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Wie viel ist ein Leben wert? Auf der Flucht aus dem Iran wird der berühmte Dichter Manash Ishmail von seiner Frau getrennt. Während sich Aminas Spur in England verliert, landet er selbst in einem dänischen Auffanglager. Eine Vorzugsbehandlung erfährt der preisgekrönte Schriftsteller jedoch nicht. Zahlreiche Journalisten wollen ein Interview, doch Manash gewährt einzig Nora Sand ein Gespräch – im Gegenzug soll die London-Korrespondentin der größten dänischen Zeitung seine Frau ausfindig machen. Noras Suche führt sie tief in die Welt der illegalen Einwanderer und Behörden, zu skrupellosen Menschen, die aus der Not der Flüchtlinge Kapital schlagen wollen – und dabei über Leichen gehen.
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Seitenzahl: 543
Lone Theils
Das Meer löscht alle Spuren
Ein Fall für Journalistin Nora Sand
Kriminalroman
Aus dem Dänischen von Ulrike Brauns
Wie viel ist ein Leben wert?
Auf der Flucht aus dem Iran wird der berühmte Dichter Manash Ishmail von seiner Frau getrennt. Während sich Aminas Spur in England verliert, landet er selbst in einem dänischen Auffanglager. Eine Vorzugsbehandlung erfährt der preisgekrönte Schriftsteller jedoch nicht. Zahlreiche Journalisten wollen ein Interview, doch Manash gewährt einzig Nora Sand ein Gespräch – im Gegenzug soll die London-Korrespondentin der größten dänischen Zeitung seine Frau ausfindig machen. Noras Suche führt sie tief in die Welt der illegalen Einwanderer und Behörden, zu skrupellosen Menschen, die aus der Not der Flüchtlinge Kapital schlagen wollen – und dabei über Leichen gehen.
Lone Theils war jahrelang London-Korrespondentin für die angesehene dänische Tageszeitung Politiken und hat als Journalistin auch fürs Fernsehen und Radio gearbeitet. Ihr Debütroman und Auftakt der Reihe «Die Mädchen von der Englandfähre» erscheint in 16 Ländern und stand wochenlang auf Platz 1 der dänischen Bestsellerliste. Auch Band 2 ist seit Erscheinen ein Bestseller.
Neben ihrer journalistischen Tätigkeit zwischen Dänemark und England teilt Lone Theils mit ihrer Protagonistin auch die Leidenschaft fürs Kickboxen. Seit 2016 lebt sie wieder in Dänemark und arbeitet derzeit am dritten Band der Reihe um Nora Sand.
Es war eine ganz schöne Fummelarbeit, aber die Mühe lohnte sich immer. Nora stand über einen großen Korb mit Pfifferlingen gebeugt und suchte akribisch kleine, leckere, perfekt geformte Trompeten heraus.
Als sie mit ihrer Ausbeute zufrieden war, ging sie mit der braunen Papiertüte zum Gemüsehändler und machte sich auf einen gesalzenen Preis gefasst, als sie die Tüte auf die Waage legte.
Sie lächelte Andreas zu, der gerade die letzten Bissen eines dieser legendären Chorizosandwiches vom Borough Market verspeiste. Man konnte fast sagen, es war der perfekte Samstagvormittag. Selbst nach einem Monat war es ihr immer noch unbegreiflich, dass sie nichts weiter tun musste, als die Hand auszustrecken, um den Mann zu berühren, der bis vor kurzem noch verboten gewesen war. Verboten, weil er mit einer anderen zusammen war. Weil sie es sich selbst nicht gestattet hatte. Weil sie aneinander vorbeigelebt hatten, was sie vielleicht noch viele weitere Jahre getan hätten, wäre nicht eines Tages der Damm gebrochen.
Sie wollte gerade zu ihm gehen, da klingelte sein Handy. Er lächelte sie entschuldigend an, blinzelte und holte das Telefon aus der Jackentasche. Obwohl Nora bezahlte, entging ihr nicht die Veränderung in Andreas’ Gesicht. Er wurde sehr ernst, wandte sich ab und ging hinaus auf die Straße, wo er mit dem Rücken zu ihr stehen blieb. Seine Schultern sackten herunter, als hätte er einen Schlag abbekommen. Nora stellte sich schon auf schlechte Neuigkeiten ein, da fing auch ihr Telefon an zu klingeln.
Kaum hatte sie es aus der Handtasche geangelt, erkannte sie die Nummer von Krebs und überlegte kurz, ob sie ihn einfach wegdrücken sollte. Wenn ihr Chef am Wochenende anrief, konnte man davon ausgehen, dass man schneller einbestellt wurde, als man «Also, ich hatte eigentlich geplant, …» sagen konnte. So sah die Arbeit als Auslandskorrespondentin beim Wochenblatt Globalt eben aus. Nora liebte ihren Job, liebte das internationale Magazin, das sich ihrer Meinung nach grundlegend von der sonstigen Presselandschaft Dänemarks abhob. Allerdings liebte sie ihren Chef nicht immer, denn Krebs zog die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit manchmal sehr willkürlich. Nora kannte eigentlich nur einen Menschen, der in dem Punkt schlimmer war als Krebs. Und das war sie selbst.
Er kam gleich zur Sache, ganz in gewohnter Krebsmanier: «Sand. Was weißt du über den iranischen Dichter Manash Ishmail?», fragte er und bemühte dabei nicht mal das Minimum der sonst üblichen einleitenden Höflichkeitsfloskeln.
Zuerst dachte Nora, es handele sich um eine rhetorische Frage, aber da Krebs ausnahmsweise einmal zu keinem seiner ellenlangen Vorträge ansetzte, um seine Frage selbst zu beantworten, fing sie an, in ihrem Gedächtnis zu graben.
«Hm. Einer der bekanntesten iranischen Dichter. Und einer der prominentesten Systemkritiker. Ist letzten Monat nach Dänemark gekommen. Die iranische Regierung hat seine Auslieferung wegen terroristischer Tätigkeit verlangt. Sie drohen damit, weder Dänemark noch der EU jemals wieder Öl zu liefern, wenn sie sich weigern, ihn seinem Vaterland zu übergeben, wo man ihm den Prozess machen will. Auch der Fetaexport hängt an einem seidenen Faden. Ishmail hat seinerseits Asyl in Dänemark beantragt, weil er politisch verfolgt wird und ihm bei einer Auslieferung an den Iran die Todesstrafe droht. Seine erste Gedichtsammlung Blaue Seele brachte ihm eine Nominierung für den Literaturnobelpreis ein», leierte Nora herunter, nachdem ihr die Artikel und Überschriften der vergangenen Wochen wieder eingefallen waren.
«Ich hab übrigens noch nie eins seiner Gedichte gelesen», fügte sie hinzu.
«Hast du ihn mal getroffen oder interviewt?»
«Nein», antwortete Nora verblüfft. «Das ist ja nicht gerade mein Spezialgebiet, um es mal vorsichtig auszudrücken.»
«Genau mein Gedanke», erwiderte Krebs. «Nichtsdestotrotz hat er nach dir gefragt.»
«Wer?»
«Ishmail. Er hat nach dir gefragt.»
«Wann?»
«Viola Ponte bemüht sich seit seiner Ankunft in Dänemark um ein Interview», erklärte Krebs und verwies damit auf die Kulturredakteurin der Globalt, «aber bislang hat er alle Anfragen abgelehnt und mit keinem Journalisten gesprochen.»
«Oh. Okay?», sagte Nora und versuchte vorherzusehen, welche Richtung dieses Gespräch wohl nehmen würde.
«Bis gestern Nachmittag», fuhr Krebs fort. «Da sagte er plötzlich zu. Allerdings unter einer Bedingung: dass du das Interview führst.»
Nora war ausnahmsweise sprachlos. Mit der einen Hand hielt sie die Tüte mit den Pfifferlingen und eine weitere mit Fisch, mit der anderen presste sie das Handy ans Ohr, während sie versuchte, Andreas in der Menschenmenge ausfindig zu machen. Aber sie konnte ihn nirgendwo entdecken.
«Bist du noch dran?», drang Krebs’ Stimme aus dem Hörer.
«Ja, bin ich. Ich weiß bloß nicht, was ich sagen soll … Ich verstehe nicht ganz, warum er will, dass ich das mache», antwortete sie geistesabwesend, während sie weiter nach Andreas Ausschau hielt.
Dort. In der Nähe des Cafés an der Ecke leuchtete sein blonder Schopf auf, aber sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Sie versuchte, sich wieder auf das Telefonat zu konzentrieren.
«Ich hatte gehofft», sagte Krebs pikiert, «du könntest vielleicht Aufschluss darüber geben, warum er ausgerechnet auf dir besteht. Hast du in der letzten Zeit irgendetwas über den Iran geschrieben? Über Lyrik? Über irgendetwas anderes, das für ihn relevant sein könnte?»
Nora schüttelte den Kopf, bis ihr bewusst wurde, dass Krebs das ja nicht sehen konnte. «Nein. Ich habe absolut keine Ahnung, wie er auf mich kommt.»
«Ich auch nicht, deshalb habe ich Emily darauf angesetzt, das Archiv zu durchforsten. Wenn sie nichts findet, gibt es auch nichts zu finden.» Emily war Globalts allwissende Archivarin, Bibliothekarin und unersetzliche Superresearcherin. «Aber Sand, du musst verdammt noch mal herkommen und uns dabei helfen herauszufinden, was er will. So viel bist du ihm schuldig. Von mir ganz zu schweigen. Ponte hat geradezu getobt. Sie hatte die Sache schon Victor zugedacht, der daraus eine lange, einfühlsame Geschichte machen sollte. Und dann beschließt Ishmail einfach, dass er nur mit dir reden will. Das war nicht gerade die harmonischste Redaktionskonferenz in der Geschichte unseres Blattes», sagte Krebs.
