Das Licht ungewöhnlicher Sterne - Ryka Aoki - E-Book

Das Licht ungewöhnlicher Sterne E-Book

Ryka Aoki

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Beschreibung

Einst war Shizuka Satomi ein Star, heute ist sie die gefragteste Geigenlehrerin der Welt. Wer bei ihr studiert, dem ist eine glänzende Karriere gewiss. Niemand ahnt, dass Shizuka einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat: Sieben Musikerseelen muss sie ihm bringen. Sechs davon hat sie bereits der Hölle übergeben. Nur mit der siebten will es nicht klappen, und langsam läuft Shizuka die Zeit davon. Als sie eines Tages das Geigenspiel der jungen Katrina hört, ist Shizuka sich sicher, die letzte Seele gefunden zu haben. Doch dann begegnet Shizuka der geheimnisvollen Lan Tran, die von geradezu außerirdischer Schönheit ist, und mit einem Mal werden all ihre Pläne über den Haufen geworfen. Es ist der Beginn eines mitreißenden Abenteuers voll Magie und Hoffnung. Eines Abenteuers, das zeigt, dass man für die Liebe manchmal ganze Sternensysteme überwinden muss ...

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Das Buch

Einst war Shizuka Satomi ein Star, heute ist sie die gefragteste Geigenlehrerin der Welt. Wer bei ihr studiert, dem ist eine glänzende Karriere gewiss. Niemand ahnt, dass Shizuka einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat: Sieben Musikerseelen muss sie ihm bringen. Sechs davon hat sie bereits der Hölle übergeben. Nur mit der siebten will es nicht klappen, und langsam läuft Shizuka die Zeit davon. Als sie eines Tages das Geigenspiel der jungen Katrina hört, ist Shizuka sich sicher, die letzte Seele gefunden zu haben.

Doch dann begegnet Shizuka der geheimnisvollen Lan Tran, die von geradezu außerirdischer Schönheit ist, und mit einem Mal werden all ihre Pläne über den Haufen geworfen. Es ist der Beginn eines mitreißenden Abenteuers voll Magie und Hoffnung. Eines Abenteuers, das zeigt, dass man für die Liebe manchmal ganze Sternensysteme überwinden muss ...

Die Autorin

Ryka Aoki unterrichtet Englische Literatur am Santa Monica College und Gender Studies an der Antioch University. Für ihre Romane, Gedichte und Essays wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Lambda Literary Award. Mit ihrem Science-Fiction-Roman Das Licht ungewöhnlicher Sterne begeisterte Ryka Aoki Tausende von Leser*innen, darunter so berühmte Namen wie T. J. Klune und Becky Chambers. Das Licht ungewöhnlicher Sterne war 2022 für den Hugo Award nominiert.

RYKA AOKI

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Pfingstl

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen OriginalausgabeLIGHTFROMUNCOMMONSTARSDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 01/2024

Redaktion: Uta Dahnke

Copyright © 2021 by Ryka Aoki

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Originalentwurfs von Jamie Stafford-Hill

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31011-0V002

www.heyne.de

Für Katrina und alle Katrinas überall

PROGRAMM

FEBRUAR

MÄRZ

APRIL

JUNI

JULI

AUGUST

NOVEMBER

FEBRUAR, WIEDEREINMAL

UNDJENSEITSDERZEIT

DANKSAGUNG

Die Leute denken, die eigene Seele für Musik zu verkaufen, wäre leicht. So nach dem Motto: Hier unterschreiben und – PUFF! – bist du ein Star!

Wenn es so einfach wäre, würde die Welt in tollen Songs ertrinken. Das ist offensichtlich nicht der Fall.

Seelen sind billig.

Die Kunst besteht darin, die richtige zu finden.

FEBRUAR

1

Schhhh …

Ja, es tat weh. Es war definitiv mehr als eine Prellung. Ja, sie hatte Angst. Ihre Kehle schmerzte vom Schreien.

Katrina Nguyen tastete vorsichtig unter ihrem Bett.

Mädchenkleidung. Jungenkleidung. Geld. Geburtsurkunde. Sozialversicherungsausweis. Zahnbürste. Ersatzbrille. Ersatzbatterien. Make-up. Estradiol. Spironolacton.

Katrina hatte sich eine Notfalltasche gepackt, nachdem ihr Vater das erste Mal gedroht hatte, sie umzubringen.

Eigentlich war es nur eine Vorsichtsmaßnahme gewesen für einen Fall, der wahrscheinlich nie eintreten würde.

Aber nach dem heutigen Abend …

Warum hatte sie es so weit kommen lassen? Warum war sie nicht einfach das, was ihre Eltern sich wünschten?

Ein Teil von ihr war in Panik. Was hast du getan? Entschuldige dich. Du klopfst jetzt an die Schlafzimmertür und sagst, dass alles deine Schuld ist und dass es dir leidtut. Versprich, dass du dich ändern wirst.

Aber der andere, stärkere Teil war ganz ruhig, fast kaltblütig.

Du musst weg von hier. Heute Nacht. Atme, verhalte dich still und lausche.

Also lauschte Katrina: auf Schritte, auf Atemgeräusche, auf ein Schnarchen. Sie lauschte und lauschte in der Dunkelheit. Irgendwann hörte sie das letzte Husten ihrer Mutter. Das letzte Mal, dass ihr Vater die Klospülung betätigte.

Und dann herrschte Stille.

Katrina fasste sich an die Rippen und stemmte sich hoch. Der Schmerz war stark, aber erträglich. Sie war in ihrem Zimmer, die Tür war abgeschlossen. Sie musste nur leise sein. Und die Ruhe bewahren. Sie konnte es schaffen.

Sie konnte es schaffen.

Im Schein ihrer Handytaschenlampe verteilte Katrina Concealer auf ihrer Wange und um das Auge herum. Es war besser, der Welt ohne deutlich sichtbare Blutergüsse gegenüberzutreten.

Dann legte sie einen Zettel auf ihr Bett.

Darauf stand, dass es ihr leidtat, dass sie wünschte, sie wäre nie geboren worden, dass sie ihre Eltern nicht wütend machen wollte und sie nie wieder behelligen würde.

Der letzte Teil stimmte sogar.

Aber dann hatte sie noch geschrieben, sie würde nach San Francisco gehen.

Das war absolut glaubwürdig. Natürlich nach San Francisco, da gingen schließlich alle, die queer waren, hin. Ihr Vater würde auf die Wand einschlagen und irgendetwas zertrümmern. Ihre Mutter würde sich bekreuzigen und ein Gebet murmeln. In ein oder zwei Tagen würde sie Tía Claudia anrufen, die auf der anderen Seite der Bucht von San Francisco wohnte, um ihr zu sagen, sie solle ihren missratenen Sohn suchen und ihn nach Hause schicken.

Bis dahin wäre Katrina jedoch bereits sechshundert Kilometer weit weg.

Sie zog lautlos ihren Mantel an und öffnete das Fenster. Draußen hörte sie einen Polizeihubschrauber und Lärm aus einer Wohnung nebenan. Lärm vom Highway, von schicken Autos auf dem Weg in die Stadt und weniger schicken auf dem Weg in die Gegenrichtung. Mit langsamen, fast schon eleganten Bewegungen nahm sie, was sie brauchte.

Ticket. Laptop. Notfalltasche.

Geige.

Dann kletterte sie auf ihren Schreibtisch und sprang. Zum Glück unterdrückte das Adrenalin den Schmerz bei der Landung. Sie drehte sich um, schloss das Fenster wieder und warf einen Blick auf ihr Handy.

Gut. Es war noch genug Zeit. Katrina machte sich humpelnd auf den Weg, so schnell sie konnte. An den Nachbarn vorbei, am Highway, an den Autos und dem Polizeihubschrauber. Sie würde mit dem Zug nach Oakland fahren und dort irgendwo den Rest der Nacht verbringen.

Am nächsten Morgen würde sie mit einem dieser großen weißen Busse nach Los Angeles fahren.

Wer noch nie mit einem dieser großen weißen Busse gefahren war, würde es wahrscheinlich auch nie tun. Diese Busse hielten nicht an den Greyhound-Stationen, auch nicht an Bahnhöfen, sondern vor Asialäden und -einkaufszentren.

Manche wurden von Vietnamesen betrieben, andere von Koreanern. Viele von Chinesen. Manche fuhren bis nach Las Vegas, andere pendelten zu den Casinos in Morongo, Pechanga und San Manuel. Ein weiteres Streckennetz bediente die restlichen, im ganzen Bundesstaat verstreuten asiatischen Communities: Oakland Chinatown, San Francisco Chinatown, Little Saigon und San Diego Chinatown.

Und dann gab es natürlich noch die zahllosen Routen ins San Gabriel Valley: nach Rosemead, San Gabriel, Monterey Park und in den ganzen Rest des gelobten Landes der asiatisch-stämmigen Amerikaner.

»Ich glaube, Mädchen.« Die Frau machte sich nicht die Mühe zu flüstern. Die Kleine konnte sie ruhig hören. Schließlich sprach sie Kantonesisch, und heutzutage waren die jungen Leute entweder vollständig amerikanisiert oder sie lernten Mandarin.

»Kein Mädchen!«, beharrte die andere Frau. »Zu hässlich für Mädchen.«

»Aber sie trägt Make-up!«

Es folgte eine kurze Stille.

»Zu hässlich für Mädchen«, stimmte die erste schließlich zu.

»Auf jeden Fall Junge. Wäre zu traurig, wenn Mädchen.«

»Ja, sehr.«

Die Frauen waren ungefähr im Alter von Katrinas Mutter – sie hätten ihre Freundinnen sein können. Katrina brauchte kein Kantonesisch zu sprechen, um sie zu verstehen, denn sie bekam diese Dinge jeden Tag zu hören. Sie versuchte auch nicht, das Gespräch auszublenden. Das hatte sie schon vor Langem aufgegeben.

