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»Ihre Schönheit verzaubert, ihr Glanz weckt Begierde«. Als Geschenk Ludwigs I. an seine Maitresse verführten die Juwelen schon im 19. Jahrhundert zu verhängnisvoller Liebe und tödlicher Leidenschaft. Tatsächlich taucht kurz nach der Schmuckpräsentation in der Hofstatt eine Leiche am Fischbrunnen des Marienplatzes auf. Hauptkommissar Tom Perlinger, bayerischer Sonnyboy mit amerikanischen Wurzeln, trifft nicht nur auf familiäres Chaos und seine Jugendliebe, sondern ausgerechnet sein Halbbruder Max wird des Mordes verdächtigt …
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Seitenzahl: 409
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Sabine Vöhringer
Die Montez-Juwelen
Kriminalroman
Der Hackerhaus-Krimi »Ihre Schönheit verzaubert und ihr Glanz weckt Begierde« so steht es auf der Einladung zur Vernissage, die Hauptkommissar Tom Perlinger mit seiner Schwägerin Hedi und dem Journalisten Hubertus besucht. Als teuerstes Geschenk Ludwigs I. an seine Maitresse verführten die Montez-Juwelen schon Mitte des 19. Jahrhunderts zu verhängnisvoller Liebe und tödlicher Leidenschaft. Und tatsächlich taucht kurz nach der Veranstaltung plötzlich eine mysteriöse Leiche am Fischbrunnen des Marienplatzes auf. Doch Tom, halbamerikanischer Sonnyboy mit bayerischen Wurzeln, will zunächst nicht glauben, dass es einen Zusammenhang gibt. Er ist gerade von einem Sabbatjahr nach München zurückgekehrt und noch nicht wieder im Amt. Da wird ausgerechnet sein Halbbruder Max, der Wirt des Hackerhauses, des Mordes an der »Fischbrunnenleiche« verdächtigt. Tom will Max’ Unschuld beweisen. Als er überraschend auf seine Jugendliebe Christiane trifft, wird alles noch viel komplizierter. Zumal sich die Spuren immer weiter verzweigen …
Sabine Vöhringer wurde in Frankfurt geboren und wuchs in der Nähe von Karlsruhe auf. Sie verbrachte nach dem Abitur ein Jahr in Südfrankreich und studierte anschließend in Pforzheim. Nach dem Diplom zog es sie in ihre Traumstadt München, wo sie 1997 die Agentur »Der blaue Punkt« gründete. Die Autorin ist verheiratet und lebt mit Mann, zwei Teenagern und Hund im Münchner Süden. Ausschlaggebend für ihre Krimi-Reihe rund um Hauptkommissar Tom Perlinger und das »Alte Hackerhaus« waren die früh geweckte Leidenschaft für spannende Kriminalromane, das Interesse an der bayerischen Geschichte und die Begeisterung für die Münchner Lebensart.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bilder von: © Sabine Vöhringerund der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen
Illustration Stadtplan München U3: Sabine Vöhringer
ISBN 978-3-8392-5352-6
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Tom Perlinger: Hauptkommissar, Halbbruder von Max
Max Hacker: Wirt des Hackerhauses
Hedi Hacker: Max’ Frau,
Tina Hacker: Tochter von Hedi und Max
Christiane Weixner, Christl: Restaurantleiterin
Hubertus Lindner: Freund der Familie Hacker, Journalist
Günther: sein Rauhaardackel
Benno Stadler: Geschäftsführer des Hackerhauses
Jessica Starke: Kommissarin
Korbinian Mayrhofer: Kommissar
Carsten Thromschatz: Juwelier und Kunstsammler
Marlene Thromschatz: seine Frau
Anian Hassler: väterlicher Freund der Familie Hacker
Jakob Hassler: sein Sohn
Bastian Hassler: Sohn von Jakob und seiner Frau Birgit
Horst Jacobi: Kompagnon von Thromschatz
Herbst 2013. Düsseldorf. Bahnhofsviertel.
Jetzt oder nie. Hauptkommissar Tom Perlinger versuchte, seinen Herzschlag und seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, während das Adrenalin durch seine Blutbahnen jagte. Er hasste blutige Gewalt. Aber etwas war anders als sonst. Ein Hinterhalt?
Er brauchte eine ruhige Hand. Sollte er zu einem Schuss gezwungen werden, musste der sitzen. Jetzt durfte absolut nichts schiefgehen, sonst wären die monatelangen Ermittlungen umsonst gewesen und die beiden Mädchen würden eines sicheren Todes sterben – wie schon die drei vor ihnen. Die Killer würden nicht vor weiteren Morden zurückschrecken, schon gar nicht, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten. Tom duckte sich, schlich mit schnellen Schritten durch den Hinterhof, die Pistole entsichert und dicht an den Körper gepresst, jederzeit zum Schuss bereit.
Der frühe Morgen war kalt und noch grau von den dunklen Schleiern der Nacht, die dagegen kämpften, sich dem Tag geschlagen zu geben. Tom wich einer offenen Konservendose aus, die aus einem der überquellenden Müllcontainer gerollt war und an deren Essensresten eine Ratte schleckte, die jetzt mit einem spitzen Schrei ins Dunkel huschte. Es roch nach Abfällen und altem Öl, in der Ferne fuhr ein Zug in den Bahnhof ein.
Sein Partner Claas musste hinter ihm sein, doch er konnte ihn nicht hören. Sie waren auf dem Höhepunkt ihrer Observation angekommen. Er sah sich nach Claas um. Wo steckt er nur?, fluchte Tom innerlich. Er hatte Claas darauf eingeschworen, dass sie bis zum Ende zusammenbleiben mussten. Wie konnte es sein, dass Claas ihn jetzt im Stich ließ, obwohl sie sonst ein fest zusammengeschweißtes Team waren?
Der unterdrückte Schrei eines Mädchens aus der Baracke, die keine 20 Meter von ihm entfernt stand, machte Tom deutlich, dass Eile geboten war. Er näherte sich, auf Deckung bedacht, den Fenstern mit den heruntergelassenen Jalousien, spähte durch eine Ritze. Einen der beiden Männer erkannte er im Halbdunkeln. Er war der Sohn des Drahtziehers, den sie schon seit Langem suchten. Der grobschlächtige Junge, laut seiner Akte seit Kurzem erst volljährig, kniete mit einem aufblitzenden Taschenmesser über einem blonden Mädchen, das gefesselt am Boden lag. Der andere Mann, kaum älter als sein Kumpel, hielt das zweite Mädchen fest umklammert, das sich heftig wehrte. Tom wusste, was die beiden Männer vorhatten, denn die Resultate ihrer Operationen hatten ihn, der einiges gewohnt war, bei der Obduktion auf dem Tisch der Rechtsmedizin das Grauen neu gelehrt.
Tom musste handeln. Während er die Chancen kalkulierte, den Grobschlächtigen mit dem Messer durch Scheibe und Ritze der Jalousie so ins Bein zu treffen, dass er außer Gefecht gesetzt wäre, zielte er und schrie: »Hände hoch, Polizei!«
Doch statt das Messer fallen zu lassen, hob der kräftige Junge es mit nach unten gerichteter Spitze in die Höhe, augenscheinlich mit der Absicht, es auf das Mädchen hinuntersausen zu lassen. Tom schoss.
Der Grobklotz brüllte auf, riss das schockstarre Mädchen wie einen Schutzschild vor sich, hielt ihm das Messer an die Kehle. Tom fluchte, dass er nicht höher gezielt hatte, wollte erneut abdrücken. Dann ging alles sehr schnell. Ein beißender Schmerz durchströmte ihn. Der spitze Gegenstand drang von hinten mit einem Schlag durch ihn hindurch, raubte ihm von einer Sekunde zur anderen den Atem. Seine Lunge explodierte. Die Kugel erwischte ihn im Rücken, trat an der Brust wieder aus. Ihre Wucht zog ihm die Beine unter dem Körper weg – gerade so, als wären sie Krümel, die vom Tisch gefegt wurden. Im Fallen nahm Tom Schreie, Flüche, Schritte und Schleifgeräusche innerhalb der Baracke wahr. Das Dröhnen eines Ferraris sagte ihm, dass die beiden Männer mit den Mädchen die Flucht ergriffen hatten.
