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Die Verlegerin Julia Frey findet im Nachlass ihres Großvaters ein Manuskript des bayerischen Schriftstellers Ludwig Thoma. Sie will das Werk neu herausgeben. Doch dann entdeckt sie Hinweise auf eine Mordserie im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972. Als sie kurz darauf bedroht wird, bittet Julia ihren Jugendfreund Tom Perlinger um Hilfe. Wurde damals der Falsche verurteilt? Das Komplott scheint Kreise bis tief in die Münchner Politik zu ziehen und fordert weitere Opfer …
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Seitenzahl: 437
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Sabine Vöhringer
Das Ludwig Thoma Komplott
KRIMINALROMAN
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Karl Valentin ist tot (2020)
Das Ludwig Thoma Komplott (2018)
Die Montez-Juwelen (2017)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Bokic Bojan/shutterstock
ISBN 978-3-8392-5762-3
Fürmeine Familie.
In großer Dankbarkeit auch meinen verstorbenen Eltern.
»Vergessen Sie nie, dass der Skandal sehr oft erst dann beginnt, wenn ihm die Polizei ein Ende bereitet.«
aus ›Moral‹ von Ludwig Thoma
München. Freitag, 20. Oktober 2017. Nachmittag.
München versank in den ersten, verfrühten Schneeflocken. Es würde noch mehr Schnee kommen, das konnte Claas Buchowsky durch den Spalt der Dachluke riechen. Die eisige Luft kühlte sein erhitztes Gesicht. Doch obwohl er einen schrecklichen Tag hinter sich hatte, ahnte er, dass ihm weit Schlimmeres bevorstand.
Er spähte zum Eingang des Alten Hackerhauses. Die gelbe Fassade auf der gegenüberliegenden Straßenseite strahlte Gemütlichkeit aus. Tom Perlinger, sein ehemaliger Freund und Kollege, musste jeden Moment eintreffen.
Claas hatte seine wenigen Habseligkeiten installiert. Es war ein Riesenglück gewesen, dass er diese Bleibe vis-à-vis des Hackerhauses hatte anmieten können. Das leerstehende Dachgeschoss eines ehemaligen Lederwarengeschäftes befand sich kurz vor dem Abriss.
Claas’ Isomatte und sein Schlafsack lagen auf dem kahlen Betonboden, daneben sein alter Rucksack. Die Baustellenklamotten mit dem nicht zu übersehenden Logo der DeuWoBau GmbH & Co. KG hatte er fein säuberlich über die gestapelten Bierkisten gehängt, die wohl irgendein Obdachloser vergessen hatte. Als Baustellenleiter musste Claas vorbildlich aussehen, wenn er nicht auffliegen wollte. Allerdings würde er seinen Auftrag sowieso abbrechen, sollte sein Plan endlich gelingen.
Claas horchte auf, als es im Stockwerk unter ihm schepperte. Vermutlich war der Alte zurückgekehrt, der tagsüber auf der Sendlinger Straße bettelte. Claas ging zur Tür. Er drehte den großen rostigen Schlüssel im Schloss herum, um jegliche Störung zu vermeiden. Dann zog er trotz der Kälte die doppelte Lage Wollpullis aus. Sie ließen seinen zwar durchtrainierten, doch schmächtigen Körper kräftiger wirken, doch jetzt engten sie ihn ein.
Er würde sich einen neuen Auftraggeber suchen müssen. Nicht nur bei der DeuWoBau, sondern überhaupt. Auch wenn er sein eigentliches Ziel nie aus den Augen verlieren würde, sobald er Tom aus dem Weg geschafft hatte: der russischen Mafia das Handwerk zu legen. Es würde sich zeigen, wer am Ende gewinnen würde.
Claas hatte das erste Mal, seit er auf Iwan Maslovs neuer Großbaustelle in München angeheuert hatte, wegen des schlechten Wetters früher Feierabend. Damit war endlich die Chance gekommen, auf die er sich seit annähernd drei Jahren vorbereitete. Seit dem Moment, als Nastasja in seinen Armen gelegen und verblutet war.
Er sah ihr Gesicht vor sich. Ihre Lippen, die mühsam die Worte formten: »Ich liebe dich.« Nur für ihn. Ganz nach der Art der Taubstummen. Die Frage in den Augen, ob er sie verstand. Er hatte sie verstanden. Schließlich hatte er in den beiden Jahren, die sie sich gekannt und geliebt hatten, gelernt ihre Sprache zu sprechen. Ihre Gesten zu deuten.
Iwan Maslovs schöne Tochter war in Folge einer Hirnhautentzündung im Alter von fünf Jahren zunächst taub geworden. Dann hatte sie nach und nach aufgehört zu sprechen. Ihr Vater, der Kopf der russischen Mafia, hatte sie wegen dieses körperlichen Gebrechens aus seinem Leben verbannt – so sehr er sie auch geliebt haben mochte. Erst Claas hatte ihr vor Augen geführt, aus welcher Familie sie stammte. Denn er wollte, dass sie wusste, warum er sich so verhielt, wie er es tat. Sie war mit der Gewissheit gestorben, der Hölle entsprungen zu sein. Jede ihrer mühsam gebildeten Silben hatte ihn mitten ins Herz getroffen. Er konnte sich bis heute nicht verzeihen, dass er sie zu diesem Einsatz mitgenommen hatte.
Es war Toms Querschlägerkugel damals in Düsseldorf gewesen, die sie getötet hatte. Claas und Tom hatten eigentlich Nastasjas Bruder stellen wollen, was Tom erst Monate später gelungen war. Auch Iwan Maslov war ihnen entwischt. Inzwischen war er dabei, den Mittelpunkt der Euroasiatischen Drogenmafia von Düsseldorf nach München zu verlegen.
Heute würde Claas den Moment, wenn Tom aus dem Polizeipräsidium nach Hause kam, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Tom hatte sein Leben zerstört. Claas würde Nastasjas Leben und ihrer beider verpasste Chance auf Glück rächen. So sehr ihm Tom in Düsseldorf auch ans Herz gewachsen war.
Claas’ Hand zitterte, als er den gelben Zettel aus der Vordertasche seines Rucksacks nahm und ihn auffaltete. Tom und er hatten sich regelmäßig solche Zettel geschrieben. Tom gelbe, Claas blaue. ZB, stand in Toms großen Druckschriftbuchstaben darauf. Zusammenbleiben. Ja, sie waren ein fest zusammengeschweißtes Team gewesen.
Trotzdem holte Claas jetzt seelenruhig seine Walther PPK aus dem Rucksack. Mit der gleichen Gelassenheit schraubte er den Schalldämpfer auf die Dienstwaffe, die er ganz offiziell als Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes trug. Den Schalldämpfer allerdings hatte er sich in einem Geschäft am Münchner Hauptbahnhof auf nicht ganz legale Weise organisiert. Die offizielle Erlaubnis einzuholen wäre zu auffällig gewesen.
Er griff nach der Baseballkappe auf seinem Bettenlager und zog sie tief ins Gesicht. Anschließend fuhr er sich durch den dichten Bart, den er sich ganz der Mode entsprechend hatte wachsen lassen. Eine hervorragende Tarnung! Nicht einmal seine Mutter hätte ihn in dieser Verkleidung erkannt, wenn sie noch leben würde.
Luca, sein Führer im Landeskriminalamt Bayern, würde bitter enttäuscht sein. Ihre Top-Secret-Aktion war zum Scheitern verurteilt, sobald Claas von der Bildfläche verschwand. Seine Legende hatte aufwändiger Vorarbeiten bedurft. Schließlich ging es darum, zu vermeiden, dass München, eine der sichersten Städte Deutschlands, zum Dreh- und Angelpunkt einer ganz neuartigen und bisher ungeahnten Form der organisierten Kriminalität wurde.
Claas stutzte. Endlich. Da kam Tom. Claas stellte sich in Position. Breitbeinig, damit er einen guten Stand hatte. Er stieß die Luke auf, sog die frische Luft ein, konzentrierte sich auf seinen Atem. Dann streckte er den rechten Arm mit der Pistole aus, visierte sein Ziel. Sein Standort war perfekt. Kimme und Korn bildeten eine Linie, einen einzigen Punkt im Blick: seinen ehemaligen Freund und Kollegen Tom Perlinger, der unten auf der Straße wie eine lebende Zielscheibe auf ihn zusteuerte.
