Das Mädchen mit dem Heiermann - Tanja Bogusz - E-Book

Das Mädchen mit dem Heiermann E-Book

Tanja Bogusz

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Beschreibung

Eine Großmutter, die Damenringkämpferin auf dem Kiez ist. Eine Mutter, die als Barfrau im Hotel Luxor arbeitet. Damit könnte der Weg der kleinen Tanja vorgezeichnet sein, doch ihre Lebensgeschichte bewegt sich jenseits der üblichen St.-Pauli-Klischees. Lebendig, poetisch und mit großer Intensität erzählt Tanja Bogusz vom Aufwachsen auf dem Kiez, von ihrer Oma Klasina und ihrer Mutter Barbara, von Aufstieg und Ausgrenzung, Durchhaltevermögen und Flexibilität, Überlebensmut und dem unbedingten Willen nach Bildung und Autonomie, der sie schließlich an die Universität führte. Eine inspirierende und anrührende Lektüre!

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Tanja Bogusz

Das Mädchen mit dem Heiermann

Großwerden auf St. Pauli

 

 

 

Über dieses Buch

Großwerden auf und mit St. Pauli hat viele Facetten: als Damenringkämpferin ein begeistertes Stammpublikum generieren, als Barfrau Menschen ins Erzählen bringen oder als Wissenschaftlerin gesellschaftliche Prozesse verstehen. Wie diese Aktivitäten mithilfe eines Heiermanns durch drei Generationen möglich wurden und was das mit dem Hamburger Kiez und seinen großen und kleinen Freiheiten zu tun hat, davon erzählt dieses Buch. Tanja Bogusz beschreibt ihre Familiengeschichte und ihr Aufwachsen auf St. Pauli ebenso charmant wie liebevoll und nimmt zugleich die analytische Perspektive der Soziologin ein. Sie zeichnet ihren Weg vom Kiez in die Wissenschaft mit einer Lebendigkeit nach, die fesselt und anrührt.

Vita

Tanja Bogusz ist habilitierte Soziologin, Anthropologin und Forscherin an der Universität Hamburg. Sie studierte in Paris bei Pierre Bourdieu, war Fellow an der New York University, hatte Gastprofessuren in Berlin, Paris und Kassel inne und ist Namensgeberin einer südpazifischen Seeschnecke. Bislang hat sie hauptsächlich wissenschaftliche Texte publiziert – dies ist ihre erste autobiografische Veröffentlichung.

Impressum

Zum Schutz der Personen und aus Respekt vor ihrer Privatsphäre wurden einige Namen in diesem Buch geändert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Abdruck des Liedtextes auf S. 7 mit freundlicher Genehmigung von Gold Musikverlag/Hanseatic Musikverlag

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Wolfgang Herold / picture alliance

ISBN 978-3-644-02096-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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Dieses eBook entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 (neueste Version des Barrierefreiheitsstandards für EPUB) und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Navigationspunkte und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut.

 

 

www.rowohlt.de

Für St. Pauli

Wir waren verliebt

Kam mir so vor

Und jetzt ist alles

So lange her

Die Nacht vorbei

Der Kiez gefegt

Und alles schleicht

Was sich bewegt

 

Ich möchte mich in die Ecke verkriechen

Aber hilft nicht

Ich könnte den ganzen Tag nur noch schreien

Aber nein

Da hilft nichts auf der Welt

Wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt

DIE STERNE

Prolog

Wieder in Hamburg. Nach zwanzig Jahren.

Leere Straßen. Queen Corona regiert die Welt und somit auch Hamburg. Aus meinem Fenster beobachte ich sie, wie sie nach der Ausgangssperre groß und stolz durch die Straße patrouilliert. Ihre bunte runde Krone blinkt und blitzt bei jedem Schritt.

Anderntags tauche ich in meine Stadt ein wie in ein fremdes Milieu, das mir zugleich hochvertraut ist. Längst vergessene Orte, Häuser und Gegenden materialisieren sich auf meinen kleinen Fahrradtouren. Nach und nach setzen sich Zeiten, Dinge und Orte zusammen. Alles ist auf null gestellt. Genau richtig für eine Spurensuche in die Vergangenheit.

Ich gehe zu Fuß nach St. Pauli. Das Virus erlaubt mir, den Arbeits- und Lebensort meiner Familie ganz ungeschminkt zu besichtigen. Ich komme in der Großen Freiheit an.

So eine kleine Straße, denke ich. Nicht ein einziger Baum. Fast kein Mensch.

Lakonisch guckt die Straße zurück. Ja, antwortet sie. Ich bin nicht schön. Eigentlich bin ich sogar ziemlich hässlich, und beschissen geht’s mir auch. Ist ja wohl kaum zu übersehen. Brauchst gar nicht so blöd zu glotzen. Na ja. Okay. Du darfst das. Bist ja von hier. Irgendwie.

So sieht’s aus, antworte ich.

Ich nähere mich dem Haus, das früher das Hotel Luxor gewesen sein muss. Zum ersten Mal schaue ich mir ganz bewusst den Ort an, an dem meine Mutter so viele Jahre arbeitete. Zwei Stockwerke, sechs erblindete Fenster. Nur die abblätternde pinkartige Farbe lässt eine ferne Verruchtheit erahnen. Das war einmal das Hotel Luxor.