Toms Hände krallten sich in den morastigen Herbstboden des Hinterhofs, seine Gedanken galten Claas. Wo war er? Sein Partner musste hier sein. Da sah er etwas Blaues vor der Barackentür auf dem Boden liegen. Der Zettel. Er erinnerte sich, wie Claas dieses blaue Blatt Papier im Auto aus der Jackentasche gefallen war, wie er es verstohlen zurückgesteckt hatte. Tom stemmte sich auf die Unterarme, versuchte sich aufzurichten, starrte auf den kreisrunden roten Fleck, der auf dem weißen Stoff seines Hemdes wuchs. Er nahm den süßlichen Geruch seines eigenen Blutes wahr, spürte, wie seine Zunge pelzig wurde. Der fahle Geschmack rohen Fleisches breitete sich in seinem Mund aus. Der Zettel. Er musste ihn haben. Tom kroch weiter, kämpfte sich mit letzter Kraft den Boden entlang. Seine Finger streckten sich zitternd, krallten sich um das Stück Papier. Er packte den Zettel, zog seinen Arm zurück, ließ seinen Fund in die Innentasche seiner Lederjacke gleiten. Geschafft. Er dachte an die Geschichte von Kain und Abel. Schlaglichtartig tauchten Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Sein Vater in Manhattan. München. Die Sendlinger Straße. Sein Bruder Max im Hackerhaus mit Hedi. Sein alter Freund Hubertus. Christl. Dann wurde es schwarz um ihn herum.
Sommer 2014. München. Innenstadt.
Sein stiller Kompagnon Horst Jacobi drückte ihm das faustgroße Päckchen in die Hand und ging ohne ein weiteres Wort. Diskret ließ Carsten Thromschatz den Gegenstand in seine Tasche gleiten. Er zwang sich, sich nicht ablenken zu lassen, sich auf seinen großen Abend zu konzentrieren, während das Packpapier in der Seitentasche seines dunkelblauen Seidenjacketts raschelte. Das Päckchen war locker geschnürt, als sei es eben noch geöffnet worden. Hastig ertastete er den Inhalt. Jacobi hatte die wertvollen Stücke unter dem Papier in weichen Stoff gehüllt, das konnten seine schweißfeuchten Finger fühlen. Welcher Teufel hat Jacobi geritten, mir unser kleines Geheimnis hier, kurz vor dem Beginn der Festivitäten vor Hunderten von Leuten, zu überreichen?,dachte Carsten. Er hatte gespürt, dass sie beobachtet worden waren.
Er nahm mit der anderen Hand ein weißes Stofftaschentuch aus der Brusttasche, tupfte sich den Schweiß von der Stirn, der, so schien es ihm, in Bächen über sein Gesicht rann. Gläser klirrten, Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr, Leute kamen, grüßten.
»Vielen Dank für Ihre Einladung.«
»Was für ein traumhaftes Ambiente.«
»Wie schön, Sie zu sehen.«
Carsten nickte gönnerhaft, erwiderte die Grüße, ärgerte sich über Jacobi. Sie hatten eine Abmachung, nach der er sich konsequent im Hintergrund zu halten hatte. Niemand wusste von seiner Existenz, und so sollte es bleiben. Jetzt stand der kleine Mann mit den kurz geschorenen Haaren und den Knopfaugen hinter der goldgerahmten Brille abseits der einzelnen Grüppchen und beobachtete ihn wie ein Skorpion, der auf den Moment des Angriffs lauerte.
Stimmen, Räuspern, Gelächter. Das Gemurmel steigerte sich zum Summen eines Bienenschwarms, wurde lauter und lauter. Carsten duckte sich, wartete auf die Attacke, den Todesstich. Heute Abend war er auf alles gefasst, denn er selbst misstraute dem Glanz, den sein Juweliergeschäft in der Hofstatt, der neuen eleganten Einkaufspassage mitten in der Münchner Innenstadt, ausstrahlte. Wie durch einen dicken Nebel hindurch hörte er die Gläser aneinanderstoßen, nahm den süß-herben Geruch des Champagners wahr, zu dem Kaviar- und Lachshäppchen gereicht wurden.
»Da bist du ja, Carsten!«
Er zuckte zusammen. Dr. Konstanze Mühlbauer, die Gastrednerin, die er für den heutigen Abend eingeladen hatte, streckte ihm die Hand entgegen. Er zwang sich, Haltung anzunehmen, sie formvollendet zu begrüßen. Mit gerade einmal Mitte 30 war Konstanze eine anerkannte Kunsthistorikerin und als leitende Kuratorin für die wechselnden Ausstellungen in der Residenz verantwortlich. Carsten blickte ihr tief in die Augen, nahm ihre Fingerspitzen auf, verbeugte sich, deutete einen Handkuss an, ohne ihren Handrücken mit den Lippen zu berühren. Im Vorfeld der Vernissage war eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, die seiner Stimme einen warmen Ton verlieh. »Et voilà: der Star des Abends.«
»Übertreib mal nicht. Die leiblichen Genüsse kommen in Bayern vor den kulturellen. Und dein Caterer ist hervorragend.« Sie biss herzhaft in ein Garnelenkanapee, kaute, schluckte, beide lachten.
Ihr Lächeln entblößte eine Reihe vorstehender Zähne. Trotz dieses Makels war es das Lächeln einer Frau, die um die Wirkung ihrer Person wusste. Eine Wirkung, die weniger auf der Attraktivität ihres Äußeren beruhte als vielmehr auf der ihrer Ausstrahlung. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit flachen Schuhen. Der Rock war eher zu lang als zu kurz, eher zu weit als zu eng, die Kostümjacke umhüllte sie steif wie eine Teppichrolle, statt weibliche Formen zu betonen. Mit der vom Stöbern in Archiven blassen Haut erinnerte sie Carsten an eine griechische Säule, deren korinthisches Kapitell durch das hochgesteckte lockige Haar vervollständigt wurde. Diesen etwas verstaubten Eindruck machte sie wett mit ihrem Charme, der von Bescheidenheit sprach und der für ihn als Hamburger durch ihre bayerische Sprachmelodie noch gesteigert wurde. Sie hatte sich darüber gefreut wie ein Kind, dass er ihr das Herzstück seiner Kunstsammlung, die Lola-Montez-Juwelen, für ihre Ausstellung über Ludwig I. in der Münchner Residenz zur Verfügung stellen wollte.
»Kompliment«, fuhr Konstanze fort. »Alles, was in München Rang und Namen hat, ist versammelt.«
»Ja, die Resonanz ist frappierend.« Er folgte ihrem Blick über die geordneten hellbeigen Stuhlreihen, denen gegenüber das Pult mit dem Mikrofon stand, das er gleich ergreifen würde. Der schwarze Marmor auf dem Boden, die hohen, mit Stuck besetzten Decken und die zahlreichen Spiegel, die die dezente Beleuchtung vielfach zurückwarfen, sorgten für ein elegantes Ambiente. Auch das Publikum war hochkarätig. Die meisten Herren trugen einen dunklen Anzug, die Damen größtenteils elegante Businessgarderobe, einige sogar wallende lange Kleider und opulenten Schmuck. Die Honoratioren der Stadt – Stadträte, Innenstadtwirte, Verbandschefs, Mitglieder des Kultusministeriums sowie die Chefredakteure der wichtigsten Tageszeitungen – begannen nun gewichtig, ihre Plätze in der vorderen Reihe einzunehmen.
»Kein Wunder, schließlich geht es um ein delikates Prunkstück in der bayerischen Geschichte.« Konstanze setzte ihre Brille auf.