München. Mittwoch, 15. November 2017. 16.30 Uhr
»Nur über meine Leiche!« Hauptkommissar Tom Perlinger sprang so heftig vom Sitz seines Bürostuhls auf, dass dessen Rollen über das abgeschabte Parkett ratterten. Das durfte jetzt nicht wahr sein!
Vor allem, weil er es eilig hatte, ins Hackerhaus zu kommen. Seine Jugendfreundin Julia Frey wollte ihn dringend treffen. Eben am Telefon war sie außer sich gewesen. Angeblich hatte sie einen entscheidenden Hinweis zum aktuellen Cold Case »Rosi«, der Tom seit Wochen den Schlaf raubte.
Aber auch Weißbauers plötzlicher Sinneswandel brachte Tom zur Weißglut. Er vermied es, den sonst in Bayern üblichen Ausdruck »Ja, hamms dir ins Hirn g’schissn?«, der ihm auf der Zunge lag, zu verwenden. Xaver Weißbauer war immerhin der Präsident des Polizeipräsidiums München und damit sein höchster Chef.
Tom kannte Weißbauer seit einer Ewigkeit und wusste, wie gut der Mann es verstand, sich sicher durch die Höhen und Tiefen des politischen Dschungels in Bayern zu lavieren.
Stattdessen riss Tom sich zusammen und mäßigte seinen Ton. »Du willst mir allen Ernstes zu verstehen geben, dass wir unseren aktuellen Fall, bei dem wir kurz vor dem Durchbruch stehen, ad acta legen sollen?«
Tom nahm sein Handy vom Schreibtisch und schob es in die Gesäßtasche seiner Jeans, die so eng war, dass er den Gegenstand deutlich spürte.
Weißbauer, ein großer Mann mit Bauchansatz, schütterem grauen Haar, einer breit geränderten Harry-Potter-Brille und einer tiefen Stimme mit hörbar bayrischem Einschlag, senkte die Lautstärke. »Tom, reg dich ab. Das musst du verstehen.«
»Verstehen?« Toms Blick fiel auf die seitliche Front der Jesuitenkirche St. Michael. Er sollte bereits im Hackerhaus sein. Julia hatte fast panisch geklungen.
Und jetzt kam Xaver Weißbauer und raubte ihm wichtige Minuten, weil er Tom und sein Team aus unerklärlichen Gründen von dem Fall abziehen wollte. »Lass mich raten. Irgendetwas ist damals schiefgelaufen. Der Falsche ist verurteilt worden. Aber glücklicherweise hat der sich in seiner Zelle aufgehängt. Jetzt sind alle tot. Warum also sollen wir weiter ermitteln? Wen interessiert schon, wie es wirklich war? Aber du vergisst, dass der Fall nicht abgeschlossen ist. Wir suchen nach wie vor nach Mittätern!«
»Spar dir deinen Sarkasmus! Der Artikel in der Zeitung war ein Schmarrn.« Weißbauer rückte das Horngestell seiner Brille mit wurstigen Fingern zurecht.
»Schmarrn? Was meinst du, was hier seit gestern los ist? Die Telefone stehen nicht still. Es gehen zahlreiche Meldungen ein. – Und das, obwohl der letzte Mord 50 Jahre zurückliegt. Es gibt Menschen, die interessiert die Wahrheit. Der Fall berührt. Nicht nur mich und mein Team.« Tom verschwieg sein Treffen mit Julia.
Weißbauer stellte sich neben ihn, teilte seinen Blick, wollte zweifelsohne Nähe und Loyalität herstellen. »Klar. Fünf fesche Dirndl. Prostituierte. Brutal ermordet und vergewaltigt. Da horcht die Öffentlichkeit auf. Aber mei, das ist lang her. – Glaub mir, Tom. Tote soll man ruhen lassen. Wir haben andere Probleme, als alte Geister zu wecken.«
Tom konnte Weißbauers Angst regelrecht riechen. Sein Chef musste Druck von ganz oben haben. Tom drehte sich ihm abrupt zu, während er nach seiner schwarzen Lederjacke über der Stuhllehne griff. »›Geister, die du gewähren lässt, gebären solche, denen du nicht gewachsen bist‹ – diesen Spruch solltest du kennen, Weißbauer.«
Damals, bevor er nach Düsseldorf gegangen war, hatte Tom ein Polizeipräsidium erlebt, das hoch motiviert und gut aufgestellt gewesen war. Ein fest miteinander verwobenes Team. Unverwundbar im Kampf für das Gesetz. Das war jetzt anders.
Inzwischen war eine Bürokratie in Gang gesetzt worden, eine Maschinerie der Selbstverwaltung, ein sich selbst erhaltendes System. Es ging nicht mehr um Gerechtigkeit, sondern darum, niemandem auf die Füße zu treten. Man dachte nicht mehr darüber nach, was man tat, sondern, ob es den Vorschriften entsprach. Nicht Toms Welt. Vielleicht war jetzt der richtige Moment aufzuhören und sich einem neuen Ziel zuzuwenden.
Weißbauer drohte ihm mit der Faust. »Gut ist’s, Perlinger. Wir brauchen jeden Mann. In zwei Wochen ist Christkindlmarkt. Was meinst du, was da los ist?«
Tom warf sich die Jacke über. Sein Vater hatte ihm genügend Geld hinterlassen, um gemeinsam mit Christl ein ruhiges Leben in der Dachgeschosswohnung über dem Hackerhaus zu führen oder gemeinsam mit ihr auf Weltreise zu gehen.
Tom berührte das kleine Kästchen mit dem Verlobungsring in seiner linken Jackentasche, das er seit Tagen bei sich trug. Bisher hatte er nicht den Mut gefunden, Christl mit dem Ring zu überraschen.
Weißbauer kam nun richtig in Fahrt. »Meinst du, ich will in München ein zweites Köln 2015 erleben? Oder ein zweites Berlin oder Nizza 2016? Oder ein Barcelona 2017? Denk an das Attentat im Olympiazentrum. Selber dabei warst du! Glück haben wir gehabt, dass wir vorbereitet waren, dass alle perfekt reagiert haben. Die Kölner Kollegen werden bis heut von den Medien zerrissen. Das können wir uns nicht leisten. Die Touristenzahlen haben sich heuer erstmals stabilisiert.«
Tom ging auf die Verbindungstür zu, die Jessica immer offen, Mayrhofer immer geschlossen hatte. Gerade war sie zu, was ihn davon abhielt, den Raum mit einem Gruß, aber ansatzlos zu durchqueren und den kürzesten Weg zum Paternoster zu nehmen.
Ein letzter Versuch, um an Weißbauers Mitgefühl zu appellieren. »Die Mutter vom Horst Wagner, dem Theologiestudenten, der damals verurteilt wurde, war gestern bei mir. Todkrank ist die alte Frau. Angefleht hat sie mich, seine Unschuld zu beweisen. Als Mutter eines Serienmörders, meint sie, kann sie nicht sterben.«
Weißbauer hob gleichzeitig beide Arme, was ihm etwas von einer überdimensionalen Marionette verlieh. »Perlinger. Ihr lassts den Fall jetzt ruhen. Ursprünglich war der Mayrhofer drauf angesetzt, jetzt ist das ganze Team damit befasst. Die Prioritäten sind verrutscht. Ab morgen schauts ihr euch die Sicherheitspläne für den Christkindlmarkt an. Basta.«
Tom drehte sich jetzt frontal zu Weißbauer. Sie standen dicht an dicht. Beide waren in etwa gleich groß, ihre Nasen keine 20 Zentimeter voneinander entfernt.
Tom beherrschte sich und sprach mit betont leiser Stimme. »Wieso sollte sich die Polizei heute dafür interessieren, warum und von wem damals fünf Nutten ermordet wurden? Zumal das Sperrgebiet wenig später ja sowieso weg musste. Wegen der Olympischen Spiele 1972. Da hat halt jemand schon früher aufgeräumt.«
»Jetzt hörst aber auf mit dem Schmarrn!« Weißbauers Gesicht nahm eine puterrote Färbung an.