Ich habe ein altes Schwarz-Weiß-Foto dabei. Es stammt aus dem Album meiner Oma. Jetzt ziehe ich es aus der Tasche. Es zeigt die Große Freiheit in den 1960er-Jahren. Ein Auftritt von Bill Haley wird auf einem Transparent angekündigt. Rechts ist das Ballhaus Jungmühle zu sehen. Das es ja schon lange nicht mehr gibt.

Ich vergleiche. Und da sehe ich etwas, das mir zuvor nicht klar war: Die Jungmühle und das Luxor lagen sich auf der Freiheit fast genau gegenüber.

So nah waren sie sich, meine Mutter Barbara und ihre Mutter Klasina. Ich gehe ihre Schritte nach. Es sind neun. Wie oft sind die beiden sie wohl gegangen? Was hatte sie angetrieben, in die eine oder andere Richtung zu gehen? Schnell, gehetzt in der Nacht? Müde am frühen Morgen, nach Feierabend? Meine Oma in Ringerstiefeln und meine Mutter auf hohen Absätzen? Ein paar lästige Touristen abwehrend? Oder Bekannte treffend und verweilend? Welche Geschichten haben sie sich hier erzählt? Wurden ihnen von anderen erzählt? Wie viele Zigaretten zündeten sie sich dabei an oder ließen sich von einem Portier, einem Bekannten oder Unbekannten Feuer geben? Wie ging es ihnen dabei? Waren sie belustigt, traurig oder wütend? Nüchtern oder betrunken?

Na, na, na, frotzelt die Straße. Jetzt werd man nicht sentimental.

Wegschlafen

Meine Bettdecke ist groß und gelb. Mama weist mich an, meine Arme ganz lang links und rechts an meinen Körper zu legen. Ihre Augen sind riesengroß, und sie riecht nach Schminke, Nikotin und Nitchevo. «Soooo …», macht sie, während sie mich einwickelt. Mit geschickten Handgriffen dreht sie mich leicht nach rechts und schiebt einen Teil der Decke unter meinen Körper. Um ihr die Arbeit zu erleichtern, mache ich mich steif wie ein Brett. Wir sind ein eingespieltes Team. Sie dreht mich nach links und schiebt die andere Deckenhälfte unter mich, beugt sich zu meinen Füßen und wickelt auch diese ein. Mumiengleich schaut nur noch mein siebenjähriges Gesicht aus der festen Verpackung. Unter der Deckenlampe schimmert Mamas langes dunkelblondes Haar. Ich schaue zum Vorhang vor dem mahagonibraunen Fensterrahmen, hinter dem es längst Nacht geworden ist. Mama gibt mir einen Kuss auf die Stirn, setzt sich auf die Bettkante und streicht mir ein langes Haar aus dem Gesicht. «Jetzt bist du in deinem Boot, mein Hase. Da kann dir nichts passieren.» Ihr beigefarbenes Oberteil mit dem tiefen V-Ausschnitt schimmert bei jeder Bewegung. Unter der Schminke lächelt sie mich mit ihrem Mama-Lächeln an. Ich liebe dieses Lächeln, aber ohne Schminke wäre es mir lieber. «Wird es spät?», frage ich. «Mal sehen», antwortet sie. «Wahrscheinlich schon. Jetzt schlaf. Ich muss los.» Sie steht auf, und ich sehe die knallrote, eng anliegende Satinhose. «Bis morgen.»

Sie macht das Licht aus und zieht meine Zimmertür ran, lässt sie aber wie immer einen Spalt offen. Ich liege im Dunkeln mit weit aufgerissenen Augen und lausche auf jeden ihrer Handgriffe. Ich höre, wie sie aufs Klo geht und sich danach noch kurz im Bad aufhält. Wie sie durch die Wohnung läuft, um irgendwelche Dinge einzusammeln. Wie sie Schuhe anzieht, die Jacke von der Garderobe nimmt, den Schlüssel, die Tasche. Die Klinke der Haustür herunterdrückt, hinausgeht und die Tür geräuschvoll hinter sich zuzieht. Die ersten Schritte auf der Treppe im Treppenhaus hinuntergeht. Ich höre in die Stille. Eine ganze Weile. Nachdem sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt haben, schließe ich sie und bewege mich keinen Millimeter. Alles soll genau so bleiben, wie sie es verlassen hat. Die ganze Nacht will ich so bleiben. Glatt und taub wie ein Brett. Oder wie eine Nussschale im Meer. Weg sein, solange sie weg ist.

Von der Elbe ertönt ein Nebelhorn.

Ich schlafe ein.

München, Pascha Club

Nachdem sie die Anzeige beim Arbeitsamt gelesen hat, macht sich Klasina schnurstracks auf den Weg nach Schwabing. «Sportliche junge Damen gesucht!», stand da, eine Adresse und die Telefonnummer von einem gewissen Frank Weber. Aber in ihrer winzigen Wohnung in einem zerbombten Bezirk am Münchner Stadtrand haben sie und ihre Familie kein Telefon. Telefone sind 1953 noch ein Luxusgut, das für sie in weiter Ferne liegt. Karls kleines Gehalt reicht gerade so, um über die Runden zu kommen.