»Trotzdem hätte ich nicht mit so viel Interesse gerechnet.«
»Die Vernissage wird viele Besucher in die Residenz locken, und der Preis der Juwelen wird in die Höhe schnellen.«
Konstanzes Pragmatismus traf den Nagel auf den Kopf. Genauso hatte er es ursprünglich geplant. Doch inzwischen hatten sich die Dinge geändert, und er war sich ganz und gar nicht mehr sicher, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Montez-Juwelen zu lenken. Er blickte auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten vor acht.
»In zehn Minuten also.« Carsten deutete eine galante Verbeugung an, nahm wieder ihre Fingerspitzen auf.
»Ein Hoch auf den Gentleman der alten Schule.« Sie lächelte wie eine Lady mit einem angedeuteten Nicken.
Gentleman. Das hörte er nicht zum ersten Mal. Ja, er war der alternde Spross einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie. Mit der hellen Haut und dem über Generationen eingeübten Habitus des hanseatischen Kaufmanns entsprach er dem Bild, das man sich von einem echten Gentleman machte. Das wusste er nur zu gut. Und er war tatsächlich ein Gentleman, genau wie sein Vater und sein Großvater und dessen Vater es gewesen waren. So durch und durch, dass – was keiner wusste – in einem seitlichen Fach seines Sekretärs, verborgen hinter ledernen Postmappen, eine winzige Duellwaffe lag, eine verrückte kleine Derringer, kaum zehn Zentimeter lang mit Ornamenten aus Silber und Perlmutt. Ein Erbstück seines Vaters, von dem der Zwilling fehlte. Eine einschüssige Vorderladerwaffe, die stets mit zwei bleiernen Rundkugeln im Kaliber 12 bis 17 Millimeter geladen war. Ja, er war ein Gentleman, einer, der nur zu gut wusste, wann es um Wunsch und Wirklichkeit, Recht und Unrecht, Ehre und Gewissen ging, und der bereit war, zu handeln, sobald sein Handeln gefragt war und jede Alternative keine Lösung bedeutet hätte.
Sein Körper verlangte nach einem Schluck kühlen Champagners. Wie auf Kommando kam tatsächlich ein Kellner mit einem Tablett gefüllter Gläser vorbei, in denen die hellgelbe Flüssigkeit in den langstieligen Kelchen verlockend perlte.
»Möchten Sie ein Glas?« Der Kellner hielt das Tablett hin.
Carsten griff nach einem Kelch, trank in großen Zügen. Kalt und bitter rann die Flüssigkeit seine Kehle hinunter, tat ihm so gut, dass er schnell nach einem zweiten Glas griff und es leerte.
Er blickte sich um, entdeckte Anian Hassler und seinen Sohn Jakob in der Menge. Er rang sich ein freundliches Lächeln ab. Die beiden Hasslers kamen auf ihn zu, der Sohn die exakte Kopie des Vaters. In einer herzlichen Geste streckte der alte Anian die Arme von Weitem zur Begrüßung aus, schuf einen Korridor, der zu Carsten führte.
Vater und Sohn waren mittelgroß, von rundlicher Statur und in Ausgehtracht gekleidet. Anian, der mächtige Brauerei- und Wiesn-König, strotzte trotz seines Alters vor Energie. Was für ein Charisma, dachte Carsten. Anian hatte in seiner Jugend einige Jahre im Ausland verbracht und beherrschte im Gegensatz zu seinem Sohn ein lupenreines Hochdeutsch. Jakob dagegen war schwer zu verstehen, wenn er sprach, was er selten tat, besonders wenn Vater und Sohn im Duo auftraten, so wie jetzt.
»Mensch, Thromschatz«, rief Anian. »Was für ein Erfolg! Ohne mich wärst du nie auf die Idee gekommen, den Hamburger Fischmarkt gegen das Münchner Oktoberfest zu tauschen, alter Junge! Noblesse gegen Rustikalität, Tee mit Rum gegen Weißbier und Helles, was?«
Anian bellte sein Lachen, klopfte Carsten auf die Schulter, dass der das Vibrieren seiner Rippen zu spüren glaubte. Trotzdem stimmten er und Jakob in das Lachen ein. Anian rückte sein Hightech-Hörgerät zurecht.
Carsten musste zugeben, dass ihn Anians Anruf mit dem verlockenden Angebot, sich in der Hofstatt einzumieten, im richtigen Moment erreicht hatte. Er tupfte sich die Stirn. »Da kann man sagen, was man will, ihr Bayern wisst zu leben.«
Jakobs Brust wölbte sich, auch Anians Brustkorb schwoll an. »Da könnt ihr Hamburger euch eine Scheibe von abschneiden.«
Carsten spannte den Rücken. Er hielt das Taschentuch umklammert, folgte dann dem Impuls, sich erneut über die Stirn zu wischen, die Schleier der Depression beiseite zu schieben, die ihn wie so oft von einem Moment auf den anderen überfielen. In der Tat war er immer schon fasziniert gewesen von der Gemütlichkeit, der Herzlichkeit und der Lebensfreude der Menschen hier unten im Süden Deutschlands. Das Rezept allerdings wirkte bei ihm nicht. Er kam gegen die Traurigkeit, die Unsicherheit und den Schmerz in seinem Inneren nicht an. Daran konnte selbst die bayerische Lebensart nichts ändern. Ob Anian das spürte?
»Champagner?«, fragte Carsten.
»Hast du auch ein Bier?« Anians krötenhafte Augen leuchteten grün auf.
Carsten sah sich nach dem Kellner um, bestellte. Er nickte Jakob zu. »Heute ohne Begleitung?«
»Mei, die Birgit, die hupft hoalt wiada umanand.« Jakobs Fischmund verzog sich zu einem schiefen Grinsen.
Carsten rümpfte die Nase. Das war Jakobs Art, von seiner Frau Birgit zu sprechen, die vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes Bastian eine bekannte Primaballerina am Staatstheater gewesen war und nun höchst erfolgreich ein Tanz- und Ballettstudio führte. Carsten mochte Birgit.
»Es hätte ihr heute bestimmt gefallen.«
Jakob zuckte mit den Schultern.
»Anneliese lässt sich auch entschuldigen. Migräne.« Anian leckte sich über die Lippen. Er sah sich um, wahrscheinlich nach dem bestellten Bier. Jakobs Blick glitt über das Publikum, blieb im Ausschnitt der blonden Schönheit am Stehtisch gegenüber hängen.
Ihr wisst beide, dass ich weder Birgit noch Anneliese gemeint habe, dachte Carsten.Für wen sind denn die Schmuckstücke, die ihr regelmäßig bei mir leiht? Selbst seine Frau Marlene hatte schon bemerkt, dass eheliche Treue nicht zu den Stärken der beiden Hasslers gehörte.
Carsten beobachtete, wie Jakob von einem Bein auf das andere trat. Daher war er nicht weiter überrascht, als der Junior aus den Tiefen seines bratschenhaften Körpers brummte: »Mei, nix für ungut. I muas geh! I hoab no wos zum Tua. Pfiat eich!«
Nachdem Jakob gegangen war, trat Anian näher an Carsten heran. Seine Stimme nahm einen Tonfall an, der vermutlich eine gewisse Vertrautheit wecken sollte. »Wie laufen die Geschäfte?«
Carsten griff sich an den Hals. Er konnte sich denken, was nun kommen würde. Er zückte sein Taschentuch. »Gut.«
Anian beugte sich noch weiter vor. »Denkst du an die Miete? Wir haben auch unsere Verpflichtungen.«
»Wird morgen angewiesen.«
Als ob Anian im Gegensatz zu ihm nicht in Geld schwimmen würde. Carsten sah einen Fussel auf seinem Ärmel, wischte ihn weg. Er verschränkte die Arme vor der Brust, wie um sich vor allen Störungen abzuschirmen. Typisch. Ausgerechnet jetzt muss er mich an seinen Mietwucher erinnern. – »Und an den weiteren Stapel unerledigter Rechnungen in der Schublade«, hörte er Marlene mit der Stimme seines schlechten Gewissens sagen.
