen Gottesdienst.

Die schwere Eichentür war nur angelehnt, aber er klopfte dennoch mit der Hand an den Türrahmen, bevor er eintrat. »Mom? Dad?«

June steckte den Kopf aus der Küchentür und meinte: »Mitch? Ich wusste nicht, dass du vorbeikommen würdest.«

Er trat die Schuhe auf dem Läufer ab und ging zu ihr in die Küche, wo er sie beim Ausrollen eines Kuchenteigs antraf. »Ich habe dir ein paar Nachrichten aufs Band gesprochen.«

»Ach, das.« Sie winkte seine Worte weg wie eine lästige Fliege. »Ich war beschäftigt.«

»Das kann ich sehen.« Drei Kuchen standen bereits auf dem Tresen. Er schnupperte daran. »Hast du schon Äpfel gepflückt?«

»Weg da.« Sie schob ihn zur Seite, damit sie die Ofentür öffnen und einen vierten Kuchen herausholen konnte.

Er spähte aus dem Küchenfenster. »Wo ist Dad?«

»Äpfel pflücken. Ich nehme an, er hat deinen Truck gesehen. Müsste jeden Moment da sein.«

Mitch nahm sich ein Glas Wasser und beobachtete sie unauffällig, während er darauf wartete, dass sein Vater auftauchte. Sie sah gesund aus und wirtschaftete in der Küche herum wie immer. Ihre Wangen hatten eine gute Farbe und ihre Bewegungen wirkten mit dreiundsechzig noch genauso geschmeidig und sicher wie mit vierzig. Es sei denn, es stimmte etwas in ihrem Inneren nicht.

Oh nein. Krebs. War es das, worum es hier ging? Nein, das konnte er nicht noch einmal durchmachen. Er konnte es nicht ertragen. Ihm wurde eng um die Brust.

Die Fliegengittertür öffnete sich knarrend und schlug zu. »Mitch?«

»Hier drin, Dad.«

Sein Herz schlug schneller, als die Schritte seines Vaters näherkamen. Vielleicht war das der Grund, warum er eine Vorahnung verspürt hatte, als er angekommen war. Seine Eltern verbargen eine schreckliche Diagnose vor ihm. Er hätte sich früher auf den Weg zu ihnen machen sollen.

Randolf trug einen Eimer voller Äpfel zum Küchentisch und stellte ihn dort ab. »Hallo.«

»Hey.« Mitch trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe früher Feierabend gemacht und dachte, ich komme mal vorbei.«

June schnaubte. »Hier im Weg rumstehen, das tut er.«

Sein Vater nahm die Baseballmütze ab und kratzte sich am Kopf. »Nun, schön, dich zu sehen.«

»Steht nicht einfach da und starrt euch an.« June schlug ein Handtuch in seine und Randolfs Richtung. »Geht noch ein paar Äpfel pflücken.«

Mitch folgte seinem Vater, als dieser zur Tür hinausging. Es war ohnehin einfacher, dieses Gespräch irgendwo zu führen, wo seine Mutter nicht dabei war.

Er beobachtete, wie sein Vater vorsichtig jede Stufe der Veranda nahm, sein linkes Bein fest auf die nächste Stufe setzte und dann das rechte mit einem Schnaufen nach unten wuchtete. Mitch konnte sich nicht erinnern, dass er sich jemals so langsam bewegt hatte. Hatte er in letzter Zeit derart abgebaut oder war es schon eine Weile so schlimm, und Mitch hatte es nicht bemerkt?

Er nahm sich einen leeren Eimer, der am Fuß der Treppe stand. »Warum sagst du mir nicht, was los ist, Dad?«

Randolf blickte geradeaus und stapfte auf die drei Apfelbäume an der Nordseite des Hauses zu. Mitch ging schweigend neben ihm her, er wusste, dass sein Vater sich nicht drängen lassen würde. Randolf trug trotz des Sonnenscheins sein übliches langärmeliges kariertes Flanellhemd und verblichene Jeans, die sich allerdings nur mithilfe eines abgenutzten Ledergürtels, auf dem sein Name eingestanzt war, an seiner drahtigen Statur halten konnte.

Als sie die Bäume erreichten, pflückte Mitch einen tief hängenden Apfel und biss hinein. »Bisschen säuerlich.«

»Mm-mmh.« Randolf griff sich auch einen Apfel und legte ihn in den Eimer. »Ich hätte noch ein oder zwei Wochen gewartet, aber deine Mutter hat darauf bestanden.«

Mitch runzelte die Stirn. Sie hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt, genau zu wissen, wann die Äpfel reif waren. »Wofür sind all die Kuchen? Ist in der Gemeinde was los?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Wofür sind sie denn dann?«

Randolf stieß einen langen Seufzer aus und zuckte mit den Schultern. »Deine Mutter ist in letzter Zeit nicht mehr sie selbst, Junge.«

Mitch wurde flau im Magen. Jetzt kam es. Die schlechte Nachricht. »War sie schon beim Arzt? Ist es schlimm?«

»Nein, nein. Kein Arzt. Sie wird da nicht hingehen. Sie wuselt nur im Haus herum.«

Mitch legte die Stirn in Falten. »Macht sie das nicht immer?«

»Tja.« Randolf hielt mit einem Apfel in jeder Hand inne. »Vermutlich.«

Was war hier los? Seine Mutter war wie immer sehr beschäftigt, und wenn sie nicht beim Arzt gewesen waren, gab es auch keine Diagnose. Mitch sah, wie sein Vater zusammenzuckte, als er nach einem Apfel über seinem Kopf griff, und fragte sich, um wen von seinen Eltern er sich eigentlich gerade Sorgen machen sollte.

»Warum machst du nicht eine Pause, Dad?« Er wies zum Haus. »Ich mache das hier fertig.«

Mitch nahm zwei Kuchen mit nach Hause, einen für sich selbst – als ob er einen ganzen Kuchen essen könnte – und einen für »deine nette kleine Nachbarin«, wie seine Mutter es ausdrückte. Als ob es nicht das Allerletzte wäre, Marge, die ein Hauch von Persönchen war, einen kompletten Kuchen zu bringen. Er stellte sie auf den Tisch und fragte sich, was in aller Welt er mit zwei ganzen Kuchen anfangen sollte.

Selbst ohne die beiden, die er ihnen abgenommen hatte, würden seine Eltern den Rest der Woche Apfelkuchen essen – zum Frühstück, Mittag- und zum Abendessen. Aber dass seine Mutter das Kuchenbacken stark übertrieb, war nichts, worüber man sich Sorgen machen musste, wie er seinem Vater vor seiner Abfahrt zu erklären versucht hatte. Die geschäftige Juniper Jensen brauchte nur ein neues Hobby oder eine neue Freundin oder so etwas. Das war alles.

