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Hauptkommissar Tom Perlinger und seine Freundin Christl nehmen an der Verleihung der Goldenen Bürgermedaille im Kaisersaal der Münchner Residenz teil, als Tom zu einem Einsatz gerufen wird. Im Köglmühlbach mäandert ein lebloser Körper vor der Staatskanzlei. Wenige Meter weiter, vor dem Japanischen Teehaus im Englischen Garten, wird eine zweite Leiche gefunden. Bei den beiden Toten handelt es sich um den exzentrischen Louis von Schönfeld, der auch der »Märchenkönig« genannt wurde, und seinen Psychiater Siegmund Berg. Ihr Tod stellt Tom vor ganz neue Rätsel, denn es gibt keinerlei Spuren von Gewalt …
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Seitenzahl: 322
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Sabine Vöhringer
Der Märchenkönig
KRIMINALROMAN
Ein ewiges Rätsel wirst du bleiben Es geht um Macht. Hauptkommissar Tom Perlinger und sein Team stehen vor einem Rätsel. Die Leichen des 41-jährigen Louis von Schönfeld, schwarzes Schaf einer der reichsten Familien Deutschlands, und seines Psychiaters Siegmund Berg werden im Köglmühlbach gefunden. Spuren von Gewalt sind nicht erkennbar. Doch der Zufall ist für einen natürlichen Tod eindeutig zu groß. Was steckt dahinter? Ein persönliches Drama? Oder etwas ganz anderes? Wahnsinn. Der exzentrische Louis, der auch der »Märchenkönig« genannt wurde, machte zuletzt mit einem spektakulären Bauvorhaben von sich reden. Ein neues Wahrzeichen der Stadt München, für das er zahlreiche Unterstützer fand. Doch nicht jeder ist begeistert. Ist Louis in seinem künstlerischen Wahn zu weit gegangen? Der bis heute ungeklärte Tod des »Märchenkönigs« Ludwig II. steht Pate für Tom Perlingers vierten Fall. Politische wie persönliche Machtspiele wurden dem Märchenkönig zum Verhängnis. Damals wie heute. »Wir sehnen uns nach Liebe und Wahrheit, dabei sind wir alle nur Rädchen in einem riesigen Getriebe, das nach seinen eigenen Regeln funktioniert.«
In Frankfurt geboren, wuchs Sabine Vöhringer bei Karlsruhe auf, lebte in Südfrankreich und studierte in Pforzheim. Als Diplom-Designerin zog es sie in ihre Traumstadt München, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Ausschlaggebend für ihre Krimi-Reihe rund um Hauptkommissar Tom Perlinger sind ihr Faible für die bayerische Lebensart und ihr Blick für das universell Menschliche. Ihre Krimis mit historischem Bezug spielen zentral in der Münchner Altstadt und begeistern Leser und Presse nachhaltig. »Karl Valentin ist tot« stand auf der Longlist des Lovelybooks-Leserpreises 2020. »Das Ludwig Thoma Komplott« war Hörbuch des Jahres 2018. Alle Krimis wurden bei Rockantenne gesendet.
Mehr Informationen zur Autorin unter: www.sabine-voehringer.com
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart, nach einem Entwurf von Der blaue Punkt, unter Verwendung eines Fotos von: © Sabine Vöhringer
ISBN 978-3-8392-7280-0
Für alle, die München, seine Menschen, seine Geschichte und sein unvergleichliches Ambiente lieben.
»Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen!«
Ludwig II. (1845 – 1886)
Dienstag, 18.10.2022, 19.30 Uhr. München, Pfistermühle
Im Gewölbekeller der Pfistermühle am Platzl mitten in der Münchner Altstadt war es mucksmäuschenstill, obwohl über 100 Personen an den Tischen saßen. Der erste Gang des Menüs, dessen Duft noch in der Luft lag, wurde gerade abgetragen. Geräucherte Kürbiscremesuppe mit gebeizter Makrele, Orange und Kürbiskernöl.
Hauptkommissar Tom Perlinger saß am vordersten Tisch und wartete gespannt auf die ersten Worte seines Freundes Hubertus Lindner, der gleich aus seinem neuesten Kriminalroman Der Märchenkönig vorlesen würde. Wie gern hätte Tom in diesem Moment die Hand seiner Verlobten, Christl Weixner, in seiner gespürt. Doch der Stuhl neben ihm war leer. In den letzten Monaten hatte sich sein Leben in München grundlegend verändert und das war erst der Anfang, denn bald würde nichts mehr so sein wie zuvor.
Doch bevor Tom weiter darüber nachdenken konnte, traf ihn ein Hilfe suchender Blick aus Hubertus’ bernsteinfarbenen Augen, aus dem pures Lampenfieber sprach. Tom lächelte dem über 70-jährigen Historiker zuversichtlich zu und hielt aufmunternd sein Bierglas hoch. Dabei war er genauso nervös wie Hubertus, obwohl der Freund sicher brillant sein würde.
Hubertus würde seine Zuhörer vom gemütlichen Ambiente der Wirtsstube in eine andere Zeit entführen. Über ein Jahrhundert zurück, zu dem Moment, als Ludwig II. im Starnberger See ertrank. Ein Tod, der bis heute und wohl für alle Zeit ein Mysterium bleiben würde.
Im Gegensatz zu Toms bisher skurrilstem Kriminalfall. Er hatte überraschende Parallelen zum Tod des Märchenkönigs aufgewiesen und Tom und sein Team zu Höchstleistungen angespornt.
Jetzt wurde das Licht gedimmt, und man hörte das Papier rascheln, als Hubertus unter der Leselampe am Pult die Titelseite umblätterte und mit sonorer Stimme begann, den ersten Satz aus dem Prolog vorzutragen.
*
13. Juni, 1886, 18.40 Uhr
König Ludwig II. lief mit weit ausholenden Schritten voran. Bernhardt von Gudden, sein Psychiater, stolperte dem großen, übergewichtigen Monarchen mit wachsendem Abstand hinterher. Ludwigs langer Wollmantel, viel zu warm für die Jahreszeit, flatterte um ihn herum wie ein bodenlanges dunkles Zelt.
Von Guddens Beine waren wesentlich kürzer, immer wieder musste er dicken Wurzeln ausweichen, die den Pfad wie schwulstige Adern durchzogen.