Tom fuhr fort. »Kommissar Löhnig hat den Fall damals abgeben müssen. Er hat nicht geglaubt, dass der Student Horst Wagner der Täter war. Das wird jedem klar, der seine Protokolle liest. Die Fragen sollten aufhören, als endlich jemand gefunden war, auf den das Täterprofil einigermaßen zugetroffen hat. Horst Wagner war ein Bauernopfer. Endlich Ruhe. Zumal das letzte Mädchen in der Endphase der Olympiabewerbung ermordet wurde. Eine Lösung musste her. Egal wie. Aber die Beweisführung hinkt an allen Ecken und Enden. Als Horst Wagner dann im Gefängnis gesessen hat und kein weiterer Mord geschehen ist, hat man ihm kurzerhand alle fünf Leichen angehängt. Und auch mögliche Mittäter nicht weiter verfolgt.«
»Schließlich hat es kein totes Madl mehr gegeben!«
»Das ist hier nicht die Frage! Der Verdacht auf Wagner stützt sich auf die Aussage einer Gruppe von Stadträten! Das Olympiakomitee. Diejenigen, die von Anfang an die Bewerbung vorangetrieben haben. Eine Stadt, in der ein Serienmörder wütet, hätte den Zuschlag nie bekommen.«
»Das wird ja immer besser.« Weißbauer bemühte sich jetzt um ein klares Standarddeutsch. »Erst ein Justizirrtum mit Todesfolge und dann die Falschaussage einer Gruppe hochdekorierter politischer Würdenträger. Da werden sich die Herren im Innenministerium freuen. Am besten gehst gleich damit an die Presse, Perlinger. Der perfekte Einstieg zum Jubiläum im nächsten Jahr.«
Tom hatte nicht vor, seinen Kurs zu ändern. »100 Jahre Freistaat Bayern? Geht das schon los? Mei, was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Bis dahin haben wir den Fall längst gelöst. Brauchst keine Angst haben, dass ein schlechtes Licht auf dich fällt, Weißbauer.«
Mit einer heftigen Bewegung öffnete Tom die Verbindungstür, hinter der Mayrhofer mit gespitzten Ohren in seine vorabendliche Leberkässemmel biss und Jessicas orangerot gefärbter Schopf blitzartig hinter einer Akte verschwand. Sollte sein Team sich seine eigene Meinung bilden.
Weißbauer sah nicht glücklich mit der Antwort aus. Er baute sich zu voller Größe auf, packte das ganze Gewicht seiner Amtsautorität in die Lautstärke seiner Stimme. »Nochmal für alle: Die Akte »Rosi – Prostituiertenmorde 1963–67« wandert unverzüglich und unwiderruflich zurück ins Archiv. Das ist eine Dienstanweisung. Sie folgt schriftlich.«
Mayrhofer verschluckte sich an seiner Semmel. Für seine Begriffe hatte er sich tief in den Fall verbissen. Jessica nahm einen Schluck Kaffee und warf Tom durch die Fransen ihres überlangen Ponys einen fragenden Blick zu. Tom antwortete mit einem vieldeutigen Heben der Augenbrauen. Dann durchquerte er endlich das Büro in Richtung Paternoster – ohne Weißbauer eines weiteren Blickes zu würdigen.
Julia Frey klappte ihren Laptop auf. Nervös strich sie die kinnlangen, schwarzen Locken zurück, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. Dann tippte sie zum x-ten Mal Ein Münchner im Himmel in die Suchmaske ein.
Über 100.000 Mal war ihre Lieblingsfassung des gleichnamigen Zeichentrickfilms nach dem Drehbuch von Ludwig Thoma und mit Illustrationen von Gertraud und Walter Reiner aufgerufen worden. Rund 500 Klicks davon gingen auf ihr Konto.
Normalerweise musste sie schmunzeln, sobald die Musik ertönte. Doch heute liefen ihr die Tränen über die Wangen, als die Comic-Zeichnungen auf dem Bildschirm erschienen. Doch sie wollte den Film unbedingt noch einmal anschauen.
Alois Hingerl, Dienstmann Nr. 172 auf dem Münchner Hauptbahnhof, wurde wegen Überarbeitung vom Schlag getroffen und starb. Im Himmel hieß er von da an »Engel Aloisius«. Er bekam eine Wolke und Harfe zugeteilt und musste täglich nach Dienstplan jubilieren. Als Lohn würde er »Manna« erhalten. Doch was sollte er mit Geld, wenn ihm sein Bier und sein »Schmaizla« – sein Schnupftabak – versagt blieb? Julia war jedes Detail vertraut.
Aber plötzlich, als Aloisius’ Frohlocken zu einem Ha – lä – lu – Himmi – Hergott – Erdäpfi – Sakrament – luh iah! wurde, wurde ihr mit einem Schlag bewusst, in welcher Gefahr sie sich befand.
Sie starrte den Packen dicht beschriebener Blätter an, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Ein Münchner im Himmel, Teil II von Ludwig Thoma. Das bisher unveröffentlichte letzte Werk des großen bayerischen Schriftstellers, das sie im Nachlass ihres Vaters gefunden hatte. Das Manuskript stammte noch aus dem Besitz ihres Großvaters Josef Seidl, der ein Freund und großer Bewunderer des Schriftstellers gewesen war.
Josef Seidl hatte in den 20-ern als blutjunger Mann das Verlags- und Druckhaus Seidl mitten in der Münchner Innenstadt in einem Hinterhof der Sendlinger Straße gleich beim heutigen Asamhof aufgebaut. Trotz des erheblichen Altersunterschiedes war die Beziehung zwischen ihm und Ludwig Thoma so eng gewesen, dass der Schriftsteller dem jungen Freund damals die Rechte an seinem letzten literarischen Werk vermacht hatte – wie dem persönlichen Anschreiben zu entnehmen war. Entschlossen packte Julia den Stapel Blätter und schob ihn in ihre hellbraune, abgegriffene Lederaktentasche. Es war nur eine Kopie. Das Original lag im Safe.
Bis gestern hatte Julia gehofft, dass ihr Mann Marcel und sie das Manuskript groß herausbringen würden. Dass es ihrem Leben eine positive Wende geben und sogar ihre Ehe retten könnte. Doch inzwischen war sie eines Besseren belehrt. Auch wenn Ludwig Thoma seine Geschichte im zweiten Teil geradezu genial fortgeschrieben hatte, die Veröffentlichung dieses Manuskriptes würde einen Aufschrei des Entsetzens nach sich ziehen. Aber damit nicht genug. Sie würde den Untergang einer Person bedeuten, die Julia sehr nahe stand und die sie unter normalen Gegebenheiten niemals verraten würde. Trotzdem blieb ihr keine andere Wahl. Wie zur Bekräftigung trank sie einen Schluck kalten Jasmintee, ignorierte das Zittern ihrer Hand. Die Wahrheit musste ans Licht.
Während die Pointe von Teil I darin gipfelte, dass die bayerische Staatsregierung bis heute vergeblich auf göttliche Eingebungen wartete, weil Engel Aloisius im Hofbräuhaus versumpft war, zielte Ludwig Thomas satirisches Augenzwinkern im Teil II darauf ab, dass »Manna« zwar vom Himmel fiel, aber an undichten Stellen versackte. Auch das entsprach der Realität, kein Zweifel. Doch niemand wollte es hören.
Aber es kam noch schlimmer. Julia blickte auf die Hausfassade des Innenhofs, als ob Hilfe aus einer der Wohnungen nahen könnte. Denn das eigentliche Dilemma war, dass ein von Ludwig Thoma lustig verpackter Lausbubenstreich 40 Jahre später als Vorlage für einen brutalen Serienmord gedient hatte. Doch damals war der Falsche verurteilt worden. Nur Julia kannte den wahren Mörder.
Sie zog die Schublade auf und nahm den Zeitungsartikel heraus. Seit sie den Beitrag über die Prostituiertenmorde in den 60ern am Dienstag früh in der Zeitung gelesen hatte, war ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, auf welchem Pulverfass sie saß. Sie hatte es als Wink des Schicksals verstanden, dass ausgerechnet Tom Perlinger, ihr alter Freund aus Jugendtagen, mit dem Fall betraut war. Schweren Herzens hatte sie den Entschluss gefasst, ihn um Hilfe zu bitten.