Anian strich sich über das Kinn, schwieg aber.
Carsten holte Luft, lenkte ab. »Und selbst?«
Trotz der Nähe gab Anian vor, schlecht zu hören. Er kokettierte gerne mit seiner Schwerhörigkeit, verstand es hervorragend, diese körperliche Einschränkung geschickt ins Spiel zu bringen.
»Die Geschäfte«, wiederholte Carsten.
Anian hob das Kinn, antwortete lauter als nötig. Anian hatte die Anziehungskraft eines Magneten auf seine Umgebung. Er hielt Hof, genoss es, die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zu ziehen, als er verkündete, was längst alle wussten. »Das neue Wiesn-Bier steht. Die Hofstatt ist so gut wie vermietet. 30.000 Quadratmeter. Top-Marken. Adidas, Gant, Abercrombie & Fitch, Calzedonia. Um die Büroflächen schlagen sich Investmentgesellschaften, Rechts- und Steuerberatungskanzleien, Unternehmensberatungen. Was willst du mehr?« Er strahlte das Selbstbewusstsein eines erfolgreichen Unternehmers aus, schaute in die Runde, schien in den anerkennenden Blicken der Umstehenden zu baden.
»Du kannst dich glücklich schätzen, in Jakob einen so tüchtigen Nachfolger gefunden zu haben«, schmeichelte Carsten ihm.
»Ja, Jakob ist ein guter Junge. Und ich bin nach wie vor auch nicht aus der Welt.«
Beneidenswert, dachte Carsten. Der alte Patriarch hatte, wie mit so vielem, auch mit seinem Investment in die Hofstatt einen guten Riecher bewiesen. Er würde damit noch reicher werden, als er ohnehin schon war. Die weit verzweigte Hassler GmbH & Co. KG hatte erhebliche Anteile an der Investorengesellschaft. Die Bausumme hatte rund 325 Millionen Euro betragen, wie Carsten gelesen hatte. Ursprünglich hatte eine US-Bank das Objekt nach Fertigstellung kaufen sollen – für eine weit höhere dreistellige Millionensumme. Als diese im Zuge der Finanzkrise abgesprungen war, investierten private und einige professionelle Anleger.
Anian blickte auf seine Rolex, dann in die Runde.
Gut, dachte Carsten. Er wird sich gleich auf seinen Ehrenplatz zurückziehen.
Die Gespräche der Umstehenden drehten sich inzwischen um die erfolgreiche Entwicklung der neuen Hofstatt. Carsten sah seinerseits auf die Uhr. Drei Minuten vor acht. Er räusperte sich, um seine Stimmbänder von kratzenden Hemmungen zu befreien. Da verschränkte Anian – anders, als Carsten es erwartet hätte – die Arme hinter dem Rücken, hob den Kopf, stellte die Füße auseinander, sodass er breitbeinig Halt fand. Anian kniff die Augen zusammen. »Warum sehe ich hier eigentlich keine internationale Presse? Nur die üblichen Verdächtigen.«
Die steile Zornesfalte zwischen seinen Augenbrauen, die so unvermittelt entstehen wie auch wieder verschwinden konnte, vertiefte sich. Die Ader daneben trat violettblau hervor, seine Gesichtshaut glänzte tiefrot. Anians Sammelleidenschaft, sein Stolz auf alles, was bayerisch war, nahmen schon fast fanatische Züge an. Carsten hatte einmal erlebt, wie Anian grundlos von einem Moment auf den anderen aufgebraust war. In solchen Momenten sieht er aus wie Jabba vom Krieg der Sterne, dachte er. Unergründlich und fern.
»Es geht um einen echten bayerischen Kulturschatz«, fuhr Anian fort. »KULTURSCHATZ, hörst du! Danach muss sich die Kunstwelt die Finger lecken. Auf Knien betteln müssten die, um Einlass zu finden.«
Carsten griff in seine Jacketttasche, suchte nach seinem Taschentuch. Fast wäre ihm das Päckchen aus der Tasche geglitten. Er befürchtete, dass wieder alle Blicke auf sie gerichtet wären, was Gott sei Dank nicht der Fall war. Er gab seiner Stimme einen ruhigen Ton. »Wir haben die Einladungen weit gestreut. Die Anziehungskraft der Juwelen konzentriert sich aber wohl nur auf den bayerischen Raum.«
Anian starrte ins Leere, seine Zornesfalten glätteten sich. Carsten überließ ihn seinen Gedanken, froh, dass Anians Wut so schnell verflogen war, wie sie gekommen war.
Abgesehen von einem unschönen Zwischenfall mit Anian hätte es Carsten gerade noch gefehlt, noch mehr Presse im Haus zu haben. Erst jetzt konnte er es überhaupt wagen, zumindest in diesem regionalen Rahmen als Besitzer der Juwelen aufzutreten. Er hatte die Todesanzeigen studiert, sichergestellt, dass alle Spuren verwischt waren. Sein Vater hätte sein Vorgehen unter den gegebenen Umständen begrüßt. Und seine Mutter und Schwester bekamen hier, fernab der Hamburger Gesellschaft, nichts mit, was ein weiterer Vorteil war. Die Lösung seiner Probleme war zum Greifen nahe, hätte man meinen können. Allerdings suchte er krampfhaft nach einer Alternative, obwohl die Zeit gegen ihn lief. Er spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Ich brauche eine Alternative, dachte er. Eine Alternative, die eine wirkliche Lösung bedeutet. Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er Anians tiefe Stimme hörte.
»Ja, das würde man von uns Bayern nicht erwarten, dass wir so viel Kunstverstand besitzen, was? Als Preuße schon gar nicht!«
Themenwechsel. Carsten fasste den alten Patriarchen an der Schulter, zwinkerte ihm zu. »Ihr Bayern wisst nicht nur zu leben, ihr habt auch ein untrügliches Gespür für alles, was schön ist. Schau dir nur diesen König Ludwig mit seiner Lola Montez an. Ein Vollblutweib.«
Anian bellte sein Lachen. Der Kellner kam. Carsten griff ein Helles vom Tablett. »Hier kommt dein Bier.«
Anian trank einen kräftigen Schluck, wischte mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. »Das, und nur das ist ein Getränk und hält Leib und Seele zusammen.«
Carsten drehte den Ehering an seinem Finger. Dann sah er Konstanze, die sich aus einer Gruppe Kunstverständiger löste, von denen die meisten die übliche Halbbrille trugen. Er winkte sie lächelnd heran. »Darf ich dir Frau Professorin Konstanze Mühlbauer vorstellen, bevor sie ihren Vortrag beginnt?«
Anian spähte über den Rand seines Bierglases, zwinkerte mit den Augen und raunte Carsten zu, solange Konstanze noch außer Hörweite war: »Die mag zwar was für die Kunst, aber nicht für den Künstler sein.«
»Kommst du mal, Carsten?«, rief seine Frau Marlene. Sie wirkte irritiert. »Ein junger Mann möchte dich ganz dringend sprechen. Er sieht beängstigend aus.«
»Wirklich beeindruckend, was aus den ehemaligen Räumen der ›Süddeutschen‹ geworden ist.« Tom drückte die Serviette, die seine Schwägerin Hedi Hacker ihm gereicht hatte, fest gegen seinen Finger, um zu verhindern, dass sein Blut auf den Boden tropfte. Er hatte sich tiefer an den Glasscherben geschnitten als zunächst vermutet. Zu blöd. Aber immerhin hatte er verhindern können, dass jemand anderes verletzt worden war.
»Alles okay?« Hedi sah ihn mit besorgter Miene an.
»Passt schon.«
»Dann auf einen entspannten Kulturabend.« Hedi trank Champagner, Tom und Hubertus jeder ein Helles.