Der Weg führte durch den schattigen Buchenwald hinab zur Ostseite des Starnberger Sees, der als moorgrüne, unergründliche Fläche vor ihnen lag, und von dem jetzt nach einem Spätfrühlingstag abendlicher Nebel aufstieg. Der scharfe Geruch verblühender Maiglöckchen nach Zwiebeln und Knoblauch durchzog die kühler werdende Luft in weitem Umkreis. Die beiden Männer schienen mutterseelenallein in dem zum See hin abfallenden Park.
Kein Besucher, kein Berater, kein patrouillierender Wachmann waren zu sehen. Ludwigs noch verbleibende Entourage harrte geduckt in den dunklen Räumen des Schlosses auf dem Hügel aus. Im sicheren Bewusstsein, dass sich etwas zusammenbraute. Bemüht, nicht aufzufallen, in einem Moment, in dem sich die Spannung entlud.
Durch eine kurze Unaufmerksamkeit verhedderte sich von Guddens Schuhspitze in einer Wurzel und blieb hängen. Er stolperte. Im letzten Moment gelang es ihm, sich mit beiden Händen abzufangen. Schwer atmend richtete er sich wieder auf und rieb die aufgeschürften Handflächen an seinem Gehrock sauber. Spuren von Blut und Erde hinterließen Schlieren auf dem dunklen Stoff.
Er durfte Ludwig nicht aus den Augen verlieren.
Auch wenn der König sich in den vergangenen Stunden weit weniger wahnsinnig verhalten hatte wie von ihm als seinem Psychiater noch vor wenigen Wochen attestiert. Wer wusste schon, wozu Ludwig II. – in die Enge getrieben wie sein geisteskranker Bruder Otto – wirklich imstande war und was er ihm jetzt vorspielte.
Trotzdem trieb sein schlechtes Gewissen den Arzt an, schneller zu laufen, als es ihm mit seinem schweren Körper und seinen 60 Jahren guttat, wie seine Frau jetzt sagen würde.
Der sonst schwerfällige Ludwig, durch Medikamente zusätzlich geschwächt, war schon unten am See.
Er baute sich breitbeinig am Strand auf. Gefährlich nah am Wasser, das mit jeder Woge seine Schuhe und Waden umspielte, während die Nebelschwaden die mächtige Gestalt zu verschlucken drohten. Es war nicht das Wasser, das von Gudden Sorge bereitete. Etwas war hier im Gange. Etwas, das außer Kontrolle geriet.
Wollte Ludwig fliehen? Hatte er in den letzten Stunden den Unbedarften gespielt, während er im Hintergrund seine Flucht vorbereitet hatte? Was wollte er unten am See? Lediglich ein bisschen frische Luft schnappen? Oder versuchte er, seinem Schicksal zu entgehen und ihn, von Gudden, als Trottel dastehen zu lassen?
Der Psychiater suchte den See nach einem Bötchen ab.
Doch die Nebelschwaden zogen inzwischen so dicht über die glänzend braungrüne Fläche, dass man keine 20 Meter weit sehen konnte. Es war nicht abzuschätzen, ob jemand mit einem Boot bereitstand, um den König in Empfang zu nehmen.
Hatte er Ludwig von Anfang an unterschätzt?
Hatte der König schon längst durchblickt, in welche Sackgasse er gelaufen war? Auf welches Ziel alles zutrieb? Verhielt er sich wie ein wildes Tier, das alles dafür tat, einem Leben in Mauern zu entgehen? Hatte er aus dem Schicksal seines Bruders gelernt und entschieden, dass das kein Weg für ihn war?
Mit einer weit ausholenden Geste warf Ludwig jetzt entschlossen den Mantel beiseite, streifte die Stiefel ab und taumelte geradewegs in den See hinein, wie einem klaren Ziel entgegen.
Von Gudden war nie hier geschwommen.
Er fragte sich, wie steil der See abfiel, wie viel Zeit ihm blieb, den König einzuholen. Was sollte er tun, wenn Ludwig auf den See hinauskraulte? Im Gegensatz zu dem Monarchen war von Gudden kein guter Schwimmer.
Konnte der König es bis ans andere Ufer schaffen? In seinem Zustand und dem noch kalten Wasser, das bekanntlich von unberechenbaren Strömungen durchzogen war?
Oder würde doch gleich ein Boot im Nebel auftauchen, Ludwig aufnehmen und so schnell wieder verschwinden, wie es gekommen war? Ohne dass er, von Gudden, eine Chance hatte, es aufzuhalten?
Was würde das für ihn und seine Karriere bedeuten? Er hatte noch viel vor, die Kinder waren noch klein. Wie sollte er seiner Familie und der Regierung erklären, dass er seinen unter Arrest stehenden Patienten hatte entfliehen lassen?
Von Gudden wischte sich im Laufen mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Es fiel ihm schwer einzuschätzen, was der König wirklich wusste. Allerdings vermutete er, dass Ludwig das Gespräch zuvor belauscht und deshalb zum Spaziergang gedrängt hatte.
Das geheime Treffen und sein Verlauf waren auch dem Psychiater zunehmend unangenehm geworden. Er hatte versucht, sich herauszuwinden, doch das Komitee hatte ihm kein Gehör geschenkt, seine Argumente mit einer Handbewegung verworfen.
Von Gudden sah sich um.
Er spürte es ganz deutlich. Sie waren nicht allein. Sie wurden beobachtet. War ihnen doch einer der Wärter gefolgt?
Wo waren die drei Gendarmen, die gestern Abend urplötzlich aufgetaucht waren und von ihrem Aufseher – einem in von Guddens Augen höchst unangenehmen Zeitgenossen – angewiesen worden waren, Schloss und Grundstück zu sichern wie ein lebender Zaun? Spürte der König ihre Anwesenheit auch?
Worauf hatte von Gudden sich da nur eingelassen?
Seine Ehre als Arzt eines Fachgebietes, das noch als umstritten galt, was war sie ihm wert? Wer, wenn nicht er, konnte den König jetzt schützen? Doch wovor? Vor sich selbst?
Oder vor der Falle, die der Psychiater in der Nacht im Traum gesehen hatte und deren Stricke sich in Arme mit riesigen Händen verwandelt hatten, die nach ihm griffen.
Er hatte sich befreien wollen, war aber jäh mit einem Erstickungsanfall aufgeschreckt, nachdem ihm das nicht gelungen war. Das Treffen mit dem Komitee hatte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
»Warten Sie, Majestät!«, rief er und ruderte wild mit den Armen, um Ludwigs Aufmerksamkeit zu erregen.