Nora seufzte. «Reicht Montag?»
Krebs biss an. «Aber keinen Tag später. Wir wollen schließlich nicht, dass uns die Story durch die Lappen geht. Aber vermutlich spricht er sowieso mit niemand anderem, wenn wir ihm ein Treffen mit dir garantieren», sagte er und ging zum Abschluss des Gesprächs über. «Nun, die Runde Golf spielt sich nicht von allein. Hab noch ein schönes Wochenende.»
Sofort rief Nora in der Redaktion an und bat Anette, ihr ein Flugticket nach Hause zu buchen. Und dann blieb ihr nichts anderes übrig, als Andreas zu suchen, um zu gestehen, dass das Wochenende, das sie in kuscheliger Zweisamkeit hatten verbringen wollen, erheblich kürzer ausfallen würde, weil sie schon am Sonntagnachmittag nach Dänemark fliegen musste. Nur so würde ihr ausreichend Zeit bleiben, sich auf das Interview am Montagmorgen vorzubereiten.
Ihr Blick wanderte zum Café hinüber. Andreas hatte einen der extrem beliebten Monmouth Espressi ergattert, für den die kaffeedurstigen Londoner sich gern in lange Schlangen reihten. Allerdings hielt er den kleinen Pappbecher wie in Trance vor sich in den Händen.
Ihr fiel wieder ein, dass sie nicht die Einzige war, die gerade schlechte Nachrichten bekommen hatte. Sie ging in der Hoffnung auf ihn zu, dass er irgendwann zu ihr rüberschauen würde, aber er hielt den Blick weiter auf das Markttreiben gerichtet. Dabei machte er jedoch einen seltsam entrückten Eindruck. Erst als sie ihn sanft am Arm berührte, blickte er sie an.
«Andreas? Was ist los?», fragte sie und sah ihm in die Augen.
Er schaute erst zu Boden, dann seitlich an ihr vorbei. Schließlich schien er einen Punkt irgendwo oberhalb ihrer linken Schulter zu fokussieren.
«Sie ist schwanger.»
«Brigitte? Brigitte ist schwanger?» Noras Stimme überschlug sich.
Andreas nickte betrübt.
«Wie das?», fragte Nora, während sie versuchte, zu begreifen, wie das hatte passieren können. Wie war sie in diese Situation geraten? Noch am Morgen schwelgte sie im Glück mit dem besten Mann von allen, die sie bisher kennengelernt hatte. Und nun – nur drei Stunden später – stand sie mit einer verdammten Fischtüte auf dem Borough Market, während Andreas’ Ex, die nicht mal in diesem Land wohnte, übers Handy ihr Leben in Stücke riss.
«Sie ist in der dreizehnten Woche, also wird sie es behalten. Sie hat so lange gewartet, es mir mitzuteilen, damit es zu spät ist, um abzutreiben. Und sie wünscht sich vollen Einsatz von mir, das hat sie ausdrücklich gesagt. Vollen Einsatz, das waren ihre Worte.» Andreas’ Ton war matt.
«Und was machst du jetzt?», fragte Nora.
Er zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.»
Stille senkte sich über sie. Plötzlich waren sie jeder für sich, zwei einsame Inseln der Unglückseligkeit.
«Nora, verdammt, ich habe einfach keine Ahnung. Ich muss nach Hause, um herauszufinden, was los ist. Ich bin echt ratlos.»
Nora hörte das wie aus großer Ferne, während die Tüte mit dem Fisch auf den Boden knallte. Kurz darauf folgte die braune Papiertüte mit den Pfifferlingen, die beim Aufprall aufriss. Die kleinen, goldenen Trompeten verteilten sich und wurden – eine nach der anderen – von Passanten in feinen Herrenschuhen, klobigen Wanderschuhen und leichten Damensandalen plattgetrampelt.
Irgendwann fand sie die Kraft, sich umzudrehen. «Dann solltest du zusehen, wie du das ändern kannst», brachte sie heraus und ließ dann den Borough Market hinter sich. Und Andreas.
Sie schaute sich nicht um. Sie wusste, wie er dort stehen würde. Mit hängenden Schultern, einer besorgten Miene und diesem leichten Zug um die Unterlippe, der sich zeigte, wenn er sich über irgendetwas im Unklaren war.
Sie wusste nicht, wie lange sie am Fluss entlanggegangen war. Vielleicht eine Stunde. Schließlich steuerte sie einen U-Bahnhof an und nahm die Northern Line nach Hampstead. Dort kämpfte sie sich den Hügel hinauf und klopfte an Petes Tür.
«Ich dachte, ich soll zum Mittagessen zu dir kommen. Oder hab ich das falsch verstanden?», fragte er, bevor ihm Noras Gesichtsausdruck auffiel.
«Meine Süße», sagte er einfach nur und nahm sie in die Arme. Erst jetzt kamen ihr die Tränen.
«Eigentlich solltest gar nicht du mich trösten müssen», schluchzte sie.
Seit Pete von einem Fotoshooting in Kambodscha – inklusive Zwischenstopp in Melbourne – zurückgekehrt war, hatte er sich niedergeschlagen in seiner Wohnung verkrochen. Seine große Liebe Caroline war mit einem Chirurgen zusammengezogen und erwartete nun ein Kind von ihm. Das hatte Pete zwar bereits gewusst, bevor er sich zu diesem Besuch entschieden hatte, doch als er sie mit ihrem großen Bauch sah, traf ihn die Wahrheit noch einmal mit voller Wucht.
Nora hatte ihm die Sache regelrecht aus der Nase ziehen müssen. Langsam und schmerzhaft, Wort für Wort, ganz, wie man mit einer Pinzette Splitter aus einem Finger zog. Ja, er hatte allen Mut zusammengenommen und Caroline angerufen. Sie hatte einem Treffen auf eine Tasse Kaffee zugestimmt.
An der Strandpromenade des Melbourner Stadtteils St. Kilda hatten sie in ihrem früheren Lieblingscafé gesessen und aufs Meer geschaut, während Touristen auf Inlinern vorbeirollten.
Caroline hatte offen über ihre Schwangerschaft gesprochen. Hatte sich mit der simplen Bemerkung, dass sie dieser Tage immer hungrig sei, einen Mississippi Mudslide Pie bestellt. Ihr Babybauch war schon so groß gewesen, dass Pete dessen Existenz nicht hatte verleugnen können. Deshalb hatte er sich zu der Nachfrage genötigt gesehen: Wie lange hast du noch vor dir? Drei Monate, hatte sie geantwortet.
Dann hatte er gefragt, ob sie mit Ryan glücklich sei. Glücklich mit dem Mann, den sie weniger als drei Monate nach ihrer Trennung von Pete und ihrer Rückkehr von London nach Australien durch die Arbeit kennengelernt hatte. Glücklich mit dem Mann, der unter keinen Umständen – so hatte sie sich ausgedrückt – davon erfahren durfte, dass sie mit ihrem Ex in einem Café am Strand saß und Kaffee trank, während er auf einem Pharmakongress in Perth war.
Ja, hatte Caroline bekräftigt, sie sei nicht nur glücklich. Sie sei überglücklich.
Allerdings hatte sie Pete nicht direkt angesehen, während sie dies sagte, sondern direkt in den Sonnenuntergang.
«Aber», hatte Nora damals in dem Starbucks nachgehakt, wo er ihr über zwei dampfenden Latte Macchiato widerwillig diese Geschichte erzählte, «hast du ihr denn gesagt, dass du noch in sie verliebt bist?»
Woraufhin Pete den Kopf geschüttelt hatte. «Um ganz ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wozu.» Dann hatte er seinen Becher geleert.
Nora hatte versucht, ihn mit einer ihrer unzähligen Single-Kolleginnen zu verkuppeln, aber Pete war viel zu traurig. Und jede Frau, die Interesse an dem charmanten Fotografen mit seinen dunklen Locken und grünen Augen angemeldet hatte, war für ihn nichts als ein jämmerlicher Ersatz gewesen. Pete war einfach nicht bereit für eine ernsthafte Beziehung. Noch dazu hatte er die Musik seiner Jugend für sich wiederentdeckt und befand sich auf einem äußerst hartnäckigen The Cure-Trip. Fast rechnete Nora damit, dass er zum nächsten Fotoshooting mit schwarzem Eyeliner und zerzaustem Haar auftauchte, um seine von Weltschmerz geprägte Miene perfekt zu ergänzen.
Doch nun war er es, der sich um Nora kümmerte. Taiwanesisches Essen organisierte und kaltes Bier aus dem Kühlschrank holte. Ihr das Sofa überließ, wo sie während einer Folge von Inspector Barnaby einschlief, ohne den Teller mit der halben Portion Pad Thai überhaupt angerührt zu haben.
Nora brachte es nicht über sich, Pete über den Grund ihrer Traurigkeit aufzuklären, denn irgendwie hatte sie selbst den Überblick verloren. Und Pete war geprägt von der australischen Gewohnheit, erst Fragen zu stellen, wenn man dazu aufgefordert wurde.
Erst am nächsten Morgen konnte Nora sich so weit zusammenreißen, wieder zu der Wohnung im Belsize Park zu fahren, um zusammen mit Andreas die Fäden der neuesten Verwicklungen zu entwirren.