Er stellte ein paar Reste eines Hackbratens in die Mikrowelle und blätterte seine Post durch. Abends vermisste er Caroline am meisten. Zwanzig Jahre lang war sie da gewesen und hatte neben ihm gesessen. Er hatte mit ihr geredet, Essen und Leben mit ihr geteilt, und jetzt hatte er nichts als einen leeren Tisch und einen kleinen Teller mit aufgewärmtem Hackbraten vor sich.

Der Text von »Sweet Caroline« ging ihm durch den Kopf. Obwohl er ein eingefleischter Countryfan war, hatte das alte Lied von Neil Diamond einen besonderen Platz in seinem Herzen. Er hatte es immer aus voller Kehle gesungen, wenn er nach der Arbeit durch die Tür gestürmt war, sehr zu Carolines Verdruss. Was würde er dafür geben, noch einmal sehen zu können, wie sie ihre Augen verdrehte? Wie sie seinen Arm tätschelte und sagte: »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schatz.«

Der Brunftschrei eines Hirschs ertönte. Er schüttelte die Erinnerungen ab und ließ den Blick durch die Küche schweifen. Wo hatte er sein Handy hingelegt? Er sah auf den Tresen, in seine Hosentaschen und zu den Kuchen. Wer würde ihn um diese Zeit anrufen?

Der Hirsch wiederholte seinen hohen Ruf, und Mitch folgte dem Klang mit den Ohren.

»Oh.« Er eilte zu seiner Jacke, die er über eine Stuhllehne gehängt hatte, und schob seine Hand in die Tasche. Da war es.

»Hallo?« In seiner Eile zu antworten schaute er nicht einmal auf das Display.

»Dad?«

Das war eine Überraschung. Ein Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen. »Bibi, hey. Wie geht es dir?«

»Du weißt, dass mich niemand mehr so nennt, oder?«

»Ich weiß, ich weiß. Bea. Entschuldigung. Was gibt’s?«

»Ich wollte mich nur mal melden.«

Mitch holte seinen Hackbraten aus der Mikrowelle und setzte sich an den Tisch. Seine Tochter rief nicht oft an. Nicht, seitdem sie geheiratet hatte. Daran musste er sich erst noch gewöhnen. Es war schon schwer genug gewesen, als sie weniger als drei Monate nach Carolines Tod aufs College gegangen war, aber dass dann auch noch Jeremy gekommen war und …

»Hattest du bei der Arbeit einen guten Tag?«

Er setzte seine Gabel ab. Irgendetwas an ihrer Stimme klang seltsam. »Es war in Ordnung. Stimmt was nicht?«

Abgesehen davon, dass sie fast zweitausend Kilometer entfernt wohnte und er sie nie zu Gesicht bekam.

»Wir haben einfach viel um die Ohren. Jeremys Firma hat letzten Montag unerwartet dichtgemacht, und wir haben erfahren, dass unser Vermieter unser Haus verkauft. Die neuen Besitzer wollen alle rausschmeißen und renovieren, da es in einem so schlechten Zustand ist.«

Mitch erstarrte. »Was? Er hat seinen Job verloren?«

»Das klingt, als wäre er gefeuert worden, Dad. Nein, die Firma hat dichtgemacht.«

»Er hat also keinen Job.«

Schweigen.

Mitch schob den Hackbraten auf seinem Teller hin und her und wippte mit dem Fuß. Jeremy war ein guter Kerl, vor allem, wenn man bedachte, aus was für einer erbärmlichen Familie er stammte: Aber Mitch hatte schon lange vermutet, dass er es schwer haben würde, für seine Tochter zu sorgen. Was genau machte man eigentlich mit einem Abschluss in Marketing? Und jetzt war Mitchs einziges Kind in Not, doch von hier aus, am anderen Ende des Landes, konnte er nichts dagegen tun.

»Die schmeißen einfach alle raus?« Er schob den Stuhl zurück, stand auf und ging durch den Raum. »Ist das legal?«

»Der Mietvertrag verlängert sich immer nur von Monat zu Monat.«

»Hm.«

»Wie auch immer, ich dachte, vielleicht …«

»Du musst irgendwo bleiben.« Mitch hielt mitten im Schritt inne. Vielleicht konnte er doch etwas tun. »Ihr werdet natürlich hierherkommen.«

»Dad, ich weiß nicht.«

Er hob die Augenbrauen und sah auf das Telefon. Welche Wahl hatte sie denn? Auf Jeremys Seite der Familie würden keine offenen Arme auf sie warten, und ohne Job würden sie in Santa Clara nie wieder eine Wohnung finden. Wie sich ein junger Erwachsener heutzutage überhaupt eine Wohnung leisten sollte, war ihm ein Rätsel – selbst mit einem Job.

Zum Glück hatten sie noch keine Familie gegründet.

»Vorübergehend.« Er umklammerte das Telefon. »Irgendwo müsst ihr doch wohnen, Bibi.«

Und wenn aus »vorübergehend« etwas Dauerhaftes würde, umso besser für ihn.

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Bea.

Es war eine harte Pille gewesen, die er hatte schlucken müssen, als Bea ihm gesagt hatte, dass sie und Jeremy nach Kalifornien ziehen würden. Kalifornien, im Ernst? Die Leute aus Montana machten Witze über Menschen, die dort lebten. Aber Jeremy hatte große Pläne, im Silicon Valley zu arbeiten. Nun sah man, wie das ausgegangen war.

Mitch begann im Geiste eine Checkliste zu erstellen. Den Kühlschrank auffüllen, Bettwäsche waschen, die Terrassenmöbel aus dem Carport in den Garten stellen. Er würde alles perfekt machen. Perfekt genug, dass Bea es sich zweimal überlegen würde, bevor sie wieder ging.

»Dad?«

»Ja.« Er sah sich in seiner leblosen, leeren Küche um und lächelte. Sein Baby kam nach Hause. »Ich bin mir ganz sicher.«

4

Bea rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her und versuchte, es sich bequem zu machen, aber nach zwei Tagen im Auto klappte das immer weniger. Sie wünschte sich fast, sie wären die neunzehn Stunden von Santa Clara nach Montana in einem Rutsch durchgefahren, um es hinter sich zu bringen. Gleichzeitig wünschte sie sich aber auch, sie hätten sich eine ganze Woche Zeit genommen, um nach Moose Creek zu fahren. Je näher sie dem Ort kamen, desto weniger bereit war sie dafür.

Sie drehte sich um und sah nach Jeremys Katze in ihrem Transportbehälter auf dem Rücksitz. Wenigstens war Steve nach drei Stunden Gejaule endlich eingeschlafen.