Als der König unbeirrt weiterwatete, knöpfte von Gudden auf den letzten Metern vor dem Ufer seinen Gehrock auf und ließ ihn auf den Nagelfluh gleiten.
Ludwig stapfte unaufhörlich tiefer in den See und ruderte mit seinen langen aufgeschwemmten Armen, an denen das weiße Hemd feucht klebte. Inzwischen reichte ihm das Wasser bis zu seinem mächtigen Bauchansatz. Über zwei Zentner brachte der hünenhafte Monarch auf die Waage.
»Es gibt einen Weg, königliche Hoheit! Vertrauen Sie mir!« Von Gudden war jetzt am Ufer, riss sich eilig Schuhe und Socken von den Füßen.
Zu mehr war keine Zeit.
Das mulmige Gefühl in seinem Magen sagte ihm, dass das Leben des Märchenkönigs an einem seidenen Faden hing. Und nicht nur das. Sie wussten es beide. Sie waren nur Rädchen in einem Getriebe, das unbeirrt lief. Die Erkenntnis durchzuckte von Gudden wie ein Blitz.
Da! Ein Donnern? Oder der Hall eines Schusses?
Zog ein Gewitter auf?
Von Gudden war so verwirrt, dass er das Geräusch nicht zuordnen konnte. Auch der König musste es gehört haben.
Ludwig verharrte in der Bewegung, drehte sich um.
Sein Blick suchte den Strand ab. Er sah über von Gudden hinweg, wandte sich dann wieder dem See zu. Seine Arme pflügten durchs Wasser, obwohl seine Bewegungen müde und schwer wirkten. Das Wasser umspülte seine mächtige Brust, und trotz aller Bemühungen kam er nur langsam voran.
Nachdem der schlammige Grund seine Fußsohlen umfangen hatte, schraubte sich die Kühle des Sees an von Guddens Waden hoch.
Das Wasser war dieses Jahr Mitte Juni noch kalt, und ihm grauste bei dem Gedanken weiterzugehen. Doch er schritt tapfer voran, während der nasse Stoff der Anzughose gefühlt zu einem Eispanzer wurde.
»Königliche Hoheit!« Er schaufelte sich mit den Armen durch den See.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er sich Ludwig schließlich bis auf wenige Meter genähert hatte.
Der König, das Wasser bereits bis zum Hals, musste die Verzweiflung in seiner Stimme gehört haben, denn endlich blieb er stehen.
Von Gudden verlor den Grund unter den Füßen, als er weiterging. Er strampelte mit den Beinen, die nasse Anzughose wog tonnenschwer.
»König!« Heftig paddelte er außer Atem mit den Armen, bedacht darauf, dass kein Wasser in seinen Mund eindrang.
Ludwig drehte sich zu ihm und öffnete den Mund.
Warum schwamm der König nicht davon?
Wollte er ihm etwas sagen?
Von Panik getrieben überwand von Gudden seine Angst vor der Tiefe des Sees, strampelte sich zu Ludwig vor, griff unter Wasser nach seinem Arm wie nach einem Rettungsanker, der ihm Halt geben könnte vor diesem Ungeheuer, das ihn hinabzuziehen schien.
Der König blickte durch ihn hindurch. »Es ist vollbracht!«
Dieser unstete, verlorene Blick aus den klaren blauen Augen, von deren Schönheit sein Volk immer noch angetan war.
Selbst jetzt, nachdem Krankheit und Sucht sein Gesicht aufgeschwemmt und entstellt hatten. Bis gestern hatte von Gudden sie dem Irrsinn geweiht geglaubt. Jetzt traf ihn deren Klarheit bis ins Mark. Und mit ihm die Gewissheit.
Die Gewissheit über den Verrat. Ein Verrat, dem auch er, von Gudden, aufgesessen war. Aus dem es kein Entrinnen gab.
Außer, sie hielten jetzt zusammen.
Er zerrte mit aller Macht am Arm des Königs und strampelte so wild, dass das Wasser aufspritzte und sein Herz vor Kälte und Anstrengung bis zum Hals schlug.
»Wir lassen es nicht zu, Majestät! Kommen Sie! Gemeinsam schaffen wir es zurück! Ich stehe Ihnen bei!«
Ludwig blickte zum Himmel, an dem sich über dem Nebel gewaltige Wolken türmten. »Es gibt nur einen, der uns jetzt noch beistehen kann.«
Damit drehte Ludwig sich abrupt zum See und holte weit mit dem Arm aus.
Die Bewegung überraschte von Gudden, seine Finger glitten ab, sein Kopf sank in die Tiefe, er rang nach Luft, und Wasser drang in seine Lungen. Als er schon glaubte, ertrinken zu müssen, streckte sich ihm eine mächtige Hand im trüben Wasser entgegen.
Während er gegen die Panik kämpfte, zog er sich daran hoch, schnappte nach Luft, hielt die rettende Hand eisern umklammert.
Wieder dieses Geräusch.
Diesmal ganz nah. Doch ein Schuss?
Vielleicht ein Leuchtsignal?
Für das Boot, das sich gleich durch den Nebel schieben würde, um sie zu retten?
Aber urplötzlich erschlaffte Ludwigs Hand, sank ab wie ein Papierschiff, das voll Wasser lief und durchweichte. Mit ihm wie in Zeitlupe der gesamte mächtige Körper des Monarchen.
Er klappte in sich zusammen, verlor jeglichen Halt.
Von Gudden wollte sich an die Oberfläche kämpfen, suchte verzweifelt nach einer Stütze. Doch der See färbte sich rot und griff nach ihm. Er sank, strampelte, fühlte, wie seine Kraft schwand, bis er mit dem Arm gegen einen Widerstand stieß.
Er riss die Augen auf.
Da! Ludwigs Kopf. Von Gudden packte ihn in seiner Not mit beiden Händen und riss ihn zu sich herum. Weit geöffnet starrten ihn Ludwigs klare blaue Augen an. Der Blick gebrochen. Der Glanz erloschen.
Wut und Entsetzen raubten dem Arzt die Sinne.
Wie konnten sie es wagen!