Nach einer Nacht im Flieger war Tom zwar keinesfalls in der Stimmung, lange auf dieser Vernissage zu bleiben, aber er hatte seiner Schwägerin den Wunsch, sie zu begleiten, nicht abschlagen können. Zumal ihr alter Familienfreund Hubertus Lindner angeboten hatte mitzukommen. Hubertus schätzte Dr. Konstanze Mühlbauer und erhoffte sich von ihrem Vortrag Hintergrundinformationen für einen Artikel.
»Sollen wir uns setzen?« Mit seinen über 60 Jahren war Hubertus zwar noch sehr drahtig und rüstig, doch er stand nicht gern lange.
»Nein, das lohnt sich nicht. Wir wollen ja nur kurz bleiben.« Tom fühlte sich wie erschlagen. Die 20 Stunden Flug mit zwei Stopps und acht Stunden Zeitverschiebung saßen ihm zwar in den Knochen, aber der Hauptgrund war, dass er in seinem aktuellen Zustand eine solche »Schicki-Micki-Veranstaltung« noch weniger ertragen konnte als sonst.
Die beiden anderen nickten.
»Ich bin auch ganz unruhig.« Auf Hedis Stirn lagen Sorgenfalten. »Ich hatte eben einen Riesenkrach mit Tina. Ich muss heute Abend unbedingt noch mit ihr sprechen.«
»Hoffentlich macht sie keine Dummheiten«, sagte Hubertus.
Hedis Gesicht nach zu urteilen gab es ernsthafte Schwierigkeiten mit dem Teenager, die Tom allerdings nicht überbewertete, da er die stetigen Sorgen von Hedi und seinem Bruder Max um ihre Töchter – und vor allem um Tina, die jüngere – kannte.
Alle drei nickten sich zu und beobachteten dann das Geschehen auf der kleinen extra aufgestellten Bühne. Der Kunstsammler und Juwelier Carsten Thromschatz schritt zu einer minimalistisch designten Glasstele mit schwarzem Sockel, über der ein Ölporträt der jungen Lola Montez hing. Oben am Rahmen angebrachte Halogenlämpchen beleuchteten das Gemälde, das die Geliebte von Ludwig I. im Dreiviertelprofil zeigte und zu einer Serie von Porträts gehörte, dessen bekanntestes Werk in der Schönheitengalerie im Schloss Nymphenburg hing. Während Lola Montez aber auf dem dortigen Gemälde hochgeschlossen gekleidet war und nur eine schlichte Brosche trug, zeigte sie hier Dekolleté, und ihren Hals schmückte ein funkelndes Juwelencollier. Es war mit Diamanten, Rubinen, Saphiren und Smaragden besetzt, die weiß, rot, blau und grün schimmerten. Geschickt setzten die Schmuckstücke die Erotik der dunkelhaarigen Tänzerin in Szene. Die Ohrgehänge fielen fast bis auf die Schultern, der Armreif umschloss das schmale Handgelenk. Schöne Frau und schöner Schmuck, dachte Tom bewundernd.
Der Juwelier und Kunstsammler Carsten Thromschatz griff jetzt nach einem Schlüssel, der an einer langen weißgoldenen Kette wie eine Uhr an seinem Gürtel baumelte. Tom beobachtete, wie der Mann den Schlüssel ins Schloss steckte, und der Glasdeckel der Vitrine mit einem lauten, durch das Mikrofon verstärkten Klacken aufsprang. Ihm fiel selbst auf diese Entfernung auf, dass die Hand des Juweliers zitterte.
»Oh.« Ein Raunen ging durchs Publikum. Alle Blicke richteten sich auf die Juwelen, die vom Deckenlicht glamourös in Szene gesetzt wurden.
Hubertus flüsterte: »Wie im Krimi.«
»Du mit deinen Krimis«, gab Hedi zurück.
Rechts und links der Stele traten nun zwei kräftige Sicherheitsleute in einschüchterndem Dunkelblau breitbeinig aus dem Hintergrund. Tom stutzte. Die Männer waren ihm vorher nicht aufgefallen. Thromschatz musste sie extra für diesen Abend engagiert haben. Rechnete er etwa damit, dass die Juwelen gestohlen werden könnten? Oder wollte er nur den Wert seines Kunstschatzes anschaulicher demonstrieren? Die beiden Sicherheitsleute verliehen dem Moment eine für alle greifbare Spannung, die selbst Tom überraschte. Das Publikum war fasziniert, und Tom konnte nicht anders, als die Dramaturgie der Inszenierung insgeheim zu loben. Der Juwelier hatte sich etwas einfallen lassen, um sein Publikum zu überraschen, was bei der Fülle an Veranstaltungen in München nicht einfach war.
Thromschatz nickte jetzt dem rechten Security-Mann zu. Dieser reichte ihm ein Paar weiße Handschuhe, die der Juwelier sich langsam, zum Publikum gedreht, einen nach dem anderen überstreifte. Er kontrollierte den passgenauen Sitz an jedem Finger. Dann hob er vorsichtig das Collier aus der Vitrine und präsentierte es lächelnd nach allen Seiten. Es war totenstill.
Nach einer guten Minute legte er das Geschmeide in die Glasvitrine zu den Ohrringen und dem Armband zurück, verschloss den Glasdeckel der Vitrine und wandte sich der Kunsthistorikerin zu. Er deutete eine Verbeugung an, hielt den Vitrinenschlüssel auf Gesichtshöhe und überreichte ihn ihr mit einer großzügig anmutenden Geste, während er ihr tief in die Augen blickte. Dann sprach er ins Mikrofon: »Sehr geehrte Frau Dr. Mühlbauer, liebe Konstanze, nun ist es soweit. Ich übergebe dieses Collier in deine verantwortungsbewussten Hände.«
»Wann soll die Ausstellung in der Residenz beginnen?«, flüsterte Hubertus Hedi zu, wobei er sich mit der Hand über die Stoppelhaare strich.
»Ich glaube, erst in zwei Wochen.« Sie zuckte die Schultern.
»Das habe ich auch gelesen.« Hubertus kramte in der Innentasche seines Jacketts nach Notizblock und Stift. »Komisch, dass die Übergabe jetzt schon stattfindet.«
»Vielleicht müssen die Juwelen für die Ausstellung noch aufbereitet werden.« Hedi blickte sich um, ob sich jemand durch ihr Gespräch gestört fühlte.
»Das ist symbolisch gemeint.« Tom legte seinen Arm auf Hubertus’ Schulter. »Oder witterst du etwa ein Verbrechen?« Der alte Freund war in dieser Beziehung unverbesserlich. Als passionierter Krimifan war Hubertus ständig auf der Suche nach Motiven und Rätseln, die sich zu einem Kriminalfall versponnen. Bei allen möglichen und unmöglichen Begebenheiten ging seine Fantasie mit ihm durch, stellte Querverbindungen her, konstruierte abstruse und skurrile Geschichten. Die Realität sah oft ganz anders aus, das wusste Tom aus jahrelanger Erfahrung. Trotzdem oder gerade deshalb hoffte er inständig, dass es Hubertus irgendwann einmal gelänge, sich seinen innigsten Traum zu erfüllen und die Zeit zu finden, einen Krimi zu schreiben. Nun drehte sich die Dame vor ihnen um, gab zu verstehen, dass ihre Gespräche störten. Hedi lächelte sie entschuldigend an.
Dr. Konstanze Mühlbauer, an die Tom sich mit einiger Sympathie erinnerte, weil sie ihn durch ihr kunstgeschichtliches Fachwissen bei der Aufklärung seines ersten Falles als Kommissaranwärter unterstützt hatte, löste sich nun souverän aus dem Publikum, trat an das Pult und hielt den Schlüssel wie eine Trophäe in die Höhe. Mit der anderen Hand zeigte sie auf das Bildnis hinter sich.