»Alles okay mit dir?« Jeremy streckte die Hand aus und drückte ihr Knie. »Brauchst du eine Pause?«

»Alles okay.« Sie richtete ihren Pferdeschwanz und setzte sich im Sitz zurecht. »Ich bin nur müde.«

Nachdem die Entscheidung gefallen war, vorläufig nach Moose Creek umzuziehen, hatten sie sich Zeit gelassen, ihr Habe zusammenzupacken. Die Miete war bis September bezahlt, also gab es keinen Grund zur Eile. Jeremy hatte ihr bei der Entscheidung geholfen, welche Dinge sie behalten und welche sie weggeben sollten, aber er war seltsam schweigsam bei der ganzen Umzugssache gewesen und hatte stattdessen lieber über das Baby dies und das Baby das und den Namen des Babys und überhaupt das Baby gesprochen.

Sie fand es rührend, wie aufgeregt er war. Ehrlich. Aber das flaue Gefühl in ihrem Magen und die Ungewissheit in ihrem Herzen hinderten sie daran, all die Planerei ebenso zu genießen, wie Jeremy es tat. Was würde ihr Vater sagen, wenn er erfuhr, dass sie schwanger war?

»Morgen ist Montag, da kannst du doch anrufen und einen Termin vereinbaren, oder?« Jeremy warf ihr einen eifrigen Blick zu, als wüsste er, dass sie an das Baby gedacht hatte.

Bea zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen.«

»Du musst zum Arzt gehen.«

»Das werd ich ja.« Sie spielte mit den Knöpfen am Armaturenbrett und suchte nach einem neuen Radiosender. »Aber es hat keine Eile. Dad weiß es ja noch gar nicht.«

»Du sagst es ihm nicht heute Abend, wenn wir ankommen?«

»Ähm …« Sie zögerte. Das Baby war noch winzig, und es würde einige Wochen dauern, bis man etwas sah. Außerdem hatten sie derzeit keine Mittel, um einen Arztbesuch zu bezahlen. Also hatte es keinen Sinn, ihren Vater aus dem Stand in Schrecken zu versetzen. »Ich möchte, dass es noch ein bisschen länger unser Geheimnis bleibt.«

»Okay.« Jeremy klang nicht überzeugt.

Er bog links vom Highway ab, und Beas Schultern verspannten sich, während es ihr beim Anblick der vertrauten Gegend, der ihr nun durch den Verlust ihrer geliebten Mutter verleidet war, schwer ums Herz wurde. Die Strecke, auf der sie mit ihr zusammen gewandert war. Das Schild »Junge Kühe zu verkaufen« am Straßenrand, vor dem sie sich mit ihrer Mutter an jedem Muttertag zum Spaß fotografieren ließ.

Beas Atmung wurde flach, und sie kämpfte darum, die Beherrschung zu behalten. Nichts war mehr so wie früher. Nicht ohne Mom. Es war ein Fehler, zurückzukommen.

Jeremy rümpfte die Nase. »Stört dich was an der Countrymusik?«

Sie blinzelte und atmete tief durch. Es war egal, was sie empfand, es gab kein Zurück mehr, denn sie konnten nirgendwo anders hin. »Nein, es ist nur … wir sind fast da.«

Hätten die Schilder am Straßenrand nicht darauf hingewiesen, dass Moose Creek nur noch ein paar Kilometer entfernt war, hätte das Radio es getan. Moose Creek empfing genau drei UKW-Radiosender: zwei Country- und einen Classic-Rock-Sender.

Jeremy stöhnte bei einem Song über einen großen grünen Traktor. »Ich kann das Zeug nicht ausstehen.«

»Du wirst dich daran gewöhnen.« Sie zog einen Mundwinkel nach oben. »Und ich sollte dich wahrscheinlich warnen – mein Vater ist ein großer Countryfan.«

Jeremy fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes sandfarbenes Haar. »Ein weiterer Schlag gegen mich.«

»Es gibt keine Schläge.«

Er warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Du weißt, dass das nicht wahr ist. Dein Vater ist nicht mit mir einverstanden.«

»Woher weißt du das? Du hast ihn doch erst zweimal getroffen.«

»Ich habe das an seinem Verhalten gemerkt, und jetzt bin ich arbeitslos und ein Kind ist unterwegs.«

Bea schaute aus dem Fenster, weil sie nicht zugeben wollte, dass Jeremy recht haben könnte. Ihr Vater hatte sich besorgt darüber geäußert, wie ihre Zukunft wohl aussehen würde, als sie ihm gesagt hatte, dass sie Jeremy heiraten wolle.

»Du bist so jung«, hatte er gesagt. »Es ist zu früh.«

Damals hatte sie noch gespottet, denn welches Recht hatte er, eine Meinung über ihre Zukunft zu haben, nachdem er sie nach dem Tod ihrer Mutter emotional im Stich gelassen hatte? Doch jetzt waren sie hier und brauchten ihn, damit sie ein Dach über dem Kopf hatten.

Nein, sie war definitiv nicht bereit, ihm von dem Baby zu erzählen.

»Hier gibt es so viel Landschaft.« Jeremy ließ die Blicke über die Umgebung schweifen. »Wo sind denn die ganzen Gebäude?«

Bea betrachtete die Felder, Hügel und vereinzelten Farmhäuser und versuchte, sie mit den Augen ihres Mannes zu sehen, der die Großstadt gewohnt war. »Auf der anderen Seite des Berges.«

Moose Creek hatte mit seinen 756 Einwohnern nicht viele Gebäude aufzuweisen. Das höchste Bauwerk weit und breit war der Wasserturm, der über dem Ort schwebte wie eine fette Glucke, die versucht, all ihre Küken unter ihre Fittiche zu nehmen.

Der kleine Ort verfügte über das Nötigste – ein Lebensmittelgeschäft, eine Tankstelle, eine Schule –, aber Ponderosa gleich hinter den Bridger Mountains war so nah, dass die meisten Leute dorthin fuhren, wenn sie einen größeren Supermarkt oder ein Krankenhaus brauchten. Moose Creek konnte sich so etwas nicht leisten und wollte es auch nicht – bis wieder mal jemand einen Herzinfarkt hatte und die Ambulanz bereits für die Nacht geschlossen war. Oder bis der Pass in Schnee oder Nebel oder beides gehüllt war und man entscheiden musste, wie dringend man die Megapackung Toilettenpapier brauchte.

Jeremy trat auf die Bremse, als sie sich dem Ort näherten und das Tempolimit auf fünfundzwanzig sank. Der Wagen wurde langsamer, aber gleichzeitig beschleunigte sich Beas Herzschlag. Moose Creek sah so … müde aus.

»Es ist schön hier«, meinte Jeremy.