Er stieß sich an Ludwigs Körper ab, gelangte an die Wasseroberfläche. Seine Lunge schrie nach Sauerstoff. Hektisch sog er die Luft ein, die nach unergründlicher Tiefe schmeckte, als er einen stehenden Schmerz an der Schläfe spürte.
Während seine Sinne wichen und er Blut auf der Zunge schmeckte, wurde von Gudden klar, dass der Tod des Königs nicht genug war.
Auch er musste sterben, er wusste zu viel.
Seine Frau, seine Kinder. Was würde man ihnen sagen?
Es war, als ob der See zu trauern begann, als der König und sein Psychiater im Wassers versanken.
Die Wellen schlugen sanft über ihnen zusammen.
Die Spuren ihres Blutes lösten sich in der unergründlichen Tiefe des Sees auf, als das Gewitter sich zu entladen begann. Dicke Regentropfen stempelten Löcher über ihren leblosen Körpern in den See.
Ihre Leichen würde man Stunden später noch in der gleichen Nacht bergen.
*
Hubertus räusperte sich. Nach einer Sekunde absoluter Stille brandete heftiger Applaus auf, der an den Steinwänden des Gewölbekellers widerhallte. Hubertus strahlte, und auch Tom war erleichtert, dass der Einstieg so gut gelungen war.
Nachdem das Klatschen abgeklungen war, rief eine Stimme: »Ein Unfall war’s!«
Eine andere: »Schmarrn! Eiskalter Mord!«
»Auch was«, meinte ein Dritter, »Selbstmord war die einzig logische Konsequenz für sein Leben!«
Eine blonde Frau mittleren Alters, die in Tracht gekommen war, schüttelte den Kopf. »Da hat unser Ludwig so etwas Schönes wie seine Schlösser geschaffen. Ganz Bayern profitiert bis heute davon. Und wie hat er geendet?« Sie sah sich um. »Tragisch! Und ohne Dank.«
Lebhafte Debatten entspannen sich an den Tischen.
Der Fall des Märchenkönigs erhitzte bis heute die Gemüter, und Tom hätte vieles dazu zu sagen gehabt.
Doch er lehnte sich zurück und schwieg, während rings um ihn herum der sous-vide gegarte Hirschkalbsrücken und für die Vegetarier das Sauerrahmrisotto mit gehobeltem Trüffel, gegrillten Waldpilzen, Haselnüssen und Nussbutterschaum als Hauptgang des sechsgängigen Menüs aufgetragen wurden.
Seine Gedanken schweiften zurück zu dem Tag vor fast genau einem Jahr, als die beiden Leichen im Köglmühlbach vor der Staatskanzlei mäandert waren und sie alle vor ein großes Rätsel gestellt hatten.
Sein letzter Fall, dessen Akte nicht von ungefähr den Decknamen Der Märchenkönig trug …
Liebend gerne hätte Tom auf dem Absatz kehrt gemacht, als er mit seiner Verlobten Christl am Arm die prachtvolle marmorne Kaisertreppe der Residenz hinaufschritt. Empfänge und Zeremonien, besonders, wenn sie in einem so hochoffiziellen Rahmen stattfanden wie heute im Kaisersaal, gehörten nicht zu seinen bevorzugten Freizeitbeschäftigungen.
Einziger Lichtblick war Christl, die in ihrem türkisblauen, samtig fließenden Abendkleid mit dem aufreizend tiefen, doch eleganten Dekolleté und der schmalen Taille einfach zum Anbeißen aussah, wie sie jetzt voller Elan in einer Wolke von Chloé, das er ihr kürzlich geschenkt hatte, die Treppe hinaufschwebte. Sie hielt den Stoff des Rocks mit einer Hand hoch, unter den Oberarm der anderen hatte sie eine silbern schimmernde Clutch geklemmt.
Um ihren Hals funkelte ein Weißgoldcollier, das ihr ein bekannter Juwelier aus der Maximilianstraße geliehen hatte und das Tom an das Collier der Lola Montez erinnerte, das er einst wiedergefunden hatte.
Ein in Weißgold gefasste Einkaräter betonte genau die Stelle, an der Toms Blick unvermeidlich ein paar Zentimeter tiefer glitt. Genau dorthin, wo sich die nackten Wölbungen ihres vollen, festen Busens trafen. Tom hätte Christl am liebsten an sich gedrückt und jeden Millimeter unter dem aufreizend engen Stoff weiter erkundet, was jetzt natürlich unmöglich war.
Das intensive Türkis des Kleides verstärkte den Goldton ihrer Haut und das fast schwarze Braun ihrer Augen mit den auffallend dichten, natürlichen Wimpern, die das Weiß ihrer Augäpfel noch heller funkeln ließen. Ihr Haar trug sie heute offen und nicht als praktischen Pferdeschwanz wie sonst meist. Sie hatte es in Wellen gelegt, sodass es als geordneter haselnussbrauner Vorhang mit goldenen Strähnen weit über ihre Schultern fiel.
Im Gegensatz zu Tom liebte Christl solche Veranstaltungen. Sie war bestens gelaunt, und ihre Wangen schimmerten vor Aufregung in einem natürlichen Rot.
Kaum hatten sie die letzte Treppenstufe zum Vorplatz erklommen, gab auch Tom sich dem prunkvollen Ambiente des barocken Kaisersaals hin. Die rechteckige Halle mit den meterhohen Wänden, die in opulentem Stuck endeten, erstrahlte im Schein der Kronleuchter in barockem Glanz mit viel Gold, das sich auf den glatt polierten Flächen vielfach widerspiegelte.
Rechter Hand zeigten Wandteppiche farbenprächtig in Szene gesetzte Helden der Antike und des Alten Testaments. Der in Gold gefasste Bilderzyklus an der Decke veranschaulichte bildhaft Reichtum, Weisheit und Ruhm, wie sein lieber Freund Hubertus Tom in Vorbereitung auf die Zeremonie voller Begeisterung erklärt hatte.
Vereinzelt standen bereits die ersten Gäste in Abendgarderobe in Gesprächsgrüppchen zusammen. Die Männer im dunklen Anzug oder Smoking, die Damen fast ausnahmslos in langen, seidig glänzenden Kleidern und wertvollem Schmuck.
Obwohl Christl einen Kompromiss für Toms Outfit gefunden hatte, fühlte er sich in dem dunkelblauen Jackett mit Einstecktuch, der eine Nuance helleren Stoffhose im italienischen Stil, die bis zu den Knöcheln reichte, und dem dunkelgrauen Hemd mit dem zu engen Kragen unwohl. Unwillkürlich griff er jetzt an den obersten Knopf seines Hemdes und öffnete ihn.
