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Philip, ein Waisenjunge aus Solome, entdeckt eine Kraft, die er nie für real gehalten hat. Zusammen mit Emanuel reist er in die Stadt der Lichtmagier, um seine Magie zu trainieren. Doch der Schwarze Magier treibt sein eigenes Spiel mit den Lichtmagiern. Philip wird bald erkennen, dass ihm eine größere Aufgabe bevorsteht.
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Seitenzahl: 493
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Für euch
Prolog
Kapitel 1: Der Fremde
Kapitel 2: Dunkle Magie
Kapitel 3: Ausweg
Kapitel 4: Der letzte Tag
Kapitel 5: Lichtmagie
Kapitel 6: Der Fall
Kapitel 7: Lumina
Kapitel 8: William Ayton
Kapitel 9: Das Urteil lautet…
Kapitel 10: Feuer und Wasser
Kapitel 11: Drei gegen Einen
Kapitel 12: Zweifel
Kapitel 13: Loyalität und Lügen
Kapitel 14: Opfer aus Hoffnung
Kapitel 15: Eine rettende Hand
Kapitel 16: Hals über Kopf
Kapitel 17: Hexenmagie
Kapitel 18: Tag und Nacht
Kapitel 19: Der Weiße Magier
Epilog
Die Regeln der Straße sind recht einfach.
Erstens, du musst überleben. Ganz egal, was du dafür tun musst.
Zweitens, hab keine Angst. Angst macht uns schwach und hindert unser Denken. Damit sind wir, die Straßenkinder von Solome, ein gefundenes Fressen für die Wachen dieser Stadt. Wenn sie uns schnappen, landen wir wieder am schlimmsten Ort der Welt: dem Waisenhaus.
Das führt zu Regel Nummer drei: Gehe niemals zurück zum Waisenhaus. Einmal geflohen, weißt du nie, was sie mit dir machen, wenn du zurückgehst. Das Leben dort ist grausam. Kinder werden geschlagen, wenn sie ihre Aufgaben nicht erledigen. Wir dürfen nicht spielen, lesen oder singen. Die Arbeit ist hart und geht von früh morgens bis spät in die Nacht hinein. Es ist beinah so, als würden sie es darauf anlegen, dass wir fliehen.
Solome ist eine recht kleine und ruhige Stadt, umgeben von hohen Mauern, um sich Feinde vom Hals zu halten. Ich bin hier aufgewachsen, leider jahrelang im hiesigen Waisenhaus. Unsere Aufgabe bestand darin, zu nähen, die Wäsche zu waschen oder zu kochen. Jeder hatte seine eigene Pflicht. Ich habe zusammen mit anderen Kindern lange Zeit den Garten des Waisenhauses gepflegt, Unkraut gejätet und Blumen gepflanzt, um den Schein eines guten Hauses zu wahren. Dafür gab es einmal täglich eine Mahlzeit. Doch verrichteten wir unsere Arbeit nicht zur vollsten Zufriedenheit der Aufsichten, kassierten wir Schläge, Hausarrest oder bekamen kein Essen.
Vor einigen Jahren bin ich selbst aus dem Waisenhaus geflohen. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange es wirklich her ist. Gesucht wurde ich bisher nicht, immerhin haben sie nun ein Maul weniger zu stopfen. Um mich über Wasser zu halten, muss ich vom Markt stehlen, der das Zentrum der Stadt darstellt. Und das ist eine sehr gefährliche Angelegenheit. Denn überall sind Wachen. Erwischen sie mich, habe ich sehr schlechte Karten. Dabei wollte ich schon seit einiger Zeit Solome ganz und gar verlassen. Ich traue mich nicht. Dann wäre ich allein, unwissend, wohin mich der Weg führt. Was da draußen wohl lauert, frage ich mich immer wieder. Und obwohl ich solche Angst davor habe, träume ich seit einiger Zeit davon, dass ich Solome verlassen habe. In meinem Traum kommt ein Mann vor, mit langem Stock und grünem Umhang. Seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, erkenne ich ihn nicht. Ein blauer Schimmer umhüllt ihn. Dieser Traum ist kurz, wiederholt sich allerdings in letzter Zeit sehr oft. Was das wohl zu bedeuten hat …
Die Wachen haben ihre Augen einfach überall. Heute sind sogar mehr Wachen als sonst in der Stadt. Da ich das aber nicht zum ersten Mal mache, weiß ich, was zu tun ist. Langsam gehe ich über den Markt an einem Stand vorbei. Kaufen kommt nicht in Frage, auch wenn ich mir hier und da etwas Geld stibitzt hatte. Es würde nicht einmal reichen. Hungrig starre ich auf das frische Obst und halte mir den knurrenden Magen. Es hilft nichts, ich muss danach greifen.
Ich spüre, wie eine Wache allmählich aufmerksam wird. Ich sehe mich um, als wäre ich auf der Suche nach meiner Mutter und versuche, sie zu rufen. Scheinbar täuscht das die Wachen, allerdings nur kurz. Denn einer der beiden Wachen deutet auf mich und mein schäbiges Aussehen. Zerrissene Kleidung und ein schmutziges Gesicht zeugen nicht wirklich von einem wohlbehüteten Kind. Geliebte und geborgene Kinder tragen saubere und genähte Kleidung, aber ich habe ein viel zu großes Leinenhemd an, dass ich eines Winters von einer Wäscheleine gestohlen habe und dazu trage ich eine schmutzige braune Hose mit Löchern an den Knien und Franzen am Saum. Da selbst Waisen im Waisenhaus besser aussehen, ist wohl nicht zu übersehen, dass ich ein Straßenkind bin. Nun sprechen die beiden Wachen kurz miteinander, kommen dann aber augenblicklich auf mich zu. Oh oh - das ist nicht gut! Ich greife in den Obststand hinein und stopfe es in meine Taschen, bevor ich die Flucht ergreife. Die beiden Flurhüter stürzen mir augenblicklich nach.
»Schnappt ihn! Schnappt den Dieb!«, hallt es mir nach. Doch ich drehe mich nicht um, sondern laufe um mein Leben. Auf der Suche nach einem passenden Versteck, quetsche ich mich durch Gassen und Gänge der verschachtelten Stadt, und laufe dabei immer dichter zur Stadtmauer hin.
Ich hetze die Wache durch ganz Solome, doch sie jagen gnadenlos hinter mir her. Sie müssen wohl neu in der Stadt sein, die Beiden letzte Woche haben viel früher das Handtuch geschmissen. Panisch laufe ich in eine enge Gasse, zwischen zwei furchtbar hohen Hauswänden hindurch, werde jedoch von der meterhohen Stadtmauer ausgebremst, die meine Flucht augenblicklich beenden sollte. Jetzt muss ich wohl aufgeben, den Wachen völlig ausgeliefert. Ängstlich presse ich mich mit dem Rücken an die Mauer und muss dabei zusehen, wie die zwei Männer sich durch die Gasse quetschen, um an mich heranzukommen. Im Moment breche ich Regel Nummer zwei. Keine Angst haben? Ich bin die ängstlichste Person der ganzen Welt. Und wenn mich die Flurhüter erwischen, dann breche ich auch die dritte Regel. Nein! Ganz bestimmt gehe ich nicht zurück, zu diesem schrecklichen Ort! Sofort drehe ich mich zur Mauer und grabe meine Hand in das wacklige Gestein, setze den Fuß auf und klettere hinauf. Da ich recht leicht und wendig bin, halten die Steine mein Gewicht, bis ich oben angekommen bin. Dann riskiere ich einen Blick nach unten und muss grinsen. Die beiden starken, muskelbepackten Männer rutschen am Felsen ab, brechen die Steine heraus und als sie versuchen, einen Fuß in eine Lücke zu setzen, rutschen sie aus und gleiten wieder zum Erdboden. Bevor sie sich mein Gesicht merken können, laufe ich auf der Mauer entlang, betrachte die Weiten des Landes vor Solome. Grüne, saftige Wiesen, Felder, die die Bauern bewirtschaften. Und dann dieser große, bedrohliche Wald, der sich über eine große Weite erstreckt. Ich kann kaum das Ende sehen. Doch plötzlich schlüpft etwas aus dem Wald. Es scheint ein älterer Herr zu sein, mit langem Gehstock und einem grünen Umhang. Mehr kann ich von hier aus nicht erkennen. Er steuert jedoch direkt auf unsere Stadt zu. Ein Wanderer?