Stattdessen lehnte sie den Kopf an die Fensterscheibe und lauschte den Stimmen der beiden Frauen, dem Brummen des Motors, dem Dröhnen eines überholenden Lastwagens. Sie lauschte dem Schmerz in ihren Rippen, der im Takt jedes Schlaglochs und jeder Richtungsänderung pulsierte wie Musik.

Wenn der Schmerz Musik wäre, dann könnte sie durchatmen und sich ausruhen.

Katrina Nguyen umklammerte ihren Geigenkasten und dachte an eine Melodie.

Dann erlaubte sie sich einzuschlafen.

Shizuka Satomi öffnete die Augen. Vor zweiundzwanzig Stunden war sie noch in Tokio gewesen.

Und jetzt?

Wie auf ein Stichwort hin wurde Shizuka von einem grässlichen Geräusch aus ihren Gedanken gerissen. Es klang, als würde jemand mit einem Scheibenwischerblatt auf einer Geige spielen.

Wer in aller Welt veranstaltete so einen infernalischen … Ach ja, natürlich.

Sie beruhigte ihren Atem und lauschte. Außer dem Hahn waren noch zwei Hennen zu hören und ein paar Tauben. Vier, genauer gesagt. Eine Ente und eine alte Asiatin, die ein pentatonisches Volkslied summte. In der Ferne dröhnte eine Schnellstraße, und jemand fuhr gerade in einem Mercedes vor.

An keinem anderen Ort der Welt gab es solche Geräusche.

In dem gelben Haus wohnten die Aguilars. An der Ecke die Laus und gleich daneben die Lieus.

Sie war wieder in Los Angeles, Monterey Park, genauer gesagt.

Zu Hause.

Shizuka sah sich im Zimmer um. Dank Astrid war der Umzug bereits abgeschlossen. Kleidung, Möbel, ihre Instrumente, es war alles da und bereit. Ihr Auto hatte die Reise von Japan ebenfalls schon hinter sich und stand unten in der Auffahrt.

Der einzige Gegenstand, den sie selbst mitgenommen hatte, lag auf ihrem Nachttisch: ein länglicher Instrumentenkoffer, alt und abgestoßen, aber von höchster handwerklicher Qualität. Sein Inhalt schien stumm und beinahe ungeduldig nach ihr zu rufen.

Noch nicht, dachte Shizuka. Aber bald.

Als der Hahn erneut krähte, stand Shizuka auf und streckte sich. Sie hatte ihren Schlaf perfekt getimt. Selbst mit Jetlag fühlte sie sich, als hätte sie lediglich ein kurzes Nickerchen gemacht. Natürlich wäre sie am Abend wieder müde, aber wenn alles lief wie geplant, hätte sie die Person, nach der sie suchte, da bereits gefunden.

Als Shizuka nach unten ging, wartete Astrid bereits mit dem Frühstück: Reisbrei, Tee und ein weich gekochtes Ei.

Außerdem eine geschälte Mandarine.

»Astrid, ich hatte keine …«

»Sie ist von Mrs. Aguilar«, sagte Astrid. »Sie hat eine ganze Tüte voll vorbeigebracht. Wollen Sie nicht doch eine? Sie sind wirklich süß.«

Shizuka trank ihren Tee, aß ihr Ei und eine Scheibe Toast. »Ich möchte meinem Körper keine Überraschungen zumuten, solange er noch nicht einmal weiß, in welcher Zeitzone er sich befindet.«

Astrid zuckte die Achseln. »Aber Mrs. Aguilar sagte, ihre Mandarinen hätten Ihnen stets geschmeckt.«

Die Mandarine war wunderbar süß wie immer und viel saftiger, als man es bei einer Winterfrucht für möglich halten würde. Jede Straße sollte ihre eigene Mrs. Aguilar haben.

»Miss Satomi?«

»Ja? Entschuldigung, ich war gerade in Gedanken.«

Astrid runzelte die Stirn. »Warum ruhen Sie sich nicht aus? Es ist nur die Vorentscheidung. Die Endrunde findet erst nächste Woche statt, und Ms. Grohl wird sicherlich dabei sein.«

Shizuka zog ihren Lippenstift nach, trug ein wenig Puder auf und nahm ihre Sonnenbrille. »Wenn sie wirklich die Siebte ist, wird sie sich die Teilnahme an der Endrunde sparen können, sollte ich meinen.«

2

Sechs Mal hatte Shizuka Satomi das Außergewöhnliche erschaffen. Sechsmal hatte sie einen aufstrebenden Musiker oder eine aufstrebende Musikerin ausgebildet, geformt und zu einem Star gemacht.

Noch erstaunlicher war, dass die meisten Lehrenden einen bestimmten Stil, einen unverkennbaren Klang bei ihren Schülern kultivierten – nur Satomi tat das nicht. Ihre Schülerinnen und Schüler waren abwechselnd eiskalt, zerstörerisch, zart, verzweifelt, atemberaubend sinnlich …

Die lässige Regelmäßigkeit, mit der sie Genie um Genie herbeizauberte, war ungewöhnlich, fast schon übernatürlich. Kein Wunder, dass die Leute irgendwann angefangen hatten, sie die Königin der Hölle zu nennen.

Andererseits war es schon über zehn Jahre her, dass sie eine neue Schülerin angenommen hatte.

Und warum?

Manche glaubten, es liege an einem gebrochenen Herzen. Mit ihrem letzten Schüler, Yifeng Brian Zheng, war sie kurz vor dessen Tod in einem Café in Annecy gesehen worden. Sie hatten heiße Schokolade getrunken, Mille-feuille gegessen und miteinander gelacht. Der blendend aussehende junge Geiger hatte sich von jeder Bühne der Welt aus bei seiner Lehrerin bedankt und in einem Fernsehinterview behauptet, erst Shizuka Satomi habe ihm gezeigt, was Liebe wirklich bedeute.

Waren die beiden möglicherweise mehr gewesen als Lehrerin und Schüler?

Andere vermuteten den weit mondäneren Grund, dass Shizuka sich schlicht zur Ruhe gesetzt hatte. Die Königin der Hölle hatte Yifeng Zheng ausgebildet, vor ihm Kiana Choi, davor Sabrina Eisen und so weiter und so weiter. Sie hatte alles erreicht, was es zu erreichen gab, und kein Ziel konnte sie mehr locken.

Was auch immer der Grund für ihre Inaktivität sein mochte, von Jahr zu Jahr gingen immer mehr Leute davon aus, dass die Königin der Hölle nie wieder jemanden unterrichten würde.

Idioten.

Seit zehn Jahren war Shizuka Satomi auf der Suche und streckte ihre Fühler nach geeigneten Kandidaten aus: in Lausanne, danach in Salzburg, Sydney und jüngst in Tokio.

Für nichts und wieder nichts.

An Bewerbern hatte es nicht gemangelt. Musiker und Musikerinnen kamen und gaben ihr alles, was sie hatten, alles, was sie sich vorstellen konnten.

Als wäre das, was sie sich vorstellen konnten, auch nur annähernd genug.

Andere in Shizukas Umfeld, darunter auch Tremon Philippe persönlich, sagten, sie sei zu wählerisch, vielleicht sogar ungerecht. Während der letzten zehn Jahre musste doch sicherlich jemand Geeignetes dabei gewesen sein.

Natürlich waren welche dabei gewesen.

Ihre letzten sechs Schülerinnen und Schüler waren wie eine Perlenkette gewesen. Genie reihte sich an Genie, und doch war Shizuka von Mal zu Mal bewusster geworden, dass etwas nicht stimmte. Nein, dass etwas fehlte. Sie sah ihre Schüler aufsteigen und wieder fallen, sah sie erstrahlen und verbrennen und verspürte eine immer stärker werdende Sehnsucht nach einer Musik, die gerade außerhalb des menschlichen Hörvermögens lag, zum Verrücktwerden vertraut und doch unerreichbar.

Bis Shizuka diese Musik eines Tages in Tokio hörte.

Inmitten des Lärms von dreizehn Millionen Menschen, Ramen-Lokalen, Internetcafés, U-Bahnen und noch einmal doppelt so vielen Kirschblüten hörte sie, was bisher immer gefehlt hatte. Aber der Ursprung dieser Musik lag nicht in Tokio, sondern auf der anderen Seite des Ozeans.

Ausgerechnet dort, wo sie ihre Suche begonnen hatte.

Shizuka überholte einen unerträglich langsam fahrenden Lexus und fuhr auf den Huntington Drive.

Das San Gabriel Valley war ein bisschen wie ein asiatisch-amerikanisches Monopoly-Brett: Die Straßen der Arbeiterwohnviertel Rosemead, Monterey Park und El Monte waren von Kambodschanern, Chinesen, Vietnamesen, Laoten, Vietnam-Chinesen, ein paar Koreanern und sogar vereinzelten Japanern bevölkert. Im bürgerlichen Temple City, in San Gabriel und Alhambra bot sich das gleiche Bild. Auch in Boardwalk, Park Place, San Marino und Arcadia, durch das Shizuka gerade fuhr.

Als sie an dem Luxus-Einkaufszentrum an der Santa Anita Plaza vorbeikam, in dem man mit Trüffeln gefüllte Teigtaschen, Hello-Kitty-Latte und zweitausend Dollar teure chinesische Vogelnestsuppe kaufen konnte, merkte Shizuka, wie ihr Atem ein wenig schneller ging. Dann raste sie an der Santa-Anita-Rennbahn vorbei, wo es den schicken 626 Nachtmarkt gab, der Asiaten jeglicher Herkunft mit stinkendem Tofu, Bubble Tea, Taro-Makronen und internationalen Independent-Filmen lockte, bis sie endlich am Ziel war: der Xinhua Phoenix Hall.