Bea schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, wohl wissend, welche Beschreibungen er auch hätte verwenden können, nämlich rustikal oder wie am Ende der Welt. »Ich liebe diese Jahreszeit hier.«

Der September in Montana war ihr zweitliebster Monat gleich nach dem Juni. Im September war alles noch lebendig und voll Energie, bevor scheinbar über Nacht die Blätter fielen und skelettierte Bäume zurückließen und schmutziger Schnee sich auf beiden Seiten der Straße türmte. Nichts konnte den Juni in Moose Creek übertreffen, wenn das Gras grün, das Bergvorland blau und die Berggipfel weiß waren, aber der September kam dem schon ziemlich nahe.

Jeremy blickte während der Fahrt von links nach rechts, um sich ein Bild vom Städtchen zu machen. Das Kreuztattoo auf seinem Unterarm kräuselte sich von seinem Griff um das Lenkrad. »Wo sind denn alle?«

»Es ist Sonntag«, sagte sie. »Hinter dem Betongebäude da rechts abbiegen.«

Er bog auf eine ungepflasterte Straße ab. Die abgefahrenen Reifen ihres Toyota Matrix trafen auf ein Schlagloch, und ihre Köpfe ruckten nach vorne.

Steve maunzte.

Jeremy grunzte. »Aua. Sollten wir die Stadt darüber informieren?«

Bea lachte.

»Was ist so lustig?«

Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Die meisten Menschen kannten die Bedeutung des Wortes »Schlagloch« nicht, bevor sie nicht in Moose Creek gewohnt hatten. »Du weißt, dass mein Vater bei der Stadt arbeitet, oder?«

»Oh, richtig.«

Sie wies nach vorn. »Das ist es, das graue Haus dort auf der linken Seite.«

Als Jeremy den Wagen über die Gegenspur lenkte und vorwärts einparken wollte, lachte sie wieder. »Nein, du musst wenden und richtig einparken.«

»Es ist eine einspurige Schotterstraße, Bea. Wen interessiert es, wie wir parken?«

»Officer Darryl.«

»So eine Lappalie.«

In einer Kleinstadt waren es oft die kleinsten Dinge, die die größte Bedeutung hatten, aber sie ließ es dabei bewenden. Ihr Blick richtete sich auf das alte graue Haus, vor dem Grandpa Randolfs Truck parkte. Sie hoffte, dass sie nicht schon lange gewartet hatten. Als sie ihrem Vater gesagt hatte, dass sie gegen fünf Uhr ankommen würden, hatte er darauf bestanden, dass er das Abendessen vorbereiten würde und dass auch Grandma und Grandpa da sein würden, weil sie keinen einzigen Tag mehr länger warten konnten, bis sie ihr einziges Enkelkind wiedersahen.

Beas wurde es eng ums Herz. Wie hatte sie ihre kleine Familie vermisst, und dennoch war es einfacher gewesen, wegzubleiben und all die Erinnerungen zu vermeiden. Es war leichter gewesen, so zu tun, als wäre das neue Leben, das sie für sich gefunden hatte, ihre eigene Entscheidung gewesen. Damit war es nun vorbei.

Jeremy schnappte sich die Katzentransportbox und einen Koffer vom Rücksitz, während Bea ihre Handtasche trug. Der Rest der wenigen Habseligkeiten, die sie mitgebracht hatten, konnte warten. Wie seltsam, nach nur einem Jahr Ehe schon wieder von vorne anzufangen.

Sie ging um das Auto herum und stand vor ihrem Elternhaus, dabei traf sie die Abwesenheit ihrer Mutter mit voller Wucht. Sie würde für sie nie wieder die Haustür aufhalten, um sie zu begrüßen. Nie mehr würde sie sie in den Arm nehmen und sagen: »Da ist ja mein Mädchen.« Nie das Kind im Arm halten, das in ihr heranwuchs.

Bea murmelte: »Das Haus, das mich gebaut hat.«

Jeremy, der ein paar Schritte vor ihr ging, blieb stehen und sah zurück. »Was?«

»Nichts.« Sie zwang sich, weiterzugehen. »Es ist nur ein alter Miranda-Lambert-Song über das Nach-Hause-Kommen.«

Er trat nah zu ihr hin und fragte leise: »Alles okay mit dir?«

Das fragte er immer. Er war immer um ihr Wohlergehen und ihr Glück besorgt. Dafür sollte sie dankbar sein, aber manchmal …

Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte, weil sie wollte, dass er glaubte, es ginge ihr gut, aber eigentlich hatte sie keine Ahnung.

5

Mitch betrachtete seine Mutter, die ungewöhnlich still in seinem Lieblingssessel saß. Ihre mageren Arme verbargen, welche Kraft darin steckte, und ihr kurz geschnittenes silbernes Haar lag an ihrem Kopf wie Schnee auf den Crazy Mountains.

»Wann kommt Bea?«, fragte sie.

Er runzelte die Stirn, denn sie hatte bereits dreimal gefragt. Vermutlich war sie begieriger darauf, ihre Enkelin zu sehen, als er gedacht hatte. Nicht, dass er es ihr verdenken könnte.

»Jeden Moment.«

Ein Klopfen an der Haustür, die sofort darauf aufschwang, gab Mitch recht. Sofort sprang er auf die Füße und lief den kurzen Flur entlang. Er hatte Bea seit ihrem Hochzeitstag vor etwas mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen, obwohl er sie mehrmals eingeladen hatte, ihn zu besuchen. Sie hatte immer eine Ausrede gehabt. Und sie hatte die Einladung nie erwidert.

Er kam um die Ecke und breitete die Arme aus. »Bibi!«

Das braune Haar seiner Tochter war lang geworden und ihre Wangen waren rosig. Sie ließ sich von ihm in die Arme schließen und er drückte sie fest an sich. Sie sah so anders aus, so erwachsen und so sehr wie Caroline. Wenn seine Frau sie jetzt nur sehen könnte.

»Mr Jensen.« Jeremy streckte eine Hand aus, als Mitch Bea losließ und sich ihm zuwandte. »Freut mich, Sie zu sehen.«

Mitch nahm die angebotene Hand und drückte sie kräftig. »Hallo, Jeremy. Wir hören jetzt aber mit dem Siezen auf, schließlich sind wir eine Familie.«

Sein Blick fiel auf Jeremys andere Hand. »Ist das … eine Katze?« Jeremy hob den Katzenkorb hoch. »Das ist Steve.«

Mitch blinzelte. Wie hatte er die Tatsache nicht mitbekommen können, dass sie ein Haustier mitbrachten? »Ihr habt eine Katze?«

Jeremy blickte Bea an. »Ich dachte, du hättest es deinem Vater gesagt.«

Die Röte in Beas Wangen vertiefte sich. »Das habe ich wohl vergessen, bei allem, was los war. Es tut mir leid.«

Aha. Mitch betrachtete den Tragekorb und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann öffnete er den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen.

Sie hatten eine Katze.

»Beatrice.« Seine Mutter erschien und ergriff Beas Hände. »Sieh dich nur an. Du meine Güte.