Bei der nächsten Gelegenheit, und als die Luft rein ist, steige ich wieder hinab und verschwinde in ein anderes Viertel von Solome. Hier stehen nur noch verlassene alte Häuser. Die meisten der Besitzer treibt es in die Innenstadt, damit sie am nächsten zum Markt und zum Brunnen sind. Irgendwie verwahrlost diese Gegend zunehmend. Gut für mich, besser gesagt, für uns. Ich lebe nicht alleine in diesem Viertel. Schnurstracks begebe ich mich zu einem Häuschen, dass durch die Witterung schon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mehrere Holzbalken aus dem Obergeschoss sind bereits ins Erdgeschoss eingebrochen. Der Eingang ist schwerfällig zu passieren, denn ich muss durch das schwere Holz kriechen. Kaum bin ich durch, gelange ich in den einzigen, noch bewohnbaren Teil des Hauses. Hier haben wir uns eingerichtet.
Ein kleiner Junge, kaum älter als neun Jahre, sitzt auf dem Boden und grinst mich dümmlich an.
»Philip!«, ruft er glücklich, aber leise. Dann springt er auf und umarmt mich. Seine Eltern gaben ihm den Namen Edward, bevor sie eines Abends die Stadt verließen und nie wieder zurückkehrten. Edward kam ins Waisenhaus, als ich sieben Jahre alt war, eingehüllt in weißen Laken und abgelegt in einem Körbchen vor den Toren des Hauses. Keiner weiß, ob seine Eltern ihn dort abgelegt hatten oder ob es jemand anderes war, jedenfalls wuchs er dort mit mir auf und floh ein Jahr nach mir, weil er mich vermisste. Das hat er mir jedenfalls so gesagt. Er ist sicherlich einer der Jüngsten, die das Waisenhaus je verlassen haben.
»Hallo Edward. Ich habe einen Apfel für dich, wie versprochen.« Ich greife in die Tasche, in der der Apfel steckt, und hole ihn heraus und reiche ihn Edward. Er lächelt glücklich und beißt genüsslich in das saftig rote Obst. Für mich bleibt dann nur noch die andere Tasche übrig.
»Hast du Ärger bekommen? Du warst lange weg«, merkt mein kleiner Freund an. Ich lüge nicht, damit er weiß, wie er sich selbst verhalten muss. Vielleicht nehme ich ihn das nächste Mal mit, aber im Moment ist er noch viel zu zappelig und ängstlich. Als berichte ich ihm von der Verfolgungsjagd mit den Wachen. Gespannt hört er zu, seine Augen glitzern aufgeregt. Dabei knabbert er am Apfel. »Und du? Was isst du?« Fast hätte ich vergessen, dass noch etwas anderes in meiner Hosentasche steckt. Ich betrachte das Diebesgut und seufze. Eine Birne… Ich hasse Birnen. Edward mustert meinen Blick und tippt mich an. Ich sehe ihn an und versuche zu lächeln, aber er weiß, was los ist. Deshalb reicht er mir den angebissenen Apfel und nimmt sich die Birne. Ich lächle ihn an und strubble ihm durch die Haare. Ed ist zwar klein, er versteht mich aber ziemlich gut und ich genieße seine Gesellschaft sehr, auch wenn er manchmal richtig nervig ist und seine pessimistische Seite raushängen lässt. Also, wenn er pausenlos weint und der Meinung ist, wir werden sterben oder erfrieren, getötet oder zurückgebracht. Jedes Mal muss ich mir ein anderes Untergangsszenario anhören, die meiste Zeit jedoch ist er erträglich und still. Ich habe ihm einst geschworen, dass ich auf ihn Achtgeben werde, also dulde ich die Motzerei meines Schützlings. Er muss noch so viel lernen, bevor er auf sich selbst aufpassen kann.
Nachdem unser kurzer Plausch beendet ist, erinnere ich mich wieder an den Wanderer. Edward gibt sich dem Wäschewaschen hin, währenddessen ich mich dazu entscheide, noch einmal rauszugehen. Wenn ich es richtig eingeschätzt habe, muss der Mann im grünen Gewand schon in der Stadt sein. Neugierig verlasse ich den Unterschlupf und laufe, natürlich immer auf der Hut, zum Marktplatz. Das Herz der Stadt. Von hier aus führt nur ein Weg aus diesem Topf heraus. Doch dieser Weg wird gerade von einer Menschenmasse versperrt. Die Aufregung der Leute, wenn etwas anderes geschieht als sonst, ist unfassbar. Nichts gibt mir den Blick zum Geschehen frei und ich bin zu klein, um etwas sehen zu können. Also kugle ich mich ein und krabble zwischen den Beinen der Menschenmenge hindurch. In der zweiten Reihe tauche ich wieder auf. Nun kann ich sehen, was sich abspielt. Tatsächlich sehe ich den Mann im grünen Umhang dort stehen. Die Kapuze, die er vorhin noch nicht trug, bedeckt vollständig sein Gesicht, der Rest des Umhangs bedeckt seinen Körper. Das Einzige, das aus seinem Gewand ragt, ist der Stock. Er ist lang und schwarz, verziert mit silbernen Ornamenten. Seltsam, der Mann sieht genauso aus, wie die Gestalt aus meinen Träumen. Der Stock, der Umhang… Der Fremde steht ruhig da, bewegt sich nicht. Die Leute nehmen allerdings einen sicheren Abstand zu ihm. Eine der Wachen, die mich vorhin verfolgte, tritt näher an ihn heran.
»Was wollt Ihr hier? Wir dulden keine Fremden!« Davon lässt sich der Wanderer nicht beirren und bleibt regungslos dort stehen.
»Ich bitte um Euren Stadtherrn. Nur mit ihm möchte ich sprechen.« Die Wache geht ein Stück zurück. Die Stimme des Mannes brummt tief und lässt einem die Nackenhaare aufstellen. Unser Stadtherr lässt nicht lange auf sich warten. Die Menschenmasse öffnet sich zu einer Gasse und der Graf schreitet hindurch. Die Bewohner verbeugen sich vor ihm, die Mädchen erlauben sich einen Knicks. Der Graf genießt den kurzen Moment der Ehrerbietung, bevor er sich dem Fremden widmet.
»Willkommen in unserer Heimat. Mein Name ist Theodor von Solome, Herr dieser Stadt, die meinen Namen trägt. Was sucht Ihr hier, Fremder?« Der Stadtherr baut sich bedrohlich vor dem Mann auf. Versucht, ihm klarzumachen, wer hier das Sagen hat. Doch die Stimme des Fremden bleibt kühl und unbeeindruckt.
»Eure Durchlaucht verzeiht mir das Eindringen in Eure Stadt. Ich komme von weit her. Ein Sturm zieht auf, die Vögel fliegen tief. Ich bitte Euch um eine Unterkunft, bis sich das Wetter bessert.« Eine leichte Verbeugung schmeichelt dem Grafen und überredet ihn, ohne großes Zögern.
»Ein Wanderer also? Nun, dem ist nichts einzuwenden, Ihr sollt untergebracht werden.« Theodor von Solome schnipst kurz mit den Fingern, dann eilt ein kleiner, dicklicher Mann zu ihm. Es ist der Besitzer des Wirtshauses. Er weist den Mann an, den Wanderer unterzubringen. Die beiden gehen augenblicklich. Dann delegiert der Graf die Leute, wieder an ihre Arbeit zu gehen, bevor er ebenfalls das Feld räumt. Er ist sich allerdings unsicher und zweifelt an dem Fremden. Wie ich.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass die Marktstände die ganze Zeit unbewacht waren. Ich bin ein Dummkopf! Mit flacher Hand klatsche ich mir gegen die Stirn und trete mir gedanklich in den Po. Als sich die Menge um mich herum auflöst, beobachte ich den Mann, wie er das Wirtshaus betritt. Er dreht sich um, um die Tür zu schließen, verharrt eine Weile und sieht zu mir. Ich erschrecke und laufe weg. Da ist er wieder, mein innerer Angsthase. Ich renne am Fischstand vorbei und strecke den Arm zur Seite raus, schnappe mir schnell noch einen Fisch und bringe ihn zu Edward. Dieses Mal folgt mir niemand, also hat es auch keiner bemerkt. Ich habe oft mehr Glück als Verstand. Am Abend, als es zu dämmern beginnt und die Leute nach und nach von den Straßen verschwinden, entfacht Edward ein kleines Feuer, damit er den Fisch braten kann. Ich starre in die Flammen und denke nur an den mysteriösen Fremden und vor allem denke ich an den schwarzen Stock mit den wunderschönen silbernen Ornamenten. Woher kommt er und was sucht er hier?
»Es ist nicht gut, wenn du ins Feuer starrst«, ermahnt mich Ed. »Das bringt Pech.« Ich blinzle und sehe ihn an. Er reicht mir ein Stück vom Fisch und beißt genüsslich in sein eigenes Stück.
»Fische haben Gräten, verschluck‘ dich nicht.« Damit esse ich meine Hälfte des Fisches nachdenklich auf. Die Gräten landen einfach im Feuer, meine Gedanken schweifen davon, ohne dass ich es merke. Dann schlafe ich ein, direkt neben dem kleinen Feuer. Edward weckt mich am frühen Morgen, im Lagerfeuer liegt noch die Glut vom Abend und es ist noch nicht hell. Außerdem flüstert Edward. Was ist denn jetzt los?