Die Xinhua Phoenix Hall war das kleinere der zwei Gebäude auf dem Platz. Beide hatte der gefeierte chinesische Architekt An Wei entworfen, dazwischen erhob sich ein großer Brunnen in Form einer Teekanne, in deren Seite das vergoldete Schriftzeichen gemeißelt war.

stand für Ewigkeit, und genau so lange schien es Shizuka her zu sein, dass sie das letzte Mal so gespannt auf ein Vorspielen gewesen war. Sie wusste nicht, warum, aber sie war sich absolut sicher. Dass Tremon Philippe das Grohl-Mädchen erwähnt hatte, hatte sie nur noch in ihrer Gewissheit bestärkt.

Inzwischen konnte sie beinahe körperlich spüren, wie die Melodie sie anzog – die Zeitlosigkeit darin, die ihre anderen Schüler und Schülerinnen trotz aller Genialität bestenfalls gestreift, aber nie erreicht hatten.

Shizuka Satomi nahm einen tiefen Atemzug. Es gab keinen Grund zur Eile. Nicht für die Königin der Hölle. Sie überprüfte ein letztes Mal ihr Make-up und setzte ihre Sonnenbrille auf.

Hier würde sie ihre siebte und letzte Schülerin finden.

Die letzte Seele, die noch fehlte.

Und was gab es danach noch zu erreichen?

Alles!

Wer das Wort Geigenwettbewerb hört, stellt sich wahrscheinlich zuerst einmal die Bühne mit den nervösen Teilnehmern darauf vor. Aber im Foyer und auf den Fluren findet noch ein ganz anderer Wettbewerb statt.

Reisen nach Berlin werden erwähnt oder die Juilliard School. Die Menschen im Foyer haben keine Lehrer, sondern sie »studieren« bei jemandem, der meist nur mit Nachnamen genannt wird. »Sie studiert bei Korsakova«, heißt es dann. Unabhängig von Alter und Geschlecht und ganz egal, ob es sich um einen nationalen oder internationalen Wettbewerb handelt, geht es bei den mit den unterschiedlichsten Akzenten geführten Gesprächen im Grunde genommen nur um eine einzige Frage: Wer ist am wichtigsten und warum?

»Die Prinzessin schwingt das Zepter wie immer«, sagte Ellen Seidel aus Temple City zu Landon Fung von der Freiberg Music, die ebenfalls in Temple City war.

Besagte Prinzessin hieß mit bürgerlichem Namen Tamiko Giselle Grohl. Sie saß in einer Ecke und aß eine winzige Portion Kartoffelsalat mit Makkaroni. Inmitten all des nervösen Geschnatters sah sie beinahe entspannt aus, während sie ihre Noten durchging.

»Hast du es ihr gesagt?«, fragte Landon.

»Selbstverständlich. Aber ich habe ihr auch gesagt, dass sie nur per Internet zusehen wird.«

»Gut. Ich meine, warum sollte Shizuka Satomi eigens herkommen?«

Einige der Anwesenden hörten den Namen und reckten sogleich die Köpfe.

»Pst, nicht so laut!«

Landon nickte nervös. »V-Verzeihung.«

Natürlich würde Shizuka Satomi nicht extra herkommen. Ausgeschlossen. Ellen versuchte, sich ihre Aufregung darüber nicht anmerken zu lassen, dass die berühmteste Geigenlehrerin überhaupt das Vorspiel ihrer Schülerin, Tamiko Grohl, bei diesem Wettbewerb verfolgen würde.

Ellen Seidel war ebenfalls Geigenlehrerin, und das schon lange. Sie hatte verwöhnte Schüler unterrichtet, unaufmerksame, untalentierte und auch solche, deren Eltern der reinste Albtraum waren.

Doch dann kam Tamiko Giselle Grohl.

Zugegeben, das Mädchen war schwierig. Sie hatte Wutanfälle und benahm sich daneben. Aber sie übte wie eine Besessene, und sie war ein Wunderkind. Für Ellen Seidel war Tamiko der Lohn all ihrer Mühen, ein Zeichen Gottes.

Ellen betrachtete ihre Star-Schülerin. Tamiko war bereit für den nächsten Karriereschritt. Sie musste wachsen. Niemand lernte nur bei einer einzigen Lehrerin. Aber ganz egal, zu wem sie als Nächstes gehen mochte, Ellen würde immer ihre erste Lehrerin bleiben.

Die meisten vermuteten, dass Tamiko ans Konservatorium gehen würde, an die Kilbourne School vielleicht oder auch an die Juilliard. Das wäre nur logisch.

Aber Shizuka Satomi entzog sich jeder Logik. Ihr letzter Schüler war Yifeng Zheng gewesen. Davor hatte sie Kiana Choi unterrichtet und davor Sabrina Eisen. Jede Geigerin und jeder Geiger kannte diese Namen. Sie waren Stars gewesen und hatten die Preise und Auszeichnungen nur so abgeräumt.

Sollte Tamika in dieses Pantheon aufsteigen, würde sich Ellens Leben für immer verändern. Sie würde Shizuka und Tamiko nach Paris begleiten, nach Frankfurt, auf eine Asien-Tour mit vierzehn Stationen, während Ellens Schüler sehnsüchtig auf ihre Rückkehr warteten, damit sie ihre Weisheit mit ihnen teilte. »Ich studiere bei Seidel«, würden sie dann sagen.

All das rückte nun in den Bereich des Möglichen, weil Shizuka Tamikos Vorspiel verfolgte, wenn auch nur im Inter…

Plötzlich schnappte jemand laut nach Luft.

Langes schwarzes Haar. Blutrotes Kleid. Dieses zeitlose, kaum erkennbare Lächeln, wie ein Verrückter es vielleicht malen würde. Und natürlich die obligatorische Sonnenbrille.

Shizuka Satomi. Die Königin der Hölle.

Stille senkte sich über das Foyer.

Ellen hatte die Geschichten über sie gehört, aber nichts hätte sie auf das vorbereiten können. Das hier war mehr als nur Macht, Ehrgeiz und Schönheit. Sogar mehr als Genialität. In Gegenwart dieser lebenden Legende verloren all diese Worte ihre Bedeutung, als würden sie von einer ewigen Flamme verzehrt.

Doch das Verblüffendste, ja vielleicht sogar Erschreckendste, war ihr Fokus. Nichts an Shizuka Satomi schien zufällig. Alles an ihr wirkte gemessen und genau arrangiert. Mit größter Feinsinnigkeit komponiert.

Plötzlich wurde Ellen klar, dass die Königin der Hölle genauso beobachtete, wie sie selbst beobachtet wurde. Vollkommen höflich, vollkommen unnahbar, schien sie jeden im Raum zu mustern, zu prüfen und auszusortieren.

Und dann blieb sie stehen …

Tamiko Giselle Grohl erhob sich. Sie zitterte leicht und schien nicht genau zu wissen, wohin mit ihrem Blick.

»Nicht wegsehen, Tamiko«, flüsterte Ellen beschwörend. »Du musst sie ansehen.«

Und dann nahm Shizuka Satomi – die Shizuka Satomi – ihre Sonnenbrille ab und blickte Tamiko Giselle Grohl in die Augen.

Das war sie also. Hübsch. Natürlich war sie hübsch.

Tremon hatte gesagt, sie sei außergewöhnlich begabt. Natürlich war sie auch das.

Shizuka betrat den Konzertsaal und setzte sich auf einen Platz in den hinteren Reihen. Selbst hier spürte sie, wie die Leute sie beobachteten und zweifellos auch über sie tratschten.

Wie auch immer. Aussehen, Ruf, Ausbildung, ja selbst Leidenschaft – all das zählte nun nicht mehr.

Die Organisatoren machten die üblichen Ankündigungen. Jemand sagte, er habe seine Hustenbonbons vergessen. Schließlich wurde das Licht heruntergedimmt.

Dann wollen wir sie mal spielen hören.

Nach der Vorausscheidung eines Wettbewerbs war das Foyer stets von den Gesprächen der Eltern, Lehrenden, Musikerinnen und Musiker erfüllt. Von Triumph, Kummer, Streit und Vorhersagen darüber, wer es in die Endrunde schaffen würde – all diese gewichtigen Dinge.

Doch an diesem Nachmittag wurden die Gespräche von einem anderen Thema beherrscht.

Shizuka Satomi war hier.

»Ich dachte, sie lebt jetzt in Lausanne?«

»Tokio, soweit ich weiß.«

»Moment, wie alt ist sie noch mal?«

»Hier, nimm mal mein Handy. Könntest du ein Foto machen, wenn …«

»Machen wir doch eines mit ihr zusammen!«

Und dann kam sie.

Genau wie zuvor wurde es still im Foyer, doch diesmal nicht vor Überraschung, denn alle wussten bereits, dass sie hier war, sondern weil Miss Satomi auf der Suche nach ihrer nächsten Schülerin oder ihrem nächsten Schüler hergekommen war. Ihrem nächsten Star.

Während sie sich durch die Menge bewegte, merkten die besten Geiger und Geigerinnen des San Gabriel Valley, dass ihre Herzen ins Stocken gerieten, dass sie ihre Musik plötzlich als minderwertig und hohl empfanden. Wer vorgehabt hatte, die Königin der Hölle anzusprechen, kam sich plötzlich klein und unsichtbar vor, als hätte er oder sie nichts Wichtiges zu sagen.

Zwei der Anwesenden jedoch traten an sie heran.

»Miss Satomi! Danke, dass Sie eigens hergekommen sind, um dem Wettbewerb beizuwohnen. Ich bin Ellen Seidel. Und das ist Tamiko Giselle Grohl.«

Shizuka sah die beiden an. War das ein Lächeln, das ihre Lippen umspielte?

»S-Sie haben mir eine Nachricht geschickt, wissen Sie noch?«, sprach Ellen mit vor Stolz, Sehnsucht und Angst angespannter Stimme weiter.