«Sportliche junge Damen gesucht!» – Klasina erinnert das an ihre Zeit beim belgischen Zirkus. Zum Ende des Krieges waren sie und ihre kleine Familie, ihr Mann Karl und ihr Sohn Dirk, von den Niederlanden nach Belgien geflüchtet. 1948 kam dann ihre Tochter Barbara zur Welt. Zu Barbaras Geburt war sie noch einmal in ihre Heimatstadt Amsterdam zurückgekehrt. Klasina fühlte sich magisch angezogen vom Trapez und der Musik. Sie hatte als Kind ein wenig Ballettunterricht gehabt und liebte es zu tanzen. Vor allem der Stepptanz hatte es ihr angetan. Fred Astaire und Ginger Rogers waren ihre großen Vorbilder. Im Rampenlicht zu stehen und geschmeidige Bewegungen zu vollführen, machte ihr nichts aus, im Gegenteil. Ein paar Monate konnte sie auf diese Weise die Familie über Wasser halten. Von einer Trapez-Schaukel zur anderen zu schwingen und ihren schlanken Körper in akrobatischen Luftnummern vorzuführen, hatte ihr ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit gegeben. Sie liebte die «Oooh»- und «Aaahh»-Rufe der gebannten Zuschauer.

Was genau diese Annonce jetzt unter «sportlich» versteht, ist ihr egal. Sie hat Zutrauen in ihre körperlichen Fähigkeiten und keine Angst vor einer neuen Herausforderung. Dirk ist in der Schule, und Barbara konnte sie bei einer Nachbarin lassen. Karl ist arbeiten. Sie hat sich unter der Spüle die Haare mit Seife gewaschen, das kleine Loch in ihrem Mantel gestopft und sich die Wangen rot gerieben. Es ist ein kühler Frühlingsmorgen. Ihr Mann weiß nichts von ihrem Vorhaben. Sie atmet tief durch. Entweder es klappt, und dann wird er es sowieso erfahren. Oder es klappt nicht, und dann kann sie sich den Ärger auch sparen. Da er schon nicht wollte, dass sie Schauspielerin wird – «Dann wirst du eine Hure!», hatte er gerufen; dabei war er bloß eifersüchtig, war sie sich sicher –, konnte sie nicht einschätzen, wie er auf das hier reagiert. Zumal sie selbst noch nicht genau weiß, worum es eigentlich geht.

Als sie vor dem Gebäude steht, ist sie sich erst nicht ganz sicher. Pascha Club steht in geschwungenen Lettern über dem Eingang, darunter in kleinerer Schrift «Tischtelefon-Tanzpalast». Es hat etwas leicht Anrüchiges, aber auch Einladend-Charmantes. Die schwere Holztür ist verschlossen, und es gibt keine Klingel. Also klopft sie, so laut sie kann. Schließlich macht ihr ein Mann auf. Er stellt sich als Frank Weber vor. Hinter ihm stehen einige Frauen in sportlichem Aufzug. Schnell erfährt sie, worum es geht: Schau-Ringkämpfe. Es gefällt ihr auf Anhieb. Im Gegensatz zum Zirkus gibt es feste Gagen, und der Saal ist gut beheizt. Die Stimmung ist locker. Klasina sagt sofort zu.

Einige Wochen später steht sie mit ihren Kolleginnen am Ring. Der Pascha Club ist brechend voll. Die Gäste sitzen an kleinen Tischen mit bodenlangen Decken und Tischtelefonen. An einem der Tische sitzt ein kleiner älterer Herr mit Brille und Schreibheft. Er ist ohne Begleitung und ganz in seine Notizen vertieft. Wenn er nicht gerade schreibt, schaut er gespannt durch seine dicken Gläser und beobachtet das bunte Treiben. «Das ist Erich Kästner», flüstert Rudi Schumacher, Klasinas Trainer, ihr zu. «Erich … wie?», fragt sie. Sie hat den Namen noch nie gehört. «Ein Schriftsteller. Er ist jeden Abend hier», bemerkt Schumacher stolz. Es ist die Zeit, in der sich Kästner in Schwabing Inspirationen für sein Schreiben sucht.

Klasina weiß nichts von der Berühmtheit dieses Gastes. Es berührt sie kaum. Viel wichtiger ist ihr der Zusammenhalt unter den Ringerinnen. Klasinas Kolleginnen, allesamt sportliche Damen, kommen aus aller Welt. Sie tragen bunte Schärpen in den jeweiligen Landesfarben. Klasina überragt fast alle anderen. Ihre Schärpe hat die Farben Rot-Weiß-Blau für die Niederlande. Beim nächsten Tusch muss sie vortreten. «Uuund hiiieer …», brüllt Frank Weber ins Mikrofon, «kommt Klaaasinaaa, die holländische Fuuuuuurie …!» Tusch! Stolz und mit hochgerecktem Kinn betritt Klasina die Matte. Das Publikum, Männer wie Frauen, klatscht, pfeift und johlt begeistert. Jetzt tritt ihr Trainer ins Scheinwerferlicht. «Meine Damen und Herren! Halten Sie sich bereit, denn heute Abend bekommen Sie einen ganz besonderen Kampf …» Trommelwirbel, das Publikum lauscht gespannt. Ein paar fangen an hineinzubrüllen: «Margot Kübler gegen die aus Hannover!» – «Naaa, Moritz, die Moritz soll auf die Matte!» – «Ruhig Blut, liebe Freunde», dröhnt der Bass des Trainers in den Saal. Klasina tippelt von einem Bein auf das andere. Es ist ihr erster größerer Auftritt im Pascha, und so, wie Weber und Schumacher sie immer wieder fixieren, schwant ihr, dass die Ankündigung etwas mit ihr zu tun haben könnte. Sie hat insgesamt zehn Trainingseinheiten à eine knappe Stunde hinter sich – mehr Zeit konnte sie wegen der Kinder nicht aufbringen. Als Sekundantin durfte sie hier und da den erfahrenen Ringerinnen das Handtuch und Wasser reichen für drei Mark pro Abend. Beim letzten Training vor dem heutigen Tag hatten die beiden Männer immer wieder miteinander getuschelt und herumgefeixt. Sie weiß, dass sie schon mehr kann als die meisten anderen, die bereits seit Monaten hier sind. Aber jetzt spürt sie, dass es um mehr geht, als bei den Griffen und Würfen eine gute Figur zu machen. Sie ist gespannt wie ein Flitzebogen und zu allem bereit.