Tom, der inzwischen wieder in München keine 300 Meter Luftlinie von ihr entfernt lebte. Tom, der ihr bei Referaten, Schularbeiten und sonstigen Nöten zuverlässig aus der Patsche geholfen hatte. Mit dem sie sorglos gelacht und gefeiert hatte. Der ihr allerdings in den vergangenen zwei Jahren nur ein Mal auf der Straße begegnet war. Arm in Arm mit Christl, der hübschen Restaurantleiterin aus dem Hackerhaus, die oft mit der Clique gefeiert hatte, obwohl sie fünf Jahre jünger war. Tom würde Julia nicht nur die Verantwortung für die Wahrheit abnehmen, sondern auch den Schmerz des Verrats.
Eigentlich war sie startbereit. Sie erhob sich vom Schreibtisch, ging zur Garderobe, zog ihren braunen Steppmantel an. Keine Sekunde länger als nötig wollte Julia dieses Manuskript bei sich haben, denn sie war sich sicher, dass sie verfolgt wurde. Die beiden Männer, die ihr bereits gestern Abend auf dem Weg zu ihrer Freundin Franziska begegnet waren, hatten sich auch heute früh im Asamhof herumgedrückt. Ungeduldig überprüfte sie ihr Handy. Dabei fiel ihr Blick auf die Leinwand mit der München-Ansicht, hinter der sich der Safe verbarg. Sollte sie das Original wirklich hier lassen?
Kurz entschlossen entschied Julia sich dagegen. Selbst der Safe war nicht mehr sicher. Sie konnte Marcel nicht mehr vertrauen. Nicht nach dem, was sie vor Kurzem herausgefunden hatte. Gerade, als sie ihr Entsetzen mit ihm hatte teilen wollen. Doch er hatte ihr nicht geholfen. Im Gegenteil. Marcel hatte sie über Jahre hinweg belogen und betrogen. 18 Jahre lang, genau genommen. Vermutlich hatte er ihr seine Liebe von Anfang an nur vorgespielt.
Sie nahm das Ölgemälde ab. Dann zog sie den Hocker vor den Safe und kletterte darauf. Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um an die hellbeige Postmappe aus handgeschöpftem Büttenpapier mit dem Original zu gelangen, die sie ins oberste Fach geschoben hatte, nachdem sie die einzelnen Manuskriptseiten am Vortag bei Franziska kopiert hatte. Sie erinnerte sich an einen Widerstand. Sie tastete danach, streckte sich höher und bekam ihn schließlich zu greifen. Als sie die aus Ahorn geschnitzte Miniaturharfe in den Händen hielt, raubte die Erinnerung ihr kurzfristig den Atem. Sie kam ins Wanken und wäre beinahe gestürzt. Nachdem sie sich gefangen hatte, stieg sie vom Hocker und legte die Postmappe mit dem Original auf den Schreibtisch. Sie zupfte mit den Fingernägeln an den winzigen Nylonsaiten, die dumpfe Töne von sich gaben. Jeder Ton rief eine Erinnerung wach. Mühsam beherrscht schloss Julia den Safe und hängte das Gemälde wieder darüber. Dann schob sie Original und Kopie in die Ledertasche und kämpfte mit den Tränen, als sie plötzlich den Notfallpiepser hörte und befürchtete, ihre Mutter könnte den zweiten Schlaganfall innerhalb weniger Wochen erlitten haben.
Panisch vor Angst schob sie die Ledertasche in die oberste Schreibtischschublade und ließ die Ahornharfe in die Seitentasche ihres Steppmantels gleiten.
Tom nahm den Ausgang zur Augustinerstraße – auch wenn er es sonst liebte, durch das Portal mit den zwei Löwen zu schreiten. Dieser prächtige Eingang hatte dem Polizeipräsidium nicht umsonst den Namen Löwengrube verliehen. Die beiden mächtigen Steinskulpturen ließen ihn eine tiefe Verbundenheit spüren. Denn auch er fühlte sich oft wie ein Löwe. Ruhelos, unbändig stark und immer hungrig. Unterwegs auf den Straßen der Stadt, in denen er für Ordnung sorgte.
Sein Magen knurrte hörbar, als er an der Frauenkirche seitlich vorbeilief. Es fing bereits an zu dämmern, war ungemütlich kalt und nieselte. Tom fröstelte. Seine schwarze Lederjacke war viel zu dünn für das Sauwetter. Während seiner Zeit in Düsseldorf und auch während seines Sabbatjahres und seiner Reise quer durch Asien hatte er ganz vergessen, wie eisig das Wetter um diese Zeit in München sein konnte. Dieses Jahr hatte es im Oktober das erste Mal geschneit, und die Regentropfen waren auch jetzt nur einen Hauch davon entfernt, sich in Schneekristalle zu verwandeln. Novemberwetter.
Noch ein paar Grad kälter und Christl und er konnten die erste Skitour planen. In den Bergen lag bereits Schnee bis auf 1.600 Meter. Während seine Wanderschuhe – zu denen er heute früh intelligenterweise gegriffen hatte – langsam durchnässten, weil er vergessen hatte sie zu imprägnieren, fragte er sich, welche Hinweise Julia wohl für ihn hatte.
Tom wich einer Pfütze aus, sah zu den Türmen der Frauenkirche hoch, von denen nur einer verpackt war und der andere frisch renoviert erstrahlte. Eilig überquerte er die Kaufingerstraße. Ein Blick in Richtung Marienplatz zeigte ihm, dass hier bereits Weihnachtsdekorationen an den Straßenlaternen und Hausfassaden angebracht und die ersten Buden für den Christkindlmarkt aufgebaut wurden. Da wählte er lieber den schnellen Weg über den Färbergraben. Allerdings war die Hotterstraße weiterhin gesperrt, wodurch sie selbst für Fußgänger schwierig zu passieren war. Der Lärm der Bauarbeiten drang bis zu ihm herüber. Also setzte Tom seinen Weg über den Färbergraben mit langen Schritten bis zur Sendlinger Straße fort.
Von einer plötzlichen weihnachtlichen Vorfreude erfüllt, öffnete er im Gehen mit zwei Fingern das Kästchen in seiner Jackentasche. Er fuhr über den Samt des Bodens und fühlte die Vertiefung, in der der Platinring steckte. Zufrieden zeichnete er die Gravur am Innenrand mit der Spitze seines Zeigefingers nach. Für immer.
Er würde schon heute mit Christl sprechen. Ob ihr der Ring gefallen würde? Tom hatte ihn selbst entworfen, angelehnt an den Anhänger, den er trug. Ein Geschenk seines Vaters. Doch während in Toms Platinanhänger ein Drache eingraviert war, war Christls Ring schlicht gehalten, aber mit einem einkarätigen, lupenreinen und feinweißen Brillanten besetzt. Seit dem Fall mit den Montez-Juwelen hatte Tom sein Faible für Schmuck entdeckt. »Geschenke erhalten die Freundschaft«, hatte Juwelier Thromschatz ihm zugeraunt. Und Tom wollte Christl auf keinen Fall verlieren. Zumal sie am Vorabend gestritten hatten, was bisher selten vorgekommen war. Sie hatten einfach zu wenig Zeit füreinander. Außerdem widmete Christl sich seit Neuestem vermehrt dem Kochen. Aber Tom aß lieber unten im Hackerhaus, was sie bisher auch sehr genossen hatte. Am Stammtisch und in Gesellschaft der großen Familienrunde. Aber jetzt wäre Christl an manchen Tagen lieber mit ihm allein gewesen. Erschwerend kam hinzu, dass sie – auch wenn sie jahrelang im Restaurant gearbeitet hatte – am Anfang ihrer Kochkünste stand und bei jeglicher Kritik in die Offensive ging.
Ihre Beziehung stand an einem Wendepunkt. Christl hatte ihr BWL-Studium wieder aufgenommen und war in einer stressigen Prüfungsphase. Tom im Kommissariat mit dem aktuellen Cold Case sehr eingespannt. Aber heute würden sie sich einen schönen Abend machen. Er dachte an ihre weiche, vom Sommer leicht gebräunte Haut. Sah ihre sanduhrenförmig geschwungene Silhouette im Licht des nächtlichen Dachgeschosses neben sich auf dem Bett liegen. Ließ in Gedanken ihre Haare durch seine Finger gleiten, zeichnete die Rundungen ihres Busens nach.