So war es besser, aber noch immer nicht gut.
Liebend gern hätte er die Kombination gegen seine Jeans und schwarze Lederjacke getauscht. Die Lederschuhe quetschten seine Zehen vorne eng zusammen, und er sehnte sich nach seinen Turnschuhen, besser noch den gemütlichen Bergschuhen.
Der Gedanke daran erinnerte ihn, dass er für diesen Empfang ein verlängertes Wanderwochenende am Achensee, mit Aufenthalt in seinem Wellness-Lieblingshotel, dem Posthotel in Achenkirch, hatte sausen lassen.
Doch er hatte seinem Bruder Max versprochen, ihn gemeinsam mit Christl bei diesem Empfang zu vertreten und in seinem Namen die Goldene Bürgermedaille entgegenzunehmen, die Max anlässlich der Feierlichkeiten für seine Verdienste als Wirt und ehrenamtlich engagierte Persönlichkeit in München verliehen werden sollte.
Anders als sonst fand die Medaillenvergabe nicht im Rathaus statt, sondern im Rahmen weiterer auch staatlicher Ehrungen im großen Festsaal in der Residenz.
Max und Hedi sowie deren Tochter Tina mit Familie waren vor zwei Wochen mit Sack und Pack und inklusive Toms von einer ehemaligen Schulkameradin geerbten Beaglerüden Einstein nach Niederbayern in Hedis alte Heimat gezogen.
Ein verhängnisvoller Großbrand hatte nicht nur das Wirtshaus gänzlich zerstört, sondern auch den Privatwohnungen inklusive Toms Dachgeschosswohnung übel mitgespielt. Es war für alle ein tiefgreifender Schock gewesen.
Auf dem noch gut erhaltenen Bauernhof von Hedis kürzlich verstorbenen Großeltern wollte Max jetzt mit seinem Dasein als Wirt abschließen. So kurzfristig und endgültig, dass er sich sogar geweigert hatte, die Ehrenmedaille persönlich entgegenzunehmen, was einen handfesten Streit mit Hedi provoziert hatte.
Um zu vermitteln und weil er ein schlechtes Gewissen hatte, da er sich für den Brand verantwortlich fühlte, hatte Tom angeboten, die Medaille für seinen Bruder mit den entsprechenden Dankesworten entgegenzunehmen. Er würde sie ihm beim nächsten Besuch in Max’ neuem Domizil in Niederbayern, in der Gegend von Grafenau, persönlich überreichen.
Samt dem Video, das Christl von der Verleihung drehen wollte.
Keiner von ihnen würde diese Nacht vor rund einem Monat jemals vergessen, als die ganze Familie inklusive Hubertus, der auch über dem Wirtshaus gewohnt hatte, nur knapp dem Feuertod entronnen war.
Und sie wussten alle, dass es weit mehr gewesen war als ein Zufall, dass ausgerechnet Max’ Wirtshaus niedergebrannt war.
Denn dass es sich um Brandstiftung handelte, war zweifelsfrei geklärt, auch wenn der Versuch unternommen worden war, die Spuren sorgfältig zu vertuschen. Das Team der Spurensicherung rund um Chefin Anna Meindl hatte ganze Arbeit geleistet und nicht aufgehört zu suchen, bevor sich eindeutige Indizien fanden, denn der Zufall dieses Feuers war einfach zu groß.
Nachdem Tom bei seinem letzten Fall den Feuerteufel von München gestellt hatte, war man sich zwar sicher gewesen, dass damit ein Hauptschuldiger gefunden worden war, aber nicht die wahren Strippenzieher im Hintergrund.
Denn Toms Erzfeind, Ivan Maslov, der Boss eines russischen Mafiaclans, der sich nichts sehnlicher wünschte als den Tod des Mannes, der seinen Sohn hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, weilte nach wie vor in München. Und Tom hatte den dringenden Verdacht, dass Maslov seine Finger im Spiel hatte.
Gerade als Tom die Minuten, in denen die lodernden Flammen das Treppenhaus erklommen hatten und er seine sechsjährige Nichte Mia aus ihrem Bettchen barg, erneut durchlebte und den zweiten Hemdknopf öffnen wollte, stupste Christl ihn unsanft mit ihrem rechten Ellenbogen in die Rippen.
»Der Ministerpräsident.«
Er folgte Christls Blicken zur rund 30 Meter entfernten Kopfseite des Saals, doch seine Augen blieben nicht an dem groß gewachsenen, von einer Entourage umgebenen Staatsoberhaupt hängen, sondern glitten zwei Meter weiter auf die Person dahinter.
Seine Laune sank augenblicklich auf den Gefrierpunkt.
Natürlich hätte er sich denken können, dass ebenso wie der Bürgermeister und Mitglieder des Stadtrats auch Polizeipräsident Xaver Weißbauer, sein rund 20 Jahre älterer Chef, anwesend sein würde. Der bis auf einen Haarkranz kahle Weißbauer hatte sich in seiner blauen, hoch dekorierten Uniform dicht hinter dem Ministerpräsidenten aufgebaut. Weniger zu dessen Schutz, als vielmehr, um sich selbst in dessen Glanz zu sonnen, wie Tom vermutete. Christl hatte Weißbauer auch entdeckt.
»Das war klar«, sie zog die Augenbrauen hoch.
Obwohl sich Weißbauer und Toms Familie seit Generationen nahe standen, hatte sich das Verhältnis der beiden Männer seit Toms Rückkehr nach München vor fünf Jahren merklich abgekühlt. Denn er hatte eindeutig ein Problem damit, wie elegant Weißbauer zwischen politischer Diplomatie und Gerechtigkeit wechselte.
Oftmals wusste Tom nicht mehr, auf welcher Seite Weißbauer stand, und ob er ihm vertrauen konnte. Auch in Bezug auf den Brand im Wirtshaus hielt sich der Polizeipräsident erstaunlich bedeckt.
So war es bisher zu keinem offenen, professionellen Gespräch zwischen ihm und Tom gekommen. Ein Umstand, den Tom kaum nachvollziehen konnte, denn schließlich musste Weißbauer, wenn seine Gefühle der Hacker-Familie gegenüber in den letzten Jahrzehnten echt gewesen waren, doch ein ernsthaftes Interesse daran haben, die Brandstiftung aufzuklären.