Bea ließ den Kopf ein wenig hängen, als wäre sie verlegen. »Hallo, Grandma.«

»Steht doch nicht einfach so da«, sagte June. »Kommt rein, kommt rein.«

Sie zog Bea durch den Eingangsbereich und den Flur entlang in die Küche.

Mitch drehte sich wieder zu Jeremy um. Es sah nicht so aus, als könnte er im Moment viel an der Situation mit der Katze ändern. Dann wanderte sein Blick auf Jeremys Arm. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass du ein Tattoo hast.«

»Oh. Wir, äh …« Jeremy räusperte sich. »Wir haben uns zum ersten Hochzeitstag jeder eins stechen lassen. Beide dasselbe.«

Mitchs Adamsapfel wippte in seiner Kehle auf und ab, während er seinen Schwiegersohn anstarrte. »Wirklich?!«

Er stellte sich einen stämmigen Biker in einer Lederjacke vor, der die helle Haut seiner Tochter mit einer schmutzigen Nadel verunstaltete, und erschauderte. Was hatte Bea dazu getrieben, sich ein Tattoo stechen zu lassen? Es musste Jeremys Idee gewesen sein. So hatte er sich die große Heimkehr von Bea nicht vorgestellt.

Eine gewisse Strenge schlich sich in seine Stimme, als er sagte: »Ich habe gehört, du hast deinen Job verloren.«

»Die Firma hat Pleite gemacht.« Jeremy trat von einem Fuß auf den anderen. »Aber …«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Ich hab da ein paar Ideen.«

»Ideen, Jeremy, kann man nicht essen.« Das war vielleicht etwas zu streng.

Jeremys Augen blitzten auf. »Darüber bin ich mir vollkommen im Klaren, Mr Jensen.«

Mitch presste die Lippen aufeinander. Er wollte nicht auf dem Jungen herumhacken. Das wollte er wirklich nicht. Jeremy war respektvoll und freundlich, und Mitch mochte ihn eigentlich. Und es war eindeutig, dass er Bea liebte. Aber das bedeutete nicht, dass Mitch damit einverstanden war, dass er seine Tochter in einem so jungen Alter geheiratet und zugelassen hatte, dass sie das College abbrach. Sie war auf dem besten Weg gewesen, den ersten Collegeabschluss in seiner Familie zu erwerben, bis dieser Typ aufgetaucht war.

Er tat einen tiefen Atemzug. Es gab eine Menge Dinge, die er vor der Hochzeit nicht hatte sagen können. Bea hatte ihm keine Gelegenheit dazu gegeben. Aber vielleicht war es nun an der Zeit, mit seinem Schwiegersohn darüber zu reden, die Karten auf den Tisch zu legen.

Seine Mutter rief aus der Küche. »Das Essen ist fertig.«

Mitch blickte den Flur entlang und sah, dass Bea am Tisch saß und ihn beobachtete.

Mitch kaute auf seinem Bissen Apfelkuchen herum – und kaute und kaute. Ähnlich wie der, den er am Montag mitgebracht hatte, war dieser Kuchen voll mit nicht ganz durchgegarten sauren Äpfeln. Er schaute sich am Tisch um, während seine Mutter den anderen die Teller reichte, und fragte sich, ob sie es wohl bemerken würden. Vielleicht nicht. Mit genügend Vanilleeis obendrauf war es gar nicht so schlimm. Aber was war mit dem Rezept falsch gelaufen? Die Kuchen seiner Mutter gelangen normalerweise immer perfekt.

June verteilte den Nachtisch und stützte ihre Hände auf die Knie, um unter den Tisch zu schauen. »Und glaub ja nicht, dass ich dich vergessen habe, Kätzchen.« Sie gab eine kleine Kugel Eis auf einen Löffel und legte ihn auf den Boden. »So, bitte sehr.«

Mitch hätte fast nach Luft geschnappt. Im Blick auf drei Dinge hatten seine Eltern immer eiserne Grundsätze gehabt: Man ging jeden Sonntag in die Kirche, man hatte Respekt vor dem Berg, und man ließ keine Tiere ins Haus. Tiere sollten einen bestimmten Zweck erfüllen. Hunde sollten das Vieh hüten und das Haus bewachen. Katzen sollten die Mäusepopulation in der Scheune eindämmen. Sie waren keine Haustiere, sondern Arbeitskollegen, und noch so viel Betteln als Kind hatte seine Eltern nicht dazu gebracht, diesbezüglich ihre Meinung zu ändern.

Und jetzt saß seine Mutter hier und fütterte Steve mit Eiscreme? Und was war das überhaupt für ein Name?

Bea beugte sich vor, um das Tier zu beobachten. »Er soll keine Menschennahrung fressen, Grandma.«

»Pah.« June wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. »Es ist nur ein bisschen Eis.«

Seine Mutter hatte schon immer eine Schwäche für Bea gehabt und ihr im Laufe der Jahre öfter ihren Willen durchgehen lassen, als Mitch lieb gewesen war, aber diese unerwartete Toleranz gegenüber Haustieren schien diesmal nicht zu Beas Gunsten zu sein. Was war nur in sie gefahren?

Ein Klopfen an der Tür riss Mitchs Aufmerksamkeit vom Essen weg. Er erwartete niemanden mehr, aber er sprang auf und ging zur Haustür. Sein Verstand versuchte noch immer, den Anblick seiner Mutter zu verarbeiten, die eine Katze mit Eis fütterte, als er die Tür aufzog.

Oh nein.

Seine Nachbarin Marge stand vor dem Haus und meinte: »Ich habe das Auto draußen gesehen und dachte mir, dass Bea es wohl geschafft hat. Ich habe einen Auflauf mitgebracht.«

Marge brachte immer einen Auflauf mit. Seitdem Caroline gestorben war, kam sie mindestens einmal in der Woche mit einem Auflauf vorbei. Wenn er ihr dann die Schale zurückgeben wollte, musste Mitch immer warten, bis er sicher sein konnte, dass sie nicht zu Hause war. Die gleiche Strategie wandte er an, wenn er ihre Mülltonne zurückstellte oder ihren Rasen mähte. Ihr aus dem Weg zu gehen, erforderte eine Menge Arbeit.

»Das ist nett von dir, aber …«

»Marge! Wie schön, dich zu sehen.« Seine Mutter kam herbeigeeilt und wischte sich die Hände an der Schürze ab, die sie immer in Mitchs Küche hängen hatte. »Komm rein, komm rein. Wie hat dir der Kuchen geschmeckt, den ich dir geschickt habe?«

Marge strahlte, als sie Mitch eine Glasschale in die Hand drückte und die Tür hinter sich schloss. »Danke, June, aber welchen Kuchen meinst du?«

Mitch schluckte und blickte auf die Schüssel. »Ich stelle das in den …«

»Willst du mir sagen, dass du Marge ihren Kuchen nicht gegeben hast?« Seine Mutter stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte ihn an.