Mit einem Mal fiel ihm ein, dass sie morgen ihre letzte Prüfung hatte. Er würde ihr den Ring trotzdem heute schenken – auch wenn es taktisch klüger wäre, zumindest einen Tag länger zu warten. Aber jetzt, da er sich zu diesem Schritt durchgerungen hatte, wollte er nicht mehr warten. So heimisch und sicher Tom sich auf der einen Seite in München fühlte, auf der anderen überkam ihn oftmals eine tiefe Unruhe, und er befürchtete, dass sich das Glück von einer Sekunde auf die andere ins Gegenteil verkehren könnte. So wie damals, als die Kugel ihn getroffen und alles verändert hatte. Tom schaute sich um.
Plötzlich hatte er wie häufig in letzter Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden. Für einen Moment glaubte er sogar, seinen ehemaligen Kollegen Claas im Gedränge der Hofstatt verschwinden zu sehen. Das konnte nur sein übermüdeter Geist sein. Wieso sollte Claas, der seit ihrem spektakulären Fall in Düsseldorf vor drei Jahren bis heute verschollen geblieben war, plötzlich hier sein? Er hätte sich bestimmt bei ihm gemeldet.
Phil Nguyen, der koreanische Pfarrer aus der Asamkirche, war bei ihrer Mutter, als Julia Sekunden später panisch in ihre Privatwohnung stürzte, nur wenige Meter vom Büro entfernt.
»Ach, Mama.« Julia roch sofort, dass glücklicherweise nur ein Malheur passiert war. Trotz aller Vorkehrungen, die sie trafen. »Danke, dass du mich gleich gerufen hast.«
Der Pfarrer lächelte sie auf seine gutmütige Art an und half wortlos, ihre Mutter umzubetten. Ob er merkte, wie nervös sie war? Schließlich hatte sie am Morgen bei ihm gebeichtet.
Anders als ihr Noch-Ehemann Marcel hatte der junge Pfarrer es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Julia und ihrer Mutter nach dem Schlaganfall zur Hand zu gehen. Von einem auf den anderen Tag war die einst lebenslustige, quirlige Maria in den Zustand einer leblosen Puppe versetzt worden. Phil hatte Julia auch bei dem Papierkram unterstützt, der erst ermöglicht hatte, dass die alte Frau in ihrer gewohnten Umgebung bleiben durfte. Im Gegenzug half Julia dem Pfarrer bei der Jugendarbeit. Sie waren gerade dabei, einen Jugendchor aufzubauen. Julia leitete die Gruppe mit ihrem Cello an.
»Ich muss gleich noch mal weg.« Es war Julia unangenehm, Phil schon wieder um Hilfe zu bitten. Sie würde sich eine andere Lösung einfallen lassen müssen.
»Passt. Ich bin da.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Spielst bald mal wieder Bach für mich.« Phil legte Julia die Hand auf den Arm. Trotz seiner koreanischen Abstammung hatte Phils Aussprache einen bayerischen Einschlag, was ihm zweifelsohne half, Nähe zu seiner Kirchengemeinde herzustellen. Er war ein sehr feinsinniger Mensch und ihr eine große Stütze.
»Es wird alles gut, Julia.« Er sah ihr tief in die Augen.
Sie wusste, wie sehr er sie mochte. Aber wie meinte er das? Sie legte ihre Hand auf seine. »Danke, Phil. Ich nehme den Hund mit. Er muss dringend raus.«
Ihr Blick fiel auf die gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie, die im Schlafzimmer ihrer Mutter an der Wand hing. Der Schnappschuss zeigte ihren Großvater als jungen Mann und zwei weitere Burschen bei einem Besuch bei Ludwig Thoma vor Thomas Haus »Auf der Tuften« am Tegernsee in ausgelassener Stimmung. Auf dem Tisch vor den Männern lag ein Packen Papier. Das Manuskript, das Thoma wenige Tage zuvor fertiggestellt haben musste, wie Julia inzwischen wusste. In seinem Anschreiben erwähnte Thoma, dass er es den Burschen bei diesem Treffen vorgelesen hatte. Julia nahm die Fotografie kurzentschlossen ab und klemmte sie sich unter den Arm. Ein weiteres Beweisstück, das sie Tom aushändigen würde. Denn hier schloss sich der Kreis. Auf dem Schnappschuss war der spätere Mörder zu sehen. Dort, wo das Bild gehangen hatte, blieben ein weißes Rechteck und ein Nagel an der Wand zurück.
Julia leinte den Hund an. Kurz vor ihrem Schlaganfall hatte ihre Mutter von ihrer besten Freundin einen Beagle namens Einstein geerbt. Julia hatte es nicht übers Herz gebracht, den Hund ins Tierheim zu bringen. Obwohl Einstein ein Tier mit einem ausgeprägten Eigenleben war. Vor der Tür zog der Hund heftig in Richtung Sendlinger Straße, aber Julia zerrte ihn zurück zum Büro. Sie musste die Ledertasche holen.
Nachdem sie die wenigen Meter über den Hinterhof zurückgelegt hatten, fiel Julias Blick durch das Fenster ins Büro. Sie erschauderte, als sie sah, was an ihrem Schreibtisch vor sich ging. Marcel hatte die Schublade aufgezogen und war gerade dabei, ihre Aktentasche zu öffnen. Wie meist trug er nur ein Feinrippunterhemd zur verwaschenen Jeans. Wie hat er sich in den letzten 20 Jahren verändert, dachte Julia. Aus dem energiegeladenen, gut aussehenden Künstler war ein drogenabhängiger Eigenbrötler geworden. Einstein bellte.
»Marcel!« Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren schrill.
Ihr Mann ließ die Tasche sinken. »Julia, bitte. Lass uns über alles reden. Es ist anders, als du denkst. Wir finden eine Lösung. Lass uns einen Neuanfang wagen.«
»Bist du verrückt? Nach dem, was du mir angetan hast? Seit 17 Jahren belügst du mich!« Sie wollte nur die Ledertasche zurück und dann eilig weg.
»Bitte, es tut mir leid. Es war ein Fehler. Ich hätte dir von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. Ich liebe dich. Immer noch.« Er ließ die Tasche sinken. Als sie neben ihm stand, roch sie, dass er geraucht hatte. Marihuana. Einstein sprang bellend an ihm hoch.
Julia stieß Marcel weg, griff nach der Tasche. »Ich spiele dieses Theater nicht mit. Du weißt genauso gut wie ich, was hier läuft. Aber im Gegensatz zu mir hast du ein großes Interesse, die Wahrheit zu vertuschen. Ich nicht!« Sie zog den Hund mit sich, obwohl Marcel nach der Leine griff.
»Ich muss. Tom wartet im Hackerhaus.«
»Du gehst zu Tom?« Marcel war fassungslos. »Julia, bitte. Lass uns reden. Du weißt, dass du damit alles zerstören wirst.«
Sie verließ wortlos das Büro. Kaum war sie im Schlepptau des Hundes auf der Sendlinger Straße, da hörte sie, dass Marcel ihr folgte. War es ein Fehler gewesen, ihm zu sagen, wohin sie ging?
Im Alten Hackerhaus war jetzt am späten Nachmittag jeder Tisch besetzt. Freudige Stimmen, Lachen und das Anstoßen dicker Biergläser drangen an Christls Ohr. Es roch nach Heimat und Wärme, frischen Brezn, Braten, Hendl und Apfelkücherl. Hier drinnen war es einladend und gemütlich im Gegensatz zur Eiseskälte draußen.
Christl kam von der Uni zurück. Ihr Kopf schwirrte von all den Zahlen und Fallbeispielen, die sie sich für die Prüfung am nächsten Tag einprägen musste. Danach würde sie endlich ihren Master der Betriebswirtschaftslehre in den Händen halten – oder eben nicht.
Max, der Wirt des Hackerhauses und Toms 20 Jahre älterer Halbbruder, der ihm einst das Leben gerettet hatte, saß auf der Bank am Stammtisch, einen Brief in der mächtigen Linken, von dem er nur kurz aufblickte. Max’ schulterlanges, blondes Haar war wie meist mit einem Gummiband hinten zum Zopf zusammengebunden. Zur hellen Jeans trug er einen Trachtenjanker. Er war eine charismatische Erscheinung.
Tom hat recht, dachte Christl, froh darüber, dass Max da war. Max sieht aus wie der Heilige Christopherus, obwohl er weder einen Bart hat, noch das Jesuskind über einen Fluss trägt. Aber wahrscheinlich machte es die Persönlichkeit stark, ein Wirtshaus über Generationen hinweg durch Höhen und Tiefen zu steuern. Allerdings standen Max im Moment die Sorgen deutlich ins Gesicht geschrieben.