»Jemand schleicht draußen herum, schon eine ganze Weile.« Mein Freund offenbart mir, dass er Angst hat und sich nicht traut, nachzusehen. Deshalb stehe ich auf, putze mir den Staub von meinem Hemd und krieche wieder zwischen den Balken hervor. Draußen ist es immer noch dunkel, die Dämmerung bricht gerade erst an. Aber Edward hat Recht, dort bewegt sich etwas oder jemand. Ich kann nichts Genaueres erkennen, weil es noch so dunkel ist. Was ich allerdings sehen kann, ist, dass diese Person einen Umhang trägt, vielleicht blau oder braun. Irgendetwas Dunkles. Ich denke sofort an den Mann mit dem grünen Gewand, dieser Mann ist jedoch kleiner und das Gewand ist nicht so schön verziert, das kann ich selbst in der Dunkelheit erkennen. Aber was zum Henker tut die Gestalt da? Sie fuchtelt mit irgendwas Langem herum und sagt irgendwas. Ich höre, dass es eine männliche Stimme ist, weiß aber nicht, was er sagt oder wer das sagt. Plötzlich blitzt es schwarz aus dem obersten Ende des Stocks und es gibt einen lauten Knall. Der Mann hält den Stab in die Richtung eines Hauses, welches jener Wache gehört, die den Fremden am Markt so unfreundlich entgegengetreten war. Das Dach beginnt augenblicklich lichterloh zu brennen. Ich bin wie versteinert, denn ich habe eben gesehen, wie jemand sich der Magie bedient hat. Und was für welche! Ein schwarzer Blitz kann nichts anderes bedeuten als böse Magie. Aber warum setzt der Mann das Dach des Flurhüters in Brand?
Die Wache stürmt sofort aus dem Haus und weckt die ganze Stadt auf. Bürger rennen im Nachthemd auf die Straßen und schauen, helfen oder stehen einfach nur da, wie ich. Mehrere Männer stellten sich in einer Reihe bis zum Brunnen, damit sie Wasser holen und das Feuer löschen können – vergebens. Das Feuer frisst sich durch das ganze Haus und scheint nicht mehr löschbar. Ich muss weg von hier, Eimer suchen, irgendetwas tun. Ich verlasse den Schauplatz und renne zwischen den Gassen hindurch, direkt zu einem kleinen Häuschen. Dort stehen viele Behälter und ich schnappe mir einfach zwei Große. Schon will ich zurücklaufen, da steht plötzlich der Mann im grünen Gewand auf der Straße, weit weg vom Geschehen, und packt seinen, mit Ornamenten verzierten, Stab aus. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, erhebt er den Stab in den Himmel. Ein hellblauer Blitz schießt in die Wolken, sie werden grau und häufen sich am Horizont. Es donnert plötzlich laut und erschreckend. Ich zucke zusammen. Schon wieder Magie! Aber dieses Mal ist es anders, denn es ist kein schwarzer Blitz, den der Mann abfeuert. Er bemerkt mich die ganze Zeit nicht, bis der Donner mich so sehr erschreckt, dass ich die Eimer fallen lasse. Erschrocken dreht er sich zu mir herum und starrt mich schockiert an. Keine Ahnung was ich sagen soll, dafür bin ich viel zu perplex und überfordert. Was hat er gemacht? In dem Moment, in dem ich mich das frage, gibt er Himmel auf und der Regen strömt herab. Er lässt es regnen, damit sich der Brand löscht! Bereut er es, dass er das Haus angezündet hat? Nein, er war das nicht, der Brandstifter ist ein komplett anderer Mann gewesen. Ich schaue an dem Mann vorbei zur Rauchwolke und sehe, dass sie kleiner wird. Als ich wieder zu ihm sehen will, ist er weg. Ich schaue mich noch einmal um, aber sehe ihn nirgends. Was zum… Mit den Eimern in der Hand renne ich zurück zum brennenden Haus, das wegen des starken Regens nur noch qualmt, statt brennt. Die Menschenmassen auf den Straßen tuscheln leise miteinander und stellen Vermutungen auf, warum gerade dieses Haus Feuer fing. Unter anderem höre ich die Worte wie Magie und Fremder. Ich glaube, dieses Ereignis geht unserem Besucher in Grün an den Kragen. Und ich bin wohl der Einzige, der die Wahrheit kennt. Aber wer glaubt wohl einem sechzehnjährigen Waisenkind.
Nachdem der Brand erloschen ist, hört es plötzlich auf zu Regnen. Ich bin völlig außer mir. Bis jetzt habe ich nur Geschichten von Hexerei und Zauberei gehört. Und nun habe ich sie wirklich gesehen! Zauberer! Magie! Und was noch viel beunruhigender ist: Ich habe böse Magie gesehen.
Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein und habe überhaupt keinen Mann gesehen, der einen schwarzen Blitz gegen das Dach gerichtet hatte, vielleicht habe ich einfach nur einen Blitz gesehen, der ins Haus einschlug. Nein. Der Blitz kam von unten und eindeutig von einer Person. Wegen dieses Mannes bin ich doch erst aufgestanden. Edward hat ihn bemerkt und aufgrund meiner Neugier bin ich ihm nachgegangen.
Ich habe mir nichts eingebildet, alles ist tatsächlich so passiert.
Trotzdem interessiert es mich brennend, wer für den Schaden am Haus verantwortlich ist, wer es auf die Stadtwache abgesehen hatte. Oder steckt vielleicht etwas anderes dahinter? Irgendwie werde ich das dumme Gefühl nicht los, dass das alles mit dem Fremden in Grün zu tun hat. Nachdenklich mache ich mich auf den Weg zurück in unser Versteck, zwischen die Balken hindurch, zu Edward. Er stopft gerade tropfende Löcher mit Stöcken und Dreck und allem, was er so findet. Als er mich bemerkt, lächelt er.
»Du bist ganz nass«, ist alles, was er mir anmerkt. Und er hat Recht, ich bin völlig durchnässt und mir ist kalt. Edward lässt mich daraufhin die Sachen ausziehen und gibt mir welche vom Vortag, die er gewaschen und getrocknet hat. Nun sind sie ein bisschen feucht vom Regen, aber gleich viel besser als das klitschnasse Zeug. Ich denke darüber nach, ob ich Edward etwas davon erzählen sollte, was ich gesehen habe. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie er darauf reagieren wird. Wenn hier über Magie gesprochen wird, dann trifft man auf verschiedene Meinungen, unter anderem auf Verachtung und Entsetzen. Da gibt es Menschen, die nicht daran glauben, dann gibt es wiederum welche, die wissen, dass sie existiert aber meinen, dass Magier und Hexen vernichtet gehören. Den Grund dafür kenne ich nicht, ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass diese Menschen entweder geistliche oder schlichtweg eifersüchtige Menschen sind. Vor Edwards Reaktion, wenn ich es ihm erzähle, habe ich Angst.
»Ist was mit dir?«, reißt Ed mich aus meinen Gedanken. Ich muss wohl ein Loch in die Wand gestarrt haben, denn als ich ihn ansehe, erwidert er mit einem besorgten Blick.