»Es war eine anstrengende Woche, Mom.« Er wich zurück. »Bis ich dazu kam …«

Er warf Marge einen – wie er hoffte – entschuldigenden Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern und schlug sich auf die drallen Hüften. »Mach dir deswegen keinen Kopf. Ich brauche sowieso keinen Kuchen für mich allein.«

Seine Mutter zwängte sich irgendwie hinter ihn und Marge und trieb sie den Flur hinunter wie Vieh im Laufgang. »Dann muss ich dir eben einen neuen backen. In der Zwischenzeit mache ich dir jetzt einen Teller fertig.«

Anstatt zu protestieren, wie es Mitch lieber gewesen wäre, legte Marge sich eine Serviette auf den Schoß und faltete die Hände auf dem Tisch. »Das wäre schön.«

Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Bea: »Hallo, Bibi, es ist so schön, dich zu sehen.«

Bea schaute mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck zwischen Mitch, Marge und der Auflaufform in seinen Händen hin und her. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Marge. Das ist mein Mann, Jeremy. Jeremy, Marge.«

Jeremy wirkte unbeeindruckt, als er aufstand, über den Tisch langte und ihr die Hand schüttelte. »Schön, Sie kennenzulernen.«

Bea deutete in Richtung von Marges Haus. »Marge wohnt nebenan.«

Marges lange baumelnde Ohrringe klirrten, als sie nickte. »Ich habe euer Auto gesehen und wollte euch begrüßen. Und, Jeremy, du kannst mich gerne Marge nennen. Das förmliche Sie können wir uns sparen.«

Während sie sich unterhielten, öffnete Mitch den Kühlschrank und rümpfte missmutig die Nase. Da war kein Platz mehr für einen Auflauf. Er stellte ihn mit einem dumpfen Schlag auf den Tresen und schloss die Kühlschranktür wieder. »Woher wusstest du, dass es Beas Auto ist?«

Vor zwei Jahren hatte sie die Stadt mit einem schwarzen Chevy Blazer verlassen. Kein Vergleich zu dem Yuppie-Toyota, der jetzt vor der Tür stand.

»Ich habe es von Janice gehört, und die hatte von Ralph erfahren, dass sie heute kommt.«

Mitch runzelte die Stirn. Ralph, er mochte den Kerl und hatte jahrelang mit ihm zusammengearbeitet, aber der Mann redete einfach zu gern. Es konnte einfach niemand in Moose Creek ein Geheimnis bewahren.

Marge sah, wie er sie ansah, und fuhr errötend fort: »Und ich habe das kalifornische Nummernschild gesehen.«

Er wandte den Blick von ihr ab.

»Wie lange seid ihr schon Nachbarn?«, fragte Jeremy.

»Seit Ewigkeiten.« Marge biss in den Kuchen, den Mitchs Mutter ihr hingestellt hatte, und schien sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass er so zäh war. »Früher war in unserer kleinen Straße hier jede Menge los. Kinder spielten draußen, und es war ein Kommen und Gehen. Aber jetzt gibt es nur noch mich und Mitch – zwei einsame Seelen.«

Mitch zog peinlich berührt am Kragen seines Hemdes. Warum musste sie das so sagen? Aber er erinnerte sich noch gut an diese Zeit, bevor Bill Marge verlassen hatte und ihre drei Kinder erwachsen geworden waren und bevor Caroline gestorben war und Bea geheiratet hatte. Es hatte sich so viel verändert.

Es gefiel ihm nicht, wie Marge ihn ansah, aber er fand sich mit der Situation ab und setzte sich wieder neben seinen Vater, der kein Wort mehr gesagt hatte, seitdem er Mitch beim Abendessen gebeten hatte, ihm den Pfeffer zu reichen.

»Bea, hör mal zu.« Marge schob die wilden krausen Haare, die ihr ins Gesicht fielen, zurück und beugte sich vor. »Janice sagte, Ralph habe gemeint, dass du für einige Monate in der Stadt sein würdest. Nun habe ich gehört, dass die gute Kathy sich endlich von der Food Farm zurückzieht und MacGregor eine Teilzeitkraft sucht, die sie ersetzt.«

Mitch erschauderte innerlich. Das war das Beste, was seine Tochter in Aussicht hatte? Kathys Job in der Food Farm zu übernehmen? Andererseits, wenn ein Job sie an Moose Creek binden würde, dann …

»Was für eine großartige Idee.« June klatschte in die Hände. »Caroline hat nie untätig herumgesessen, nicht wahr?«

Sie wandte sich mit einem Lächeln an Bea, und Mitch runzelte die Stirn. Caroline? Wo kam das denn her? Bea hatte so viel Ähnlichkeit mit seiner Frau, dass ihm jedes Mal das Herz schwer wurde, wenn er sie ansah, aber Caroline war schon seit zwei Jahren tot. Seine Mutter hatte die beiden noch nie verwechselt.

Bea runzelte die Stirn und legte den Kopf zur Seite. Bevor sie antworten konnte, klopfte es erneut an der Tür.

»Was in aller Welt?«, murmelte Mitch.

»Viel los hier«, meinte Jeremy.

Mitch eilte durch den Flur und riss die Tür ein drittes Mal auf. »Oh, hey, Darryl. Was führt dich denn hierher?«

»’n Abend, Mitch.« Der Beamte winkte mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten und hakte ihn dann in seinen Pistolengürtel ein. »Jemand hat vor deinem Haus falsch geparkt.«

»Es ist der einfachste Job, seit es überhaupt Jobs gibt.« Bea kuschelte sich enger an Jeremy und war dankbar, dass ihr Vater sein Doppelbett in seinem Schlafzimmer gegen ein Einzelbett in ihrem Zimmer getauscht hatte. »Als ich früher dort gearbeitet habe, war es gar nicht so schlecht. Ich mochte es irgendwie und es wäre nur ein Teilzeitjob.«

Jeremy sprach sanft in ihr Haar. »Aber was ist mit dem Baby? Solltest du dich nicht schonen?«

Sie runzelte die Stirn. Erst sieben Wochen schwanger, und schon diktierte das Baby ihr Leben?

»Ich weiß nicht genau, auf was ich achten muss«, sagte sie. »Das ist alles Neuland.«

Aber eines wusste sie: Sie mussten Geld verdienen. Denn neulich hatte sie gegoogelt, wie viel es kosten würde, ein Baby zu bekommen, und hätte beinahe hyperventiliert. Die Summe schien unfassbar zu sein. Und sie wusste noch etwas: Sie würde verrückt werden, wenn sie den ganzen Tag im Haus herumhängen würde. Grandma June hatte schon recht gehabt, auch wenn sie Bea mit dem falschen Namen angesprochen hatte.