Karl weiß immer noch nichts. Statt ihrem Mann von ihrer neuen Arbeit im Rampenlicht und sportlichem Dress zu erzählen und mit seiner Eifersucht klarkommen zu müssen, wollte sie ihn lieber vor vollendete Tatsachen stellen. Wenn sie ein großes Bündel Geld mit nach Hause brachte, ließ er sich leichter umstimmen. Karl sehnte sich nach schicken Anzügen, einer schönen und geschmackvoll eingerichteten Wohnung, einem Plattenspieler, ja, er träumte sogar von einem Auto. Er liebte den Glanz und die Bohème. Als junger Mann war er Mitglied der Swing-Jugend gewesen, die dann von den Nazis verboten wurde. Lag das Geld erst einmal auf dem Tisch, konnte er es nicht mehr ablehnen – das wusste sie.

Während ihr all das durch den Kopf schießt, setzt Frank Weber seine Show fort. «Ein besonderer Kampf!» Klasina überlegt. Was kommt jetzt? «Steffi Heindl – die Europameisterin!», ruft Weber triumphierend ins Mikro. «Oooh …» Die Begeisterung des Publikums steigert sich. «Steffi Heindl?», flüstert Klasina fragend ihrer vietnamesischen Kollegin Hoa zu. In der Umkleide ist ihr niemand Neues begegnet, Weber und Schumacher haben die Kämpferin selbst vor der Stammbesetzung verheimlicht. Hoa reckt sich zu Klasina hoch. «Europe Champion.»

Unter tosendem Applaus betritt Steffi Heindl den Saal. Sie ist eine große, kräftige Frau mit aufgedrehten, dicken blonden Zöpfen, muskulösen Beinen und Armen. Ihr Gang ist federnd, trotz ihrer Statur. Ihre wasserblauen Augen suchen und finden Klasina. «Heute bieten wir Ihnen einen ganz besonderen Kampf, meine Damen und Herren», zieht Weber wieder die Aufmerksamkeit auf sich. «Denn unsere Klasina hier», er zeigt auf sie, und das Spotlight nimmt sie ins Visier, «ist nicht nur eine holländische Furie.» Er wartet auf den einsetzenden Spannungswirbel. Die Gäste schauen gebannt auf Klasinas stolze Gestalt. «Sie ist auch die holländische Landesmeisterin!» Wieder großes Hallo im Publikum. «Sie erleben heute eine Premiere!» Der Trommelwirbel wird lauter und: Tusch! «Die holländische Meisterin gegen Steffi Heindl, die Europameisterin!», brüllt Weber. Der Saal tobt. Klasina stockt der Atem. «Geben Sie jetzt Ihre Wetten ab. Wir sehen uns in einer halben Stunde. Viel Vergnügen!» Der Gong ertönt, die anderen Frauen stoben auseinander. Klasina ringt um Fassung. Das war nicht abgesprochen.

Da holt sie der Chef zu sich. Bevor sie irgendetwas sagen kann, zeigt er diskret auf einen feinen Herrn an einem der Tische ganz nah am Ring. «Da ist ein Holländer, der will dich sprechen. Geh mal zu ihm.»

Der besagte Mann ist eine elegante Erscheinung. Er hat die Haare im Stil der Zeit glatt nach hinten gekämmt, ein markantes Gesicht, trägt silberne Ringe und einen maßgeschneiderten Anzug. Er ist ohne Begleitung und ungefähr in ihrem Alter. Vor ihm steht ein Dry Martini. Er bedeutet ihr, sich dazuzusetzen. Er begrüßt sie auf Niederländisch. «Ik ben Cees. Cees van Amsterdam», sagt er. «Angenaam», antwortet sie höflich und nimmt Platz. Er schaut ihr fest in die Augen. «Ich habe dich gesehen», versetzt er. «Aber ich bin gar nicht die Nederlandse …», hätte Klasina fast gesagt; bricht dann aber ab. Besser Pokerface bewahren. Das hatte Weber ihnen eingebläut – keine Geschäftsgeheimnisse verraten. Cees hält den Blick. «1942. In der Oosterparkstraat.»