Doch die Ermittlungen liefen nur mit halber Kraft, und Tom war von dem Fall gänzlich abgezogen worden, obwohl ihn das nicht davon abhalten konnte, heimlich weiter zu ermitteln.
Außerdem war ihm aufgefallen, dass Weißbauer sich seit zwei Jahren, ganz gegen seine Gewohnheit, auf Fragen zu seinem Privatleben äußerst bedeckt hielt. Die Informationen, die trotzdem durchsickerten, wie extravagante Urlaubsreisen und der Bau eines großzügigen Swimmingpools im Garten von Weißbauers Häuschen in Bogenhausen, ließen allerdings darauf schließen, dass seine Besoldungsgruppe nebst Zulagen und Prämien kaum zur Finanzierung ausreichen dürfte.
Fakten, die Tom, der bereits Erfahrung mit schwarzen Schafen und Maulwürfen in den eigenen Reihen hatte, aufhorchen ließen.
Auch wenn Christl und der Rest seiner Familie ihn regelmäßig zu bremsen versuchten, sobald er auch nur in die Nähe einer Verdachtsäußerung gegen Weißbauer kam.
»Komm!« Christl zupfte ihn am Ärmel seines Jacketts. »Es huift nix! Wir sagen ihm freundlich Grüß Gott! Wie hat schon der Ludwig Thoma gesagt: Man muss die Leut’ nur an ihren Einfluss glauben lassen …«
»Hauptsache, sie haben keinen«, vervollständigte Tom das Zitat.
Während sie in ihren Stilettos ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und Tom sich nach einer geschützten Ecke umsah, kreuzten sich Weißbauers und sein Blick und verhakten sich ineinander.
Christl winkte dem Polizeipräsidenten freundlich zu und zog Tom entschlossen in seine Richtung.
Was blieb ihm anderes übrig, als ihr zu folgen.
Nach wenigen Metern schob sie sich geschmeidig wie eine Katze vor ihn, und er war froh, ihren samtigen Rücken in dem hinten ebenfalls tief ausgeschnittenen Kleid bewundern zu können, statt Weißbauer weiter zu fixieren.
Er blieb dicht hinter ihr und drückte ihr einen sanften Kuss auf die nackte Schulter, als sie stehen blieb, um einen Gast durchzulassen. Sie schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln.
Sobald ein Kellner Christl ein mit Gläsern gefülltes Tablett entgegenstreckte, griff sie nach zwei Prosecco-Kelchen, in denen die champagnerfarbene Flüssigkeit perlte, während ein paar Himbeeren dekorativ am Boden schwammen.
Sie hielt Tom ein Glas hin. »Zur Stärkung.«
Er nahm es widerwillig entgegen, erwiderte aber ihr Lächeln, als sie ihm zuprostete, einen Schluck trank und ihre Zunge sanft über die Lippen gleiten ließ, um ihm zu demonstrieren, wie lecker sie den Prosecco fand.
Doch er nippte nur leicht und verzog das Gesicht, als er die trockene Süße schmeckte. Wie gern hätte er jetzt ein kühles Helles angesetzt, den herben Geschmack des Hopfens auf der Zunge gespürt und die erfrischende Flüssigkeit die Kehle hinabrinnen lassen.
Endlich hatten sie Weißbauer erreicht, der ihnen nicht entgegengekommen war, sondern sich als Hindernis zwischen dem Ministerpräsidenten und Tom platziert hatte, um einem unverfänglichen Gespräch vorzubauen. Tom konnte sich denken, dass es Weißbauer ausgesprochen unangenehm wäre, in diesem Rahmen Zeuge einer offenkundigen Belobigung seines Hauptkommissars durch das Staatsoberhaupt zu werden.
Immerhin hatte Tom nach der Lösung seines letzten Falls eine persönliche Karte des Ministerpräsidenten erhalten, die er allerdings unverzüglich in der Schublade hatte verschwinden lassen. Doch seine Kollegin, Jessica Starke, die dabei gewesen war, als Tom die Glückwünsche geöffnet hatte, hatte es sich nicht nehmen lassen, Weißbauer bei passender Gelegenheit darauf hinzuweisen.
Später hatte sie Tom die Reaktion des Polizeipräsidenten haarklein und mit lebhaften Gesten beschrieben.
»Seine Augen haben sich zu Schlitzen verengt. In dem Moment hätte ich geschworen, dass er chinesische Vorfahren hat. Nimm dich in Acht vor ihm.« Weißbauer hatte Jessica genauso auf dem Kieker, wie sie als Berlinerin sagte, wie Tom.
Tatsächlich breitete Weißbauer jetzt nicht die Arme weit aus, um lautstark einen alten Freund zu begrüßen, wie er es mit viel Brimborium sicher getan hätte, wenn Tom eine wichtige, ihm nützliche Persönlichkeit gewesen wäre, sondern er beugte sich vor und flüsterte vorwurfsvoll: »Was, um alles in der Welt, machst denn du hier?«
Christl richtete sich kerzengerade auf, prostete Weißbauer zu und verkündete mit stolzer Stimme: »Tom nimmt die Goldene Bürgermedaille für Max entgegen.«
Weißbauers Augen lösten sich bei dem Wort »Goldene Bürgermedaille« von ihrem Dekolleté, weiteten sich ungläubig, um sich dann so zu verengen, dass Tom sich fragte, ob er ihn überhaupt noch sehen konnte. Mit dem hellen Haarkranz, den hohen Wangenknochen und dem flächigen Gesicht hatte er tatsächlich etwas Chinesisches.
Oder Russisches, dachte Tom, Ivan Maslov vor Augen, und überlegte, wie er Weißbauers Gesellschaft entkommen konnte.
Da ihm nichts anderes einfiel, beschloss er, das Gespräch auf den Wirtshausbrand zu bringen. »Was gibt’s Neues zur Brandstiftung?«
Weißbauer blies seinen Brustkorb in der Uniform auf und ließ den Blick süffisant lächelnd über die Anwesenden streifen. »Glaub mir, Tom, du bist der Erste, der erfährt, wenn wir eine erfolgversprechende Spur haben. Kollege Mayrhofer macht sich übrigens gut im SOKO-Team.«
Noch etwas, das Tom ganz und gar nicht passte. Ausgerechnet seinen Mitarbeiter und Widersacher Korbinian Mayrhofer hatte Weißbauer in die speziell zusammengestellte Wirtshaus-SOKO berufen.