»Nein, alles okay. Das Hausdach einer Wache hat heute gebrannt, der Regen hat es zum Glück gelöscht.« Vom Thema ablenken gehört nicht gerade zu meinen Stärken…
»Geht’s es ihm gut?« … scheint trotzdem zu funktionieren. Ich nicke eifrig, damit wir bloß nicht zurück auf mein Befinden zu sprechen kommen. Des Weiteren erzähle ich Edward, was passiert ist, lasse jedoch die Details mit den Blitzen, den langen Stöcken und den Umhängen aus. Edward reicht diese Information und er hängt meine nasse Wäsche auf. Ich kann nicht aufhören, über den Morgen nachzudenken. Am späten Nachmittag verlassen Edward und ich unseren Unterschlupf, um frische Luft zu schnappen und um neues Wasser zu holen. Die Sonne knallt uns ins Gesicht, als wir zum Markt gehen. Ich verliere einen Blick auf das Haus der Wache. Es ist schrecklich. Wo er und seine Familie nun unterkommen werden? Es ist nicht mehr bewohnbar, um nicht zu sagen, es steht wohl kurz vor dem Einsturz. Aber es ist nicht das erste Haus, dass einfach einstürzt und um welches sich anschließend keiner mehr kümmert. Sicherlich wird er vom Grafen einfach ein neues Heim erhalten. Mein Blick fliegt über den Markt und macht Halt am Obststand. Der Fremde im grünen Umhang steht dort, die Kapuze wieder tief ins Gesicht gezogen, seinen Stock fest umklammert. Er kauft ziemlich viel ein, mehr Obst als Ed und ich in einer Woche essen könnten. Alles verstaut er säuberlich in einen Korb und zahlt seinen Einkauf mit Münzen aus einer Ledertasche. Als Wanderer hat er aber ziemlich viel Geld. Oder zaubert er sich welches, wenn er keines hat? Der Mann dreht sich herum und hebt seinen Kopf. Bevor er mich ansehen kann, stolpere ich zu Edward und helfe ihm dabei, den Wassereimer zu tragen. Auf die Frage hin, ob alles in Ordnung sei, nicke ich mit dem Kopf und bemühe mich, nicht an den fremden Magier zu denken. Aber ehe ich mich versah, fliegen meine Gedanken wieder zu ihm. Vor meinem geistigen Auge spielt sich das Szenario wieder ab, wie er dasteht und mit einem blauen Blitz den Regen heraufbeschwor. Es wäre toll, wenn man so zaubern könnte. Edward stellt den Eimer voll Wasser an seinen angestammten Platz und nimmt die Wäsche von der Leine. Ich bedanke mich bei ihm, allerdings sehnt es mich nach draußen. Ich fühle mich in dieser Ruine, die wir unser Zuhause nennen, auf Dauer nicht wohl. Zum Schlafen genügt es, aber alles Weitere… Anders als Edward. Ihn muss ich schon beknien, bis er mit mir rausgeht. Er hat zu große Angst davor, dass er zurück ins Waisenhaus kommt. Obwohl ich nicht daran glaube, dass uns so etwas geschehen könnte. Immerhin stehle ich vom Mark und liefere mir hin und wieder eine Verfolgungsjagd mit den Stadtwachen. Doch mir ist noch nie etwas Schlimmeres zugestoßen. Ich sag’s ja, mehr Glück als Verstand. Außerdem ist es draußen viel interessanter. Ich wüsste ja gar nicht, worüber ich die ganze Zeit mit meinem Schützling sprechen sollte. Letzten Endes verplappere ich mich und ich erzähle ihm von dem, was ich gesehen habe, was er nicht wissen sollte. In Gedanken laufe ich einfach weiter, ohne zu wissen, wohin ich überhaupt gehe. Plötzlich werde ich gestoppt, da ich in jemanden hineinlaufe.
»Verzeiht…«, stammle ich eine Entschuldigung, doch als ich nach oben sehe, bleibt mir der Rest des Satzes im Hals stecken. Ein Mann im grünen Mantel dreht sich zu mir um und sieht auf mich herab. Es ist der fremde Magier! Wie erstarrt bleibe ich stehen und schaue ihn einfach nur an.
»Du schon wieder«, stellt er trocken fest und nimmt die Kapuze ab. Er trägt schulterlange, blonde Haare, die silbern im Sonnenlicht glänzen. Nun sehe ich ihm direkt in seine stechend blauen Augen und mir wird gleich kalt. Allerdings bin ich mir sicher, dass das nicht seine Schuld ist, denn ich weiß ganz genau wie mein Körper reagiert, wenn ich Angst habe.
»Verzeiht vielmals, werter Herr. Ich habe keine Augen im Kopf«, vollende ich meinen angefangenen Satz und versuche, mich gewählt auszudrücken, damit der Fremde nicht sofort weiß, dass ich ein Straßenkind bin. Ich bin mir aber sicher, dass es ihm bereits aufgefallen ist.
»Keine Augen im Kopf, wie? Nun, es ist ja nichts passiert.« Seine Stimme klingt sehr weich und väterlich, aber auch tief und abschreckend. Dennoch ist sie anders als an jenem Tag, als er zu uns stieß und mit dem Stadtherrn sprach. »Hier.« Der Mann holt den Korb unter seinem Umhang hervor und reicht ihn mir. Darin sind Äpfel und anderes Obst, sogar ein Fisch liegt an der Seite. »Für dich und deinen Freund, ihr braucht etwas zu essen. Oh, und ja, das, was du heute gesehen hast ... Vergiss es einfach. Es war nicht für deine Augen bestimmt.« Er legt seinen Zeigefinger auf seine Lippen und deutet mir an, dass ich Stillschweigen soll. Er weiß, was man mit Hexen und Zauberern hier macht. Ich nicke einfach, natürlich habe ich nicht vor, dies irgendjemanden zu erzählen.
»Verratet mir Euren Namen. Bitte.« Der Fremde will sich umdrehen, doch hält inne, um mir diese Frage zu beantworten. Er sieht mich eindringlich an und versucht, damit zu bewirken, dass ich es nicht mehr wissen will. Aber ich bleibe standhaft und wiederhole meine Bitte.
»Emanuel«, antwortet er kurz und knapp. Er setzt sich die Kapuze wieder auf und zieht sie sich ins Gesicht, so, dass keiner in seine Augen sehen kann. »Nun gut, Philip. Vergiss nicht, gib niemals dieses Geheimnis preis. Das wäre fatal.« Damit drehte er sich um und geht direkt zum Wirtshaus, in dem er ein Zimmer bezieht.
Es wird dunkel. Aber ich stehe wie angewurzelt da und kann mich nicht bewegen. Ich hätte ihn doch noch fragen müssen, wer der andere Magier ist! Vielleicht kennt er ihn gar nicht oder er weiß überhaupt nicht, dass ein anderer Magier den Brand heraufbeschworen hat. Schließlich war er nicht in der Nähe, als er das Feuer mit Regen löschte. Besser, ich sage ihm, was ich gesehen habe, bevor er Probleme bekommt. Ich setzte an, um zum Wirtshaus zu gehen, aber eine Wache hält mich auf. Es ist genau diese, die mich vor zwei Tagen beinah geschnappt hätte.
»Ist das neues Diebesgut, du nichtsnutziger Tor?« Ich schüttle mit dem Kopf und trete mal wieder die Flucht an. An den Korb habe ich gar nicht mehr gedacht und noch dazu habe ich mich nicht einmal bei Emanuel bedankt. Woher weiß er von Edward? Na gut, wir sind heute zusammen zum Markt gelaufen und dann wieder zurück, das ist ihm sicherlich aufgefallen. Aber das Kuriose an der Sache kann ich immer noch nicht ganz nachvollziehen: Woher kennt er meinen Namen? Die einzigen Begriffe, die mir hier an den Kopf geworfen werden, beschränken sich auf ‘Schelm’, ‘Bengel’, ‘Tor’ und gelegentlich auch auf ‘Lausbub’. Philip hört sich nicht im Geringsten wie diese Begriffe an. Es steht mir auch nicht auf der Stirn oder klebt mir am Rücken. Dieser Mann wird immer rätselhafter, und ich, dummerweise, immer neugieriger. Ich gehe zurück zu Edward, der gerade anfängt, ein Feuer zu entfachen. Ich stelle ihm den Korb vor die Nase und er beginnt breit zu lächeln. Wie ich ihm das erklären soll, weiß ich noch nicht. Aber er fragt nicht, sondern beißt genüsslich in einen saftigen, roten Apfel. Ich kann nur seufzen.
»Du rettest uns das Abendessen.« Edward lächelt und isst genüsslich den Apfel. Ich schmunzle über seine kindliche Heiterkeit und greife ebenfalls in den Korb. Eine Birne! Na super, was sonst. Was soll’s, schließlich ist es ein Geschenk. Edward macht sich über den Korb her, als hätte er schon eine ganze Woche nichts zu essen gehabt. Er grillt sich auch den Fisch, lässt mir kaum etwas übrig. Ich glaube, er wächst jetzt, denn sonst kann ich mir seinen Hunger nicht erklären. Bald wird er schon zehn Jahre alt und irgendwann wird der kleine Braunhaarige mit grauen Augen erwachsen. Spätestens dann sollten wir beide von hier verschwinden und irgendwo anders ein besseres Leben anfangen. Aber im Moment sind wir noch weit davon entfernt. Als Edward eingeschlafen ist, liege ich immer noch wach und starre das Dach über mir an. Das Feuer neben mir ist schon fast erloschen, nur noch die Glut schimmert zwischen Asche und schwarzem Holz. Diese ganze Angelegenheit raubt mir den Schlaf, den ich eigentlich dringend brauche. Ich sollte mir die Füße vertreten, dann kann ich sicher besser schlafen. Also stehe ich auf und gehe in Richtung Markt.