Klasina wird es heiß und kalt. Wer ist das? Was will er? «Ich habe gesehen, wie sie dich mitgenommen haben, die verfluchten Moffen. Warum bist du überhaupt hier in München?» Sein Blick brennt. Klasina senkt den Blick. Sie weiß darauf nichts zu sagen. Es ist alles so kompliziert. «Hör zu», fährt Cees fort. «Du bekommst 50 Gulden Prämie von mir, wenn du gewinnst. Mach sie verdammt noch mal fertig!»

Der Kampf der holländischen Furie

50 Gulden Prämie, denkt Klasina. Sie kann es nicht fassen. Zugleich steigen längst vergessene Erinnerungen in ihr hoch. Amsterdam. Oosterparkstraat. Ihre Familie. Der übergriffige Stiefvater. Ihre einsamen Mahlzeiten auf dem dreckigen Dachboden, während der Rest der achtköpfigen Familie unten ohne sie aß. Weil sie ein «Bastard» war. Ihre Reise nach Deutschland, zum freiwilligen Arbeitseinsatz. Später die Flucht zurück in die Niederlande, weil Karl sich dem Dienst in der Wehrmacht verweigert hatte. Wie sie in Amsterdam untertauchten mithilfe ihrer Tante Marie. Wie ihre Stiefbrüder, die sie mit aufgezogen hatte, Karl und sie an die Deutschen verrieten. Die erneute Flucht. Belgien, Frankreich. Der Hungerwinter 1944. Dann, irgendwann, München. Noch einmal zurück nach Amsterdam für die Geburt von Barbara. Und nun sitzt dieser fremde reiche Landsmann vor ihr. 50 Gulden! Das ist ein Haufen Geld. Wenn sie so viel Geld nach Hause bringt, kann Karl ihr die Arbeit hier nicht mehr verbieten.

Aber wie soll sie das machen? Sie überlegt blitzschnell, während Steffi Heindl sich schon auf den Weg in ihre Garderobe macht, flankiert von zwei Trainern. Sie reichen ihr frische Handtücher und pudern ihre Stirn. Ihre deutsche Gegnerin strahlt Kraft und Siegesgewissheit aus.

Sie kann gegen Heindl nicht gewinnen, akrobatische Begabung und gutes Aussehen hin oder her. Aber Cees’ Worte haben bei ihr mindestens so viel Eindruck hinterlassen wie die winkende Prämie. Sie hat eine Idee und folgt wie immer ihrer Intuition. Betont lässig geht sie zu Steffi Heindls Garderobe und klopft an die Tür. «Herein!», herrscht es von innen.

In der Garderobe setzt sich Klasina rücklings auf einen freien Holzstuhl und schaut ihrer Gegnerin direkt in die Augen. «Was willst du?», fragt Heindl. Klasina drückt ihren Rücken durch und bedeutet ihr, dass sie allein mit der Europameisterin sprechen will. Steffi schickt die Trainer raus. Klasinas Deutsch ist auch nach einigen Jahren im Land immer noch nicht fließend; der holländische Akzent unüberhörbar. Aber das ist ihr egal. Gestenreich unterbreitet sie Steffi einen Handel: Steffi schlägt sie nach ein paar Runden k.o. – technisch korrekt –, und dann teilen sie sich die Prämie, also die von den Zuschauern. Steffi lehnt sich zurück, taxiert sie und überlegt.

Was Klasina Steffi nicht sagt, ist, dass sie auf diese Weise immerhin die Hälfte der Zuschauerprämie bekäme. Heindl, das hatte ihr Hoa noch zugerufen, ist für ihre brutale Technik bekannt, weshalb sie beim Publikum nicht immer beliebt ist. Heindl hat zwar den Europatitel, aber kein Stammpublikum hier – sie ist noch nie im Pascha aufgetreten. Klasina ihrerseits hatte zwar auch noch keinen Kampf, aber bei ihren Auftritten als Sekundantin schon manche Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Trinkgeld einheimsen können. Die Deutschen staunen über ihre Ähnlichkeit mit der von ihnen verehrten Zarah Leander – ihre dichten dunklen Haare, die großen dunklen Augen und diese tiefe Stimme! So könnte Klasina, wenn sie ihr Aussehen und ihr schauspielerisches Talent ausspielt, trotz Niederlage noch eine Sympathieprämie bekommen. Cees wäre zwar nicht froh, würde aber mitkriegen, dass hier nicht viel zu machen ist. Bestimmt würde auch er eine kleine Sympathieprämie zahlen. Verlieren wird sie ohnehin. Doch so gibt es noch eine Chance, nicht ganz leer auszugehen und die Matte mit halbwegs erhobenem Haupt zu verlassen.

Von all diesen Gedanken ahnt ihre Gegnerin nichts. Heindl hat ganz andere Sorgen. «Naa, das ist ja kein echter Kampf», versetzt Steffi. «Naa, naa, des mach i net. So ein Rumgewurschtel, mit so einer …», sie wirft Klasina einen boshaften Blick zu, «… so einer holländischen Nullnummer wie dir!» Klasina schaut sie nur an. Na warte, denkt sie. «An diesen Kampf wirst du dich noch lange erinnern», sagt sie zu Heindl. Der niederländische Akzent nimmt ihren Worten zwar die Schärfe, doch ihr Blick ist umso vernichtender. Klasina schiebt den Holzstuhl zur Seite und geht ebenso lässig, wie sie hereingekommen war, wieder hinaus ins Lokal.