»Aber ja«, erwiderte Miss Satomi endlich. »Ihre Schülerin ist der Grund, warum ich hier bin.«

Tamiko konnte sich nicht länger zurückhalten, jetzt, da die Königin der Hölle direkt vor ihr stand. »Kiana Choi hat bei Ihnen studiert, nicht wahr?«, platzte sie heraus.

»Ja, das ist richtig.«

»Kiana ist meine Heldin – ich will genauso werden wie sie!«

Shizuka warf Tamiko Giselle Grohl einen letzten Blick zu. Ihr Spiel war selbstbewusst, einnehmend und nahezu fehlerfrei gewesen.

Die Königin der Hölle neigte auf höchst besondere Art den Kopf und sagte: »Nein, wollen Sie nicht.«

Als die Menschen im Foyer sich wieder gefangen hatten, war Shizuka Satomi bereits zur Tür hinausgeschwebt.

Astrid schälte Mandarinen, als die Tür aufging.

»Willkommen zurück, Miss Satomi! Ich nehme an, alles lief …«

Astrid verstummte. Ein Blick in Miss Satomis Gesicht sagte ihr alles, was sie wissen musste. »Ich werde sogleich das Abendessen vorbereiten«, sagte sie rasch.

Miss Satomi nahm ihre Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. »Für heute Abend bitte nur etwas Misosuppe.«

»Selbstverständlich, Miss Satomi.« Astrid versuchte, nicht erschrocken zu klingen. »Wollen Sie vielleicht ein wenig schlafen?«

»Nein. Ich werde ein bisschen in den Garten gehen.«

»Sehr wohl, Miss Satomi.«

Astrid ging in die Küche und machte Wasser heiß. Sie gab Bonitobrühe hinzu, in Scheiben geschnittenen Rettich, Seetang, Miss Satomis bevorzugtes weißes Miso, ein geschlagenes Ei und dann noch in Scheiben geschnittene Fischfrikadellen.

Misosuppe. Miss Satomi verlangte nur dann danach, wenn sie krank oder erschöpft war. Und natürlich war sie genau das. Sie war gerade aus Tokio in eine Stadt zurückgekehrt, die sie für immer hinter sich gelassen zu haben glaubte, und das alles nur wegen der Chance, die eine noch fehlende Seele zu finden. Sie hatte alles auf dieses Grohl-Mädchen gesetzt und war so voller Hoffnung gewesen, so absolut sicher.

Und jetzt war es doch nicht die Richtige?

Die Küche füllte sich mit dem sanften Duft der köchelnden Suppe. Astrid drehte die Hitze herunter, damit sie verzehrbereit war, wenn Miss Satomi aus dem Garten zurückkam, und wartete. Mehr konnte sie im Moment nicht tun.

Nein, nein, nein!

Shizuka betrat den Garten, ging automatisch um den alten Kakibaum herum und wich dem immer noch herausstehenden Pflasterstein neben dem Fischteich aus.

»Tremon.«

Zwischen den Wasserlilien schwammen noch dieselben alten Koi. Dahinter erstreckte sich unverändert die abfallende Hügelflanke mit demselben alten Ausblick auf die Häuser unterhalb, die Autos und all die Orte, an die man mit ihnen fahren konnte.

»Tremon?«, sagte sie noch einmal.

Das Grohl-Mädchen wollte also genauso sein wie Kiana Choi. Die eigene Seele verkaufen, um zu sein wie jemand anderes? Im Ernst? Wo war da die Vision, das Genie? Als Agentin der Verdammnis war Shizuka an die Einfältigkeit der Menschen gewöhnt, aber das war dann doch ein bisschen arg wenig.

»Tremon! Wo stecken Sie?«

»Sie brauchen nicht gleich zu schreien, Shizuka. Ich komme schon.«

Er atmete durch den Mund, trug Anzugschuhe und hatte einen schleppenden Gang, den Shizuka nur allzu gut kannte. Auf die meisten Menschen wirkte Tremon Philippe wie ein stattlicher, kultivierter Herr. Aber Shizuka hatte ihren Kontaktmann schon immer als Kröte betrachtet, wenn auch als eine gut gekleidete.

»Was sollte das? Ich reise um die halbe Welt, um mir das anzuhören? Sie sagten, das Mädchen sei etwas Besonderes!«

Shizuka hielt inne. Es war nicht allein Tremons Schuld. Auch sie hatte sich getäuscht. Außerdem musste sie vorsichtig sein. Die Leute nannten sie zwar die Königin der Hölle, aber Tremon war ein Dämon, und zwar ein echter.

»Verzeihen Sie, Tremon. Ich habe einen langen und am Ende sehr enttäuschenden Tag hinter mir.«

»Ich weiß, Shizuka. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Trotzdem verstehe ich nicht, warum wir nicht feiern. Das Grohl-Mädchen ist brillant, schön und hungrig!«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das dieses Mal nicht genügt.«

»Dieses Mal? Uns läuft die Zeit davon.«

»Glauben Sie, ich weiß das nicht?« Shizuka ging zum Fischteich und starrte die Koi an, die im dunklen Wasser ihre Kreise zogen.

»Warum machen Sie es sich so schwer? Es ist doch ganz einfach: Sechs plus eins ergibt Freiheit.«

»Und diese Eins ist hier irgendwo ganz in der Nähe«, erwiderte Shizuka. »Ich spüre es.«

»Wo? Dort unten vielleicht?« Tremon deutete den Hügel hinab auf die Lichter von Monterey Park. »Und dort macht sie was? Knödel kochen? Eine Ente braten? Ganz ehrlich, meine Liebe, was erwarten Sie denn?«

»Was, wenn ich Ihnen sage, dass ich der Hölle zum Abschluss etwas ganz Besonderes schicken möchte, damit man mich dort in guter Erinnerung behält?«

»Ich soll also glauben, dass Sie aus Zuneigung zur Hölle Ihre Existenz aufs Spiel setzen?«

»Natürlich nicht. Aber das Warten wird nicht umsonst gewesen sein, wenn wir sie gefunden haben, das verspreche ich.«

»Nun gut, Shizuka«, sagte Tremon. »Für den Moment spiele ich mit, und sei es nur, weil die letzten sechs Seelen so gut aufgenommen wurden. Aber denken Sie daran: Sie hatten sieben mal sieben Jahre Zeit für sieben Seelen. Achtundvierzig davon sind bereits vorbei. Wenn Sie die siebte nächstes Jahr um diese Zeit nicht haben, braucht man sich in der Hölle nicht an Sie zu erinnern, denn Sie werden dort sein – jeden Augenblick jedes einzelnen Tages, bis in alle Ewigkeit.«

Als Shizuka aufblickte, war Tremon Philippe bereits nicht mehr da.

Katrina warf einen Blick auf ihr Handy. Sie hatte Empfang. Gut. Sie schickte Evan eilig noch eine weitere Nachricht. Ihr Plan war noch nicht ganz ausgereift, aber sie würde sich eine Weile bei ihm einquartieren, sich einen Job suchen und dann weiter Musikvideos aufnehmen.

Und danach? Ihr würde schon was einfallen.

Sie zuckte erneut vor Schmerz zusammen, als der Bus die Spur wechselte, umklammerte ihre Geige und schlief wieder ein.

Als sie aufwachte, bog der Bus gerade ratternd vom Rosemead Boulevard auf den Parkplatz vor dem riesigen Shun-Fat-Supermarkt ab. An der Haltestelle warteten bereits Leute, um ihre Verwandten abzuholen.

Katrina versuchte, ein bisschen wacher zu werden, während sie ausstieg und auf ihr Gepäck wartete.

Die beiden älteren Frauen musterten sie tuschelnd. Eine deutete auf ihr Gesicht.

Katrina befühlte ihre Wange und sah dann ihren Finger an. Mist. Die Foundation war abgegangen, während sie geschlafen hatte. Und das bedeutete, dass die beiden Frauen den Bluterguss sehen konnten. Ihr blaues Auge.

Aber die beiden waren Fremde und konnten von ihr denken, was sie wollten. Ihr Spott und ihre Vorurteile waren nichts im Vergleich zu dem, was Katrina durchgemacht hatte. Ihre Blicke konnten ihr herzlich egal sein, sagte sie sich.

Sie taten ihr nicht weh.

Kein bisschen.

3

Lan Tran liebte Donuts, vor allem den großen aus Gips und Beton auf dem Dach.

Zur Zeit von Präsident Eisenhower hatte es sie im Großraum Los Angeles haufenweise gegeben, aber jetzt war davon nur noch eine Handvoll übrig: Kindle’s, Dale’s, Randy’s und Donut King 2 in Gardena. Nicht zu vergessen das berühmte Donut Hole in La Puente mit seinem Donut-förmigen Torbogen über der Zufahrt.

Und hier, oberhalb von El Monte, gab es Lan Trans Starrgate Donut, das nachts, wenn alles still war, ein bisschen summte wie ein Raumschiff. Drinnen schwirrten die Zwillinge Windee und Edwin herum und befüllten die Vitrine mit Zitronencremetörtchen, Apfelküchlein, Schokocookies, Boston Crèmes und Twists, während Shirley und Tante Floresta sich um die Kundschaft kümmerten und Markus im Keller damit beschäftigt war, die nächste Expansion zu planen.

»Hallo, Kommandantin!«, sagten die Zwillinge und salutierten.

Lan erwiderte den Gruß. »Weitermachen«, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

Shirley kam mit einem Tablett voller Schokoladen-Eclairs aus dem Hinterzimmer. »Die Replikatoren arbeiten innerhalb der Toleranzen, Mutter.«

»Danke, Shirley. Aber mach das nächste Blech mit dreißig Prozent weniger Restwärme. Wir werden nicht viel Kundschaft haben heute, also müssen sie nicht heiß sein, und wir sparen ein bisschen Energie.«

»Ja, Mutter.«

Als Lan Tran aus dem Fenster schaute, winkten die Sterne ihr zu wie immer. Man musste zwar keine Raumfahrtingenieurin sein, um Donuts zu backen, aber schaden tat es auch nicht.