Gleich als sie durch die Tür trat, sah sie es. Seine Sachen waren weg. Nicht, dass es viel gewesen wäre: eine Zahnbürste und ein paar T-Shirts für den Fall, dass er spontan bei ihr blieb, statt in die kleine Wohnung in Battersea zu fahren, wo er zur Zwischenmiete wohnte. In letzter Zeit hatte er fast immer bei ihr übernachtet. Ferner die jüngste Coldplay-CD, ein Gillette-Rasierer und ein dicker Wälzer über die Entstehung der al-Qaida – alles war weg.
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: Ich muss erst mal herausfinden, was los ist. Nach Hause fliegen und mit ihr reden. Hätte mich gefreut, dich noch mal zu sehen. Bis dann.
Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Er hatte weder angerufen, noch eine Nachricht geschickt. Sie warf ihren Schlüssel in die Schublade und holte kurz entschlossen ihren Koffer aus dem Schrank. Da konnte sie ja genauso gut sofort mit dem Packen anfangen.
Sonntagnachmittag holte sie den Leihwagen aus dem Parkhaus in Kastrup und fuhr nach Amager zum Schrebergartenhaus ihres Bruders David. Sie konnte sich einfach nicht durchringen, ihren Vater in Bagsværd aufzusuchen. Zerstreuter Professor hin oder her, er würde trotzdem nur einen Blick auf sie werfen müssen, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmte. Und Nora war einfach nicht bereit, ein solches Gespräch mit ihrem Vater zu führen. Schließlich hatte sie ihm bisher noch gar nichts von Andreas erzählt.
Durch die Windschutzscheibe betrachtete sie die vorbeiziehende Stadt. Dort, in Frederiksberg, wohnte Beamten-Brigitte. Die Frau, mit der Andreas fast zwei Jahre lang zusammen gewesen war, bevor er zu einer neunmonatigen Schulung zum Thema Terrorbekämpfung nach London gekommen war und seine alte Schulkameradin Nora aufgesucht hatte.
Vielleicht hatte Brigitte eine Veränderung gewittert – irgendwie geahnt, dass Andreas seine Liebe zu Nora nie ganz vergessen hatte. Jedenfalls rief sie ihn an einem Wochenende an und stellte ihn vor ein Ultimatum. Sie wollte ihn heiraten.
Nora kannte nur wenige Einzelheiten ihrer Beziehung. Immer wenn Andreas darauf zu sprechen kam, musste sie sich größte Mühe geben, sich nicht die Ohren zuzuhalten und «La-la-la-ich-kann-dich-nicht-hören» zu sagen. Sie hatte absolut keine Lust, irgendetwas über Andreas’ und Brigittes gemeinsames Leben zu erfahren. Wie sie sich verliebt hatten. Wieso es zwischen den beiden nicht lief.
Andreas war nun mit ihr zusammen. Mehr musste sie nicht wissen. Und dabei war alles zwischen ihnen noch so frisch und zart und empfindlich wie kleine Krokusköpfchen, die sich im März langsam aus der Grasdecke schoben.
Aber war er wirklich mit ihr zusammen?
Sie parkte den Wagen vorm Schrebergartenverein und suchte Andreas in der Kontaktliste ihres Handys. Saß dann da und starrte nachdenklich auf das Foto, das sie in einem Straßencafé von ihm gemacht hatte, wo sie in der Sonne gesessen, Eiskaffee getrunken und sich quasi im selben Atemzug über Haikus, über die Tour de France sowie guten Mozzarella ausgetauscht hatten, in einem dieser von Sprüngen und flinken Wendungen geprägten Gespräche, wie sie sie nur mit Andreas führen konnte.
Also wählte sie seine Nummer. Er ging nicht dran, und sie hinterließ keine Nachricht.
Nur wenige Augenblicke später zog sie den Koffer den schmalen Weg entlang hinter sich her und fand den Schlüssel zum Haus genau dort, wo er immer lag. Unterm Dachfirst, hinter dem vierten Balken von rechts. Was bedeutete, dass David in seiner Wohnung war. Nora bemerkte ihre Erleichterung – und gleichzeitig meldete sich ein leises Schuldgefühl, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als allein zu sein.
Im obersten Schrank fand Nora eine Flasche Rotwein, öffnete sie und goss großzügig ein altes Senfglas voll, das sie mal in einem belgischen Supermarkt gekauft hatte und auf dem Tim von Tim und Struppi auf einem Kamel abgebildet war. Dann zog sie die Sandalen aus und begab sich mit nackten Füßen auf einen Rundgang durch den kleinen Garten. Spürte die Feuchtigkeit des Grases unter ihren Füßen. Setzte sich unter einen Pflaumenbaum und dachte an jenen Tag vor vielen Jahren, an dem sie mit Andreas in einem anderen Garten gesessen hatte. Nach mehreren Jahren der Freundschaft am Gymnasium hatte er ihr seine Liebe gestanden, woraufhin sie sich für einen Monat auf Interrailtour begeben und sich danach geweigert hatte, je wieder darüber zu sprechen.
Sie holte die Flasche aus der Küche, zog ihren Laptop aus der Tasche und klappte ihn auf. Innerhalb von zwanzig Sekunden hatte er das Wifi des Hauses gefunden und sich an Davids Passwort erinnert: PaeOn, gefolgt von den ersten fünf Kommastellen der Kreiszahl Pi.
Als Erstes stattete sie Wikipedia einen Besuch ab, wo kurz und knapp darüber informiert wurde, dass Manash Ishmail, geboren in Zanjan als jüngster Sohn eines Englischlehrers, achtunddreißig Jahre alt war und vor fünfzehn Jahren seine Frau Amina geheiratet hatte. Das Paar blieb kinderlos. Er war studierter Jurist, las Nora nicht ohne Überraschung, und hatte eine Weile als Beamter im iranischen Energie- und Wasserministerium gearbeitet, bevor er sich der Lyrik verschrieb.
Die Seite bot einen Link zu einem Artikel des Daily Telegraph, der sich mit Ishmails literarischem Durchbruch befasste. Darin wurde beschrieben, wie Ishmails stolzer Vater die Gedichte des Sohnes ohne dessen Wissen einem britischen Kollegen gezeigt hatte, der im Begriff war, wieder nach Großbritannien zurückzukehren, nachdem er vor Ort Entwicklungsarbeit geleistet hatte. Der Kollege war so begeistert gewesen, dass er die Gedichte ins Englische übersetzte und einem befreundeten Lektor mailte. Die Gedichte wiederum wurden von Popsternchen Malinka entdeckt, und als sie eins von Manash Ishmails romantischsten Gedichten mit ihrer rauchigen Stimme und Akustikbegleitung interpretierte, wurde er quasi über Nacht berühmt.
Seine Sammlung blauer Gedichte schaffte es auf die Bestsellerliste der Sunday Times, und schon standen Agenten aus den USA, Frankreich und Italien Schlange, um seine Texte veröffentlichen zu dürfen. Darauf folgte schließlich die ultimative Auszeichnung: der Nobelpreis.
Für andere Autoren hätte das vielleicht das größte Glück bedeutet, nicht aber für Ishmail. Für ihn wurde es zum ersten Akt seiner persönlichen Tragödie. Der bislang unscheinbare Beamte geriet ins Fadenkreuz seiner Regierung. Ein übereifriger Angestellter des Ministeriums für Nachrichtenwesen befasste sich sehr gründlich mit der Sammlung und fand, dass ein Gedicht auf der vorletzten Seite durchaus als Kritik an der Theokratie verstanden werden könnte.
Zunächst wurde Manash Ishmail ohne jegliche Erklärung entlassen, und drei Tage später befand er sich in Teherans berüchtigtem Evin-Gefängnis.
Der internationale PEN-Verband engagierte sich, sodass er bereits nach drei Wochen massiven Pressedrucks wieder freigelassen wurde. Verletzt und enttäuscht von einem Regime, zu dem er zuvor keine wirkliche Meinung gehabt hatte.
Nora suchte weiter, fand aber nur Artikel, die nichts als ein Abklatsch dessen waren, was sie gerade in der britischen Zeitung gelesen hatte.
Vergeblich suchte sie nach Äußerungen des Dichters selbst. Manash Ishmail gab wohl keine Interviews. Er ließ durch seinen britischen Agenten höflich bekannt geben, dass ihn das große öffentliche Interesse ehrte, aber dass seine Gedichte alles ausdrückten, was er auf dem Herzen habe.
Nora leerte das Glas und schenkte sofort nach. Die zartviolette Sommerdämmerung hatte sich über die kleine, rechteckige Grasfläche gelegt, und Nora bekam allmählich kalte Füße.
Sie klickte sich zu einem Auszug aus Manash Ishmails Gedichtsammlung in englischer Übersetzung vor. Nach nur wenigen Minuten war sie wie gefesselt von persischer Sehnsucht, eingehüllt von dem blauen, melancholischen Ton.
Sie sagte sich, dass es an der Uhrzeit, am Schlafmangel, an der Kälte liegen musste, aber sie hatte den Eindruck, ihr würden die Worte bis ins Herz und von dort bis in die Augen dringen, die ganz feucht wurden, je mehr sie über die Sehnsucht las, und über die Einsamkeit, von der man erlöst wurde, wenn man seinen Seelenverwandten traf, wenn man die Liebe fand, die bis in alle Ewigkeit hielt.
Eine Weile blieb sie sitzen und starrte ins Nichts. Dachte an Andreas. Wo er wohl gerade war, was er wohl gerade machte.