«Gong!» Die Wetten sind abgeschlossen. Hoa und Schumacher bedeuten ihr mit Handzeichen, wie es steht: 30 zu 70 für Steffi Heindl. Immerhin. Es hätte noch schlechter für Klasina ausfallen können. Die Frauen bauen sich auf, der Ringkampfrichter stellt sich zwischen sie, und nach dem nächsten Gong geht’s los.

Zwei Runden hält Klasina aus – das ist viel für eine blutige Anfängerin. Auch Steffi Heindl ist angeschlagen. Bei ihrem Nelson-Griff hat Klasina ihrer Gegnerin fast den rechten Arm ausgekugelt. Beim darauffolgenden Sturz, bei dem Klasina und auch das Publikum kurz den Atem anhielten – vielleicht bleibt Heindl liegen, und sie kann sie doch schlagen? –, hat sich Heindl das linke Bein verstaucht. Klasina hat es ihr nicht leicht gemacht, geht aber selbst nun mit dicken blauen Augen von der Matte. Heindl hat gewonnen. Erwartungsgemäß weigert sie sich, wie sonst üblich hier im Pascha, die Gage zu teilen. Die Kolleginnen haben jetzt schon einen Brass auf Heindl. Klasina bekommt 30 Mark Sympathieprämie vom Publikum.

Sie geht in die Küche und legt sich zwei Scheiben rohes Fleisch auf die Augen. Nachdem die Schwellung einigermaßen zurückgegangen ist und sie sich draußen wieder sehen lassen kann, geht sie direkt zum Tisch von Cees. «Hör mal zu», sagt sie, während sie sich die Juno ansteckt, die er ihr angeboten hat, «ich war heute das erste Mal auf der Matte.» – «Wat?!», antwortet er. «Godverdikki, warum hast du mir das nicht gesagt?» Cees zieht die Augenbrauen hoch und schaut sie respektvoll an. «Du hast ja Courage, Donnerwetter. Was für ein tolles Mädchen!», ruft er bewundernd aus. «Dafür hast du dir jetzt aber etwas verdient.» Er zieht ein paar Scheine heraus und überreicht sie Klasina.

Mit den 30 Gulden von Cees plus den 30 Mark Sympathieprämie und einem Piccolo intus will sich Klasina in die Garderobe begeben, da winkt der Schriftsteller ihr zu. «Lassen Sie sich nicht unterkriegen», ruft Erich Kästner durch den Saal. «Sie haben sich tapfer geschlagen – ich hoffe, wir sehen bald mehr von Ihnen!» Weber und Schumacher reiben sich die Hände. Ihr Plan ist aufgegangen. Der schöne Cees verlässt beschwingt den Saal – und das Land. Klasina sieht ihn nie wieder.

Von nun an ist Klasina jeden Abend auf der Matte. Wie sie vermutet hatte, gab Karl nach, als sich die Geldscheine auf ihrem Küchentisch häuften. Die Kinder bleiben bei ihm oder kommen bei Nachbarinnen unter.

Das Pascha wird berühmt. Jedes Wochenende kommen immer mehr Gäste und reißen sich um die Plätze. Klasina wird zur Hauptattraktion angesichts ihrer Ausstrahlung, ihres akrobatischen Geschicks, ihrer sportlichen Fairness und ihrer komödiantischen Begabung. Immer wieder kommt aber auch die städtische Sittenpolizei zu Frank Weber und versucht, das Lokal «wegen unsittlichen Verhaltens» zu schließen. Die Frauen demonstrieren vor dem Münchner Rathaus und proklamieren: «Wir üben einen ehrenwerten Beruf aus! Wir bringen den Menschen Amüsement und Zerstreuung in schwierigen Zeiten. Die Damenringkämpfe müssen bleiben!» Klasina steht an vorderster Front. Niemals wird sie sich von wem auch immer in die Knie zwingen lassen, das hat sie sich ein für alle Mal geschworen. Die Frauen werden von zahlreichen Münchner Bürgern und Stammgästen aus aller Welt unterstützt. Die Zeitungen berichten, und der Ruf der streitbaren Ringerinnen schallt durch die Republik.

Dieser Ruf erreicht schließlich eines Tages auch die Freie und Hansestadt Hamburg. Es dauert nicht lang, bis ein Mann das Pascha betritt, der das weitere Schicksal Klasinas entscheidend prägen wird: Willi Bartels – der «König von St. Pauli».

Ankunft auf St. Pauli

Das Angebot war einfach zu gut, um es auszuschlagen. Willi Bartels, dem inzwischen fast alle Etablissements in der Großen Freiheit auf St. Pauli gehören, hatte ihr die doppelte Gage vom Pascha, Kost und Logis geboten. Frank Weber hat noch ein bisschen gepokert, konnte aber nicht mithalten. Karl und die Kinder waren natürlich nicht begeistert. Aber gegen eine feste Gage von 100 Mark die Woche plus Kampf- und Sympathieprämien konnte auch Karl nichts einwenden. Zumal er unbedingt einen neuen Mercedes haben will, und den kann er sich von seinem Verdienst als auszubildender Ingenieur bei Siemens nicht leisten. Sie einigten sich auf vierzehn Tage Hamburg, vierzehn Tage München, immer im Wechsel. Monatsurlaub sollte es auch geben, im Sommer, wenn die Touristen ausbleiben. Zu den zwölfstündigen Zugfahrten gibt Bartels noch was dazu. Ein Teil des Geldes würde für ein Kindermädchen in München draufgehen, aber es bliebe genug übrig.