An der Wand hing noch immer ein Bild von den Thamavuongs, die Starrgate im Jahr 1979 gekauft hatten. Damals hieß der Laden noch El Monte Donuts. Die Thamavuongs verkauften Donuts, die sie mit viel Liebe und Sorgfalt nach klassisch amerikanischem Rezept herstellten.

Als in den 80er-Jahren Videospielautomaten populär wurden, stellten sie mehrere davon in ihrem Laden auf. So wurde El Monte Donuts nicht nur für seine Backwaren bekannt, sondern auch für Pac-Man, Asteroids und Defender. Aber das mit Abstand beliebteste Spiel war Stargate. Eingefleischte Zocker steckten Münze um Münze in den Schlitz und verbrachten ganze Tage damit, die Menschheit vor dem nie endenden Ansturm der Aliens zu beschützen. Irgendwann beschlossen die Thamavuongs, noch zwei weitere Stargate-Automaten zu kaufen, und bald darauf wurde ihr Laden nur noch Stargate Donuts genannt.

Daraufhin beschloss Mr. Thamavuong, den Namen von El Monte Donuts zu Starrgate Donuts zu ändern (mit zwei r, um markenrechtliche Scherereien zu vermeiden). Der Videospielhype verebbte irgendwann, aber der Name blieb, bis die Thamavuongs beschlossen, sich zur Ruhe zu setzen.

Erst dann wurde ihnen klar, dass sie gar keine Kinder hatten, die das Geschäft übernehmen konnten. Investoren wurden bei ihnen vorstellig, und einige boten sogar einen fairen Preis. Aber Mrs. Thamavuong schaute auf ihren Laden und weinte. Ihr ganzes Leben steckte in diesen Donuts.

Eines Abends erhielten die Thamavuongs eine E-Mail von einer Frau namens Lan Tran. Frau Tran schrieb, sie liebe den großen Donut auf dem Dach. Der Kauf ging reibungslos über die Bühne, ganz ohne Feilschen. Die Thamavuongs nannten einen Preis, und Frau Tran stimmte zu. Und was noch besser war: Sie versprach, Laden und Bäckerei weiterzubetreiben und Starrgate-Donut strahlen zu lassen wie ein Leuchtfeuer in der Nacht.

Die Thamavuongs nahmen sich drei Wochen Zeit, um Lans Familie alles beizubringen, was sie übers Backen und die Öfen wissen mussten. Danach übergaben sie Lan ihr kostbares Rezeptbuch und kehrten mit vielen guten Erinnerungen und einem ebenso gut gefüllten Konto in ihre geliebte Heimat Laos zurück.

Sie waren kaum weg, da legte Lan Tran das Rezeptbuch beiseite. Statt selbst zu backen, ließ sie ihre Crew zwei Dutzend Donuts von jeder Sorte, die die Thamavuongs zubereitet hatten, digital konvertieren und speichern. Diese Referenz-Donuts wurden sodann von den Schiffsreplikatoren schnell und nahezu perfekt reproduziert. Das Ergebnis? Die Donuts waren stets bunt und schön, der Hefeteig war immer golden und weich. Keine Überraschungen und keine Sorgen.

Irgendwann würde Lans Crew vielleicht lernen, Donuts zu backen, wie die Thamavuongs es getan hatten. Aber im Moment war ihre oberste Pflicht, für die Sicherheit der Mission zu sorgen. Denn Donuts waren nicht der einzige Grund, warum Lan Tran und ihre Crew sich auf diesem Planeten aufhielten.

Lan ging an der Backstube vorbei und öffnete die Tür zur ehemaligen Putzkammer. Statt Mopps und Eimern befand sich dahinter ein neuer, glänzender Aufzug, der in die kürzlich fertiggestellte untere Etage führte, in der sich jetzt das Kontrollzentrum, das Forschungslabor, die Krankenstation und der Wohnbereich befanden. Außerdem ein unterirdischer Hangar für ihr Raumschiff.

Hier konnten Lan und ihre Familie den Untergang des Galaktischen Imperiums abwarten und ihre Arbeit ungestört fortsetzen, solange sie nur den Polizeibeamten kostenlose Donuts spendierten – wie Mr. Thamavuong ihr mehrfach eingeschärft hatte.

»Kommandantin.« Markus Tran salutierte, als Lan das Forschungslabor betrat.

»Leutnant. Wie geht es mit den Modifikationen voran?«

»Der Donut hat noch nicht ganz Idealgröße, aber das bekommen wir in den Griff. Bitte sieh dir die Änderungen an, die ich vorgenommen habe. Wenn du einverstanden bist, werde ich sie sofort umsetzen.«

Lan sah sich die Pläne an und nickte. Ihr Sohn war ein guter Ingenieur geworden. »Was ist mit der Energie?«

»Wie vorausberechnet hat die Fertigstellung des Untergeschosses über zweiundsechzig Prozent unserer Energiereserven verbraucht. Es wird mindestens drei Monate dauern, bis wir sie wieder auf Normalniveau gebracht haben, aber das Tagesgeschäft sollte davon nicht beeinträchtigt werden. Es gibt jedoch ein anderes Problem.«

»Das Sternentor?«

»Ja, Kommandantin. Selbst bei einhundert Prozent würde die Leistung unseres Hauptreaktors bei Weitem nicht ausreichen. Wir brauchen eine externe Energiequelle, aber leider ist die Energieproduktion dieser Zivilisation dafür um mehrere Größenordnungen zu klein.«

Das war keine Überraschung. Schließlich hatten die Menschen noch keine Kernfusion, geschweige denn Punktsingularitäten oder Antimaterie als Energiequelle.

»Ich arbeite noch an einer Lösung dafür«, erwiderte Lan. »Mach erst einmal weiter mit der Produktion und den Tests bei niedriger Leistung. Du kannst dafür zehn Prozent von der Schiffsenergie abzweigen, solange wir den Replikator nicht betreiben.«

»Verstanden, Ma’am.«

»Das wäre alles.«

»Siehst du? Er hat Mom gesagt!«

»Nein, er sagte Ma’am.«

»Es war Mom!«

Lan drehte sich um. Die Zwillinge kamen gerade aus dem Aufzug gestürmt.

»Edwin, Windee! Ich habe euch doch gesagt, dass ihr hier nicht rennen sollt! Euer Bruder kalibriert gerade das Warp-Feld. Warum seid ihr nicht auf eurem Posten?«

»Entschuldigung!«, sagten die beiden wie aus einem Munde.

»Also, ihr zwei, was habt ihr hier zu suchen?«

»Wir wollten wissen …«, begann Edwin.

»Ob wir dich, wenn wir uns nicht an Bord des Schiffes befinden, Mom oder Kommandantin nennen sollen«, sprach Windee weiter und salutierte. »Ich möchte lieber Kommandantin sagen.«

Lan erwiderte den Gruß und musste ein Lächeln unterdrücken. »Dein Wunsch sei dir gewährt, Fähnrich Windee.«

»Aber darf ich dich manchmal auch Mom nennen?«, fragte Edwin und schlang ihr die Arme um die Taille.

»Ach, Edwin, ich glaube, die Anrede ist gar nicht so wichtig. Was zählt, ist, dass wir zusammen sind und in Sicherheit. Und das heißt, dass ihr hier unten nicht rennen dürft. Wir wollen schließlich nicht, dass jemand verletzt wird.«

»Ja, Mom.«

»Aye-Aye, Kommandantin!«

»Gut. Und jetzt rauf in den Laden mit euch. Dort gibt es bestimmt genug zu tun.«

Lan beobachtete, wie die beiden auf ihre Posten zurückeilten. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Familie. Für ihre Familie würde Lan eine ganze Galaxie durchqueren.

Das hatte sie sogar bereits.

Soweit Astrid wusste, hatte das Nachbarhaus erst einer japanischen Familie gehört, dann einer mexikanischen und jetzt einer chinesischen. Aber vor allem ließ das Haus sie an ihre Kindheit in der Schweiz und an ihre Großmutter denken, wie sie sich über ihre Möhren-, Erbsen- und Spargelbeete beugte. Denn egal ob sie einen VW, einen Toyota, Chevy oder Mercedes fuhren, jede Familie hier schien eine Großmutter zu haben, die im Garten Gemüse anbaute.

Astrid war einen Monat vor Miss Satomi angereist, um alles vorzubereiten. Glücklicherweise hatte Miss Satomi einen Gärtner eingestellt. Der Kakibaum sah gesund aus, und auch den Fischen im Teich ging es gut. Aber der Garten wurde viel zu wenig genutzt. Astrid war zwar keine Großmutter, aber sie wollte ebenfalls Gemüse anbauen: Rüben, Kohl, vielleicht auch Auberginen. Wenn sie jetzt damit anfinge, könnte sie nächstes Jahr ernten.

Doch wären sie und Miss Satomi dann überhaupt noch hier?

Ein Klopfen an der Terrassentür riss Astrid aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah eine Tüte mit grünen Bohnen und zwei Bittermelonen auf der Veranda. Die alte Dame von nebenan hatte sie gerade dort abgestellt. Sie verbeugte sich und verschwand dann mit einem Winken wieder auf das Nachbargrundstück.

Astrid winkte zurück und betrachtete die Geschenke. Wie man Bohnen kochte, wusste sie, aber Bittermelonen?

So was hatte Oma Strafeldas in Freiburg nicht angebaut.

In Los Angeles gab es zahllose Tage mit 28 Grad Celsius, blauem Himmel, Bergen, Strand und Palmen ringsum. Aber an den seltenen Tagen, an denen die Straßen frei waren, es keine Baustellen oder Unfälle gab, wurde L. A. wirklich zum Paradies: kilometerlanger, glatter Asphalt und freie Fahrt auf jeder Spur.