»Vielleicht sollte ich dort arbeiten.«

Dann hielt sie inne und rekapitulierte noch einmal, welche Zukunftspläne sie während ihrer Fahrt von Santa Clara nach Moose Creek entwickelt hatten. Jeremy träumte davon, seine eigene Firma zu gründen, sein eigener Chef zu sein, und Bea wollte ihm helfen, dieses Ziel zu erreichen. Das war es, was man von einer guten Ehefrau erwartete. Das war es, was Mom immer getan hatte.

Sie und Jeremy hatten vereinbart, maximal drei Monate bei ihrem Vater zu bleiben, damit Jeremy sich auf die Entwicklung eines Geschäftsmodels konzentrieren konnte. Sie hatten besprochen, dass es ideal wäre, wenn sie in der Zwischenzeit etwas Geld verdienen könnte. Eine Teilzeitbeschäftigung in der Food Farm würde zwar keine Krankenversicherung bieten, aber immerhin wäre es etwas.

»Ich weiß, wir hatten einen Plan«, sagte Jeremy. »Aber dein Vater …«

»Mach dir keine Sorgen wegen Dad.« Bea entspannte sich und kuschelte sich an Jeremys Hals. »Er ist nur ein bisschen überfürsorglich.«

»Ich glaube nicht, dass er sehr glücklich mit mir ist.«

»Es ist unser Leben, nicht seins.«

»Ich sagte ihm, dass ich ein paar Ideen hätte, was ich jetzt tun könnte, und er sagte: ›Ideen kann man nicht essen.‹«

»Nun, er hat nicht unrecht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das kann man nicht.«

Jeremy war sofort angespannt. »Ich brauche dich auf meiner Seite, Bea.«

»Es gibt keine Seiten.« Sie küsste sein Ohr und hoffte, dass sie recht hatte. Hoffte, dass er nur paranoid war. Dad mochte jetzt denken: Ich hab’s dir ja gesagt, aber er würde mit Sicherheit beeindruckt sein, wenn Jeremy seine eigene Firma gründete.

»Es war ein langer Tag.« Sie wusste, wie sie ihren Mann von seinen Sorgen ablenken konnte. Sie ließ ihre Hand über seine Brust gleiten. »Vielleicht sollten wir morgen weiter darüber sprechen.«

Er atmete tief aus. »Du hast wahrscheinlich recht.«

Obwohl der Raum dunkel war, fand sie mit ihren Fingern sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich. Ihre Lippen trafen die seinen, und er erwiderte ihren Kuss, sanft und tief, aber als sie sich näher an ihn schmiegte, wandte er sich ab.

»Bea, ich kann nicht.«

»Was meinst du?«

»Dein Vater ist unten.«

»Und?«

»Und wenn er uns hört?«

Sie ließ sein Kinn los und legte den Kopf auf ihr Kissen. »Jeremy!«

»Ich habe ihm von deinem Tattoo erzählt.«

Sie setzte sich mit einem Keuchen auf. »Warum das denn?«

»Er hat nach meinem gefragt, und es ist mir einfach so rausgerutscht. Es tut mir leid.«

Bea ließ sich zurück ins Bett fallen und starrte an die Decke, während sie sich vorstellte, wie das Gesicht ihres Vaters ausgesehen haben musste, als er diese kleine Neuigkeit gehört hatte. Sie griff unter der Bettdecke nach Jeremys Hand und umklammerte sie.

Es würden lange drei Monate werden.

6

Die Dunkelheit ist eines der Dinge, die ich an diesem Ort am meisten liebe. Keine Stadtbeleuchtung, keine Straßenlaternen, nur Sterne, Sterne, Sterne und eine Mondsichel.

Randolfs Stiefel reiben an meinen nackten Waden, während ich im Hof stehe und in den alles umspannenden Himmel schaue. Meine Stiefel standen auch an der Hintertür, aber verflixt, ich trage lieber seine. Der Berg steht vor mir wie ein Wächter auf seinem Posten, aber ich frage mich, ob er seine Aufgabe wirklich erfüllt. Denn ich habe gehört, was sie gesagt hat – Beatrice. Sie dachte, niemand könnte es hören, aber ich habe es gehört.

Mitch und Randolf saßen im Wohnzimmer und führten eines ihrer stummen Gespräche, und Bea und ihr Mann waren in der Küche und spülten ab. Als ob ich das nicht selbst machen könnte. Man stelle sich das vor: mir zu sagen, setz dich hin und mach eine Pause.

Aber das habe ich nicht getan. Und ich hörte, wie sie es sagte: »Baby.«

Eine Eule schreit, und Fledermäuse segeln wie Akrobaten vor dem Mond durch die Luft. Ich stecke meine Hand in die Tasche des alten Kleides, das ich als Nachthemd trage, und wickle meine Finger um einen Penny. Würde er noch glänzen, wenn ich ihn ins Mondlicht halte? Ich ziehe ihn heraus und lege ihn flach auf meine Handfläche.

Die Fliegengittertür schlägt zu und erschreckt mich. Mein Herz bebt. O Gott, jetzt habe ich den Penny fallen lassen.

»June, was machst du da? Es ist zwei Uhr nachts.«

Ich gehe auf die Knie und streiche mit den Händen suchend über das Gras.

»Du hast keinen Mantel an.« Die Verandastufen ächzen, als Randolf sie eine nach der anderen hinunterhumpelt. »Du holst dir noch den Tod.«

»Bleib da.« Meine Finger spüren nichts als feuchte Erde. Irgendwo hier muss er sein. Ich habe genau hier gestanden.

»June.«

Ich hebe den Kopf und rufe: »Ich sagte, bleib da.«

Meine Stimme pirscht durch die Nacht wie eine wilde Kreatur. Ich muss ihn aufhalten. Ich darf nicht zulassen, dass er ihn findet. Ich muss ihn besser verstecken, weit, weit weg.

Ich stampfe auf den Boden. »Nein, nein, nein, nein, nein.«

»Komm zurück ins Haus, June.«

Er steht jetzt neben mir, und ich schlage ihm auf die Beine. »Geh weg, geh weg.«

»Juniper.«

Ich höre die Angst in seiner Stimme, aber ich verstehe sie nicht. Weiß er es?

Seine Hand liegt auf meiner Schulter, sanft und stark zugleich, aber unsicher. Ich beginne zu weinen. Wo ist mein Penny? Warum kann ich ihn nicht finden? Was, wenn er ihn sieht?

»Komm mit mir.« Er ergreift sanft meinen Arm und zieht mich auf die Beine. Rotz tropft mir aus der Nase, und als ich ihn abwische, spüre ich, wie der Dreck über mein Gesicht schmiert. Es ist besser, wenn ich mich von ihm ins Haus führen lasse. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn von hier wegzubringen. Damit er nicht überall auf dem Gras herumläuft. Wenn er nicht hier ist, wenn er nicht hinschaut, komme ich zurück und suche weiter.