Irgendwann schloss sie den Tab und suchte stattdessen die Adresse des Asylbewerberheims heraus, ließ sich eine Route vorschlagen und mailte sie an ihre eigene Adresse.
Dann holte sie die alte Steppdecke aus dem Schrank und machte es sich mit einem von Davids populärwissenschaftlichen Magazinen auf dem kleinen, grünen Sofa so bequem wie möglich, in der Hoffnung, dass ein ausführlicher Artikel über die Mysterien der Milchstraße dabei half, dass sich der Schlaf schneller einfand.
Aber er half nicht.
Es herrschte nicht viel Verkehr an diesem Montagmorgen, sodass Nora bereits nach anderthalb Stunden beim Humlegården etwas außerhalb von Slagelse eintraf. Früher hatte es sich dabei sicher einmal um einen edlen Gutshof gehandelt, heute war es eine Art Abstellgleis, auf das man eine Gruppe von Menschen schieben konnte, damit sie mit ihrer Anwesenheit nicht das Straßenbild der Allgemeinbevölkerung störten und so die Wähler dazu bewegten, ihre Stimme den rechtesten der Rechten zu geben.
Seit Nora über diverse Kriege und Konflikte auf dem Balkan berichtet hatte, wurde sie wütend, wenn undifferenziert und herabsetzend über Flüchtlinge geredet wurde. Sie hatte Menschen gesehen, die in äußerster Not aus Kriegsgebieten geflohen waren. Hals über Kopf hatten sie ihr ganzes Leben und ihr Zuhause Soldaten mit brennenden Fackeln überlassen. Hatten auf Strümpfen Berge überwunden, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Kinder und Eltern zu sichern – nur um dann vor Grenzbeamten zu stehen, die es nicht einmal wagten, ihnen in die Augen zu schauen.
Nora stellte den Wagen auf einem rechteckigen Kiesbett vor einem Schild ab, das verkündete, dass sich hier ein Asylbewerberheim des Roten Kreuzes befand. Dann holte sie ihr Handy und den kleinen Zettel mit der Telefonnummer hervor, die Krebs ihr durchgegeben hatte. Nach zwei Freitönen hob jemand ab.
«Hier spricht Kirsten», meldete sich eine ruhige Stimme.
«Ich bin Nora Sand und möchte Manash …»
«Ja, wir erwarten Sie schon. Geben Sie mir zwei Sekunden, dann bin ich bei Ihnen», versprach die Frau.
Nora stieg aus dem Wagen und streckte sich. Was für eine elendige Nacht. Sie nahm ihre Tasche aus dem Auto und schloss ab. Ihr war noch immer nicht klar, warum der berühmte Dichter darauf bestanden hatte, mit ihr zu sprechen. Aber bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, stand schon eine blonde Frau vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen. «Kirsten Isager.»
Nora schüttelte ihr die Hand und stellte sich ebenfalls vor.
Die Frau lächelte sie an. «Wir sind sehr stolz, einen so prominenten Dichter bei uns zu haben.»
Sie folgten einem schmalen Plattenweg, der sie bis vor ein Tor in einem hohen Metallzaun führte. Kirsten kramte einen Schlüssel hervor und schloss auf.
«Hohe Sicherheitsvorkehrungen», stellte Nora fest.
«Ja», antwortete Kirsten, «allerdings weiß ich manchmal nicht, wer vor wem beschützt werden soll.»
Sie liefen quer über den Hof. Kirsten deutete zum Haupthaus, einem baufälligen, weißen Gebäude, das nach Noras Einschätzung seit dem Jahr 2000 keinen Pinsel mehr gesehen hatte.
«Hier sitzt hauptsächlich die Verwaltung. Aber es gibt außerdem Zimmer für Frauen mit kleinen Kindern, die besondere Betreuung brauchen.»
«Wie viele Menschen wohnen hier denn insgesamt?»
«Offiziell dürfen wir nur fünfundachtzig Erwachsene und zwanzig Kinder aufnehmen, aber tatsächlich leben hier gerade zweiundneunzig Erwachsene und fünfundzwanzig Kinder. Die meisten kommen aus Kriegsgebieten und sind schwer traumatisiert, wenn sie bei uns eintreffen. Aber, hey, Hauptsache, wir sorgen dafür, dass sie sich nicht zu wohl fühlen, sagt sich unsere Regierung offenbar. Sonst könnten sie ja noch auf die aberwitzige Idee kommen, hierbleiben zu wollen, wo sie in Sicherheit sind», antwortete Kirsten Isager. Die Verbitterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Nach einer kurzen Pause folgte der Zusatz, den Journalisten nur allzu oft hörten: «Aber das bleibt bitte unter uns.»
Nora nickte höflich und folgte ihr am Haupthaus vorbei zu einem Durchgang, der früher vermutlich mal in den Garten geführt hatte. Dort standen acht hässliche, weiße Wohncontainer. Alles hier schrie förmlich nach Funktionalität und Provisorium in einem Maße, wie Nora es zuletzt bei dem Besuch einer Bohrplattform östlich von Aberdeen erlebt hatte.
«Wie lange ist Ishmail denn schon hier?», fragte Nora.
«Seit zwei Wochen. Aber er war so deprimiert, dass wir erst jetzt den Eindruck haben, er ist bereit und imstande, mit jemandem zu sprechen. Er hat nach Ihnen gefragt. Haben Sie eine Ahnung, warum?» Für einen Moment überkam Kirsten die Neugier, aber schnell nahm sie wieder ihre offizielle Rolle ein.
Nora schüttelte den Kopf, während Kirsten Isager unbeirrt fortfuhr: «Die Frauen schlafen auf dieser Seite, die Männer am anderen Ende. Wir haben nur sehr wenige Familienunterkünfte, und die sind immer belegt.»
Als sie näher kamen, sah Nora eine kleine Gruppe von Männern vor einer der weißen Baracken sitzen, sie unterhielten sich leise. Die meisten trugen Jogginganzüge. Manash Ishmail war nicht unter ihnen.
Der Geruch von angebratenen Zwiebeln drang aus einem der geöffneten Fenster, und Noras Magen reagierte sofort mit einem Knurren. Zwischen zwei der Baracken war eine Gruppe Frauen mit dem Jäten von Unkraut beschäftigt. Es waren junge und alte darunter, und sofort tauchte vor Noras geistigem Auge eine Erinnerung an ihre Balkanreise auf, als sie von einer fast zahnlosen alten Frau angelächelt worden war, die einen dunkelblauen Rock und dazu ein Kopftuch getragen hatte.
«Sie haben hier die Möglichkeit, Gemüse anzubauen. So haben sie etwas Frisches, Selbstgezogenes und darüber hinaus auch etwas zu tun, während sie auf den Ausgang ihres Verfahrens warten. Der wichtigste Nebeneffekt ist und bleibt aber die heilende Wirkung, die die Arbeit mit Erde hat. Wenn man beobachten kann, wie etwas Neues wächst», erklärte Kirsten Isager, die nun vor der vorletzten Baracke stehen blieb und an die Tür klopfte. Ein vielleicht sechzigjähriger Mann mit einem riesigen Schnurrbart öffnete die Tür und betrachtete sie mit seinen braunen Augen, die so gerötet waren, als habe er gerade geweint.
«Hallo, Sanjit. Wir wollten zu Manash», sagte Kirsten Isager.
Der Mann machte wortlos einen Schritt zurück und ließ sie in die kleine Küche treten, wo er gerade Zwiebeln anbriet. Auf dem Küchentisch lag eine gewürfelte grüne Paprika, und an einem wackligen Campingtisch saß ein Mann, der gerade Tomaten hackte. Er schaute auf, und sofort erkannte Nora ihn von den Fotos. Der intensive Blick aus schwarzblauen Augen unter einem zerzausten Pony, die geschwungenen Lippen, die versuchten, etwas zustande zu bringen, das einem Lächeln gleichkam. Allerdings lächelten seine Augen nicht mit. Traurigkeit hing wie ein dichter Vorhang davor.
Er zog ein Taschentuch aus einer abgetragenen, dunklen Hose, die frisch gebügelt aussah, wischte sich damit die Hände ab und reichte Nora dann die rechte.
«Nora Sand?»
«Ja», antwortete Nora und schüttelte seine Hand.
«Ich habe Sie erwartet», sagte er knapp, aber nicht unfreundlich in einem Englisch, das klang, als habe er es aus alten, staubigen Büchern gelernt. «Wir beide haben Wichtiges zu besprechen, aber erst sollten wir etwas zu uns nehmen. Sie kommen genau rechtzeitig zum Mittagessen», sagte Manash Ishmail in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Er deutete zu einem Klappstuhl auf der anderen Seite des Tischs.
«Sanjit ist Vegetarier, deshalb machen wir Omelette. Ist das ein Problem?»
«Nicht im Geringsten», antwortete Nora und lächelte. Fast hatte sie den Eindruck, sie konnte ihren leeren Magen leise Halleluja singen hören.
Der wortkarge Sanjit kippte die Paprikawürfel in die Pfanne und schwenkte sie im Öl, bis sie weich und zart waren. Dann fügte er die Tomaten hinzu und ließ alles zusammen brutzeln, während er Eier in eine Schale schlug und mit einer Handvoll gehackten Minzblättern und zerkrümeltem Feta mischte. Es duftete himmlisch.
Sie befüllten drei Teller und nahmen sie mit hinaus, wo sie sich in die Sonne setzten und aßen.