»Meine Damen und Herren, ich freue mich, Ihnen die legendären Juwelen der Lola Montez präsentieren zu dürfen. Ihre Geschichte ist eng verwoben mit den Höhen und Tiefen der Wittelsbacher, die wiederum Bayerns Geschichte so nachhaltig geprägt haben. Diese Juwelen dürfen wohl guten Gewissens als das wertvollste Geschenk betrachtet werden, das Ludwig I. seiner Geliebten Lola Montez vor rund 170 Jahren machte. Das Zeugnis einer leidenschaftlichen Liebe. Einer Liebe, die ihn auf dem Gipfel seiner Macht übermannte und die unter anderem dazu führte, dass er überstürzt abdanken musste. Meine Damen und Herren, diese Juwelen sprechen von Leidenschaft, aber auch von Trauer und Tod. Sie legen Zeugnis der Liebe ab, doch an ihren geschliffenen Kanten kleben auch Tränen und Blut, denn an ihnen haben sich Macht und Habgier unerbittlich gerieben.«
Konstanze hielt inne, setzte ihre goldgerahmte Halbbrille auf, legte ein Karteikärtchen mit Notizen auf das Pult, während das Publikum gespannt auf die nächsten Sätze wartete.
»Viele von Ihnen wissen sicher um die Bedeutung des Wittelsbachers. Lassen Sie mich für diejenigen, die sich in der bayerischen Geschichte nicht so gut auskennen, ein bisschen ausholen: Ludwig I. folgte seinem Vater Max-Joseph 1825 auf den Thron. Er war der Onkel von Prinzessin Elisabeth in Bayern: von Sisi, der späteren Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn. Seit 1810 war er mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen verheiratet. Die Hochzeitsfeier begründet die Tradition des Münchner Oktoberfestes, und die Theresienwiese ist nach seiner Gemahlin benannt, mit der er neun Kinder hatte.«
»Das wissen wir doch alles, Mädchen«, grummelte Hubertus enttäuscht.
»Du vielleicht. Aber es sind ja nicht alle im Raum so belesen wie du.« Hedi zog die Augenbrauen hoch und hielt den Zeigefinger an den Mund, um ihm zu verstehen zu geben, dass er ruhig sein solle.
»Zu Beginn seiner Amtszeit betrieb Ludwig eine gemäßigt liberale Politik. Gegen Ende überhörte er die Signale der Veränderung, fällte Entscheidungen ganz im Sinne eines Alleinherrschers und musste im Revolutionsjahr 1848 zugunsten seines Sohnes Maximilian abdanken.«
»Gut so.«
Hubi fällt es sichtlich schwer, sich zurückzuhalten, dachte Tom. Er ist nun mal das, was andere unter einem »Original« verstehen. Ein Grantler zwar, aber auch einer der Menschen, denen München den Namen »Stadt mit Herz« zu verdanken hat.
»Anian und Jakob sind auch da.« Hedi zeigte mit dem Kinn auf die erste Reihe. Zwischen Anian und einem anderen dicken Wirt saß auf den schmalen Stühlen eingezwängt eine gut aussehende schlanke Frau im kurzen engen Rock. Der Dickbauchige hatte offensichtlich Mühe, das dünne Champagnerglas in seinen Wurstfingern zu balancieren. Er nippte. Prompt verschluckte er sich, rang nach Luft. Die schicke Frau wand sich aus dem engen Sitz, klopfte ihm leicht auf den Rücken.
»Mei, der trinkt halt liaba a Bier«, kommentierte Hedi.
»Die Hübsche neben Anian muss Marlene Thromschatz sein.« Hubertus hob anerkennend die dichten Augenbrauen.
Schneewittchen höchstselbst, dachte Tom. Er stutzte. Oder doch eher die böse Schwiegermutter? Nein, die perfekte Verschmelzung der beiden,fand er.
Doch weitaus mehr als die Juweliersgattin interessierte ihn Anian. Er freute sich, Anian zu sehen, nahm sich vor, ihm später »Grüß Gott« zu sagen, auch wenn Hedi nicht begeistert sein würde. Aber er wollte nicht schon am ersten Abend vor den Mühlsteinen dieses unerfreulichen Familienkonfliktes klein beigeben. Anian war nach wie vor sein väterlicher Freund, egal, was Jakob Max angetan hatte. Außerdem wollte er wissen, was es Neues in München gab, und Anian war die beste Quelle für alles Wissenswerte.
Hedi hatte seinen Blick bemerkt. »Wenn es nach Max geht, ist die Familie Hassler Luft. Selbst Anian. Er wird es dir nie verzeihen, wenn du dich mit ihm triffst.«
»So schlimm?«
Hedi nickte. Dann hörten sie weiter dem Vortrag zu.
»Zeit seines Lebens unternahm Ludwig zahlreiche Reisen nach Rom und in die Toskana. Ludwig war ein begnadeter Bauherr, von dessen Schaffensdrang München noch heute profitiert. Als glühender Verehrer des antiken Griechenlands entstanden unter seiner Ägide Bauwerke und Straßenzüge wie die Ludwigstraße mit der Universität und der Ludwigskirche, die Feldherrnhalle, das Siegestor, die Staatsbibliothek, der Königsplatz mit Glyptothek, Propyläen und Antikensammlung, die Alte Pinakothek und die Bavaria-Statue auf der Theresienwiese, um nur einige zu nennen.«
Zustimmendes Flüstern als Zeichen des Stolzes auf die bauliche Schönheit der eigenen Stadt war zu hören.
»Einen Haufen Geld hat er verpulvert, der alte Ludwig, aber gelohnt hat es sich schon.« Hubertus konnte nicht zuhören, ohne selbst zu kommentieren.
»Jetzt sei halt mal still«, schalt Hedi den Freund.
Unverändert, dachte Tom. Nur der Streit mit den Hasslers ist neu. Zu blöd!Dieser Konflikt würde sich auch auf sein neues Leben in München auswirken.
»Neben dieser Schaffenskraft hatte Ludwig I. eine große Leidenschaft: seine Liebe zu Frauen. Sicher kennen Sie seine Schönheitengalerie im Schloss Nymphenburg.« Die Kunsthistorikerin zeichnete mit dem Laserpointer die anmutigen Konturen der Lola Montez nach.
Das sonstige Räuspern, Hüsteln und Rutschen war verstummt. Tom war so müde, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sorry, aber der Schmuck interessiert mich nicht. Anian winkte ihm zu. Hedi runzelte die Stirn.
»Wer also war sie, diese Lola Montez, die München bei Nacht und Nebel verlassen musste? Eine atemberaubende Schönheit, eine ›Femme fatale‹ wie man heute wohl sagen würde. Als sie 1846 nach München kam, eroberte sie den König im Sturm. Sie wurde seine Geliebte, lebte in einer luxuriösen Villa in der Barer Straße, erhielt einen Adelstitel und großzügige finanzielle Unterstützung. Der bayerische Monarch war ihr regelrecht verfallen, scheute kein Mittel, um in ihrer Gunst zu stehen. Hat sie seinen Untergang billigend in Kauf genommen? Erwiderte sie seine Gefühle? Oder wurden beide unabhängig voneinander von blinder Habgier und von Allmachtsfantasien geleitet? Hintergründe, denen wir in der Ausstellung auf den Grund gehen. Die exorbitanten Ausgaben für die Lola-Montez-Juwelen dürften, soweit uns heute bekannt ist, der letzte Anlass für Ludwigs Minister gewesen sein, ihn zu zwingen, die Affäre zu beenden und abzudanken.«
»Ein Luder war sie.« Hubertus wackelte mit dem Kopf.
»Du musst es wissen, Hubi, du kennst dich ja aus mit den Frauen«, zischte Hedi.
»Holla, die Waldfee!« Hubertus rollte mit den Augen.
Tom sah keinen der beiden an. Anian gab ihm mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie sich im Anschluss treffen sollten.
Plötzlich pfiff ein hoher Ton durch den Raum, so schrill, dass er Höhen erreichte, die direkt auf die Nervenspitzen trafen. Irgendjemand musste an einen Lautsprecher gestoßen sein. Das hatte das ausgeklügelte Tonsystem in Turbulenzen gebracht, was augenblicklich für Unruhe im Publikum und bei den Technikern sorgte. Wer freie Hände hatte, hielt sich die Ohren zu. Die Techniker liefen durcheinander, zogen Stecker, steckten andere um, bis der Ton schließlich verstummte.