Mayrhofer hatte es von Anfang an auf Toms Platz abgesehen und ihm nie verziehen, dass er den Posten nach seiner Rückkehr bekommen hatte, obwohl sich Mayrhofer die letzten Jahre voll ins Zeug legte und aus seiner Sicht viel besser dafür geeignet war.
Zwar hatte sich die Beziehung der beiden kurzfristig verbessert, nachdem Mayrhofer Tom vor drei Jahren bei einer Schießerei im Alten Hof vor einer Kugel bewahrt hatte, doch er war und blieb ein Erbsenzähler oder auf bayerisch Tüpferlscheißer.
Und damit hatte Tom wenig am Hut. Er mochte es einfach nicht, wenn man sich mit bürokratischen Kleinigkeiten aufhielt, wie Mayrhofer es am liebsten tat. Deswegen glaubte er auch nicht, dass Mayrhofers Präsenz im Team maßgeblich zu einer baldigen Klärung beitragen würde.
Christl schien zu ahnen, dass ihm die entsprechenden Worte auf der Zunge lagen, sie blickte ihn warnend an, doch Tom konnte sich nicht zurückhalten.
Er schüttelte den Kopf, dann brummte er gut vernehmlich: »Wenn er sich gut machen tät, dann gäb’s was Neues! Dem ist aber nicht so. Das kann nur eines bedeuten: Er macht sich schlecht. Grottenschlecht! Oder kann es sein, dass du die Brandstifter gar nicht finden willst?«
Christl legte schnell ihre Hand auf Weißbauers Unterarm, als sie sah, dass das Gesicht des Polizeipräsidenten rot anlief. »Soll ich dir auch a Glaserl Prosecco holen, Xaver?«
Der blaue Stoff von Weißbauers Uniform straffte sich, und die Nähte spannten sich, als der Polizeipräsident Luft holte und schließlich deutlich hörbar ausstieß. »Auch wenn wir befreundet sind – oder soll ich besser sagen waren? Pass auf, was du wann, wo und wie sagst, Perlinger. Deine Andeutungen können ganz schnell nach hinten losgehen. Meinst du etwa, ich weiß nicht, wie es um die wirtschaftliche Lage des Wirtshauses stand?«
Jetzt war es Christl, die den Busen hob und die Schultern straffte. Als ehemalige Restaurantleiterin hatte sie nach ihrem BWL-Studium mit Herzblut das Marketing des Unternehmens verantwortet und kannte sich mit den Zahlen bestens aus.
Sie ließ kein schlechtes Wort auf das Wirtshaus kommen. »Alles, was recht ist, Xaver, du weißt, wie sehr ich dich schätze, aber das geht zu weit! Du willst jetzt nicht wirklich andeuten, dass Max den Brand selbst gelegt hat, oder?«
Tom wusste, wie wütend Christl werden konnte. Er sah bereits das feurige Glühen in ihren geradezu blauschwarz werdenden Augen.
Bevor sie explodierte, war es besser, er übernahm den Part. »Lass uns Klartext reden, Weißbauer! Zeig mir, dass du willst, dass der Fall gelöst wird. Setz mich ein, und du kannst sicher sein, dass ich alles dafür gebe, ihn so schnell wie möglich zu lösen und alle falschen Verdächtigungen aus dem Weg zu schaffen.«
»Genau das ist der Grund, warum ich ihn dir nicht gebe, hast du daran schon einmal gedacht? – Nämlich, dass du befangen sein könntest? – Alle falschen Verdächtigungen!«, äffte Weißbauer ihn nach.
Dann beugte er sich vor und bellte los. »Und wenn sie nicht falsch sind? Und wenn du deinen eigenen Bruder überführen musst? Was ist dann, mei Liaba?«
Seine Stimme war laut geworden. Der Ministerpräsident, der im Gespräch war mit einem vollständig glatzköpfigen, gut gekleideten und verhältnismäßig jungen Mann im Anzug, den Tom nur von hinten sehen konnte, warf ihnen strafende Blicke zu, die auch Weißbauer nicht entgingen.
Doch bevor Tom antworten konnte, brummte Weißbauers Handy los.
Der Pressesprecher des Ministerpräsidenten drehte sich um. »Ja Kruzifix! Geh weida! Habt’s die Einladung nicht gelesen? Wir haben gebeten, die Handys während der Veranstaltung ausgeschaltet zu lassen.«
Ausnahmsweise hatte Tom sich daran gehalten, weil er auf keinen Fall gestört werden wollte, wenn er die Medaille entgegennahm.
Er grinste Weißbauer schadenfreudig zu, der, wie er nun verzweifelt in der engen Brusttasche seiner Uniform kramte und ein an den Pressesprecher gerichtetes »Das-muss-wichtig-sein« herauspresste, unter Beobachtung des Ministerpräsidenten stand und kein wirklich gutes Bild abgab.
Schließlich förderte Weißbauer sein Handy zutage, drehte sich um und nahm das Gespräch entgegen.
Seine Miene war finster, als er nach einer knappen Minute das Gerät an Tom weitergab. »Rufens dich jetzt schon auf meiner Nummer an?«
Es war Toms Kollegin Jessica Starke.
»Bist du noch in der Residenz?«, fragte sie atemlos.
»Ja, klar. Wir warten darauf, dass der Anfang beginnt«, konnte sich Tom eine launige Anspielung auf Karl Valentin nicht verkneifen.
»Fürchte, du hast jetzt was Besseres vor, als die Medaille für deinen Bruder entgegenzunehmen«, stieß Jessica zwischen zwei Atemzügen aus.
»Nun sag schon …« Tom dachte an die kleine Dankesrede, die er am Wochenende mit einiger Mühe dank Christls Hilfe verfasst und einstudiert hatte.
Sie hatte darauf bestanden, dass er sie komplett auswendig lernte, damit ihm ja nichts Falsches herausrutschte.
»Wir haben eine Leiche. Keine 100 Meter Luftlinie vom Kaisersaal entfernt im Köglmühlbach. Man hat dich nicht erreicht. Ich war gerade in der Nähe, als der Anruf kam. Auf einen Absacker im Tambosi. Jetzt lauf ich gerade vom Odeonsplatz durch den Hofgarten in Richtung Haupteingang der Staatskanzlei. Hätte der Kaisersaal Fenster zum Hofgarten, könntest du mir zuwinken.«
Sie machte eine Pause.