Klasina ist nun seit drei Tagen in Hamburg und hat das Gefühl, es wären schon drei Wochen. Sie hat sich sofort in die Stadt verliebt. Bartels spendierte ihr und einigen anderen neuen Kolleginnen am ersten Tag nach ihrer Ankunft im Hauptbahnhof eine Hafenrundfahrt und ein Abendessen in der Großen Freiheit – im berühmten Hippodrom. Auch ein Zimmer hatte er ihr schon besorgt – in der Schmuckstraße, eine kleine bunte Straße, die von der Großen Freiheit abgeht und in der einige Chinesen ihre Geschäfte haben. «Für den kurzen Arbeitsweg», lachte der Geschäftsmann. Einen Vertrag hat sie nicht. «Bei mir gilt der Handschlag genauso viel wie ein Vertrag, das kann Ihnen hier jeder bestätigen», meinte Bartels. Klasina vertraut ihm, er macht einen soliden Eindruck. Mit dem Wohnungsschlüssel drückt er ihr ein silberglänzendes Fünfmarkstück in die Hand. «Hier, Frau Ehlert. In Hamburg nennen wir das einen Heiermann. Den kriegen die Seeleute, wenn sie zum ersten Mal auf einem Schiff anheuern. Und für unsere Freudenmädchen ist er ein Glücksbringer. Behalten Sie ihn. Er wird auch Ihnen Glück bringen. Sie können hier viel Geld verdienen!»

Ein Heiermann, denkt Klasina. Sie wickelt die Münze in ein kleines Tuch aus dunkelbraunem Samt, das ihre Mutter ihr schenkte, als sie Amsterdam verlassen hatte. Beides verstaut sie in einer Blechdose im Küchenschrank. Sie rührt sie jahrzehntelang nicht an.

Und tatsächlich: Bartels sollte recht behalten. Klasina verdiente gut. Viel mehr, als sie sich je hätte erträumen können.

Sie teilt sich die Wohnung mit einer anderen Ringerin – Uschi. Ihren Nachnamen hat Klasina sofort wieder vergessen. Uschi kommt aus dem Arbeiterviertel Barmbek. Sie wiegt fast doppelt so viel wie Klasina, isst doppelt so viel und trinkt dreimal so viel. Das stört Klasina, die selbst kaum Alkohol trinkt, aber nicht weiter. Die beiden Frauen verstehen sich auf Anhieb.

Uschi ist in ihrer Familie nicht mehr wohlgelitten. Nachdem herauskam, dass sie mit fünfzehn Jahren abgetrieben hatte, war sie «auf Trebe», wie sie Klasina erzählte. Ihr Freund, ein glühender NS-Anhänger, ist im Krieg gefallen. Danach bändelte sie mit verschiedenen Männern an. «Chinesen, Kommunisten, Nazis, Juden, arme Schlucker und reiche Bonzen – alles dabei», lacht sie, während sie sich den engen lila Pullover über ihre unübersehbare Oberweite zieht. «Weißt du, Klasina: Ich hab keine Ahnung von Politik. Sollen sich die Kerle doch die Köppe einschlagen! Ich will einfach leben. Leben, verstehst du?»

Bei allem Großmaultum steckt in Uschi ein weicher Kern. Der kommt zum Vorschein, wenn sie einen über den Durst getrunken hat. Dann weint sie wie ein kleines Kind und sehnt sich zurück zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Barmbek. Doch daran ist nicht zu denken. Manchmal schreit Uschi im Schlaf, wenn ihre Albträume von den Hamburger Bombennächten wieder hochkommen. Damals musste sie mit ansehen, wie ein kleiner Junge verbrannte. Ihre Mutter zog sie in den Bunker, sonst hätte sie selbst nicht überlebt. In solchen Albtraumnächten nimmt Klasina Uschi dann in den Arm, tröstet sie und singt sie in ihrer tiefen schönen Stimme in den Schlaf. Mit einem holländischen Wiegenlied.

Den Ringkampf entdeckte Uschi durch eine Freundin, die nach dem Krieg mit einem englischen Soldaten angebändelt hatte. Der hatte ihr von den Damenringkämpfen erzählt, die er zusammen mit amerikanischen GIs in Frankfurt am Main gesehen hatte. Von dem GI, der viel unterwegs war und mit dem sie schon ein paar Boxkämpfe in den Zelten am Millerntor gesehen hatte, wusste die Freundin, dass Bartels genau das Gleiche auf St. Pauli etablieren wollte. Es ging darum, dem heruntergekommenen Ballhaus Jungmühle in der Großen Freiheit wieder neues Leben einzuhauchen. Und weil Uschi groß und kräftig ist und auf den Barmbeker Hinterhöfen schon manche Bandenkriege mitgefochten hatte, ging sie einfach eines Abends mit der besagten Freundin ins Hippodrom. Bartels hielt dort Hof, hier schien ihn wirklich jeder zu kennen. Es war nicht schwer, ihn zu einer Trainingsstunde zu überreden.