Konstanze Mühlbauer warf einen fragenden Blick in Richtung des Juweliers und fuhr, als er nickte, fort, als ob nichts gewesen wäre: »Meine Damen und Herren, ich will Sie heute Abend nicht mit langen Ausführungen langweilen, ich kann Sie nur ermuntern, die Ausstellung in der Residenz zu besuchen und tiefer in die Historie einzutauchen. Wir haben die Schatzkammer für Sie neu geöffnet und werden Ihnen eine Reihe außergewöhnlicher Exponate zeigen, unter denen die Lola-Montez-Juwelen das absolute Highlight sind.«
»Davon kann man wohl ausgehen.« Hubertus klappte seinen Block zu und legte den Stift darauf.
Zurückhaltender Applaus erfüllte den Raum. Anerkennende Blicke trafen den Juwelier, auf dessen Stirn Schweißperlen glitzerten. Er und die Kuratorin schüttelten sich die Hände, lächelten für die Fotografen. Thromschatz tupfte sich den Schweiß von der Stirn, dann trat er ans Mikrofon.
»Entschuldigen Sie bitte die kleine Störung eben. Wenn Sie Fragen haben, meine Herrschaften, stellen Sie sie bitte jetzt. Nutzen Sie die Gelegenheit, bevor Sie sich wieder dem Buffet und Ihren Gesprächen widmen.«
Hubertus räusperte sich. Er hob den Finger, sah aus wie der in die Jahre gekommene Tim aus »Tim und Struppi« – ein Comic, den Tom noch immer liebte.
Er hat etwas entdeckt, dachte Tom. Er ist noch immer der streitbare Geist mit dem Ehrgeiz, die kleinste Unebenheit ans Tageslicht zu bringen, koste es, was es wolle.
Hubertus’ Mecki-Haarschnitt, die buschigen Augenbrauen und die grünblauen Augen, die alles und jeden durchleuchteten wie eine Röntgenbrille, gaben ihm etwas Vorwitziges, das durch die quer laufenden Stirnfalten unterstrichen wurde.
Hedi sah Tom alarmiert an, legte in einer gespielten Geste der Scham eine Hand schräg über die Augen, stöhnte. »Ich wollte einen entspannten Abend. Muss das sein?«
»Absolut.« Hubertus reckte den Arm noch höher.
Thromschatz bat ihn mit einem Fingerzeig zu sprechen.
Hubertus räusperte sich, dann fragte er mit seiner tiefen sonoren Stimme, mit deren Lautstärke er auch ohne Mikrofon mühelos im ganzen Raum zu hören war: »Ja, entschuldigen Sie bitte, Herr Thromschatz, eines würde mich jetzt schon interessieren: Wieso hat man eigentlich von diesen Lola-Montez-Juwelen noch nie etwas gehört? Und wie kommen Sie in den Besitz einer solchen historischen Rarität? Danach müssen sich doch Sammler auf der ganzen Welt die Finger lecken. Denn, mit Verlaub«, so setzte er nach und Tom sah den Schalk in seinen Augen, »als Nachfahr der Tänzerin kann ich Sie mir nicht vorstellen.«
Einen Moment lang herrschte absolute Stille, während das gesamte Publikum Hubertus anstarrte. Tom sah, dass Hedi sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Er wusste, dass sie solche Situationen hasste.
Dann wandten sich alle Blicke Carsten Thromschatz zu. Der kniff die Augen zusammen, ging die wenigen Schritte zum Mikrofon und antwortete mit fester Stimme: »Wenn der eine oder andere denken sollte, dass es einen verwandtschaftlichen Hintergrund gibt, und nun gar einen exotischen Tanz von mir erwartet, meine Damen und Herren«, er lächelte jovial, »dann muss ich Sie in der Tat enttäuschen. Nein, Sie haben natürlich recht, ich bin kein Nachfahre der berühmten Lola Montez. Der Kunstmarkt funktioniert wie alle Märkte auf der Welt, Herr Lindner, das sollten Sie als Journalist ja eigentlich wissen: nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Es geht um die richtigen Kontakte und den entsprechenden Sachverstand. Und zu Ihrer zweiten Frage: Die Juwelen waren viele Jahre in privatem Besitz und der Öffentlichkeit verborgen. Wenn Sie weitere Fragen haben, können wir Details im persönlichen Gespräch vertiefen. Frau Dr. Mühlbauer wird Sie selbstverständlich einen Blick in die Expertise werfen lassen.«
Hubertus schwieg, rieb sich das Kinn.
»Sieh mal einer an«, stellte Hedi fest, »er kennt deinen Namen. Warum wohl?«
Tom sah Hubertus an, dass er mit seiner Neugier rang, zu einem verbalen Schlagabtausch ansetzen wollte. Aber Tom hatte heute Abend keine Lust auf eine weitschweifende Diskussion, er wollte auf keinen Fall – kaum, dass er wieder in München war – im Mittelpunkt stehen und am nächsten Morgen Stadtgespräch sein. Denn früher oder später würde er Hubi hilfreich zur Seite springen müssen. Er wusste nur zu gut, wohin eine solche Diskussion führen konnte. So gesittet die Leute im Moment auch aussahen, so leicht konnte selbst in einem erlauchten Kreis wie diesem die Stimmung umschlagen, ein handfester Streit entstehen, denn Hubertus war ein Meister der Provokation.
Er legte seine Hand auf Hubertus’ Arm. »Lass gut sein, Hubi.«
Hedi nickte heftig. Hubertus’ Blick wirkte ungläubig, Tom befürchtete, der Freund würde sich auf ihn stürzen, doch der stutzte, seufzte und winkte ab. »Der Sache gehe ich auf den Grund, darauf könnt ihr wetten.«
Er hat Honig geleckt, dachte Tom.
Hubertus steckte Notizbuch und Stift in die Tasche, Hedi hängte ihr Jäckchen um, Tom trank sein Bier aus. Seine Blicke suchten Anian, doch er blieb bei Carsten Thromschatz hängen, dessen Augen fest auf ihn gerichtet waren. Keiner von beiden schaute weg. Der Moment dauerte zu lange, um harmlos zu sein. Schließlich sprach ein Gast Thromschatz an, er musste sich abwenden, um nicht unhöflich zu sein.
Er hat mich abfotografiert und in seinem inneren Archiv gespeichert, dachte Tom. Er kannte diesen Blick: So hatte ihn Iwan angesehen, der Drogenhändler, dessen Sohn er für lange Zeit hinter Gittern gebracht hatte.
Carsten riss sich los. Sonst kamen keine Fragen. Dieser Hubertus Lindner hatte den Finger in die offene Wunde gestoßen, die Aufmerksamkeit des Publikums genau dorthin gerichtet, wo er sie nicht haben wollte. Carsten hätte am liebsten gebrüllt wie ein verwundeter Stier in der Arena, so wütend war er. Nur dank seiner Disziplin und Selbstbeherrschung gelang es ihm, sich nichts anmerken zu lassen.
»Hubertus Lindner will es immer ganz genau wissen«, sagte Konstanze neben ihm. »Du kennst ihn?«
»Ich habe ein paar Artikel von ihm gelesen. Er pflegt eine ganz besondere Form des bayerisch-investigativen Journalismus.« Carsten zögerte, dann fragte er: »Wer sind die beiden neben ihm?«
Konstanzes Blick folgte seinem zu der Dreiergruppe, die im Gehen war. Carsten stellte fest, dass sie den Hünen mit den rotblonden Haaren, der einem Ranger aus dem amerikanischen Mittelwesten glich, der gerade ein Rodeo gewonnen hatte, nicht ohne Sympathie musterte.