Doch heute war keiner dieser Tage. Kurz vor der Anschlussstelle 605 hatte ein Lkw eine Matratze verloren, und jetzt steckte Shizuka im Stop-and-go-Verkehr fest. Das Schlimmste aber war, dass sie dringend pinkeln musste.

Die Highways in und um Los Angeles waren nicht ohne Grund von uringefüllten Plastikflaschen gesäumt. Denn das gesamte Einzugsgebiet von LA war praktische eine toilettenfreie Zone. Aber in eine Plastikflasche zu urinieren, war nicht jederfraus Sache.

Wenigstens gab es in der Nähe der nächsten Ausfahrt einen McDonald’s. Also versuchte Shizuka, sich für den Moment auf drängendere Dinge zu konzentrieren.

Drängend?

Die Assoziationen, die das Wort in ihr auslöste, konnte Shizuka im Moment wirklich nicht gebrauchen.

Die siebte also. Sie musste die siebte Seele finden.

Nach dem Vorspielen hatte sie einen zweiten Brief von Ellen Seidel erhalten, in dem diese Shizuka darum bat, sich das Grohl-Mädchen in der Endrunde noch einmal anzuhören. Auch Tremon Philippe hatte ihr einen weiteren Besuch abgestattet, um ihr überflüssigerweise ins Gedächtnis zu rufen, dass eine Musikerin mit Tamikos Begabung schon in wenigen Monaten, wenn nicht sogar früher, für einen Wettbewerb auf Weltklasseniveau bereit sein könnte.

Selbst Astrid hatte Bedenken geäußert und Shizuka darauf hingewiesen, wie lange sie schon auf der Suche war, wie erschöpft sie klang, wenn sie um Misosuppe bat, und dass Fräulein Grohl vielleicht nicht perfekt sein mochte, aber möglicherweise gut genug. Sobald der Vertrag erfüllt sei, hätte Miss Satomi doch alle Zeit der Welt …

Shizuka gähnte. Sie hatte ihren Jetlag fast überwunden, aber noch nicht ganz. Und selbst wenn. Wie konnte sie einen Dämon wie Tremon jemals überzeugen? Das Grohl-Mädchen war bereit und willig. Sie sagte, sie wolle so sein wie Kiana Choi, und genau so spielte sie auch. Jede Note war eine Hommage, ein Gelübde, ein Versprechen, dass sie für die Aussicht auf Ruhm und Anerkennung alles tun würde.

Und dann war da noch Astrid. Shizuka wusste, wie sehr ihre Haushälterin sich um sie sorgte. Sechsmal hatte sie brillante, aber ungeschliffene Talente mithilfe eines Fluchs und ein paar Lügen zu Stars gemacht. Was wäre schon dabei, wenn sie es noch einmal so machte?

Wie sollte Shizuka es ihnen erklären?

Sie konnte es nicht. Es war schlicht unmöglich.

Shizuka war nicht einmal sicher, ob sie selbst wusste, wer die siebte Seele war. Oder was. Trotzdem konnte sie sich diese Schülerin, diese Musik, nicht einfach entgehen lassen.

Die Siebte. Wo hatte sie sich nur versteckt?

Shizuka konnte sie spüren, beinahe hören.

Plötzlich geriet sie in Panik.

Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass McDonald’s und die dortige Toilette bereits mehrere Ausfahrten hinter ihr lagen. Shizuka überholte einen Pick-up auf der rechten Seite und raste auf dem Pannenstreifen zur nächsten Ausfahrt, runter vom Highway, auf der verzweifelten Suche nach einem Etablissement mit einer Toilette. Aber alles, was sie sah, war eine Wohnstraße nach der anderen.

Verdammte Vorstädte!

Dann, in immer größer werdender Verzweiflung, sah sie es: Hinter den Bäumen lugte ein riesiger Donut hervor.

Na klar!

Shizuka kannte den Anblick noch aus ihrer Kindheit. Sie war nie drinnen gewesen, denn ihre Eltern hatten etwas gegen Junkfood. Aber jetzt war sie erwachsen, niemand konnte ihr mehr etwas verbieten. In rasendem Tempo lenkte sie ihren Jaguar zum Starrgate Donut, trat auf die Bremse, lief nach drinnen und dort direkt zur Toilettentür.

Aber da war keine Tür.

Da fiel ihr etwas Schreckliches wieder ein: Sie befand sich hier nicht in Japan, sondern in El Monte.

Beinahe hätte sie laut aufgeschluchzt. In Japan waren die Toiletten in den Donut-Läden stets sauber und gut zugänglich. Aber hier? Shizuka hatte gesehen, wie Donut-Läden in L. A. Kinder abwiesen. Sie hatte gesehen, wie selbst weiße Männer in Geschäftsanzügen abgewiesen wurden. Niemand benutzte die Toilette in einem Donut-Laden außer den Mitarbeitenden und der Polizei.

Außerdem starrten alle sie an.

Egal ob sie sich in der Musikwelt bewegte oder in einem Donut-Laden, Shizukas Haltung war stets die der Königin der Hölle. Manche Kunden schauten weg, andere wirkten verängstigt. Eine alte Frau bekreuzigte sich.

Was jetzt? Eine Tankstelle oder ein Supermarkt? Ein Baum vielleicht?

Andererseits hatte sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und war Schlimmeres gewohnt.

Gerade als sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, erschien eine Donut-Verkäuferin am Tresen. »Ja?«

Shizuka nahm ihre Sonnenbrille ab und senkte den Kopf. »Ma’am, ich weiß, dass Ihre Toilette nicht öffentlich ist, aber dürfte ich sie bitte trotzdem benutzen?«, fragte sie so höflich wie möglich.

»Kommen Sie mit.«

Shizuka hob ungläubig den Kopf und blickte in die Augen der wohl nettesten Donut-Lady von ganz Los Angeles.

»Shirley, zeig der Dame die Toilette.«

»Aber, Mutter …«

»Mach schon«, sagte die Donut-Lady freundlich, aber bestimmt. »Folgen Sie ihr einfach, Miss.«

Shizuka mochte diese Donut-Lady. Sehr sogar.

Das Mädchen namens Shirley führte sie einen Gang entlang, der etwas länger war, als Shizuka erwartet hatte. Außerdem hörte sie dort Geräusche, die so gar nicht zu einer Bäckerei passten. Statt vom Lärm von Fritteusen, Mixern und dem Klicken der Ofenthermostate war die Luft von einem leisen Surren erfüllt. Von Brummen, von Sinustönen und einem rhythmischen Zirpen. Und diese Geräusche kamen von überallher, von links, rechts, von oben und von unten.

Shizuka fragte nicht nach. Sie war die letzte Person, die das Recht hatte, sich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen. »Danke«, sagte sie nur. »Ich weiß, dass es normalerweise nicht üblich ist, jemanden …«

Sie erstarrte, als eine sanfte und zugleich unfassbar kraftvolle Melodie ihr Wesen durchdrang. Nein, das war keine Melodie. Die Töne waren tief, klangvoll und harmonisch. Es hörte sich an wie eine Äolsharfe, auf deren Saiten der Sternenwind spielte.

»Wie wunderschön«, keuchte Shizuka.

»Ma’am?«

»Was ist das für ein Geräusch?«

»Ach, das ist wahrscheinlich mein Bruder«, erwiderte das Mädchen etwas zu hastig. »Er sitzt mal wieder am Computer und spielt.«

Die Kleine log natürlich, denn diese Klänge stammten niemals von einem Computerspiel. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um nachzufragen. Nicht mit einer so vollen Blase.

Shizuka wurde zu einer Tür mit einem handgeschriebenen Schild daran geführt, auf dem stand: »Nur für Mitarbeiter«. Hinter der Tür befand sich die sauberste Toilette, die sich eine Frau nur wünschen konnte. Endlich konnte Shizuka pinkeln. Sie summte Beethovens »Ode an die Freude«, dankte ihren Ahnen und den Göttern. Hätte sie nicht bereits eine andere Absprache getroffen, hätte sie ihre Seele auf der Stelle Jesus verschrieben.

Als sie fertig war, hörte Shizuka Schritte und eine gedämpfte Unterhaltung irgendwo vor der Tür. Die wunderschönen Klänge wurden leiser und verstummten dann ganz.

Zu wissen, was das für ein Geräusch war, wäre schön gewesen, aber Shizuka hatte sich schon genug aufgedrängt. Sie machte sich frisch, gab den Toilettenschlüssel zurück und stellte sich in die Schlange vor dem Verkaufstresen. Einfach wieder zu verschwinden, erschien ihr unhöflich.

Und außerdem, frische Donuts?

Vor ihr stand eine Gruppe von Jungs an. Einer davon bestellte den größten Donut, den Shizuka je gesehen hatte.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Alaska-Donut«, antwortete der Junge ein wenig verlegen.

»Alaska-Donut?«

»Bei Kindle’s gibt es einen Texas-Donut, aber …« Der Junge versuchte krampfhaft, Shizuka nicht anzustarren, während er sprach.

»… der von Starrgate ist größer«, beendete sie den Satz für ihn.

»Genau das hat meine Freundin beim letzten Mal auch gesagt«, scherzte einer der anderen Jungen.

»Was für ein Glück für sie«, kommentierte Shizuka.

Alle schauten schüchtern weg. Sie waren noch zu jung, um etwas darauf zu erwidern.

Und dann stand Shizuka zum zweiten Mal vor der Donut-Lady.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hätte gerne einen Alaska-Donut und einen kleinen Kaffee, bitte.«

Die Augen der Donut-Lady waren so dunkel, fast zu dunkel für diese Welt. Und doch erinnerten sie Shizuka irgendwie an den alten Mr. Grossmueller, der Bergen-Belsen überlebt und den Rest seines Lebens damit verbracht hatte, Händel zu spielen.