Christl knöpfte ihre rote, praktische Allwetterjacke auf, öffnete den vom Nieselregen feuchten, dicken braunen Pferdeschwanz, warf ihre Tasche in die Ecke der an der Wand angebrachten Holzbank und nahm Platz. »Puuh, was für ein Sauwetter. Und das Mitte November. Wenn es wenigstens richtig schneien würde. Aber diese nasse Kälte! Die mag ich gar nicht.«
»Mhm.« Max reagierte nicht.
Gut, also kein Small Talk. »Was ist los?«
Max hielt ihr den Brief hin. »Lies selber.«
Christl studierte das Logo. Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr. Daneben prangten zwei goldene Löwen, die das bayerische Wappen in ihrer Mitte hielten. Ihr zweiter Blick galt dem Betreff: Ihr Antrag auf den Ausbau des Innenhofs, Gebäude Sendlinger Straße 14.
»Ich hab gedacht, das ist längst durch.«
»Lies es.« Max rieb sich mit der gesunden Linken über die Falten auf der Stirn. Sein rechter Arm blieb bewegungslos. Wie immer, seitdem er sich das Ellenbogengelenk zertrümmert hatte, nachdem Max als junger Mann Tom vor einem Sturz vom Gerüst des Hackerhauses bewahrt hatte und selbst gefallen war.
Christl las und verstand Max’ Besorgnis. Ein echtes Desaster. Ihr Blick blieb an der zügig dahingeworfenen Unterschrift hängen: Carolyn Wallberg, Leitung Oberste Baubehörde. Christl spürte, wie die Röte bis unter ihre Haarwurzeln kroch. Toms Exfreundin. Eine, bei der es tiefer gegangen war als sonst. Seine erste große Liebe. Da hatte Max sich gehörig in die Nesseln gesetzt.
Christl war froh, als jemand aus dem Service – wie immer fesch im Dirndl – ihr ungefragt eine dampfende Tasse heiße Schokolade mit Sahne servierte. Sie warf der Exkollegin eine Kusshand zu, während sie vor ihrem geistigen Auge den Ordner mit dem mühsam gesammelten Prüfungswissen in weite Ferne rücken sah. Max brauchte jetzt Hilfe. Sie dachte nach. Gerade in schwierigen Situationen gelang es ihr meist, einen kühlen Kopf zu bewahren.
»So ein Mist«, legte Max los. »Morgen rücken die Bauarbeiter an.«
»Du musst ihnen absagen.«
»Wie stellst du dir das vor? Die Aufträge sind vergeben.«
»Wenn du jetzt – nach diesem Brief – mit dem Umbau anfängst, dann musst du nicht nur mit einer saftigen Strafe rechnen, sondern mit dem kompletten Rückbau.«
»Himmiherrgottsakramentzefix!« Max fluchte selten. »Es geht um nichts weiter als um ein paar klitzekleine Schönheitsreparaturen. Die komplette Fassade bleibt stehen. Ich will ja nicht den Stil des Hauses verändern. Ein schönes Dach, ein paar hübsche Lichter, eine Fußbodenheizung. So, dass die Gäste halt auch an Weihnachten im Innenhof sitzen können.« Max entriss ihr den Brief.
Christl nippte an ihrer heißen Schokolade. »Als Wirt des Stammhauses der Hacker-Pschorr-Brauerei aus dem Jahre 1417 unterliegst du ganz besonderen Denkmalschutzanforderungen. – Trotzdem. Was hat Carolyn sich dabei gedacht. Sie sitzt doch selbst gern im Innenhof. Das muss ein Versehen sein. Vermutlich hat sie gar nicht registriert, was sie da unterschrieben hat.«
Max schaute nachdenklich. »Ich versteh es auch nicht. Sie kennt mich. Sie weiß, wie genau ich den Denkmalschutz nehme. Ihre Eltern haben ihre Hochzeit bei uns gefeiert. Später hab ich als Teenager ihren Kinderwagen höchst persönlich über die Schwelle getragen. Und jetzt so was!«
Statt zu sagen, was ihr spontan in den Sinn kam, wärmte Christl sich die Hände an ihrer heißen Schokolade, während sie weitergrübelte.
Insgeheim atmete Christl jedes Mal auf, wenn die schöne Carolyn in ihrem perfekt sitzenden Business-Kostüm gut gelaunt und sehr geschäftig mit ihren Gesprächspartnern das Gasthaus verließ, bevor Tom kam. Obwohl Carolyn häufig im Hackerhaus war, hatten die beiden sich seit Toms Rückkehr noch nicht wiedergesehen.
Christl hatte den Eindruck, dass Carolyn nicht nur Tom, sondern auch ihr gezielt aus dem Weg ging. Dabei war Carolyn bei allem, was sie tat, nicht zu unterschätzen. Unter anderem war ihr gelungen, was trotz aller Gleichberechtigungsbemühungen bis heute wenigen Frauen vergönnt war. Sie war in die Führungsetage einer großen Behörde aufgerückt und hatte es gleichzeitig verstanden, ihren weiblichen Charme effektvoll weiterzuentwickeln.
Tom war als Teenager – wie die meisten Jungs – hemmungslos in Carolyn verliebt gewesen. Die Leidenschaft ihrer Beziehung war Christl nicht entgangen. Als Carolyn dann mit 18 schwanger geworden war, war Christl überzeugt gewesen, dass niemand anderes als Tom der Vater sein musste. Aber Carolyn hatte den Erzeuger ihres Kindes bis heute nicht preisgegeben.
»Die Wiesn ist vorbei. Das Weihnachtsgeschäft hat noch nicht begonnen. Es ist die ideale Zeit für den Umbau.« Max lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte die Beine breit von sich und legte den linken Arm auf seinen Bauch. Christl kannte die Geste von Tom. Hätte Max gekonnt, dann hätte er beide Arme vor der Brust verschränkt. Er würde nicht so ohne Weiteres von seinem Vorhaben ablassen.
»Wann kommt eigentlich der Rest der Familie zurück?« Vor lauter Prüfungsstress hatte Christl den zeitlichen Überblick verloren.
Die anderen Mitglieder der erweiterten Hacker-Familie waren zu einer Kreuzfahrt aufgebrochen. Christl wusste, dass Max sie bewusst in der staden Zeit dazu überredet hatte, damit er Hedi mit dem renovierten Innenhof überraschen konnte. Sie hasste nichts mehr als Bauarbeiten. Andererseits hatte sie von der Modernisierung des Innenhofs geträumt, seit Max und sie das erste Mal die Entwürfe gesehen hatten.
»Samstag in einer Woche.«
»Ich versteh das nicht.« Christl schüttelte den Kopf und trank ihre Schokolade leer. »Der Architekt hatte doch die Denkmalschutzvorlagen bei seinen Entwürfen berücksichtigt.«
»Eben. Drum!«
»Red noch mal mit Carolyn, Max.«
Max’ Handy piepte. Das Zeichen, dass er eine WhatsApp bekommen hatte. Max las. »Tom. Er wird sich verspäten. Streit mit Weißbauer.«
»Schon wieder.« Christl seufzte. Es fiel Tom nicht leicht, sich jemandem unterzuordnen. Einem offiziellen Chef schon gar nicht.
»Kümmerst du dich um Julia? Sie müsste jeden Moment hier sein. Ich muss die Franzosen begrüßen.« Max erhob sich. Am Eingang stand eine Busladung neuer Gäste.
»Max! Morgen ist Prüfung. Oben wartet ein ganzer Ordner auf mich.«
»Das schaffst du schon.« Max lächelte breit wie ein Tiger im Comic, während Christl den Prüfungsordner vor ihrem geistigen Auge beiseiteschob, als sie Julia mit einem kniehohen Hund bei dem historischen Bierfass in der Mitte des überdachbaren Biergartens stehen sah. Christl beobachtete, wie Julia jetzt durch den Innenhof auf sie zukam und nervös am Verschluss ihrer Ledertasche nestelte. Scheinbar klemmte die Schließe unter der Lasche.
Tom war nun schon in der Nähe vom Hackerhaus, auf der Höhe von Abercrombie & Fitch. Gleich würde er Julia dort treffen. Hoffentlich war sie wegen seiner Verspätung nicht verärgert. Der Regen hatte sich verstärkt, und die Menschen waren in die Geschäfte geflüchtet. So hatte Tom einen freien Blick auf den Eingang des Wirtshauses. Es dämmerte bereits, die Straßenbeleuchtung hatte sich eben angeschaltet.