»Die Hackerhaus-Wirtin und Tom Perlinger, ihr Schwager.«
»Die Wirtin ist mir bekannt, aber dieser Tom Perlinger sagt mir nichts.« Carsten hatte das unbestimmte Gefühl, dass eine Gefahr von dem Mann ausging. Lag es an den intelligenten Augen oder vielmehr an seiner Aura? In seinen Jeans, mit dem weißen T-Shirt, der schwarzen Lederjacke, den sportlichen Chucks passte er ebenso wenig zur Kleiderordnung des Abends wie Hedi Hacker mit ihrem bunten Dirndl. Und im Gegensatz zu den gestandenen Geschäftsmännern im Raum wirkte er jungenhaft und ungebunden wie ein Student im Vordiplom, obwohl er auch schon Mitte 30 sein musste.
Konstanze blickte ihn über ihre Brille hinweg an. »Mit Tom hatte ich einmal bei einem Fall zu tun. Er ist Max Hackers Halbbruder und bei der Polizei. Sehr nett. Ausgesprochen kompetent. Inzwischen ist er sicher Hauptkommissar. Er war einige Jahre in Düsseldorf. Soll bei einem spektakulären Drogenfall nur knapp dem Tod entronnen sein. Als der Fall gelöst war, hat er sich beurlauben lassen. War ein Jahr im Ausland. Sein Vater ist Amerikaner. Sehr reich, wie man sagt.«
Hauptkommissar. Carsten schluckte. »Und was macht er jetzt hier?«
»Keine Ahnung. Soll ich euch vorstellen? Dann kannst du ihn selbst fragen.«
»Nein. Nein danke.« Dieser Tom Perlinger sah aus wie ein polizeiliches Schwergewicht. Er wurde nun von der Rothaarigen aufgehalten, dieser Irene oder wie sie hieß, die von keiner Vernissage wegzudenken war und ganz offensichtlich mit ihm flirtete. Sicher hatte Perlinger tiefe Einblicke in die Strukturen, Gefüge und Machenschaften, die hinter Münchens schöner Fassade tobten, kannte alle wichtigen Leute persönlich. Ein Umstand, der ihm die Möglichkeit einräumte, andere Fragen zu stellen, andere Verbindungen herzustellen, als es einem Kommissar normalerweise möglich gewesen wäre. Genau das konnte Carsten jetzt, noch dazu in direkter Nachbarschaft, überhaupt nicht gebrauchen. Er fühlte, wie seine Schweißdrüsen begannen, auf Hochtouren zu arbeiten. Was für ein Dilemma! Er musste bald eine Entscheidung treffen.
Von allen Seiten drängten die Menschen nun in Richtung Buffet. Carsten sah, wie Perlinger die Serviette, die er um einen seiner Finger gewickelt hatte, in einen Mülleimer warf und gemeinsam mit der Wirtin auf Hubertus Lindner einredete. Kurz darauf verließen die drei die Veranstaltung. Am Ausgang wechselte Perlinger ein paar Worte mit Anian. Carsten beobachtete, wie Anian, der sich nicht vom Gastgeber verabschiedet hatte, gemeinsam mit seinem Sohn Jakob die Passage in Richtung Marienplatz davonschlenderte.
Da auch Jacobi bereits gegangen war, war Carsten versucht, sich zu entspannen, sich weiteren Gesprächen zu widmen, bis er bemerkte, wie sich eine dünne dunkle Gestalt mit schwarzen Locken und unnatürlich eckigen Bewegungen aus dem Schatten löste, in Richtung seines Büros schlich, davor stehen blieb. Carsten zuckte zusammen, denn er erkannte den fremdländischen Jungen sofort. Er war einer der drei, von denen er bei dem geheimen Treffen vor wenigen Stunden ein Foto gesehen hatte. Und genauso hatte Marlene den Jungen beschrieben, der ihn zuvor hatte sprechen wollen. Was wollte der von ihm? Vorsichtshalber beendete Carsten das Gespräch mit dem Bankdirektor, der ihn von den Vorteilen seiner Institution überzeugen wollte. Zum wiederholten Mal an diesem Abend griff Carsten nach seinem inzwischen klatschnassen Taschentuch.
Bemüht, nicht beobachtet zu werden, ging er an der dunklen Gestalt vorbei in sein Büro. Der junge Mann, der mit seiner olivbraunen Haut ein indisches Aussehen hatte und wenig älter als 18 Jahre sein mochte, folgte ihm nach wenigen Minuten und schloss die Bürotür hinter sich. Er fixierte Carsten mit glühenden schwarzen Augen und lehnte sich an den Schreibtisch. Mit den fettigen Haaren, die sich im Nacken zu speckigen Locken kräuselten, wirkte er wie ein verwahrloster Straßenköter, der kam, wenn er Beute witterte, und verschwand, sobald Gefahr drohte. Er hatte etwas Mitleiderregendes an sich. Wäre er nicht so abgemagert und ungepflegt, wäre er vielleicht sogar hübsch, dachte Carsten. Aber wie er da stand, war der Junge ein Fremdkörper, dessen Augen – zu Schlitzen verengt – darauf schließen ließen, dass sein Verstand fieberhaft arbeitete. Seine Mundwinkel verzogen sich, während seine Hände auf dem Schreibtisch nach dem Brieföffner tasteten.
Carsten bemühte sich, Dominanz auszustrahlen. Er schritt, trotz des Brieföffners in der Hand des Jungen, mit raumgreifenden Schritten auf ihn zu, ganz in der Annahme, dass der nun das Weite suchen würde. Doch im Gegenteil. So verhuscht der Junge eben noch ausgesehen hatte, so entschlossen klang jetzt seine Stimme, als er Carsten mit dem Brieföffner drohte und in klarem Deutsch mit leicht fremdländischem Akzent zu sprechen begann. »Es ist wichtig. Sehr wichtig. Es geht um das Päckchen. Keine Tricks, sonst fliegen Sie auf. Ich muss mit Ihnen reden. Alleine. Heute. Hier. Um Mitternacht.«
Zur Bekräftigung seiner Worte drückte der Junge den Brieföffner fest gegen Carstens Brust, sodass der die spitze Klinge deutlich spürte.
Ohne eine Antwort abzuwarten, warf der Junge den Brieföffner auf den Schreibtisch zurück und verließ das Büro. Der metallische Klang, mit dem der Brieföffner auf der polierten Holzplatte des Schreibtisches aufgeschlagen war, hallte in Carstens Ohren wider, während seine Augen der dünnen Gestalt folgten. Der Junge drängte sich – wieder ganz Schatten – an der Wand entlang zum Ausgang. Er verschwand in der Dämmerung, ließ Carsten zurück, den das aufkommende sommerliche Gewittergrollen mit großem Unbehagen erfüllte und vor dem mitternächtlichen Termin warnte. Dieser setzte sich an seinen Schreibtisch. Dachte nach. Als er wieder aufstand, wusste er, was zu tun war.
Larissa Stein, die blutjunge Jurastudentin und Freizeit-Burlesque-Tänzerin, hatte den Abend allein verbringen wollen. Bei offenem Fenster und ausgeschaltetem Licht lag sie spärlich bekleidet auf ihrem Bett, genoss das Treiben des Sommergewitters draußen in der Sicherheit ihres loftartigen Appartements über dem Viktualienmarkt. Trotz des Gewitters schaute sie auf ihrem Laptop ein Blockbuster-Video. Es musste gegen ein Uhr morgens sein, als sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, die Eingangstür geöffnet wurde. Schnell klappte sie den Laptop zu, stellte ihn auf den Nachttisch, zog die Decke über die halb entblößten schaumstoffweichen Brüste, stellte sich schlafend. Dabei war ihr klar, dass es ihn nicht stören würde, dass sie schlief.
Er ging lautlos zum Schrank, öffnete ihn, nahm seine Verkleidungsutensilien heraus, Krönchen und Zepter, Handschuhe und Wadenstrümpfe sowie eine lange, goldschimmernde stabile Kette. Dann drehte er die Beleuchtung des Aquariums an, das er ihr geschenkt hatte. Sie hatte es nie gewollt, doch er hatte darauf bestanden.