Eine dunkelgraue Katze kam herbei und streifte schamlos um Noras Beine. Nora hatte nie ganz verstanden, was die Leute an Katzen fanden. Und vielleicht lag es an ihrem Desinteresse, dass die Viecher sich immer ganz besonders für sie zu interessieren schienen. Wie oft hatte sie in ihrer Kindheit mit David irgendwo gestanden und gehört, wie er eine kleine Miez-Miez-Miez anflehte herzukommen, damit er sie streicheln konnte. Woraufhin das eingebildete Tier sofort zu ihr kam und ihre ganzen Klamotten mit Katzenhaaren einsaute.
Geistesabwesend kraulte sie das dunkelgraue Tier zwischen den Ohren, während sie Manash betrachtete. Seit der Aufnahme des Daily Telegraph hatte er abgenommen. Das weiße Hemd schlotterte nur so um seinen Körper. Ein Gefängnisaufenthalt inklusive Folter hätte diesen Effekt wohl auf die meisten Menschen, dachte Nora.
Aber das war nicht das Einzige, was ihr auffiel. Seine Schultern waren angespannt, als wäre er in ständiger Alarmbereitschaft. Außerdem wirkte er, als würde er eine große Last tragen. Gequält, das war der Ausdruck, den sie gewählt hätte, müsste sie ihn mit einem einzigen Wort beschreiben.
Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht sofort zur Sache kommen würden. Also sprachen sie erst einmal über den Garten. Über die Ernte und das Wetter. Sanjit schwieg weiter. Als die Teller leer waren, brachte er sie hinein und kehrte wenig später mit drei kleinen Gläsern zurück, die mit gesüßtem Kardamomkaffee gefüllt waren. Nora spürte, wie Koffein und Zucker ihre Wirkung entfalteten. Das Getränk war so stark, dass leise Zweifel in ihr aufkamen, ob sie je wieder schlafen könnte.
Manash trank aus und wandte sich an sie: «Kommen Sie, gehen wir in den Garten.»
Er führte sie an den arbeitenden Frauen vorbei, dann an einem Feld voller Disteln bis hinunter zu einer alten, vom Sturm abgeknickten Eiche. Er kletterte behände ein Stück hoch und ließ sich auf dem Stamm nieder. Dann reichte er Nora eine Hand, um ihr heraufzuhelfen, damit sie sich gegenüber von ihm hinsetzen konnte.
«Ich komme jeden Tag hierher», erklärte er. «Dann sitze ich allein da, schaue der Sonne beim Untergehen zu und denke an Amina.»
Nora entging das Zucken seiner Unterlippe nicht, während er den Namen der Frau sagte, mit der er den größten Teil seines Erwachsenenlebens verheiratet war.
«Ist Ihre Frau denn nicht bei Ihnen?», fragte Nora überrascht. Sie war einfach davon ausgegangen, dass die beiden zusammen geflohen waren. Wenn man nur ein paar von Manash Ishmails Liebesgedichten gelesen hatte, die der Frau seines Lebens gewidmet waren, fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, wie sehr sie ihm fehlen musste.
Er schüttelte den Kopf, und Nora konnte ihm ansehen, dass er um Fassung rang. Sie holte ihr iPhone aus der Tasche, machte sich bereit für das Interview und startete die Aufnahme. Doch genau in dem Augenblick griff er nach ihren Händen. Die Kraft, mit der er sie packte, ließ Nora unvermittelt an Manashs Heimat denken, den Mittleren Osten, wo so vieles eine brachiale Gewalt aufzuweisen schien: die Hitze, die Dürre, der Durst. Er sah ihr direkt in die Augen.
«Nora Sand. Ich habe mich an Sie gewandt, weil ich Ihre Hilfe brauche.»
«Ja, gut. Ich helfe Ihnen auch sehr gerne dabei, Ihre Geschichte erzählen zu können. Ich müsste nur …»
«Vergessen Sie meine Geschichte, die ist völlig unwichtig. Sie sollen sie natürlich trotzdem hören, falls sie Ihnen Ansatzpunkte liefern kann. Aber eigentlich brauche ich Ihre Hilfe dabei, meine Frau zu finden. Meine geliebte Amina.»
Nora schluckte und betrachtete ihn. Todernst sah er aus. «Warum ich? Warum glauben Sie, dass ich Ihnen helfen kann?», fragte sie zögerlich.
Und dann gab er seine Geschichte preis. Er erzählte, wie sie aus dem Iran geflohen waren. Von der Schlepperbande in Istanbul, die trotz seiner heftigen Proteste darauf bestanden hatte, sie in getrennten Lastwagen über die Grenze zu schmuggeln, um die Gefahr für sie zu schmälern, entdeckt zu werden. Der Plan war von Anfang an gewesen, in London wieder zusammenzutreffen, wo sein britischer Lektor versprochen hatte, sich um eine Wohnung für sie zu kümmern.
Der Wagen mit Manash geriet in Holland allerdings in eine Razzia. Ihm und drei anderen Männern gelang es, wegzulaufen und sich in einem Wald zu verstecken. Dort trennten sie sich, weil die Polizei nur einen Suchhund hatte. An einer Raststätte kletterte Manash in den nächstbesten LKW und lebte zwei Tage lang von gekühlten Äpfeln, bis er schließlich verwirrt und erschöpft auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt in Padborg ankam. Hier wurde er von der Grenzpolizei aufgegriffen und in das Asylbewerberheim kurz vor Slagelse gebracht.
«Als ich endlich wieder Strom hatte und mein Handy aufladen konnte, war da eine Nachricht von ihr auf meiner Mailbox, dass sie wohlbehalten in Großbritannien angekommen sei. Gerade befände sie sich in Leicester und sei im Begriff, weiter nach London zu reisen. Die Nachricht war drei Tage alt, als ich sie abhörte. Seitdem ist Amina aber wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe bestimmt hundertmal angerufen, aber ihr Handy ist tot.»
Nora legte die Stirn in Falten. «An wen haben Sie sich bisher gewandt?»
«Ich habe versucht, meinen Lektor in London zu erreichen, denn wir hatten vereinbart, dass Amina ihn auf dem Laufenden hält, aber er meldet sich nicht zurück. Kirsten hat über das Rote Kreuz Kontakt mit der britischen Einwanderungsbehörde aufgenommen. Laut deren Aufzeichnungen gibt es in keinem der Heime eine Amina Ishmail. Sie sagen, sie existiert nicht.» Seine Stimme war kurz davor zu versagen.
«Wie heißt Ihr Lektor? Wäre es in Ordnung, wenn ich ihn kontaktiere?», fragte Nora.
«Tom Craven. Er arbeitet bei Brown & Barley.»
«Und Sie sind sich ganz sicher, dass sie in Großbritannien angekommen ist?»
«Ja. Sie würde mich nicht anlügen. Niemals», sagte Manash mit Nachdruck.
«Vielleicht wurde sie gezwungen?»
«Aber warum?»
Nora zuckte mit den Schultern. «Das wäre zumindest eine Erklärung, mehr will ich damit gar nicht sagen.»
Manash Ishmail senkte die Stimme, ganz so, als wäre allein das Sprechen über die Regierung gefährlich. «Ich habe versucht, Kontakt zu Aminas Bruder aufzunehmen. Die beiden sind die Einzigen, die von ihrer Familie noch leben. Außerdem habe ich alle, die ich noch im Iran kenne, angerufen oder angeschrieben. Niemand hat sie in Teheran gesehen. Wäre sie der Regierung in die Hände gefallen, würden sie sie als Druckmittel gegen mich einsetzen. Damit ich zurückkehre, um sie zu holen. Sonst würde das alles keinen Sinn ergeben. Aber ich habe nichts gehört.»
«Was genau soll ich nun tun?»
«Ich bin auf Sie gestoßen, als Ihre Kulturredakteurin Viola Ponte mich um ein Interview bat. Da habe ich mir Globalt etwas genauer angesehen und herausgefunden, dass die Zeitung eine Korrespondentin in London hat. Sie.»
Er seufzte schwer. «Glauben Sie mir, ich würde nichts lieber tun, als selbst nach London zu fliegen, um nach ihr zu suchen. Irgendwo muss sie ja sein. Aber mein Pass wurde eingezogen. Ich darf nicht ausreisen, um meine eigene Frau zu suchen. Das erlaubt das Asylgesetz nicht», sagte er resigniert.
Er richtete den Blick in die Ferne. Dann wieder auf Nora. «Sie können von mir verlangen, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen stundenlange Interviews, erzähle alles, was Sie wissen möchten. Es werden die einzigen Interviews sein, die ich je geben werde. Sie dürfen auch gern jemanden mit einer Kamera herschicken und so viele Fotos von mir machen, wie Sie wollen. Wenn Sie nur meine Amina für mich finden», flehte er sie an.
Er holte ein Heft aus der Tasche und reichte ihr ein verblichenes, rotstichiges Foto.
«Unser Hochzeitsfoto. Eins der wenigen Dinge, die ich mitnehmen konnte.» Er zeigte auf Aminas Gesicht. «Erkennen Sie ihre Ohrringe?» Nora kniff die Augen zusammen. Sie sahen wertvoll aus, verziert mit blauen Edelsteinen. «Die habe ich ihr zur Hochzeit geschenkt. Sie haben mich ein halbes Monatsgehalt gekostet, seit unserer Hochzeit hat sie sie immer getragen.»
Eine Träne drohte, ihm aus dem Augenwinkel zu laufen. «Nora Sand, Sie müssen sie finden. Ich kann ohne sie nicht leben.»