Uschi schaut Klasina mit ihren hellgrünen Augen an. «Und du? Du kommst aus Holland, wie? Nette Leute, die Holländer. Nicht so engstirnig wie wir. Ist doch auch scheißegal, wo jemand herkommt. Wir sind doch alle nur Menschen, ne?» Über ihre niederländische Familiengeschichte, ihren Arbeitseinsatz in Berlin, das Untertauchen mit ihrem Mann in Amsterdam, den Verrat durch ihre Brüder an die Nazis und ihre Flucht nach Belgien erzählt Klasina Uschi nichts. Niemand will diese Geschichten hören. Jetzt gilt es, nach vorne zu schauen. «Die Vergangenheit kann man sowieso nicht ändern», lautet einer von Uschis vielen Wahlsprüchen. Und an denen ist eigentlich fast immer was dran, findet Klasina.

Das hat die Welt noch nicht gesehen

Klasina steigt mit schnellen Schritten die Treppen zur Jungmühle herunter. Auf der Großen Freiheit ist schon richtig was los. Die Portiers treten vor die hell erleuchteten Eingänge und sprechen gemütlich bummelnde Passanten an. Einige große und schwere Autos parken vor der Galopp-Diele, der Jungmühle und dem Bikini.

Heute soll sie eine halbe Stunde vor Eröffnung der Jungmühle mit Uschi einen Kampf machen und zeigen, was sie kann. Reine Formsache. Bartels, der sie ja schon in München in Aktion erlebt hatte, ist nicht da. Er holt gerade fürs Hippodrom Kamele aus Afrika. Der Chef wird von seinem Geschäftsführer vertreten. «Ein feiner Mann aus der Schweiz», hatte Uschi ihr erzählt, «ein Arzt.» Klasina wundert sich – wie kommt ein Arzt dazu, auf dem Kiez Geschäftsführer von so einem Laden zu werden? «Ganz einfach», erklärt ihr Uschi. «Er hat seinen Doktortitel verloren, weil er Frauen geholfen hat abzutreiben.»

Die Freundinnen ziehen sich um. Der Umkleideraum ist ebenfalls im Keller und riesig. Klasina staunt. Da kommen ein paar zierliche, hübsche junge Frauen heruntergestiegen. Nach ihnen ein nicht mehr ganz taufrischer Herr mit einem zerdellten Zylinder. «Das ist Albert», stellt Uschi ihn vor. «Er war früher beim Zirkus und ist jetzt ein bisschen bräsig im Kopf. Übrigens der einzige Kerl, der diesen Raum betreten darf. Was, Albert?» Sie klopft ihm auf den Zylinder und stellt ihm Klasina vor. Albert schleppt einen großen Sack mit Kohlebriketts und nickt nur. Er geht wieder hoch, noch mehr Säcke bringen. «Hat er schwarz vom Händler. Dafür kann der sich bei uns frei Haus amüsieren. Eine Hand wäscht die andere», grinst Uschi. Sie wendet sich an die anderen Frauen. «Na, meine Schönen? Wer von euch ist denn heute dran mit einheizen?»

Klasina erfährt, wie es läuft: Alle Frauen – die Ringerinnen von der Jungmühle und die Beautys vom Bikini und der Galopp-Diele, zwei benachbarten Amüsiersälen, die dem Pariser Moulin Rouge nachempfunden sind, teilen sich die Keller-Umkleide. Das sind die Tänzerinnen vom Cora-Ballett und die vom Alexander-Ballett. Sie wechseln sich nach Gruppen ab mit dem Heizen – einen Abend eine Ringkämpferin, einen Abend eine Beauty. In den Lokalen heizt Albert ein.

Uschi und Klasina gehen nach oben. Uschi stellt Klasina «dem Schweizer», wie ihn hier alle nennen, vor. Dann steigen sie in den Ring und legen los. Nach nicht einmal zehn Minuten bricht der Schweizer den Kampf zwischen den beiden ab. «Die Münchnerinnen sind alle in Ordnung», bestätigt er. Bartels hatte nämlich noch ein paar andere Frauen aus dem Pascha engagiert, von denen allerdings nur Klasina übrig geblieben ist. Keine wollte die Entfernung und die langen Fahrten auf sich nehmen.

Ein paar Tage später hat Klasina ihren ersten Kampf in der Jungmühle. Das Lokal ist zum Bersten voll. Es herrscht eine andere Stimmung als im Pascha, denn wie heißt es so schön in einem Stadtführer, den sie sich besorgt hatte: «St. Pauli ist nicht Schwabing!» Keine Universitätsleute, dafür mehr Seeleute verschiedenster Couleur und Aufmachung. So viele verschiedene Menschen auf einem Fleck hat Klasina noch nie gesehen. Sie ist fasziniert und freut sich, dass ihr Gespür sie nicht getrogen hat – nicht, als sie bei Weber in München begann, und nicht, als sie sich auf Bartels’ Angebot einließ. Beides schien nach ihrem kurzen Ausflug in die Zirkusmanege genau das Richtige, und nun war sie hier. Ein bisschen erinnert sie das bunte Treiben an die Markttage auf dem zentralen Amsterdamer Dam-Platz oder auf dem Nieuwmarkt, wo sie als junges Mädchen untergehakt mit ihren Freundinnen spazieren ging und den Seeleuten aus Rotterdam und anderen Küstenstädten in ihren tausend verschiedenen Uniformen und Sprachen beim Handeln und Kaufen zusahen.

Sie soll ihren ersten Ringkampf heute in der Jungmühle