Gerade wollte Tom zum Endspurt ansetzen, da sah er, wie eine Frau mit kinnlagen schwarzen Locken in einem braunen Steppmantel aus dem Eingang des Gasthauses trat. Sie telefonierte mit einer Hand, unter den Arm hatte sie eine abgegriffene Ledertasche gepresst. Selbst auf diese Entfernung wirkte sie hektisch und nervös, als sie ungebremst in den Regen trat. Während Toms Gehirn in der zierlichen Gestalt Julia ausmachte und er ihr schon zuwinken wollte, überschlugen sich die Ereignisse.
Ein dunkel gekleideter, durchtrainierter Mann mit Motorradhelm rempelte Julia so heftig an, dass sie ins Straucheln geriet. Sie taumelte auf die Straßenmitte. Der Mann griff nach der Ledertasche, riss daran. Die Tasche sprang auf. Ein Packen ungebundener Blätter flatterte heraus. Julias Arme schnellten hoch. Sie versuchten, die Seiten zusammenzuhalten. Sie stolperte. Dann klappte sie wie in Zeitlupe willenlos in sich zusammen. Tom schrie auf, als sie mit dem Kopf voran auf die feucht glänzenden Steine der Fußgängerzone stürzte.
Tom spurtete los. Er griff nach seiner Dienstwaffe. Verflucht! Durch den Streit mit Weißbauer hatte er vergessen, die Waffe anzulegen. Er zog sie immer aus, wenn er ins Büro kam, weil sie beim Sitzen drückte. Jetzt hätte er sie brauchen können, auch nach Dienstschluss.
Der Unbekannte klaubte eilig möglichst viele Blätter zusammen. Im Rennen stopfte er sie in die Tasche. Ecke Hackenstraße sprang er auf den Rücksitz eines wartenden Motorrads. Der Fahrer trat das Gas durch. Das Motorrad bäumte sich auf. Es schlitterte auf der regennassen Straße, fing sich aber wieder. Ein alter Mann sprang panisch zur Seite. Zwei Passanten stellten sich den Flüchtenden in den Weg. Vergeblich. Das Motorrad brach durch.
Tom stürzte zu Julia. Ihr Körper lag bewegungslos auf den feuchten Betonsteinen. Ihr Kopf war zur Seite gedreht.
»Julia.« Tom rief ihren Namen, ertastete ihre Halsschlagader. Fühlte eine warme Nässe, aber keinen Puls.
Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick leer. Ihre Lippen sahen aus, als ob sie eben noch versucht hätten, Worte zu formen. Er beugte sich über sie. Kein Atem. Tom wusste sofort, was los war. Trauer und Schmerz verschnürten ihm die Kehle. Julia war tot.
Durch die dunklen Locken, die sich auf der Straße ausbreiteten wie schwarz-braune Erde, sickerten Blut und eine giftig hellgelbe Flüssigkeit. Gehirnwasser. Tom hatte keinen Schuss gehört, aber die Kugel musste am Hinterkopf, ganz in der Nähe der Halswirbelsäule, eingedrungen sein.
Julia war nicht das erste Opfer mit Kopfverletzung, das Tom sah. Ein Kopfschuss musste nicht tödlich enden. Aber Tom hatte genügend Obduktionen beigewohnt, um zu wissen, dass genau dort, wo Blut und Gehirnwasser heraussickerten, der Hirnstamm saß, in dem sich unter anderem das Atemzentrum befand. War diese überlebenswichtige Steuerzentrale verletzt, bedeutete das den sicheren Tod. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Alles, was er jetzt für Julia tun konnte, war, ihren Mörder zu finden.
Binnen Sekunden hatte sich ein Kreis von Menschen um sie herum versammelt. Tom rief einem Mann mit Handy zu, die 110 zu rufen und dafür zu sorgen, dass keiner etwas berührt. Dann stürzte er dem Motorrad hinterher, das in den Asamhof bog. Tom wusste, dass der Ausgang über die Kreuzstraße wegen der Bauarbeiten gesperrt war. Das war seine Chance.
Er war immer ein guter Läufer gewesen. Jetzt gab er alles. Als Tom in den Hof bog, drehte der Mann auf dem Rücksitz sich um. Der Fahrer versuchte durch die Baustelle zu brechen, was unmöglich war. Er musste wenden, fuhr frontal auf Tom zu, dem es in letzter Sekunde gelang, auf die Seite zu springen. Der Asphalt war nass und rutschig. Tom fiel hart auf seine linke Seite. Er kämpfte sich eilig wieder hoch. Das Motorrad schlingerte, krachte mit dem Vorderrad an eine Hausmauer. Die Vorderlampe zerbarst in kleine Stücke. Tom konnte die Gesichter hinter den dunkel verspiegelten Helmen nicht erkennen. Aber es gelang ihm, in Windeseile die Splitter des Vorderlichts aufzusammeln. Er stopfte sie in seine rechte Jackentasche.
Die Aktion hatte ihn wichtige Sekunden gekostet. Als er zurück auf der Straße war, raste die rote BMW bereits über den Sendlinger-Tor-Platz. Kurz darauf verschwand sie auf der Sonnenstraße, wo sie auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte. Der Mann auf dem Rücksitz zeigte Tom den Stinkefinger. Tom fluchte. Die Chance, die Täter zu stoppen, war vertan.
Schwer atmend griff er in seine linke Jackentasche. Sie stand offen. Seine Finger suchten nach dem Ringschächtelchen. Es war noch da. Aber in der Eile hatte er vergessen, es zu schließen. Deckel und Boden bildeten zwei Teile. Der Ring steckte nicht mehr in der dafür vorgesehenen Vertiefung des Samtbodens. Toms Finger suchten tiefer im Futter der Tasche. Nichts. Der Ring war weg.
Vor Wut und Verzweiflung schlug Tom mit der Faust in seine offene Hand und merkte, dass sie blutig war. Niedergeschlagen und traurig machte er sich auf den Rückweg zum Tatort. Vor der Asamkirche begegnete er einem Pfarrer in schwarzer Soutane, der ihn unverwandt anstarrte. Tom überlegte, ob er den Mann schon einmal gesehen hatte, doch er konnte sich nicht erinnern wo.
Auf der Treppe hatte Christl Schreie gehört. Ein Unbekannter stürzte ins Hackerhaus, rief nach einem Arzt. »Was ist los?«
Kurz nachdem sie sich begrüßt hatten, hatte Julia einen Anruf erhalten. Panisch hatte Julia daraufhin Christl die Hundeleine in die Hand gedrückt und war Richtung Ausgang geeilt.
Nachdem Christl den Hund versorgt hatte, war sie auf dem Weg nach oben gewesen, um den Ordner zumindest nach unten zu holen.
Jemand zeigte auf die Menschenmenge. »Schüsse.«
Christls erster Gedanke galt Tom. Ein Kreis von Menschen drängte sich um die am Boden liegende Gestalt, über die jetzt jemand einen Regenschirm spannte, um sie vor dem Regen zu schützen. Die Stimmung war bedrückt. In den Gesichtern der Menschen waren große Bestürzung und völliges Unverständnis zu lesen.
Christl erkannte den braunen Steppmantel, die dunklen Locken. Es war Julia, die am Boden lag. Ihr Kopf war von einer bräunlichen Flüssigkeit umgeben, die jetzt mit dem Regen verlief. Warum bewegte sie sich nicht? Wo war Tom?
Christls suchender Blick fiel auf Marcel, der rund 50 Meter abseits stand. Im Eingang des ehemaligen Lederwarengeschäftes gegenüber vom Hackerhaus. Mit hängenden Schultern. Ausdruckslos. Was machte Marcel hier? Warum kam er nicht, um nach seiner Frau zu sehen?
Die Martinshörner von Polizei und Krankenwagen waren zu hören. Jemand hatte also bereits die offiziellen Stellen alarmiert. Christl überlegte gerade, ob sie zu Marcel gehen sollte, als sie Tom erblickte, der mit hängenden Schultern auf sie zukam. Die Menschen wichen auseinander, machten Platz.
Jemand murmelte: »Er hat die Motorradfahrer verfolgt.«
»Aber nicht derwischt«, konterte ein anderer.