Nora hatte es gerade bis in ihren Leihwagen geschafft, als auch schon das Geläut des Big Ben aus ihrer Tasche scholl.
«Wie ist es gelaufen? Ist das Interview im Kasten, können wir es kommende Woche bringen?», fragte Krebs, kaum dass Nora den Hörer am Ohr hatte.
«Das kann ich nicht mit einem Satz beantworten, ich komme einfach heute Nachmittag in die Redaktion», schlug Nora vor.
«Gut.» Krebs klang zwar enttäuscht, fasste sich aber offenbar schnell. «Wie wäre es, wenn du vor der großen Redaktionssitzung um drei da bist? Dann kannst du Viola gleich alles selbst erklären. Ich weiß, dass sie nur zu gern wissen will, was du letzten Endes herausgefunden hast. Schließlich konnte sie Victor nicht hinschicken.»
Nora seufzte. «Das sollte ich schaffen.»
Sie steckte das Handy wieder weg und nahm Kurs auf Kopenhagen. Sie schaltete das Radio ein und fand eine Sendung, in der ein Moderator und eine Moderatorin versuchten, sich in den kurzen Pausen zwischen den fröhlichen Popsongs mit ihren überdrehten Moderationen gegenseitig zu übertreffen. Als Nora auf der Autobahn angelangt war, drehte sie das Radio automatisch leiser. Die Stimmen verschwammen im Hintergrund, während sie überlegte, wie sie die Sache in Großbritannien am besten angehen konnte.
Um zehn vor drei erreichte sie endlich Globalts Redaktion, und wie immer waren die drei einzigen Parkplätze vor dem Gebäude belegt. Sie fluchte leise vor sich hin, stellte den Wagen dann um die Ecke ab und steckte in der Hoffnung, dass die Redaktionskonferenz ausnahmsweise einmal schnell abgehandelt sein würde, nur ein paar wenige Münzen in den Parkautomaten.
Sie eilte die Treppe hinauf. Schweiß rann ihr zwischen den Schulterblättern hinunter.
Anette war an der Rezeption und begrüßte sie mit einem breiten Lächeln, das, so dachte Nora, ganz bestimmt nur den Auslandskorrespondenten vorbehalten war. Im Gegensatz zu allen anderen Mitarbeitern wollten sie nämlich fast nie etwas von ihr, ganz einfach, weil sie so selten im Hause waren, und strapazierten Anettes unendliche Geduld daher nicht so maßlos wie die Kopenhagener Kollegen.
«Sie gehen gerade rein», flüstere Anette und deutete mit dem Daumen hinter sich in Richtung des schmalen Konferenzraums. «Aber wirf vorher noch mal einen Blick in den Spiegel», riet sie Nora.
Also machte Nora einen Abstecher in das kleine Bad. An mehreren Stellen hatte sich ihr geflochtenes, langes, dunkles Haar gelöst, und die Wimperntusche war verschmiert wie auf einer missglückten Modeskizze. Letzterem rückte sie notdürftig mit einem Papiertaschentuch zu Leibe, und ihr Haar fasste sie kurzerhand zu einem strammen Dutt zusammen. Dann strich sie noch ihren Rock glatt und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Anette nickte zufrieden, als Nora wieder herauskam. «Jetzt siehst du fast aus wie eine Journalistin.»
Viola Ponte saß bereits an dem ovalen Piet-Hein-Tisch, den der vorherige Chefredakteur im goldenen Zeitalter der Medienbranche gekauft hatte, als die Einnahmen aus Werbeverträgen schier endlos schienen und niemand sich ausmalen konnte, dass der Absatz von Magazinen und Zeitungen sich anders entwickeln könne, als sich bis in alle Ewigkeit immer weiter zu steigern.
Angeblich hatte ebendieser Chefredakteur während einer Redaktionssitzung nach immer lauter werdenden Bitten seiner Kollegen um eine Globalt-Internetpräsenz unverblümt geäußert, dass das Internet nichts weiter als «ein Furz im Sturm sei», der schon in kürzester Zeit verweht sein würde. Besagter Chef war mittlerweile in eine andere Branche abgewandert, in der es mehr Geld zu holen gab. Soweit Nora wusste, saß er nun im Aufsichtsrat einer führenden Bank.
Nora ergatterte die letzte Mineralwasserflasche vom Tisch, musste aber sofort feststellen, dass sie warm war. Enttäuscht zwängte sie sich auf den Stuhl zwischen einem hellgrauen Archivschrank und einem dunkelgrünen Diwan. Letzterer gehörte zur Redaktionsausstattung seit der überaus hässlichen Scheidung eines Fotoredakteurs. Laut seiner Aussage war das Möbelstück das einzige gewesen, das er seiner gierigen Exfrau aus den Klauen hatte reißen können. Heutzutage erzählte man den Praktikanten jedoch, dass Henrik Cavling auf just diesem Divan seine größten Werke verfasst habe. Die meisten schluckten diese Geschichte sofort, Nora allerdings hatte das gleiche Modell im Sommerhaus ihrer Tante Ellen gesehen, inklusive der hellgrünen Kissen, und wie ein Aufkleber auf der Unterseite verriet, war das gute Stück 1983 von IDEmøbler produziert worden, also ziemlich genau fünfzig Jahre, nachdem der berühmte Journalist und Schriftsteller seinen letzten Atemzug getan hatte.
Wirtschaftsredakteur Henry Tausen setzte sich neben Viola Ponte. Die Hitze hatte ihn offenbar dazu verleitet, von seinem sonst so starren Kleidungskodex abzuweichen und die dunkle Anzugsjacke in seinem Büro zu lassen. Er wirkte sogar kurz davor, den Schlips zu lockern.
Schon bald war der kleine Raum gefüllt von Redakteuren und Journalisten, die entweder an der Konferenz teilnehmen wollten, weil ihr anstehender Artikel zur Diskussion stand, oder um Karrierebewusstsein zu demonstrieren.
Schräg hinter der Kulturredakteurin entdeckte sie Victor und versuchte sich an einem Lächeln. Er tat allerdings so, als würde er sie gar nicht sehen. Idiot.
Als Letzter schlüpfte Krebs herein, nickte Nora kurz zu, bevor er einen Papierstapel auf den Tisch knallte und sich suchend nach einer Kaffeetasse umschaute. Für ihn war nur noch ein Becher mit dem Logo des Fußballvereins Brøndby übrig, und dann musste er obendrein feststellen, dass die Kaffeekanne fast leer war.
Viola Ponte bemühte sich, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken, während sie ihre Wedgewood-Tasse an die Lippen hob, die sie in weiser Voraussicht immer im obersten Fach ihres Schreibtischs einschloss. Krebs räusperte sich und eröffnete damit die Konferenz.
«Okay, dann wollen wir mal. Henry, willst du anfangen?»
«Brian und unsere neue Praktikantin Alexandra haben drei dänische Investmentgesellschaften unter die Lupe genommen, die Geld in den USA angelegt haben. Es scheint so, als würden sie bald alles verlieren, weil sie zu einseitig investiert haben.»
Mit einem Grinsen beobachtete Nora, dass Viola Pontes Blick Richtung Decke ging. Die Kulturredakteurin war definitiv kein Finanzhai.
«Wie weit seid ihr mit der Story?»
«Uns fehlen noch ein paar Zitate, und eine unserer Quellen ist gerade in Detroit, aber ich schätze, wir könnten die Geschichte schon nächste Woche als Aufmacher bringen.»
«Gut. Was gibt’s noch?»
«Mikkel und Anton waren mit zwei der jüngsten und frischgebackensten Millionäre Moskaus auf der Pirsch. Das ist eine … ziemlich interessante Reportage geworden», sagte Henry Tausen mit einem schiefen Grinsen.
«Gibt es brauchbare Bilder dazu?», wollte Krebs wissen.
«Das kann man wohl sagen», kam der bescheidene Kommentar von dem Platz an der Tür, wo der sonnengebräunte Leiter der Fotoredaktion, William Bruun, sich niedergelassen hatte.
«Haben wir so eine Russenstory nicht schon längst oft genug gebracht?», beklagte sich Viola Ponte.
William Bruun schaute sie gelassen an. «Aber nicht mit diesen Fotos. Mit solchen Bildern noch nicht.»
«Okay», sagte Krebs. «Viola, das bringt uns zu dir.»
«Oluf Messerlin war in Bayreuth und hat dort den Tannhäuser gesehen. Sein Artikel ist ein wahres Kunstwerk geworden, und es würde mich sehr überraschen, wenn er damit nicht auch das Königshaus in Aufruhr versetzen würde», sagte sie mit einem listigen Lächeln.
Nun war es an Henry Tausen, gedanklich abzudriften. Krebs hingegen nickte und lächelte aufmunternd.
«Außerdem», fuhr Viola Ponte fort und warf Nora einen langen Blick zu, «steht ein Interview mit Manash Ishmail aus. Nora, magst du uns darüber erhellen, wie weit das gediehen ist? Du warst ja gerade erst draußen und hast mit dem Mann gesprochen. Gibt es ein Interview?», fragte sie in einem Ton, der Nora irgendwie an einen bestimmten Zitronenkuchen erinnerte. Zuckersüß, ein bisschen künstlich und mit mehr als nur einem Schuss Säure im Inneren.
Nora wand sich. Eine Redaktionskonferenz war nicht gerade der Ort, um Manash Ishmails private Probleme und Sorgen auszubreiten. Und ganz besonders nicht, bevor sie wusste, ob sie ihm überhaupt helfen konnte.