Die Donut-Lady stellte beides auf ein Tablett und bedankte sich bei Shizuka.

»Nein, ich danke Ihnen«, widersprach Shizuka. Immerhin hatte diese Frau ihr gerade das Leben gerettet.

Die Donut-Lady lächelte, und Shizuka spürte, wie sie in ein Feld aus Sternen fiel.

Irgendwie schaffte sie es, ihr Tablett zu einem sauberen Tisch zu tragen. Sie musste den Kopf freibekommen. Es war bereits Februar. Sie musste eine neue Schülerin finden, einen Dämon füttern und ihre Seele retten.

Sie biss in den weichen, klebrigen Alaska-Donut.

Shizuka war in der zweiten Klasse gewesen. Mrs. Jennison hatte Donuts mit in den Unterricht gebracht und etwas über einen Amerikaner erzählt, der gerade die Erde umkreiste und »Astronaut« hieß.

Shizuka entschied sich für einen glasierten, und Julie Kiyama nahm einen mit roten, weißen und blauen Zuckertupfen. Der rote Fruchtpunsch dazu war kalt und süß.

Die Donuts waren weich und schmeckten sogar noch besser als der Pfirsichauflauf in der Cafeteria …

Moment. Warum war Shizukas Kaffee plötzlich kalt?

Wie lange hatte sie schon aus dem Fenster gestarrt? Mrs. Jennison und die zweite Klasse? Woher war das denn plötzlich gekommen? Was war bloß los mit ihr? Musste wohl am Jetlag liegen.

Sie sah die Donut-Lady an, und die Donut-Lady erwiderte ihren Blick. Shizuka spürte, wie sie rot wurde, und schaute weg.

Komm schon, Shizuka, konzentrier dich.

Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu träumen oder Donut-Ladys schöne Augen zu machen. Irgendwo da draußen war ihr nächster Schüler. Sie wickelte den Rest ihres Donuts ein, setzte ihre Sonnenbrille auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Die Augen der Donut-Lady, die in ihrer Tiefe funkelten, als wären sie voller Sterne, ließen sie trotzdem nicht los.

Lag es an ihrem Aussehen? Das auch, aber da war noch mehr. Ihre Stimme. Lan hatte schon viele Stimmen gehört, seit sie auf der Erde war, aber was die Sonnenbrillenfrau mit dieser ganz gewöhnlichen Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre angestellt hatte, war wirklich außergewöhnlich.

»Mutter?«

Oder vielleicht war es auch ihre Haltung. So mühelos und elegant, als hätte das Gravitationsfeld dieses Planeten keine Macht über sie.

»Mutter?«

Lan riss sich aus ihren Tagträumen. Wie lange stand Shirley schon vor ihr?

»Diese Frau«, begann Shirley und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Sie hat die Raumverwerfung gehört.«

»Was?« Lan sah Shirley scharf an und schob sie in die Küche. »Was meinst du damit, sie hat sie gehört?«

»Markus hat gerade einen Test auf niedrigem Energieniveau durchgeführt, und die Frau hat gefragt, was das für ein Geräusch ist.«

Nicht gut, dachte Lan. Das ist ganz und gar nicht gut. Falls die Sonnenbrillen-Lady sich mit der Warp-Theorie auskannte, wusste sie jetzt Bescheid. Sie könnte ihre harmonische Signatur identifizieren oder sogar das Warp-Profil erkennen und damit ihre Herkunft erraten.

»Glaubst du, sie hat die Signatur wiedererkannt?«

Shirley schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wirkte eher überrascht.«

Lan versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Manchmal waren diese Menschenkörper ein wenig schwer zu kontrollieren. Natürlich war die Sonnenbrillen-Lady keine Warp-Expertin. Schließlich befanden sie sich hier auf einem technologisch stark unterentwickelten Planeten. »Gut. Aber wir müssen vorsichtig sein.«

Außerdem: Was hatte ein Wesen wie diese Frau ausgerechnet hier verloren?

»Warum hast du sie die Toilette benutzen lassen?«, fragte Shirley.

Ja, warum eigentlich? Herr Thamavuong hatte sie gewarnt, mit der Toilette vorsichtig zu sein.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lan. »Sie war in Not, und ich glaube, ich wollte ihr einfach helf… Warte, meinst du, es war Gedankenkontrolle? Aber wenn, hätten wir es doch spüren müssen, oder?«

»Ich konnte keinerlei Psi-Aktivität feststellen«, erwiderte Shirley. »Außerdem hilfst du Leuten in Not doch eigentlich immer.«

Ja. Natürlich half sie Leuten in Not. Vor allem solchen wie der Sonnenbrillen-Lady. Lan dachte an ihre Bestellung: Ich hätte gerne einen Alaska-Donut und einen kleinen Kaffee, bitte.

Wie Mathematik. So klar, so rein.

»Mutter?«

Was? War sie etwa schon wieder abgedriftet?

»Ich werde dafür sorgen, dass der Warp-Schaltkreis ausgeschaltet ist, wenn sie das nächste Mal kommt«, sagte Shirley.

Das nächste Mal? Lan spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte und ein Lächeln auf ihr Gesicht trat.

Was dachte sie da eigentlich? Lan hatte keine Zeit für die Sonnenbrillen-Lady! Sie musste ihre Crew führen und ihre Familie beschützen.

»Danke, Shirley. Das wäre alles.«

Kommandantin Lans Blick schweifte kurz durch den Laden, dann ging sie zurück ins Kontrollzentrum im Untergeschoss, wo die Luft von dem sanften, herrlichen Brummen des Warp-Feldes erfüllt war.

Es war das zweitschönste Geräusch, das Lan am heutigen Tag gehört hatte.

4

Yes!

Eine Regenbogenfahne an der Tür und ein Komposthaufen im Hinterhof. Katrina befand sich endlich am richtigen Ort.

Sie hatte Evan auf einem queeren Jugendkongress kennengelernt. Es war ihr erstes Mal. Sie hatte Haare im Gesicht und schlechte Haut. Er studierte Film und schien ihr viel zu wild und cool, um sie überhaupt zu bemerken.

Und dann hatte er Katrina getröstet, nachdem sie in der Gender-Diskussionsgruppe zusammengebrochen war. Er versicherte ihr, sie sei nicht die Einzige, die aus einer Kultur komme, wo man über solche Dinge nicht redete, und die ihren Eltern noch nichts gesagt habe. Er sagte, queere Menschen suchten sich ihre Familien häufig genau aus diesem Grund später selbst aus.

Und er sagte, dass Katrina genauso dazugehöre wie alle anderen hier.

In der Pause aßen sie gemeinsam zu Mittag. Er erzählte ihr von dem Kurzfilm, an dem er gerade arbeitete, und hörte zu, als sie berichtete, dass sie auf eine neue Geige sparte. Sie hielten Händchen. Als sie auseinandergingen, sagte er, sie solle nicht aufgeben, und versprach, für sie da zu sein, wann immer sie ihn brauchte.

Und dann hatte er sich mit einem Kuss von ihr verabschiedet.

Aber das war vor zwei Jahren gewesen. Als Katrina ihn tatsächlich um Hilfe bat, dauerte es eine Woche, bis Evan antwortete.

Sie wusste, dass er sich verändert hatte: Evan war vom College abgegangen und hatte den Film, von dem er ihr so leidenschaftlich erzählt hatte, nie fertiggestellt. Trotzdem hoffte sie, dass er sich die Anime-Musik und Gaming-Videos ansah, die sie auf YouTube hochlud. Vielleicht würde er ihr sogar dabei helfen. Und selbst wenn nicht – er war ein Freund und bot ihr Unterschlupf, und sei es nur für kurze Zeit.

Die Tür ging auf.

»Du?«, fragte Evan matt.

Katrina versuchte, sich ihren Schock nicht anmerken zu lassen. Evan war dünner geworden. Seine Haare waren länger und zu einem Dutt geknotet. Er roch nach Schweiß, Katzenhaaren und Salbei.

»Ich habe dir eine E-Mail geschrieben«, sagte sie. »Du hast geantwortet, dass ich herkommen soll. Ich habe dir von unterwegs Textnachrichten geschickt.«

»Ach ja. Warte kurz.« Er verschwand nach drinnen.

Katrina wartete vor der Tür. Ein älterer Chinese beäugte sie misstrauisch von der anderen Straßenseite aus. Als die Tür wieder aufging, setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf.

»Du hättest erwähnen sollen, dass du wirklich kommst.« Evan kratzte sich am Kopf. »Könntest du heute Abend noch mal herkommen? Ich habe gerade jemanden da.«

»Tut mir leid«, murmelte Katrina.

Evan warf einen finsteren Blick auf die andere Straßenseite und rief nach drinnen: »Der Alte glotzt schon wieder. Er sieht aus, als hätte er Hunger. Versteck die Katze!«

»Haha!«, kam ein Kichern zurück. »Der Typ ist so was von fertig.«

Evan machte die Tür zu.

Katrina stand da. Evan hatte nicht mal angeboten, ihr Gepäck für sie aufzubewahren. Und warum hatte sie sich gerade entschuldigt? Sie hatte ihm doch alles geschrieben.

Sie ging wie benommen los und erreichte die nächste Straßenkreuzung genau in dem Moment, als der Bus abfuhr. Kein Problem. Erstens wusste sie nicht, wohin der Bus überhaupt fuhr, und zweitens reichte ihr Budget ohnehin nicht für eine Fahrkarte.

Sie ging weiter. In seiner E-Mail hatte Evan geschrieben, dass es hier wie im Ausland sei. Doch Katrina sah Zahnarztpraxen, Banken, Büros und Cafés mit blitzsauberen Schaufenstern. Auf den Straßen fuhren nagelneue SUVs.