Wir schlurfen zurück zum Haus. Tränen fließen mir übers Gesicht und tropfen an meinem Kinn herunter. Sie fallen wie Regen auf mein Nachthemd.

Es ist dunkel, und mir ist kalt.

7

Beas Fuß stieß gegen ein Cheerio, als sie ihre Müslischale in den Geschirrspüler stellte, und es flog über den Boden. Sofort jagte Steve es über die glatten Laminatdielen und begann damit zu spielen.

»Wenigstens Steve gefällt es hier.«

Jeremy stellte das Milchkännchen zurück in den Kühlschrank. »Ich habe nie gesagt, dass es mir nicht gefällt.«

Sie ließ ihre Schultern sinken. Er hatte es nicht laut geäußert, aber sie konnte sehen, dass er im Haus ihres Vaters nervös war. Und eigentlich war es auch nicht der Ort, an dem sie selbst sein wollte. Nun, es war nur vorübergehend und sie hatten keine andere Wahl.

»Ich weiß.«

»Es ist irgendwie schön, Familie in der Nähe zu haben. Eine Familie, die sich tatsächlich um dich kümmert.« Jeremy schüttelte den Kopf, als ob er schlechte Erinnerungen abschütteln wollte. »Wie geht’s deinem Magen jetzt nach dem Essen? Ist dir heute sehr übel?«

»Himmel noch mal, Jeremy.« Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Sprich leise.«

Seine Augen funkelten. »Entspann dich, er ist nicht mal zu Hause.«

»Ich weiß«, stotterte sie. »Ich bin nur, äh …«

Ihre Stimme verlor sich und sie atmete tief aus. Wurde sie langsam verrückt? Dad konnte sie nicht hören, denn er war zur Morgendämmerung aufgestanden und zur Arbeit gegangen, bevor Bea überhaupt die Augen geöffnet hatte. Egal wie viele Stunden Schlaf sie bekam, ihr Körper wollte mehr.

Jeremy reckte den Hals. »Du kannst es nicht mehr lange vor ihm verbergen.«

»Ich bin einfach noch nicht so weit.«

Sie rümpfte die Nase. Ich bin einfach noch nicht so weit, das ist noch untertrieben. Sie war mehr als nur nicht bereit, die Reaktion ihres Vaters auf die große Neuigkeit zu ertragen – sie hatte Panik.

»Wirst du wenigstens den Arzt anrufen?«

»Vielleicht später.« Sie lächelte leicht, als sie beobachtete, wie Steves Schwanz hin- und herzuckte, während er das widerspenstige Cheerio anstarrte. »Ich dachte, wir könnten heute Morgen zur Food Farm gehen.«

»Gehen?«

»Ich mache mit dir die große Tour durch Moose Creek. Es dürfte nicht allzu lange dauern.«

»Okay.« Er folgte ihr zur Haustür, wo ihre Schuhe und Mäntel warteten. »Aber willst du nicht fahren?«

Sie öffnete die Tür und atmete tief durch. »Auf keinen Fall.«

Die Luft hier war anders als in Kalifornien. Dünner zum einen und trockener, aber auch frischer. Santa Clara roch immer ein wenig nach dem Zimmer eines Jugendlichen, der zu lange darin gehaust hatte. Moose Creek roch nach Eiswasser und Ponderosa-Kiefern. Es sei denn, der Wind wehte genau aus der anderen Richtung und trug den Stallgeruch von Dirk Reichmans Kühen in die Stadt.

Auf der unbefestigten Straße, die ein Schild als Lewis and Clark Avenue auswies, die von den Einheimischen aber Second Street genannt wurde, starteten sie nach Westen. Bea atmete die klare Luft ein, betrachtete die einfachen Häuser und spürte den vertrauten, festgetretenen Lehm unter ihren Füßen. Dennoch konnte sie nicht übersehen, dass sich ein ungewohntes Gefühl einschlich, das Gefühl, eine Fremde zu sein. Sie war nur zwei Jahre fort gewesen. Wie konnte es passieren, dass Moose Creek sich nicht mehr wie ihr Zuhause anfühlte?

Jeremy ließ den Blick durch die Straße streifen. »Wenig los hier.«

Sie antwortete nicht. Anfangs, nachdem sie weggezogen war, war es schwer gewesen, sich an den ständigen Lärm und die Betriebsamkeit zu gewöhnen. Die Städte in Kalifornien waren so laut, doch das war das Umfeld, in dem Jeremy aufgewachsen war.

Ein alter Geländewagen mit einem noch älteren Fahrer am Steuer tuckerte in langsamem gleichförmigem Tempo vorbei.

Bea hob eine Hand. »Guten Morgen, Earl.«

Earl nickte und sein zotteliges weißes Haar wehte hinter ihm her.

»Der Typ sieht aus, als wäre er hundert Jahre alt«, sagte Jeremy.

»Dreiundneunzig.«

Jeremy riss erstaunt die Augen auf. »Und er darf immer noch fahren?«

»Er fährt ja nicht wirklich.«

»Ähm, doch. Er fährt einen Geländewagen.«

Bea zuckte mit den Schultern. »Er dreht gern seine Runde. Sei froh, dass wir vor ein paar Monaten noch nicht hier waren, denn im Sommer fährt er gern in abgeschnittenen Jeans und mit bloßem Oberkörper herum.«

Jeremy kniff die Augen zusammen. »Und die Polizei tut nichts?«

Es war Bea nie in den Sinn gekommen, dass sich die Polizei Gedanken darüber machen sollte, was Earl im Schilde führte. Sie hatte schon oft gesehen, wie Officer Darryl Earls Geländewagen anhielt, aber nur für ein Schwätzchen. »Nach allem, was er in seinem Leben durchgemacht hat, denkt die Polizei wohl, dass er sowieso unverbesserlich ist.«

Sie sah zu, wie der Wagen um eine Ecke verschwand, und nagte an ihrer Lippe. Ein Teil von ihr ärgerte sich darüber, dass Jeremy dachte, Earl täte etwas Falsches, aber was, wenn er recht hatte? Wie lange konnte Earl noch mit diesem alten Yamaha herumfahren, bevor jemand zu Schaden kam? In Santa Clara würde man so etwas niemals zulassen.

Manchmal waren die Vorteile des Lebens in einer Kleinstadt auch die Nachteile. Und vice versa.

Als sie weitergingen, sah Jeremy auf sein Handy. »Ich habe kein Netz.«

»Das gibt’s hier in der Nähe der Berge nur punktuell.«

»Wie hoch liegt eigentlich Moose Creek?«