Der Mond scheint hell über der Stadt, kein Licht dringt aus den Häusern hervor. Alles wirkt verlassen und geisterhaft, aus dem Wirtshaus jedoch höre ich Stimmen und Gelächter, Musik und klappernde Krüge. Die Männer von hier haben jeden Abend etwas zu feiern, obwohl es nie einen triftigen Grund dafür gibt. Ich brauche am Abend etwas Ruhe und Zeit für mich, also verlasse ich die Stadt. Das tue ich verdammt selten, aber heute zieht es mich irgendwie hinaus, um in die Sterne zu schauen, ohne Angst zu haben, dass irgendeine Wache an der nächsten Ecke lauert, um mir das Handwerk zu legen. Ob man es nun glauben mag oder nicht, einige Wachen haben es auf mich abgesehen, einige Tage kann ich gar nicht zum Markt gehen, da sie auf mich warten. Oft plagt uns der Hunger und wir können uns nicht helfen. Außerhalb der Stadt kann man diesen Problemen entfliehen. Irgendwann, das habe ich mir wirklich ganz fest vorgenommen, werde ich diese Tore passieren und nie wieder zurückkehren. Ich stand tatsächlich schon einmal kurz davor, einfach loszulaufen. Ja, ich habe den Entschluss schon einmal gefasst. Doch da kam Edward und hielt meine Hose fest mit seinen kleinen Händen. Da war er gerade mal vier Jahre alt und sah mich mit seinen großen Augen an. Daraufhin habe ich beschlossen, mich um ihn zu kümmern, bis er groß genug ist, dass ich ihn allein lassen kann. Irgendwann, ja, irgendwann ist es so weit. Bis dahin muss ich ihn beschützen, wie ich es ihm versprochen habe. Ich passiere das Tor und schlendere hinaus, über den Weg in die Wiese. Das Gras ist grün und leuchtet im Mondschein, genauso wie die Blumen, die quer verteilt auf der Wiese wachsen.
Ich suche mir eine geeignete Stelle zum Hinlegen, schließlich wollte ich in die Sterne schauen und den Nachthimmel beobachten. Ob mein Vater das auch gemacht hat? In Wahrheit denke ich sehr oft darüber nach, wer meine Eltern waren und vor allem wie sie waren. Ich würde alles dafür geben, um sie kennenzulernen, aber ich glaube nicht, dass ich das kann. Leider kam ich ins Waisenhaus ohne eine einzige Erinnerung an mein Leben davor. Genauso gut könnten meine Eltern bereits tot sein, doch wie kann ich das wissen? Erst wenn ich vor ihren Gräbern stehe, werde ich diesen Zustand akzeptieren. Selbst dann wäre ich mir dessen gar nicht so sicher.
Ich schließe die Augen und bin im Begriff einzuschlafen, als es plötzlich einen lauten Schlag gibt. Ich schrecke auf und sehe nach oben zur Stadt. Es leuchtet rot in der Mitte der Stadt und eine große schwarze Wolke steigt über die Stadtmauer. Es brennt! Schon wieder! Aber… der Brand ist unmittelbar in der Nähe unserer Ruine. Edward! Schnell springe ich auf und renne wieder zurück in die Stadt, durch die Gassen, direkt zu unserem Unterschlupf. Durch den dichten Qualm in der Nähe des Hauses und meinen tränenden Augen kann ich kaum etwas erkennen. Doch da erspähe ich den Mann im schwarzen Umhang. Er dreht sich zu mir und hält plötzlich den schwarzen Stab direkt auf mich. Bilde ich mir das jetzt ein, weil ich zu viel von dem Qualm abbekomme oder sehe ich nicht mehr richtig? Ich huste fürchterlich und gehe zu Boden, da mir die Luft knapp wird. Ich sehe wieder nach oben und merke, dass der Mann in Schwarz verschwunden ist. Ich muss trotzdem zu Edward, muss sehen, ob es ihm gut geht oder ob er verletzt ist.
Zügig rapple ich mich wieder auf und mache mich, so schnell es mir nur irgendwie möglich ist, auf den Weg zu meinem Freund und Schützling. Je näher ich unserer Ruine komme, desto beruhigter werde ich, denn es ist nicht unser Lebensraum, der gerade in Asche zerfällt. Edward steckt den Kopf aus dem Loch, aus dem wir immer herausklettern. Er ist besorgt und weiß nicht was geschieht. Ich ziehe ihn aus der Ruine und bringe ihn weg vom Qualm, damit ihm nichts weiter passieren kann. Dann bleibe ich bei ihm, während die Dorfbewohner den Brand löschen – dieses Mal ganz alleine. Warum tut Emanuel nichts, so wie das letzte Mal? Seltsam. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Emanuel einer von den Guten ist. Im Gegensatz zu diesem anderen Magier, der zurzeit die Stadt in Schutt und Asche verwandelt. Wer ist das bloß und warum tut er das? Wo kommt er plötzlich her und warum geschehen diese Dinge erst, seitdem Emanuel nach Solome kam? Ich kümmere mich um Edward und wir verlassen gemeinsam die Stadt, damit er sich waschen kann. Da sehe ich plötzlich Emanuel aus dem Wald kommen. Er bleibt schlagartig stehen als er das Chaos schon von Weiten bemerkt. Schnell tritt er ein paar Schritte zurück in den Wald, doch das Morgengrauen erhellt seinen blonden Schopf. Er wirbelt mit seinem Stab herum, die Ornamente daran leuchten auf. Auf einmal verschwinden der Rauch und das rote Schimmern. Dann erscheint die Sonne am Horizont, küsst die Stadt und unsere Gesichter. Ich stelle fest, dass ich mal wieder eine schlaflose Nacht verbracht habe. Edward schläft ruhig auf der Wiese, unbekümmert über die Situation oder völlig fertig. Und ich sollte vielleicht auch schlafen, aber ich muss Emanuel dringend von diesem Schwarzen Magier erzählen. Vielleicht kann er ihn stoppen oder irgendetwas anderes tun. Er muss etwas tun! Wenn es weiter so geht, existiert Solome irgendwann nicht mehr.
Ich stehe auf und laufe zum Waldstück. Sein grüner Umhang ist nicht zu verfehlen, ebenso wenig wie die schimmernden blonden Haare. Die Kapuze hat er zurückgeschlagen und die Ärmel hat er sich ein bisschen weiter nach oben umgekrempelt. Er sitzt auf einen Holzstamm und hat die Hände in den Schoß gelegt, seine Augen hält er dabei geschlossen aber seine Lippen bewegen sich, als würde er lautlos reden.
»Emanuel…«, spreche ich ihn etwas verunsichert und gleichzeitig sehr frech an. Er hebt sofort seinen Kopf und öffnet die Augen. Ihm wird gleich klar, dass ich ihn erneut beim Zaubern erwischt habe. Nicht nur wegen meines Blickes oder aufgrund dessen, dass ich ihn mit seinen Vornamen anspreche, sondern weil er genau weiß, dass ich ihn gesehen haben muss.
»Da schulde ich dir jetzt wohl noch einen Korb voll Obst?« Ich lache leicht und schätze es, wie er versucht, lustig zu sein, aber das ändert nichts an der Situation.
»Ich werde nichts sagen, da könnt Ihr Euch auf mich verlassen.« Um ihm langsam auf den Magier anzusprechen, setze ich mich neben ihn auf den Holzstamm.
»Ihr scheint es zu mögen, die ganze Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Ein seltsames Bürgertum«, merkte Emanuel schroff an. Er weiß also nichts.
»Das ist nicht unsere Schuld«, fange ich an, ihm alles zu erklären. Er winkt jedoch ab und fasst meine Aussage als belanglose Selbstverteidigung auf. Eigentlich will er gar keine Rechtfertigung hören, was es aber auch nicht werden sollte.
»Ich habe bisher noch nie so etwas erlebt. Welche Unterkunft ist wohl morgen an der Reihe?« Er sieht mich ernsthaft an und erwartet wahrscheinlich eine Antwort.
»Ich weiß es nicht, der schwarze Mann sucht sich wahllos irgendwelche Häuser aus.« Da ich nicht anders darauf zu sprechen kommen kann, muss es direkt sein. Und das scheint ihm wohl die Augen zu öffnen. Nachdem ich diesen Begriff erwähne, erschaudert er plötzlich. Er weiß, was ich meine.
»Hat er dich gesehen?«, erkundigt er sich aufgeregt. Ich bejahe seine Frage, schließlich hat er auch mit seinen Stock auf mich gezielt. Was er wohl getan hätte… »Hör zu, bleib immer in deinem Unterschlupf. Mindestens so lange, bis die Sonne aufgeht. Hüte dich davor, dieser Kreatur noch einmal unter die Augen zu treten. Verstanden?« Ich nicke nervös und werde ängstlich.
»Was hat es denn mit diesem Magier auf sich? Ist er ein böser Zauberer?«, erkundige ich mich. Ich bin neugierig, schließlich will ich wissen, was er oder sie in unserer Stadt zu suchen hat. Emanuels Augen weiten sich bei meiner Frage.