Eine Zeit lang verlor sie sich im Reiz des Neuen in dieser anderen Stadt, doch irgendwann taten ihre Füße weh. Ihre Rippe schmerzte wieder, und das Ibuprofen ging zur Neige. Außerdem musste sie auf die Toilette. Also beschloss Katrina, sich einen Bubble Tea zu kaufen.

Das kostete Geld, aber gleichzeitig hätte sie dann einen Ort zum Ausruhen und Nachdenken. Und zum Glück gab es in dieser Straße fast an jeder Kreuzung einen Bubble-Tea-Shop. Bald hatte sie einen gefunden, wo sie sich an einen sauberen Tisch setzen, an ihrem Becher nippen und dem Treiben auf der Straße zusehen konnte.

Aber zuerst die Toilette.

Die für Damen war von innen abgesperrt. Schließlich kam ein Mädchen heraus. Sie musterte Katrina missbilligend, versperrte ihr aber nicht den Weg. Katrina ging hinein und begann, vor dem Spiegel ihre Haare zu richten, da fiel ihr der Blick des Mädchens wieder ein. Die Haare konnten warten. Zuerst auf die Toilette.

Der Sitz war kühl und sauber. Es gab einen Duftspender und eine Vase mit einer Blume darin. Es roch nach Lavendel.

Ausruhen. Durchatmen.

Sie war gerade fertig, als es an der Tür klopfte.

»Hallo?«, sagte eine männliche Stimme. »Hallo!«

Katrina spülte, wusch sich die Hände und verließ die Toilette.

»Sorry«, murmelte sie beim Rausgehen. »Die Männertoilette war besetzt.« Dann sammelte sie ihre Taschen wieder ein und ging.

Wenigstens habe ich kein Geld ausgegeben, sagte sie sich. Dank ihres Teilzeitjobs, der Cam-Shows und der Blowjobs war sie endlich weg von zu Hause. Sie hatte es hierher geschafft, sie hatte ihre Geige, ihren Laptop und eine frische Packung Hormone. Und sie war am Leben.

Aber war es wirklich so schwer, einen Platz zum Sitzen zu finden?

Dann sah sie einen Wegweiser zum El Molino Park.

Katrina kannte den Park nicht, aber wenn er schön war, dann gab es dort bestimmt auch geeignete Fleckchen zum Ausruhen. Sie ging weiter und kam an einem 7-Eleven vorbei, einem chinesischen Kräuterladen, einer mexikanischen Eisenwarenhandlung, einem vietnamesischen Nagelstudio, mehreren Bubble-Tea-Läden, einem Dutzend Ramen-Garküchen …

Nach zwanzig Minuten erreichte sie den Parkplatz und dann den Park selbst. Das Gras war grün und die Erde frisch. Es gab Getränkeautomaten. Leute, die Basketball spielten. Pärchen mit Picknickdecken. Sie hörte das Geräusch, mit dem jemand einen Softball traf. Ein Kiosk verkaufte Hotdogs und Nachos.

Was, bitte schön, war hier wie im Ausland?

Katrina setzte sich auf eine Bank an einem großen künstlichen Teich. Die Luft war kühl, und außer ihr war niemand hier.

Yes! Sie hatte nicht nur endlich ein ruhiges Fleckchen gefunden, sondern auch eines, wo sie Geige üben konnte. Aber zuerst ausruhen, nur ein bisschen. Für ihre Füße und die schmerzende Rippe. Zum Glück war sie als Asiatin immer auf Reinlichkeit bedacht. Sie würde zwar ein paar komische Blicke ernten, aber niemand würde die Polizei rufen.

Katrina stellte ihren Laptop neben sich auf die Bank, legte sich ihre Notfalltasche unter den Kopf und hielt ihren Geigenkasten fest. Sie lauschte den Geräuschen vom Basketballplatz, spürte die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht und die sanfte Brise in den Bäumen.

Es gab einen kleinen künstlichen Wasserfall und einen Springbrunnen. Enten schwammen auf dem Teich umher …

Shizuka ließ das Starrgate Donut hinter sich. Sie hatte keine Lust, noch einmal den Freeway zu benutzen, und beschloss, durch die Stadt nach Hause zu fahren. Den Wagen hatte sie vor langer Zeit von einem Bewunderer geschenkt bekommen. Als sie noch jünger war, kam er ihr vollkommen übermotorisiert und laut vor. Aber von Jahr zu Jahr lernte sie die Zeitlosigkeit ihres benzinhungrigen Jaguars inmitten des alltäglichen Chaos immer mehr zu schätzen.

Wann war sie das letzte Mal auf diesen Straßen gefahren? So vieles hatte sich verändert. Wenn es hier eine Konstante gab, dann den stetigen Wandel: Das Musikgeschäft aus Shizukas Kindheit war als Erstes verschwunden. Foodland mit seinen hübschen Einpackern und den wackeligen Einkaufswagen wurde zu Diho Grocery und schließlich zu einer Bank mit Sitz in Hongkong, verdunkelten Fenstern und einer Marmorfassade.

Shizukas Grundschule war einem Wohnkomplex im mediterranen Stil mit Geschäften und einer Tiefgarage gewichen. Am Abend würden sich hier die jungen Leute auf den Bürgersteigen drängen und um japanische Crêpes und taiwanesisches Shaved Ice Schlange stehen.

Es war ganz anders als in Tokio, wo man entweder verzweifelt versuchte, an der Spitze des Wandels zu marschieren oder ihn um jeden Preis zu verhindern. Ob in Harajuku, Meiji Jingu oder Akihabara, jedes Viertel hatte seine ganz spezielle Haltung zu allem Neuen und hielt sich streng daran. In L. A. hingegen gehörte der Wandel gleichsam zum Alltag.

Natürlich gab es auch Läden, die sich als gegen jede Veränderung resistent erwiesen. Fong’s Burger verkaufte nach wie vor durch das stets verschmierte Seitenfenster. In der Auslage von Amy’s Pastries stand immer noch dieselbe staubige Hochzeitstorte mit den schiefen Säulen und drei toten Fliegen darauf. Und dann waren da noch die fettglänzenden Schweinehälften, Enten und Tintenfischstreifen im Schaufenster von Sam Woo BBQ.

Mit der Zeit gehen? Bei Fong’s wischten sie nicht mal von Zeit zu Zeit die Theke. Und Sam Woo BBQ warb nach wie vor fröhlich mit seinen frittierten Fischhäuten.

Nicht weit entfernt lag ein weiterer wichtiger Schauplatz von Shizukas Kindheit. Sie besuchte das Viertel, in dem sie aufgewachsen war, nicht sehr oft, aber der El Molino Park hatte schon immer zu ihren Lieblingsorten gehört. Er war einer der wenigen, den sie mit glücklichen Erinnerungen an ihre Eltern verband. Im Laufe der Zeit war ein Softballfeld hinzugekommen, und die Basketballplätze waren mit rutschfestem Tartanbelag versehen worden. Die Stadtverwaltung hatte Schachtische aufgestellt, einen Fitnessparcours angelegt und die Tennisplätze erweitert. Eine Zeit lang hatte es hier sogar einen Rasen-Bowling-Club gegeben.

Aber die Bank an dem alten Teich war immer noch da. Dorthin war Shizuka immer gegangen, wenn sie allein sein und nachdenken wollte. Und da sie im Moment ohnehin nichts zu tun hatte, parkte sie ihren Jaguar und stieg aus.

Sie hatte den halben Donut von Starrgate dabei, ein bisschen Wasser sowie eine Tüte Hotdog-Brötchen, die sie in dem Laden an der Ecke gekauft hatte. Damit schlenderte sie zu dem Teich, wie sie es früher so oft getan hatte.

In der Ferne schlug jemand einen Groundball und rannte zur ersten Base. Am Kiosk wurde eine weitere Portion Nachos verkauft. Hinter Shizuka joggten Mütter und Väter mit Kinderwagen vorbei, Leute spielten Basketball, und überall waren Stimmen, so viele Stimmen: vietnamesisch, toisanisch, kantonesisch …

Und vor ihr? Der Teich kräuselte sich im Wind. Das fast natürliche Rauschen des künstlichen Wasserfalls war zu hören. Gurrende Tauben. Das Flattern und Schnattern der Enten. Ein Kind, das mit Wasser spritzte.

Und auf ihrer Lieblingsbank ein friedlich schnarchendes Mädchen.

Im ersten Moment dachte Shizuka, dass sie aus der Nachbarschaft stammte und gerade eine Lernpause machte, aber dann sah Shizuka ihre Taschen. Eine Ausreißerin? Wie traurig. Nun, dann war es wohl besser, sie ein wenig schlafen zu lassen.

Shizuka wollte sich gerade eine andere Bank suchen, da sah sie den Geigenkasten.

»W-Was?«

Katrina blinzelte die Erscheinung vor ihr an. Die Frau sah genauso aus wie das Mädchen aus dem Film The Ring. Nur dass sie schon etwas älter war und eine Sonnenbrille trug. Dazu einen breitkrempigen Hut und einen Mantel. Beides in Rot, nicht in Weiß.

»Ein wirklich schöner Tag heute, findest du nicht?«, fragte die Erscheinung freundlich.

»Ähm … ja.« Katrina sah sich um. Es war kein Traum. Sie war immer noch im El Molino Park.

»Möchtest du etwas Donut?«

Hieß es nicht eigentlich einen Donut, nicht etwas Donut? Als Nächstes sah Katrina, wie riesig das Ding war.

Vielleicht war es doch ein Traum.

»Das ist ein Alaska-Donut. Nun ja, die Hälfte von einem.«

Die Frau reichte ihr den Donut und eine Wasserflasche.

Katrina zögerte. Wer war diese Person? Leute in solchen Klamotten gaben sich normalerweise nicht mit obdachlosen Jugendlichen auf Parkbänken ab.

»Nimm.« Die Frau deutete auf Katrinas Geigenkasten. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Musikerin sehe, die Hunger hat.«

Katrina nahm einen kleinen Bissen.