Christl fühlte eine unsagbare Erleichterung darüber, dass Tom unversehrt war. Seine mittelblonden, immer leicht verstrubbelten Haare mit dem Stich ins Rötliche klebten vor Regen und Schweiß am Kopf. Seine blauen Augen sprühten vor Wut und Adrenalin. Er kam ihr noch größer vor als sonst. Mehr denn je erinnerte er sie an einen Ranger bei einem Rodeo im amerikanischen Mittelwesten. Es war nicht zu übersehen, dass er den Kampf gegen den Feind verloren hatte. Seine Hose war auf einer Seite schmutzig und zerrissen. Seine Hand blutete.
Mit einer warmen Welle wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn liebte. Trotz oder gerade wegen des Streites am Vorabend, bei dem die geballte Sturheit ihrer beiden Dickköpfe aufeinandergeprallt war. In letzter Zeit hatte sie vor Sorge um ihn oft nicht einschlafen können. Er befand sich immer dort, wo der Hurrikan am stärksten tobte. Sie sah Tom an, dass er ihr etwas sagen wollte. Doch er schwieg, nickte ihr nur kurz zu. Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, hielt sich aber zurück.
Tom kniete neben Julia nieder. Christl folgte ihm wie betäubt. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, doch sie musste jetzt bei ihm sein. »Sie war gerade noch im Hackerhaus. Wer macht so was? Und warum?«
»Wäre ich früher gekommen, dann würde sie noch leben.« Er sah von unten zu ihr herauf. Sein Blick war schmerzerfüllt.
»Wärst du früher gekommen, dann wärst du jetzt auch tot«, antwortete sie, während sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.
»Hatte sie was bei sich?« Tom richtete sich auf.
»Eine Lederaktentasche. Sie hat sich nicht einmal hingesetzt, da hat sie eine Nachricht bekommen und ist hinausgelaufen.«
»Von wem?«
Christl schüttelte den Kopf und hob die Schultern. Die Tränen kamen nun doch. Sie wischte sie mit dem Handrücken aus den Augen.
Tom kramte die Latexhandschuhe aus den Innenseiten seiner Lederjacke, zog sie aus und hängte sie ihr über die Schultern.
»Danke.«
Doch Tom hatte sich wieder hingekniet und durchsuchte bereits Julias Manteltaschen. »Kein Handy. Es muss hier aber irgendwo sein. Sie hat telefoniert, als sie angerempelt wurde.«
Er erhob sich, rekonstruierte, was er beobachtet hatte, während die Blicke der Menschenmenge jedem seiner Handgriffe folgten. Dann ging er einige Meter in Richtung Hackerhaus. Er bückte sich, suchte unter den Außentischen des Wirtshauses, die für sonnige Novembertage draußen standen. Und tatsächlich: Julias Handy war ob der Wucht des Aufschlags unter die Verstrebungen eines Biertisches gerutscht.
Tom kehrte zurück. Sichtlich froh über seinen Fund. »Das wird uns eine Menge Arbeit ersparen. Zumindest werden wir ihre letzten Telefonate zurückverfolgen können.«
Christl blickte sich nach Marcel um. Warum kam er nicht? »Marcel hat eben dort drüben gestanden. Jetzt ist er weg.«
»Was? Marcel war hier? Wo?«
Sie zeigte auf den leeren Eingang des ehemaligen Lederwarengeschäftes.
»Bist du sicher?«
Christl nickte, irritiert, dass Marcel verschwunden war. »Seltsam. Man lässt seine Frau doch nicht einfach im Stich, wenn sie auf der Straße liegt? Er muss doch mitbekommen haben, was passiert ist!«
Der Regen wurde stärker, und sie wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht. Tom schien nach einer Erklärung zu suchen.
Tom und Marcel hatten sich sehr nahe gestanden. »Er ist vor der Wahrheit geflohen.«
»Das rechtfertigt sein Verhalten nicht. Wie kann Marcel Julia in so einem Moment allein lassen?« Christl war außer sich.
Plötzlich schob sich jemand neben Christl. »Stimmt das, was ich gerade gehört habe? Lasst mich durch.«
Die Frau war so kreidebleich, dass Christl sie fast nicht erkannt hätte. Franziska Pohl. Eine von Julias besten Freundinnen.
Franziska führte mit ihrem Mann Sebastian eine Anwaltskanzlei am St.-Jakobs-Platz. Um diese Zeit, nach Büroschluss, hatte Christl sie schon das ein oder andere Mal auf der Sendlinger Straße beobachtet. Oftmals in nicht mehr ganz nüchternem Zustand. Auch wenn Franziska mit ihrem honigblonden Kurzhaarschnitt und den braunen Augen rein äußerlich den Eindruck einer abgeklärten Juristin zu vermitteln suchte: Christl konnte sie nicht täuschen.
»Julia? Das darf nicht Julia sein.« Franziskas Stimme war nur ein Flüstern. Sie sah aus, als ob sie jeden Moment zusammenklappen würde. Christl stützte sie spontan unter dem Arm.
Franziska starrte fassungslos auf die am Boden liegende Freundin. »Sie ist nicht tot. Bitte sagt, dass sie nicht tot ist.« Jetzt überschlug sich ihre Stimme.
Tom, der wohl einen hysterischen Anfall befürchtete, hakte Franziska an der anderen Seite unter. »Komm, Franzi. Du solltest dir das jetzt nicht antun.«
Christl bewunderte ihn für seine besonnene Haltung. Sein Sweatshirt war inzwischen komplett durchnässt. Seine Haare hingen in Strähnen herunter. Er musste ausgehungert und von dem Gedanken beherrscht sein, dass er Julia hätte retten können, wenn er früher da gewesen wäre.
Trotz aller Bemühungen ließ Franziska sich nicht überreden, auch nur einen Schritt von Julias Seite zu weichen. »Nein. Ich lasse sie jetzt nicht hilflos zurück. Jetzt nicht!«
Sie ließ sich so schlagartig auf die Knie fallen, dass Tom und Christl es nicht verhindern konnten. Franziska wollte Julias Kopf in die Hand nehmen, die Freundin an sich drücken, doch Tom hielt sie davon ab. »Das geht nicht, Franzi. Komm.«
Tom zog sie wieder auf die Beine. Franziskas Hand war blutverschmiert. Tom reichte ihr ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Als sie nicht reagierte, wischte er ihre Hand notdürftig trocken.
Sie starrte ihre Hand an. »Julias Blut.«
Franziska begann unkontrolliert zu weinen. »Caro. Ich muss mit Caro sprechen.«
Ausgerechnet, dachte Christl. Doch als Franziska das Handy aus der Tasche zog und es ihr aus der Hand fiel, weil sie so stark zitterte, hob Christl es auf. Es war unversehrt.
Franziska schniefte in eine freie Ecke des blutverschmierten Taschentuchs. Dann gelang es ihr innerhalb weniger Sekunden, Carolyn zu erreichen. »Caro. Du musst sofort kommen. Es ist etwas Schreckliches passiert! Julia. Sie ist tot.«
Christl war klar, dass Carolyn aus Franziskas stammelndem Lallen nicht schlau werden würde. Tatsächlich reichte Franziska Tom das Handy weiter, der nach einer kurzen Begrüßung kurz und knapp schilderte, was passiert war.
Aus seinen Gesichtszügen konnte Christl lesen wie aus einem offenen Buch. Tom hatte Carolyn seit Jahren weder gesehen noch gesprochen. Es war eindeutig, dass ihn das Gespräch nicht unberührt ließ. Die gesamte Situation tat ihren Teil dazu. Christl meinte sogar, eine flüchtige Röte über Toms Gesicht huschen zu sehen, dabei ließ er Christl während des Gesprächs nicht aus den Augen.
Sie schämte sich für ihre Eifersucht, aber jetzt war unabdingbar, was Christl hatte verhindern wollen: Tom würde Carolyn wiedersehen.
Sollte sie weinen oder lachen? Carolyn Wallberg stand am Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Gerade hatte sie den Hörer aufgelegt. Ihre beste Freundin Julia war tot.
Julia, bei deren Familie sie so gut wie aufgewachsen war. Julia, die für sie gewesen war wie die Schwester, die sie nie gehabt hatte. Erschossen. In München. Auf offener Straße. Und ausgerechnet Tom war am Tatort gewesen.