Krebs schaute sie fragend an. «Genau, Sand. Du kommst gerade von ihm. Wie ist es gelaufen?»
«Also, wir können ein Interview bekommen, aber …»
«Wann?», fiel Viola Ponte ihr ins Wort.
«So leicht ist das nicht», setzte Nora an.
«Was ist denn so kompliziert? Entweder gibt es ein Interview oder nicht. Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, was daran so schwer sein soll», meldete sich nun Victor.
Nora holte tief Luft, bevor sie sich direkt an Krebs wandte, damit es ihr leichter fiel, das wutschäumende Duo am anderen Ende des Tischs auszublenden.
«Ich habe Manash getroffen. Er ist dazu bereit, uns ein ausführliches Interview zu geben, allerdings hat er … Wie soll ich das sagen? Es gibt da ein Problem, bei dessen Lösung ich ihm vorher behilflich sein soll.»
Viola Pontes Stimme zerschnitt wieder die Luft: «Was soll das denn? Er stellt Forderungen? Es geht hier um unsere Glaubwürdigkeit. Die Frage ist, ob Nora jetzt überhaupt noch unbefangen genug ist, um ein Interview mit ihm führen zu können.»
Krebs schwieg und wartete so gespannt wie der Rest der Anwesenden auf Noras Antwort.
«Es sind ein paar Dinge zu klären, mehr kann ich leider nicht sagen. Außer vielleicht noch, dass dies einen Großteil des Artikels einnehmen wird», verdeutlichte Nora und versuchte, dabei nur Krebs in die Augen zu sehen.
«Das ist un-pro-fess-i-o-nell.» Viola betonte jede Silbe mit Nachdruck. «Ich schlage vor, dass wir diesen Auftrag wieder Victor übertragen. Nicht zuletzt, weil er sich auf dem Gebiet sehr gut auskennt. Außerdem laufen wir Gefahr, dass jederzeit ein anderer dahergelaufener Journalist dem Asylbewerberheim einen Besuch abstatten und uns die Story vor der Nase wegschnappen könnte. Das Risiko sollten wir nicht eingehen.» Beschwörend schaute sie sich in dem kleinen Konferenzraum um.
Nora holte tief Luft. «Ich kann euch versichern, dass Manash mir sein Wort gegeben hat. Dies wird ein Exklusivinterview mit uns, er wird mit niemandem sonst reden. Das hat er mir versprochen, und ich glaube ihm.»
«Aber dann kannst du uns doch auch erzählen, welche Bedingungen er stellt», forderte Viola Ponte.
Endlich schritt Krebs ein. «Wir reden im Anschluss darüber, Viola. Wenn ich unter vier Augen mit Sand gesprochen habe.»
Widerwillig gab die Kulturredakteurin das Wort an die Anzeigenabteilung ab, deren Vertreter freudestrahlend mitteilte, dass die Seiten 14 und 15 wegen des Schlussverkaufs bei Magasin gebucht wurden.
Nora tat so, als würde sie etwas in ihrer Tasche suchen, während sie Victors Blick auf sich spürte. Nach fast halbstündigem Hin und Her über redaktionelle Entscheidungen und die Planung des im Herbst anstehenden Musikfestivals, Absprachen über die Berichterstattung über die Wahl in Finnland und eher allgemeinen Informationen über die anstehenden Umbaumaßnahmen im hauseigenen Hof strömten langsam, aber sicher alle nacheinander aus dem Raum.
Zurück blieben nur Krebs und Nora, die schließlich aufstanden und sich in Krebs’ Büro begaben. Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. «So ist sie, seit wir ihr auf so grausame und ungerechte Art und Weise das interessanteste Interview ihrer Karriere ausgespannt haben. Es wird eine Weile dauern, bis sie darüber hinweg und wieder irgendwie erträglich ist. Eine ganze Weile. Dann leg mal los und lass das bitte einen wirklich guten Grund haben.»
Nora gab ihm die wenigen Details wieder, die sie hatte. Krebs lauschte gebannt, und als sie fertig war, blieb er lange schweigend sitzen.
«So wie ich das sehe, ist das wirklich eine gute Story. Allerdings sehe ich auch das Risiko, dass du da in eine endlose Geschichte verwickelt wirst, die sich über Monate hinziehen kann oder sogar niemals ein Ende finden wird.»
Widerwillig musste Nora zugeben, dass dieses Risiko durchaus bestand.
«Nun, eins können wir ja festsetzen: Du bekommst zwei Wochen. Wenn du bis dahin nichts Konkretes gefunden hast, müssen wir neu evaluieren. In der Zwischenzeit lieferst du – wie letzten Monat vereinbart – deinen Artikel über die Finanzen in der Champions League an Tausen. Sind wir uns einig?»
Nora nickte. Sie wusste, dass man mit Tausen immer verhandeln konnte. Im schlimmsten Fall konnte Nora die Deadline ja immer noch verschieben, ohne Krebs damit zu behelligen. Nora fing an, ihre Sachen einzupacken, aber Krebs hatte offenbar noch mehr auf dem Herzen.
«Dieses Interview ist sehr wichtig für uns. Wir brauchen es. Da darf nichts schiefgehen, hörst du? Ganz besonders nicht nach dem ganzen Drama hier», sagte er ernst.
Nora nickte.
«Gut. Dann ab mit dir, du hast schließlich was vor. Und ich muss in die Höhle der Löwin, um die Kulturredakteurin zu besänftigen.»
Nora stand auf. Als sie fast durch die Tür war, rief Krebs ihr nach: «Hey, wende dich doch an Esther. Sie hat ausgezeichnete Kontakte in den Iran. Es schadet sicher nicht, nachzuhören, was sie dazu zu sagen hat.»
«Danke», erwiderte Nora und warf einen Blick auf die Uhr, die am Empfang hing. Ihre Parkzeit war seit sieben Minuten abgelaufen. Selbstverständlich erwartete sie ein Knöllchen unterm Scheibenwischer, als sie bei ihrem Wagen ankam.
Offiziell war Esther vor vier Jahren nach einer langen und glorreichen Karriere als Korrespondentin im Mittleren Osten in den Ruhestand gegangen, aber die Wirklichkeit sah ein wenig anders aus, denn sie schrieb weiterhin lange Analysen über den Friedensprozess und fungierte als Beraterin für Unternehmen und Privatpersonen, die einen Ansatzpunkt suchten, um etwas aufzubauen – sei es in Damaskus, Jerusalem oder Teheran. Sie sprach fließend Farsi und verfügte über solide Arabischkenntnisse.
Nora suchte in ihrem Handy nach Esthers Nummer und rief sie an. Esther ging sofort dran und lud Nora sogleich zum Nachmittagstee ein.
Eine Viertelstunde später erreichte Nora den Blegdamsvej, wo ihr ein etwa fünfjähriges Mädchen mit großen, ernsten Augen die Tür öffnete. «Ich heiße Miranda, und Oma backt gerade Brötchen», informierte sie.
Nora betrat die Wohnung, von der aus man direkt auf die Universität blickte, und wurde vom Duft nach Frischgebackenem begrüßt.
Die Wohnung wirkte wie eine Mischung aus Beduinenlager und einem Ableger des Britischen Museums. Perserteppiche kämpften um den begrenzten Platz am Fußboden, antike Dolche hingen zwischen Seidenstoffen mit Kamasutra-Motiven und Wandregalen, die unter dem Gewicht der vielen Bücher durchzubrechen drohten.
«Ich bin hier drüben», ertönte Esthers raue Stimme.
Nora folgte ihr in die Küche, die eher einem türkischen Basar glich: Kupfertöpfe hingen an Haken von der Decke, Knoblauch und getrocknete Chilischoten rankten sich aufgefädelt um das Fenster, und am Tisch stand Esther in einem türkisfarbenen Kaftan. Sie war gerade dabei, eine großzügige Handvoll Minzblätter in eine Glaskanne zu füllen. «Kommen Sie nur herein», sagte sie.
Nora folgte ihrer Aufforderung und setzte sich auf einen Stuhl an dem kleinen Esstisch, während Miranda sie unverhohlen anstarrte. Esther goss ihrer Enkelin ein Glas Saftschorle ein und richtete danach zwei kleine, bauchige marokkanische Gläser mit goldener Verzierung auf einem Tablett an. Dann tippte sie die gewünschte Zeit in die elektrische Eieruhr, ein knallrotes Ding, das der Moschee in Mekka nachempfunden war und nach Ablauf der gewählten Zeit statt eines Alarms Gebetsrufe von sich gab – ein Geburtstagsgeschenk der Redaktion.
«Die Brötchen sind in zehn Minuten fertig», verkündete Esther, schenkte Minztee in die kleinen Gläser und reichte Nora das Honigglas, damit sie selbst nach Belieben süßen konnte.
«Wie gut sind Ihre Kontakte in den Iran?», fragte Nora.
Esther holte mit ihrer Antwort ein wenig aus. «Das kommt ein bisschen darauf an, worum es sich handelt. Geht es Richtung Regierung? Heer? Den politischen Untergrund?»
«Oma? Darf ich jetzt mit dem iPad spielen?», fragte Miranda dazwischen.
Esther schaute ihre Enkelin an. «Du weißt doch, dass das hier oben bei deiner Großmutter nicht funktioniert.»
«Aber wir könnten doch noch mal probieren, ob es jetzt funktioniert.»
Esther stand auf und ging zu einem der schmalen Bücherregale im Flur, aus dem sie ein dickes Bilderbuch holte. «Wie wäre es denn damit, mein Schatz?»