»Du kennst dich also mit Magie aus, ja?« Nun ... Kennen würde ich es nicht nennen. »Es handelt sich hierbei um Dunkle Magier. Sie sind Lakaien, die hier Unruhe stiften, Helferlinge des …«, plötzlich muss er schlucken, »… Schwarzen Magiers.« Sein Tonfall ändert sich, sodass es mir die Nackenhaare aufstellt. Doch er redet weiter und findet eine Stimme wieder. »Somit ist er überall und nirgendwo. Die Magie, die der Schwarze Magier benutzt ist dunkler als bloß schwarz, seine Gedanken und Gelüste sadistischer als die des Satans selbst. Er ist ein Monster, aber was er gerade hier vorhat, ist mir momentan noch ein Rätsel. Er greift selten persönlich an. Und wenn doch, dann bedeutet dies nichts Gutes.« Emanuel macht mir Angst damit. Ein Schwarzer Magier? Helferlinge? Und warum in unserer Stadt? »Philip, der Schwarze Magier will nicht nur etwas Angst und Schrecken verbreiten. Er will an sich reißen, was er kann. Und wenn weiter solche scheinbar seltsamen Dinge weiter vorgehen, dann werden die Leute nach und nach diese Stadt verlassen, womit sie zur Zielscheibe für die Dunklen Magier werden. Verstehst du das?« Ehrlich gesagt… Nein.
»Ich verstehe kein Wort. In Wirklichkeit erzählt Ihr mir doch bloß eine Gruselgeschichte, damit ich Euch in Ruhe lasse.« Was er da erzählt, macht einfach keinen Sinn. Ein böser Schwarzer Magier soll einen Lakaien schicken, um Solome in Angst und Schrecken zu versetzen? Aus welchem Grund? Was ist so besonders an dieser Stadt?
»Nun. Vielleicht ist dem so. Magie ist höchst verpönt, weshalb sollte ich dir diesen Unfug erzählen.« Plötzlich ist er nicht mehr so, wie vorher. Nun spricht er anders, in einer anderen, nunmehr gelangweilten Tonlage, wie zu einem Fremden. Wie zu jemandem, dem er nicht traut. Er will, dass ich ihm glaube. Aber statt mich davon zu überzeugen, steht er auf und nimmt einen Stab in die Hand. »Gehabe dich wohl an diesen Tag, du weißt nicht, wie viel du davon noch erleben wirst.« Und damit geht er seines Weges, direkt in die Stadt. Er meint es also ernst. Aber ich kann es ihm nicht glauben, das alles hört sich so weit her geholt an. Und trotzdem habe ich es gesehen, ihn und den anderen Magier.
»Philip?« Edward kommt zu mir, offensichtlich ist er aufgewacht. Ob ich ihn einweihen soll?
»Ich bin hier. Wie geht es dir?« Edward nickt und lächelt. Er setzt sich neben mich, wo gerade noch Emanuel gesessen hat, und legt seinen Kopf auf meinen Schoß. Sanft streiche ich darüber. Nein, ich werde es ihm nicht erzählen.
»Du warst auf einmal weg.« Ich streiche mehrmals über seinen Kopf, bevor ich ihm mit einer Antwort diene.
»Ich dachte, ich hätte etwas hier gesehen. War wohl bloß Einbildung.« Damit sind alle Fragen beantwortet, jedenfalls für Edward. Ich hingegen mache mir weiter Gedanken darüber, was Emanuel sagte. Und nebenbei frage ich mich auch, wessen Haus morgen in Flammen stehen soll.
Ein wenig später laufen Edward und ich wieder zurück in die Stadt, in der natürlich große Aufregung herrscht. Jeder empfindet es als komisch, dass plötzlich so seltsame Dinge vorgehen. Edward bahnt sich durch die Menge und ich versuche, ihm zu folgen. Dabei höre ich die Gespräche mit, die einige Bewohner führen: »Sagt, ist es denn nicht höchst wundersam …«, und dann das: »Meiner Meinung nach haben diese Geschehnisse etwas mit diesem Fremden zu tun …« Ich höre mehrere Dinge, die darauf aufbauen, dass alles anfing, nachdem Emanuel in die Stadt kam. Das verrückte daran ist: Sie haben recht. Emanuel könnte doch der Schwarze Magier sein und ist gleichzeitig er selbst. Also er in zwei Körpern. Das wäre doch logisch und würde zusammenpassen. Aber eines würde es nicht erklären, und zwar weshalb er den gelegten Brand immer wieder löscht.
»Glaubst du an die Gerüchte, Philip?« Edward sieht sich im Haus um, kontrolliert ob durch den Rauch etwas beschädigt wurde. Mit der Frage zieht er mich schlagartig aus den Gedanken.
»Welche Gerüchte?« Ich tue einfach so, als würde ich von all dem nichts wissen.
»Die, dass der Fremde an dem allen schuld sein soll. Glaubst du das?« Das ist eine gute Frage. Ich kann sie ihm nicht beantworten.
»Ich glaube nicht daran«, erwidere ich ihm entschlossen. Unsicher bin ich mir trotzdem. Was ist, wenn Emanuel wusste, dass hier etwas vor sich geht? All diese Fragen. »Und du?«
»Möglich ist es ja, schließlich hat es angefangen, als er herkam. Vielleicht war auch er es, der beim ersten Mal durch die Gassen geschlichen ist. Ich werde aber dieses Gefühl nicht los, dass du mehr weißt, als du zugeben magst. Seitdem du nach draußen gegangen bist, um nachzuschauen, wer sich dort herumtreibt, bist du ständig weg. Ich glaube, du weißt, wer dahintersteckt.« Ich werde rot, als Edward das sagt. Doch das sollte mir klar sein, denn Edward ist nicht dumm und merkt, dass mir etwas durch den Kopf geht. »Also? Ist er es?«
»Um ehrlich zu sein, habe ich nicht den geringsten Schimmer. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich habe niemanden sehen können.« Edward ist enttäuscht von meiner Antwort. Möglicherweise hat er eine konkretere Aussage erhofft. Das tut mir sehr leid für ihn, aber ich habe Emanuel versprochen, nichts zu verraten. Ich bin ebenso enttäuscht. Enttäuscht von mir selbst. Normalerweise bin ich neugierig genug, um die Wahrheit herauszufinden, aber dafür muss ich mit Emanuel sprechen und er muss mir dann alles genau erklären. Die Frage ist nur, wird er das? Gerade wenn er im Hinterkopf behält, dass ich ihm nicht glaube? Ist das überhaupt so? Glaube ich ihm wirklich nicht oder will ich ihm bloß nicht glauben? Edward lässt sich nicht so schnell abspeisen. Er wird wieder fragen, unabsehbar, wann. Heute aber nicht mehr, denn er legt sich auf seinen Schlafplatz und schläft langsam in der nächtlichen Ruhe ein. Ed ist sauer, das spüre ich. Außerdem hat er sich einfach schlafen gelegt, ohne ein ‘Gute Nacht’, was ihm nicht sehr ähnlichsieht. Kurz nachdem mein kleiner Schützling eingeschlafen ist, gähne und strecke ich mich, um mich ebenfalls niederlegen zu können. Der Tag war wieder einmal nervenaufreibend und abenteuerlich. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass alles noch schlimmer kommen wird.
***
Ich wache mit trockenem Mund und einen damit einhergehenden quälenden Durst auf. Ich raffe mich so schnell, wie ich kann auf und schleppe mich, müde wie ich bin, zum Wassereimer, der auf der anderen Seite des Hauses steht. Ich reibe mir die Augen und gähne erneut, bis ich mit meinem kleinen Schützling zusammenstoße.
»Wenn du Wasser suchst… Keins da…«, quengelt der Kleine, ebenfalls noch im Halbschlaf und hundemüde.
»Zieh dich an, wir holen welches«, weise ich ihn zurecht und ziehe mir ebenfalls meine Kleidung über. Die Sonne erwärmt das Haus schnell. Draußen laufen Leute herum, die ziemlich laut reden und wahrscheinlich einkaufen. Möglicherweise ist es schon spät. Edward kommt mit dem Eimer neben mich und sieht mich an. Als er mir signalisiert hatte, dass er fertig ist, gehen wir zusammen raus und werden von der Sonne geblendet. Mit zugekniffenen Augen bahnen wir uns einen Weg durch die Menschen zum Brunnen. Müsste das Wasser bezahlt werden, würden wir beide ein Leben als Diebe leben, obwohl ich das für meinen Teil bereits tue. Mein Schützling kümmert sich um das Wasser, während ich mich etwas umsehe. Ich mache höchstens drei oder vier Schritte, entferne mich also nicht allzu sehr von Ed und trotzdem weit genug, dass ich ihn nicht mehr sehen oder hören kann. Ja, vielleicht sind es auch mehr als vier Schritte. Plötzlich sehe ich weiter entfernt von mir, etwas Helles aufblitzen. Ich gehe noch ein paar mehr Schritte darauf zu und werde mir immer sicherer, dass jemand eine Münze verloren hat. Ich bewege mich schnell, denn Geld sehen wir nicht oft, würde uns aber unheimlich helfen. Bisher konnte ich immer alles stibitzen und bis jetzt reicht das aus, auch wenn es nicht viel war. Trotzdem könnte der Tag kommen, an dem Edward oder sogar ich, krank werden und Medizin brauchen. Mit Stehlen kommen wir dann nicht weit, wir wissen ja gar nicht, was wir stehlen müssten. Das Geld, über das wir jetzt verfügen, wird für Medizin niemals ausreichen. Ich habe die Münze erreicht und hebe sie auf aber lasse sie auch gleich in meiner Hose verschwinden. Das tue ich schnell genug, damit es keiner bemerkt. Als ich mich dann herumdrehe, laufe ich direkt in einen Mann, der mir gleich aufhilft, nachdem ich zu Boden gefallen bin.