Tom warf einen Blick auf den Ministerpräsidenten, auf den jetzt ein Mitarbeiter zueilte, vermutlich, um ihm die gleiche Nachricht zu überbringen.
Dass es vor der Staatskanzlei, dem offiziellen Amtssitz des Ministerpräsidenten, eine Leiche gab, war äußerst brisant.
»Anzeichen einer Anschlagsgefahr?«, fragte Tom, bedacht darauf, keine Zuhörer zu haben. Sollte das nämlich der Fall sein, dann müsste die Gesellschaft sofort aufgelöst und der Ministerpräsident in Sicherheit gebracht werden.
Panik wäre das Letzte, was sie dann brauchen konnten.
»Sieht nicht so aus«, gab Jessica zurück. »Wohl eher ein Betrunkener.«
Tom überlegte, dann öffnete er seinen zweiten Hemdkragenknopf. »Gut, ich bin gleich da.«
Im Grunde war er froh, der Verleihung zu entkommen.
»Beeil dich. Ich mag heut nicht schon wieder die Erste am Tatort sein!«, rief Jessica und schien ihre Schritte gleichzeitig zu beschleunigen.
Das Temperament seiner rothaarigen, vollschlanken Berliner Kollegin wurde immer ungestümer, und sie strotzte inzwischen geradezu vor Selbstbewusstsein.
Das wollen wir mal sehen, dachte Tom.
Er beendete das Gespräch, gab Weißbauer das Handy zurück und informierte ihn kurz und knapp darüber, dass keine akute Anschlagsgefahr bestand.
Dann drückte er Christl, die bereits ahnte, was auf sie zukam, einen Kuss auf die Wange. »Danke, mein Schatz, du bist die beste Vertretung, die ich mir vorstellen kann.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, als ob es ihm bewusst gelungen wäre, sich der Veranstaltung zu entziehen.
Im Umdrehen raunte er ihr zu: »Lass dich nicht entführen, mein Schatz! Aber warte auch nicht auf mich. Es wird sicher spät!«
Bevor er den Vorraum betrat, überblickte Tom noch einmal den Saal. Während Weißbauer auf den Ministerpräsidenten zueilte, der äußerst beunruhigt wirkte, stand Christl verloren da.
Sie hat sich den Abend weiß Gott anders vorgestellt, dachte Tom mit schlechtem Gewissen. Und es wäre auch für ihre Beziehung wichtig gewesen, einen unbeschwerten Moment des Glücks zu erleben.
Die letzten Wochen waren mehr als aufreibend und eine wahre Zerreißprobe für ihre Beziehung gewesen. Auch nagte Christl nach wie vor an ihrer Kinderlosigkeit. Tom hatte sich damit abgefunden, seine Liebste war ihm wichtiger als alles andere. Doch sie schien es ihm nicht zu glauben. Die Verleihung hätte eine Art Wendepunkt zwischen Vergangenheit und Neuanfang sein sollen.
Er konnte nur hoffen, dass es eine weitere Chance gab.
In dem Moment trat der junge Glatzkopf, den er zuvor nur von hinten gesehen hatte, auf sie zu. Tom erkannte den Mann sofort, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Diese ausgeprägten ovalen Gesichtszüge mit der überlangen Nase riefen kaum positive Erinnerungen in ihm wach.
Sie gehörten zu Denis von Kleinschmidt, dem Büroleiter des Amtschefs im Bauministerium.
Von Kleinschmidt hatte in den letzten drei Jahren nicht nur eine beispielslose Karriere hingelegt, sondern war Tom auch in entscheidenden Momenten in die Quere gekommen, ohne dass Tom seine Rolle hätte zuordnen können.
Der Gedanke an von Kleinschmidt ließ ihn nicht los, als er die Treppenstufen hinabstürmte und in die überraschend kalte klare Oktobernacht hinauslief.
Er holte sich den ungewohnten Kurzmantel aus der Garderobe, den Christl ihm passend zu seinem Outfit organisiert hatte, und grübelte weiter über den Mann nach, während er über den Kaiser- und Apothekerhof lief.
Als er auf der Alfons-Goppel-Straße beim Max-Planck-Institut herauskam, war er sich sicher: Es gefiel ihm gar nicht, dass Denis von Kleinschmidt Kontakt zu Christl aufnahm.
Missmutig trabte er links in Richtung Hofgarten, um dann südlich an der Staatskanzlei vorbei zum Köglmühlbach zu gelangen.
Dabei nahm er sich vor, jede Aktivität dieses Mannes fest im Blick zu behalten, und seinen Freund Claas bei nächster Gelegenheit zu bitten, eine Verbindung von diesem von Kleinschmidt zu Ivan Maslov zu überprüfen.
Jessica konnte nicht sagen, dass ihr der plötzliche Einsatz ungelegen gekommen wäre. Zwar war Montag, und sie hatte einen langen Arbeitstag hinter sich, doch die Verabredung im Tambosi war von Anfang an ein Reinfall gewesen.
Der Tag war so anders verlaufen, wie geplant. Ursprünglich hatte sich Claas Bukowski gestern – kurz bevor sie todmüde ins Bett fallen wollte – überraschend mit der Info gemeldet, dass er eine Woche Urlaub hätte, die er gerne in München verbringen wollte.
Toms Düsseldorfer Freund wollte gegen 16 Uhr am Hauptbahnhof sein. Er hatte vorgeschlagen, den ersten Abend gemeinsam mit ihr zu verbringen.
Obwohl sie perplex gewesen war, dass er ausgerechnet sie angerufen hatte, hatte sie spontan zugesagt, ihn mit ihrem Mini vom Bahnhof abzuholen, was er erfreut angenommen hatte.
Die Frage, in welchem Hotel er diesmal übernachten würde, hatte er unbeantwortet gelassen, was ihr eine angenehm wohlige Gänsehaut über den Körper hatte rieseln lassen.
Mit der Organisation des kommenden Tages und vor allem der Frage beschäftigt, was sie anziehen sollte, hatte sie sich stundenlang den Kopf zermartert, im Bett gewälzt und vergeblich versucht, endlich einzuschlafen.