Das Mädchen nahm das Buch ohne Widerrede entgegen. Miranda blätterte sich durch die Seiten, und die Bilder vom Vogel Roch und von Männern mit Turbanen auf Eseln ließen Nora darauf schließen, dass es sich um eine türkische Ausgabe von Tausendundeine Nacht handelte.
«Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo genau ich mit der Suche ansetzen soll. Ich versuche, eine Frau zu finden», sagte Nora und erzählte von Manash Ishmail.
Esther unterbrach sie, kaum dass der Name fiel. «Der Dichter Manash Ishmail?»
Nora nickte.
«Oh, so ein liebenswerter Mensch. Ich habe ihn vor vielen Jahren einmal getroffen, als er noch beim Ministerium arbeitete. Lange vor seiner Zeit als Poet. Er lud mich zu sich und seiner jungen Frau ein. Wie hieß sie noch gleich? Amina! Ja, Amina … Eine sehr hübsche Frau», sagte Esther.
«Dann sprechen wir vom selben Menschen. Und die Frau ist die, nach der ich suche», bestätigte Nora.
«Da werde ich selbstverständlich helfen», versprach Esther.
«Manash Ishmail hat sich selbst schon ein wenig daheim umgehört, aber seine Frau ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich kann leider nicht sagen, wie gut seine Verbindungen sind, aber mir kommt es merkwürdig vor, dass weder Freunde noch Verwandte etwas gehört hätten, wenn seine Frau zurückgekehrt wäre», sagte Nora.
Esther zog sich nachdenklich am langen, geflochtenen Zopf, den sie trug, seit sie die Arbeit als Journalistin aufgenommen hatte. In all den Jahren war er ergraut. «Warten Sie …», sagte Esther und schaute mit leerem Blick in die Luft, «da war irgendetwas mit Aminas Familie. Irgendetwas …»
Doch bevor Esther ihren Satz fortsetzen konnte, verkündete der elektrische Muezzin Allahs Mächtigkeit, weshalb sie aufstand, um die Brötchen aus dem Ofen zu holen.
Nora wartete geduldig, während das Gebäck unter Mirandas wachsamem Blick auf ein Kühlgitter gelegt wurde. Der Geruch nach frischem Brot und Kardamom ließ Nora das Wasser im Mund zusammenlaufen, was ihr sofort wieder vor Augen führte, dass sie bislang nichts als das Omelette gegessen hatte, zu dem sie am Morgen von Manash eingeladen worden war.
«Wir müssen noch ein bisschen warten, bis sie nicht mehr so heiß sind», warnte Esther das Kind, holte aber schon einmal die Butter aus dem Kühlschrank und stellte außerdem noch ein Glas Rhabarbermarmelade auf den Tisch.
Nora versuchte, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. «Sie waren gerade dabei, etwas von Amina zu erzählen.»
Esther schüttelte verwirrt den Kopf. «Oh, ja, lassen Sie mich nachdenken … Irgendwas war da. Hatte sie ihre Eltern verloren? Oder ihren Onkel? Den Bruder? … Ach, das ist sicher schon zehn Jahre her …» Sie holte ein Brotmesser hervor und begann, die heißen Brötchen aufzuschneiden, damit sie schneller abkühlten. Die Hälften dampften ausgiebig.
In diesem Moment vibrierte Noras Handy kurz in ihrer Hosentasche. Sie zog es hervor und warf einen schnellen Blick auf das Display. Eine Mail von Andreas. Betreff: Wir müssen reden. Ruf mich sofort an!
Erst in diesem Augenblick merkte sie, wie angespannt sie unterschwellig gewesen war. Erst jetzt, als ihr das kleine Feld auf dem iPhone verkündete, dass Andreas noch auf dieser Welt existierte und außerdem mit ihr sprechen wollte, war ihr, als wäre ihr Körper nicht länger von Stacheldraht umwickelt, als könne sie sich wieder frei bewegen. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Nora steckte das Handy zurück in die Hosentasche, sie würde sich später bei ihm melden. Gerade reichte ihr das Wissen darum, dass er Kontakt zu ihr suchte. Also aßen die drei in aller Ruhe ihren kleinen Nachmittagsimbiss. Mit kalter Butter, die auf den Brötchen schmolz, und süßem Minztee, während Miranda erfolglos versuchte, ihre Großmutter davon zu überzeugen, was für eine phantastische Idee es sei, sich einen Dackel anzuschaffen.
Als Nora schließlich aufstand, um zu gehen, brachte Esther sie noch zur Tür.
«Es gibt da ein paar Menschen, die ich im Iran kontaktieren kann. Namen oder dergleichen werde ich Ihnen nicht verraten, nur so viel: Wenn ich mit ihnen gesprochen habe, werde ich einen guten Eindruck davon haben, ob sich Amina im Land befindet oder nicht. Sie hören von mir.»
Nora umarmte sie zum Abschied und sprang dann vor lauter Glück die Stufen hinunter. Kaum stand sie draußen auf dem Bordstein in der Sonne, holte sie ihr Handy hervor und ließ sich die Mails anzeigen.
Da war keine von Andreas.
Schnell durchsuchte sie ihre anderen E-Mail-Konten, vielleicht hatte Andreas ja fälschlicherweise an ihre Arbeits- oder ihre Notfalladresse bei der British Telecom geschrieben. Aber auch dort hatte sie kein Glück. Verzweifelt prüfte sie, ob sie unbemerkt auf Löschen gedrückt hatte, während das Handy in der Tasche steckte, doch der Papierkorb aller drei Konten war leer. Sie gab auf und rief David an. Nora wusste, wie sehr er es hasste, auf der Arbeit gestört zu werden, weshalb sie es nicht persönlich nahm, dass er statt einer Begrüßungsfloskel fragte: «Was willst du?»
Ihr Bruder hatte als Aktuar einer Versicherungsgesellschaft seine perfekte Anstellung gefunden, die nicht nur seinem besonderen Temperament entgegenkam. Nein, sie be- und entlohnte sogar sehr ansehnlich seine Vorliebe für mathematische Darstellungen und seinen unfreiwilligen Drang zum Systematisieren, ohne sich gefühlsmäßig in etwas zu involvieren. Solang man nur dafür sorgte, dass David allem fernblieb, wofür Höflichkeit und ein Gespür für Kunden nötig waren, waren alle glücklich. Und weil die Firma ihn im Gegenzug immer mit den neuesten Computern versorgte und er alles kaufen durfte, was an Updates oder Erweiterungen auf den Markt kam, wenn er dies für notwendig hielt, konnten sie sich seiner lebenslangen Loyalität sicher sein.
«Hallo, David. Ich hab nur eine kurze Frage: Wenn man eine Mail auf sein Handy bekommen hat, die sich aber nicht länger im Posteingang befindet, kann man diese Mail dann – ohne es zu wissen – so gelöscht haben, dass sie auch nicht mehr im Papierkorb steckt?»
«Nein», sagte David und legte auf.
Nora dachte kurz nach, suchte dann aber wirklich Andreas’ Telefonnummer aus ihrer Kontaktliste, holte tief Luft und wählte die Nummer an. Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es später wieder, informierte sie die nur zu bekannte Frauenstimme.
Nora setzte sich in ihren Leihwagen und überlegte, ob sie nach Bagsværd fahren solle. Aber sie entschied sich dagegen und hinterließ ihrem Vater stattdessen eine kurze Nachricht, dass er zum Abendessen in die Schrebergartenkolonie kommen könne. An David, den sie mit Anrufen im Büro in nächster Zeit sicher nicht mehr behelligen durfte, schickte sie eine knappe SMS mit der Frage, ob er zu ihnen stoßen wolle.
Dann fuhr sie bis zum Israels Plads, wo sie in der Tiefgarage unter der Markthalle parkte, die sie kurz darauf betrat, um saftig rote Tomaten, einen Topf Basilikum, Büffelmozzarella, Pinienkerne und frische Pasta zu kaufen. Zuletzt erstand sie noch Apfelsorbet, bevor sie sich wieder ins Auto setzte und sich auf den Weg zur Schrebergartenkolonie machte.
Schon als sie auf den kleinen Kiesweg abbog, der zu dem kleinen, schwarzen Haus führte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
Die großen Tontöpfe mit den Pfingstrosen, die David behutsam im Frühjahr gezogen und über den Sommer gerettet hatte, lagen zerschlagen auf der Wiese. Die verblühten Pflanzen waren herausgerissen worden, die Erde bildete dunkle Flecken auf dem kleinen Grünstück. Die oberste Scheibe der Tür war zersplittert, und die Tür stand einen Spaltbreit offen.
«Oh, nein!», stöhnte Nora leise und stellte die Einkaufstaschen langsam auf dem Weg ab.
David würde sehr unglücklich sein, wenn er sah, was mit seinen Pfingstrosen geschehen war, und allein dafür hasste Nora den Eindringling. Ironie des Schicksals war, dass der vermeintliche Dieb nicht einmal etwas Brauchbares gefunden haben konnte. Eine halbleere Flasche Rotwein, ein Stapel zerlesener National Geographics und ein altes Transistorradio mit abgeknickter Antenne und abgenutzten Knöpfen glichen nicht gerade einer lohnenswerten Beute.
Mit einem Seufzer griff Nora nach den Taschen und bereitete sich mental auf das vor, was sie im Inneren des Hauses erwarten würde. Vorsichtig näherte sie sich dem Haus. «Hallo? Ist da jemand?»