»Bittet um Verzeihung, Herr. Ich habe Euch nicht gesehen«, stammle ich und sehe ihn nach meiner Entschuldigung an. Emanuel.
»Keine Augen unter der Stirn, wie? Das ist ja nichts Neues.« Da ist wieder diese eintönige, gelangweilte Stimme. Irgendwie steht dieser Mann immer dann da, wenn ich gerade nicht aufpasse, wohin ich laufe. Oder er ist allgemein immer in meiner Nähe.
»Ich möchte Euch gegenüber nicht unhöflich sein… Aber gestattet mir diese Frage.« Emanuel nickt und schaut mir in die Augen. Er erwartet eine andere Frage als die, die ich ihm stellen werde. »Stellt Ihr mir nach?« Er wirkt kurz etwas verblüfft oder vielleicht sogar ertappt. Und schon setzt er wieder diesen komischen, gleichgültigen Gesichtsausdruck auf.
»Du bist ein seltsamer junger Mann«, bemerkt er schroff, ohne die Frage zu beantworten. Sein Gesichtsausdruck erklärt aber alles. Ich kontere nichts.
»Seltsam genug, um Euch zu glauben. Und wahrscheinlich etwas schwachsinnig, dies vor Euch preiszugeben. Eure Geschichte hört sich für mich weit hergeholt an, aber es ist dumm von mir, Euch nicht zuzuhören und das Erzählte ernst zu nehmen. Denn schließlich habe ich alles gesehen. Euch gesehen, ihn gesehen und eure Magie…« Emanuel reißt genau in diesem Moment die Augen auf.
»Ruhe!«, zischt er mich an. Ich habe ganz vergessen, dass das in falsche Ohren geraten kann. »Komm mit.« Er zieht mir kurz am Ärmel und bedeutet mir, dass ich ihm folgen soll. Schnell noch schaue ich über die Schulter, zum Brunnen. Doch Edward ist verschwunden. Sicherlich wird er schon nach Hause gegangen sein. Er weiß, dass ich gelegentlich von meiner Neugier gepackt werde und dann einfach verschwinde. So läuft es jedenfalls die letzten Tage.
Ich besinne mich wieder auf das Wesentliche und haste Emanuel nach. Ich kann nur noch einen Zipfel seines Umhangs sehen, der zwischen den Leuten verschwindet. Eilig kämpfe ich mich durch die Leute und versuche, Emanuel auf den Versen zu bleiben. Das ist sehr schwer, denn ich bin noch recht klein und verliere ihn immer wieder aus dem Blickfeld. Es dauert nicht lange, dann finde ich heraus, wo sein Ziel liegt: Das Wirtshaus, wo er ein Zimmer bezieht. Er lotst mich durch den Eingang und direkt neben der Eingangstür zu einer Treppe. Ich habe keine Zeit, einen Blick in das Wirtshaus zu werfen, welches ich bisher noch nie betreten hatte, denn Emanuel handelt schnell. Er läuft die Treppe nach oben und den Gang nach hinten. Mir bleibt keine Zeit, etwas anderes anzusehen, denn ich muss ihm folgen. Dann hält er mir die Tür auf und ich betrete sein Zimmer. Er hat die Fenster mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Ansonsten ist das Zimmer recht leer. Ich denke nicht, dass er vorhat, länger zu bleiben.
»Lass dich von den Fenstern nicht irritieren. Ich bin sehr vorsichtig, was meinen Aufenthaltsort betrifft.« Seine Rechtfertigung verunsichert mich nur noch mehr. Vor wem versteckt er sich? Nebenbei zieht er den Mantel aus und zündet zwei Kerzenständer mit Kerzen an, die den Raum erhellen. Hier drin gibt es nichts Außergewöhnliches. Das Zimmer ist klein, also ungefähr vier Armlängen lang und vier Armlängen breit. In der rechten oberen Ecke steht ein kleines Bett aus Holz, welches recht gemütlich aussieht. Als ich es ansehe, denke ich darüber nach, wann ich wohl zuletzt in einem Bett geschlafen habe. Mein Blick schweift weiter durch das Zimmer. Seinen Stock hat er an die Wand gelehnt. Im Kerzenlicht tanzen die Ornamente wie kleine Sterne auf dem Stab. Magisch. Mir ist vorher gar nicht aufgefallen, dass der Stab so lang ist.
»Du sagst also, du glaubst mir«, reißt mich Emanuel aus meinen Gedanken. Ich drehe mich zu ihm und beobachte, wie er sich auf einen Stuhl in der rechten Ecke setzt und sich zurücklehnt.
»Das heißt nicht, dass ich es verstehe«, merke ich prompt an.
»Du hast Fragen?« Ich habe viele Fragen und wir werden wohl eine Weile brauchen. »Dann raus damit. Ich will es dir erklären.«
»Dieser Schwarze Magier… Was hat es mit ihm auf sich? Ihr meintet, der Schwarze Magier versucht alles an sich zu reißen. Wozu?« Emanuel schmunzelt und schweigt ein paar Sekunden.
»Wozu würdest du denn wollen, dass dir alles gehört? Im Grunde will er, dass Magier, Hexen und Zauberer unter seinem Gehorsam stehen, und das kann er nur erreichen, wenn er sie mit Angst erfüllt. Deshalb bildet er Dunkle Magier aus oder zieht Hexen auf seine Seite, um diese Angst in die Köpfe der Menschen und magischen Geschöpfe zu treiben. Sein Problem ist es aber, dass er sich jedes Dorf, jede Stadt und jeden Bürger einzeln vornehmen muss. Ein paar sind schlauer und erkennen, wie durchtrieben seine Pläne sind und die anderen… Na ja …«
»Was will er damit erreichen?« Mir kommt es so vor, als würde er nur um den heißen Brei herumreden.
»Er will die Welt an sich reißen und über alles und jeden regieren. Der Schwarze Magier will sich eine Tyrannis aufbauen, mit vielen Magiern und Hexen an seiner Seite, die sein böses Handwerk vollstrecken. Das Leben aller Menschen verändert sich in ein Leben aus Sklaverei. Und alle Magier, die er nicht zu sich holen kann, wird er ausquetschen wie eine Made. Irgendwann wird er ihnen die Fähigkeit zum Zaubern nehmen und sie dann einsperren. Nur, damit er die absolute Macht besitzt.« Ein Feuer lodert in Emanuels Augen. Deswegen ist er also hier. Er will versuchen, die Stadt zu beschützen und zu retten, damit es nicht zu dieser Tyrannis kommen kann.
»Ihr wollt ihn töten. Denjenigen, der für das Chaos hier verantwortlich ist?« Was sonst sollte er hier so lange machen. Er kann schließlich nicht jeden Brand erst dann löschen, wenn das Haus schon unbewohnbar ist. Und genau wie ich es vermute, nickt Emanuel und starrt seinen Stock an.
»Mir wäre es lieber, wenn er keinen Magier geschickt hätte, sondern nur einen dummen Zauberer, einen Anfänger oder eine Hexe.«
»Und was wäre der Unterschied gewesen?« Geschockt sieht Emanuel mich an, in etwa so, als hätte ich ihm gerade verkündet, dass die Welt eine Kugel ist. Da aber Emanuel durchaus gebildet und belesen ist, nehme ich an, dass er das weiß.
»Der Unterschied ist der, dass Magier im Gegensatz zu dem restlichen Gesindel, welches sich der Magie und Zauberei bedient, elementare Magie betreiben. Hexen mischen bestimmte Tinkturen oder beschwören, um zaubern zu können. Zauberer schnitzen sich einen Stab, den sie nach einem bestimmten Ritual als Zauberstab benutzen können, aber sie können damit kein Feuer erschaffen oder Steine bewegen. Noch dazu müssen sie Sprüche lernen, denn ohne diese würde ihr Zauber nicht gelingen. Im Großen und Ganzen ist zu sagen, dass Hexen und Zauberer langsamer sind und sich somit schneller besiegen lassen als Magier. Und darin besteht nun mal das Problem.«
»Ihr könnt diese Stadt also nicht retten«, schießt es aus meinem Mund, als würde ich seine Gedanken lesen. Ich liege aber richtig, denn er nickt leicht nachdenklich.
»Meine Fähigkeiten sind diesbezüglich begrenzt. Zumal ich mich bloß der Elementarmagie bedienen kann, mit der ein oder anderen Ausnahme. Die Stadt werde ich nicht retten können, allerdings hoffe ich, dass ich diesem Dunklen Magier den Garaus machen kann, der im Namen seines Herrn hier Unruhe stiftet.« Ich sehe ihn an und frage mich, was Elementarmagie sein soll. Wieder sieht er zu seinem Stock, ich folge seinem Blick. Auf einmal erleuchteten die Ornamente am Stab hell wie die Sonne. Erschrocken sehe ich wieder zu Emanuel, dessen Augen in derselben Farbe leuchten. »Trotz allem werde ich alles daransetzen, um ihn aufzuhalten. Er darf die Menschen nicht miteinbeziehen. Koste es mein Leben.«
Es dauerte eine Weile, bis Emanuel wieder zu sich gekommen ist. Er steht von seinem Stuhl auf und schiebt den schwarzen Vorhang etwas zur Seite.
»Es ist schon dunkel, Philip. Du solltest zu deinem Schützling zurückkehren, Edward wartet sicher auf dich.« Keine Ahnung, woher er seinen Namen kennt. Schließlich habe ich diesen nie erwähnt. Meinen allerdings auch nicht ... Es ist dennoch eine gute Idee zurückzugehen. Ich weiß noch, als Edward die ersten Tage bei mir war und ich plötzlich verschwand. Er saß auf dem Marktplatz und hat geweint. Dabei war ich nur fünf Minuten weg.
Ich verabschiede mich von Emanuel, der seinen Stab in die Hand nimmt. Wahrscheinlich wird er bald raus gehen und schauen, ob er den Magier findet. Denn diese Entschlossenheit in seinen Augen ist nicht zu übersehen. Ob er tatsächlich über Leichen gehen wird, bis er den Magier zur Strecke gebracht hat? Er wird sich doch nicht für Solome opfern wollen, für Menschen, die er nicht einmal kennt. Mit diesen Gedanken verlasse ich das Wirtshaus und schnuppere die kühle Nachtluft außerhalb des Hauses. Ich lege mir die Hände an die Oberarme, weil ich anfange zu frieren. Dabei sehe ich in den Himmel und lächle wegen der funkelnden Sterne und stelle fest, dass wir Vollmondnacht haben. Seltsam, am Tag ist es so beißend heiß und in der Nacht schrecklich kühl.
Plötzlich vernehme ich einen komischen Geruch. Mit schnellen Schritten passiere ich den Marktplatz und steuere auf unsere Bleibe zu. Aber was zum-? Eine in schwarz bekleidete Person steht davor und erhebt genau in diesem Moment seinen Stab. Nein! Edward! Ich renne los und schiebe den Magier weg, sodass er ins Stolpern gerät. Dann quäle ich mich durch den quer stehenden Balken hindurch und suche Edward. Im Haus finde ich ihn nicht. Aber er muss doch hier sein? Ich rufe seinen Namen, doch er antwortet nicht.
»Du suchst den Jungen?« Erschrocken drehe ich mich zum Sprechenden herum und sehe ihn an. Durch die Dunkelheit wirkt er wie ein schwarzer Schatten und hat die Kapuze ins Gesicht gezogen, sodass ich sein Gesicht nicht sehen kann.
»Sei beruhig, er ist nicht hier.« Dabei erhebt er seinen Stab und zielt damit auf mich. Mist! Ein schwarz leuchtender Strahl kommt auf mich zu. Besonnen ducke ich mich unter ihn weg und versuche zu fliehen. Hat er es etwa auf mich abgesehen? Hinter mir erhebt sich eine hohe Flamme an der Holzwand des Hauses. Ich sehe zu ihr und erschrecke mich darüber, werde panisch und hoffe, dass das nur ein Traum ist.
»Komm schon her, du einfältiger Lausejunge!«, ruft der Mann. Seine Stimme… gütiger, wo habe ich die denn schon gehört? Ich richte mich auf und renne zur anderen Seite des Raumes, direkt zum Ausgang. Aber er lässt mich nicht, denn er feuert erneut einen Blitz in meine Richtung. »Wohin des Weges?«, fragt er mich. Das Feuer erhellt den Raum und ich kann sehen, dass seine Kapuze tief ins Gesicht ragt. Er kommt auf mich zu und engt mich ein, drängt mich in die Ecke des Hauses. Als er nah genug vor mir steht, grinst er und greift mit seiner Hand nach der Kapuze. Elegant zieht er diese herunter und ich kann nicht glauben, was ich da sehe. Theodor von Solome ist ein Magier?
»Warum zerstört Ihr Eure ganze Stadt? Wozu?« Er lacht leicht.
»Ich zerstöre doch nicht die ganze Stadt, mein Junge. Ich habe den Auftrag, nach etwas zu suchen, dass ich zerstören soll. Und ich denke, ich habe es auch gefunden. Außerdem könnte ich viel mehr besitzen als diese kleine, nicht nennenswerte Stadt.« Nach dieser Erklärung fängt er plötzlich zu lachen an. Er ist wahnsinnig, übergeschnappt.
»Ihr werdet aber nie mehr besitzen, wenn Ihr alles niederbrennt, was sowieso Euch gehört.« Ich versuche, ihn hinzuhalten, bis ich ein Mittel zur Flucht gefunden habe. Und offensichtlich scheint es für einen kurzen Moment zu funktionieren. Doch plötzlich schreit er auf und dreht sich um. Ich nutze die Gunst des Moments und renne an ihm vorbei. Plötzlich sehe ich, dass der durchgedrehte Magier einen Jungen am Arm packt und böse ansieht. Edward lässt die Bratpfanne fallen und weint, weil er ihm weh tut. Ich muss schnell handeln und ziehe Edward aus seiner Gefangenschaft.
»Lauf!«, schreie ich ihn beinah schon an und Edward verschwindet in einem Loch nach draußen. Damit der Magier ihn aber nicht erwischt, baue ich mich schützend vor seinem Stab auf.
»Du wirst sterben, wenn du dich mir widersetzt.« Er drückt mir den Stab direkt auf meinen Oberkörper. Mein Herz rast. Wird er es wirklich tun? Was sollte ihn schon aufhalten, meine Abwesenheit würde niemanden kümmern.
»Stopp!«, ruft Emanuel von der anderen Seite des Raumes. Er trägt seinen Mantel und die Kapuze ins Gesicht gezogen. Mit festem Griff an seinem Stab leuchtet sein Körper blau auf. Wie in meinem Traum. Diese Stimme lässt den Stadtherren erschaudern, sodass er kurz von mir ablässt. Dabei renne ich weg, in die Richtung von Emanuel, doch es trifft mich etwas Schmerzendes im Rücken. Es fühlt sich plötzlich so an, als würde man von einem Blitz getroffen werden und die Stelle, an der es schmerzt, brennt wie Feuer, auf und unter meiner Haut. Ich gehe auf die Knie und stöhne. Dann sehe ich zu Emanuel, dessen Gesichtsausdruck ich nicht mehr ganz deuten kann, weil alles vor meinen Augen verschwimmt. Dann knalle ich mit dem Kopf auf dem harten Boden. Es war bloß ein Funke Mut, der mich dazu trieb. Das ist also mein Ende?
Ich vernehme einen knarrenden Boden, Schritte, die auf und ab gehen, spüre den Schmerz im Rücken und rieche Rauch. Dann huste ich und öffne die Augen. Schnelle Schritte komme auf mich zu und ich erblicke dann das Gesicht von Emanuel, im Schein des Kerzenlichts seines Zimmers.
»Philip, sag’, ist alles in Ordnung?« Ich reibe mir die Augen, damit ich ihn klar sehen kann, und dann versuche ich, mich aufzusetzen. Erfolglos.
»Ich… ich kann nicht…« Meine Stimme ist rau, mein Mund und der Hals furchtbar trocken. Ich fühle mich wie eine tote Blume, die im Sommer vertrocknet ist. Doch Emanuel nickt und hilft mir, mich aufzurichten. Mein Rücken brennt höllisch, aber so kann ich wenigstens etwas Wasser zu mir nehmen. Emanuel reicht mir einen Becher voll Brunnenwasser. Ich räusper mich kurz und sehe ihn an. Er trägt bloß ein weißes Hemd und eine Hose, natürlich sehr gepflegt und sauber. Die blonden Haare trägt er zurückgebunden zu einem Dutt.