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O du tödliche Weihnachtszeit Es ist kurz vor Heiligabend. Schnee fällt auf die Straßen der englischen Kleinstadt – und auf die Türschwelle von Rätselexpertin Edie O'Sullivan. Dort liegt ein mysteriöses Päckchen: sechs Puzzleteile, die den Ausschnitt eines blutigen Tatortes zeigen. Dazu eine bedrohliche Nachricht: Wenn es Edie nicht gelingt, alle Teile zusammenzufügen und den Absender aufzuhalten, werden bis Weihnachten mindestens vier Menschen sterben. Ein schlechter Scherz? Da taucht das erste Opfer mit einem Puzzleteil in der Hand auf, und Edie begreift, dass sie bei diesem Puzzle um Leben und Tod spielt. Der neue Weihnachtskrimi von der Autorin des britischen Bestsellers Mord im Christmas Express »Mindestens vier Menschen werden bis Heiligabend um Mitternacht den Tod gefunden haben, wenn Sie es nicht schaffen, alle Teile zusammenzusetzen und mich aufzuhalten.« Mit diesen Worten auf einer Weihnachtskarte ist die besinnliche Adventszeit für die Rentnerin und Weihnachtshasserin Edie O'Sullivan vorüber. Ein unbekannter Absender hat sie geschickt, ebenso wie sechs Puzzleteile, die zusammengelegt den Ausschnitt eines Tatortes ergeben. Entsetzt sucht Edie Rat bei ihrem Großneffen Sean, einem Polizisten. Sie ahnt, dass sie nicht zufällig ausgewählt wurde, schließlich gilt sie als eine der größten Rätselexpertinnen des Landes. Doch da taucht bereits das erste Opfer mit einem Puzzleteil in der Hand auf. Sean will ohne Edie weiterermitteln, aber die alte Dame lässt nicht locker. Unbeirrt puzzelt sie weiter. Je näher sie der Lösung kommt, desto mehr führen die Hinweise in Edies Vergangenheit und zu einem Geheimnis, das sie tief vergraben glaubte.
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Alexandra Benedict
Das mörderische Christmas Puzzle
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen
Tropen
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Christmas Jigsaw Murders« im Verlag Simon & Schuster UK Ltd, London
© 2023 by Alexandra Benedict
Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd 1st Floor, 222 Gray’s Inn Road, London, WC1X 8HB
Für die deutsche Ausgabe
© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten
Cover: Zero-media.net, München
unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Artwork: © Emma Ewbank
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50257-2
E-Book ISBN 978-3-608-12345-6
Für Guy, mein passendes Puzzleteil
Sie reißt dein Herz in Stücke – und je älter und stärker es wird, desto tiefer geht der Riss.
Charles Dickens, Große Erwartungen
Ich bin gebeugt und gebrochen worden, doch – wie ich hoffe – zu besserer Form.
Charles Dickens, Große Erwartungen
»Pah!«, sagte Scrooge. »Humbug!«
Charles Dickens, Der Weihnachtsabend
In diesem Buch sind die Titel mehrerer Romane und weihnachtlicher Kurzgeschichten eines meiner absoluten Lieblingsschriftsteller, Charles Dickens, versteckt – allerdings in Form von Anagrammen. Damit es nicht ganz so schwer ist, habe ich das jeweilige Kapitel angegeben – die Lösung findet sich am Ende des Buches.
Hinweis: In einigen Fällen werden die Umlaute ä, ö und ü in ae, oe und ue umgewandelt oder umgekehrt.
Das Heimchen am Herde – Kap. 24
Der Bahnwärter – Kap. 23
Der Kampf des Lebens – Kap. 43
Der Verwünschte – Kap. 49
Der Weihnachtsabend – Kap. 22
Die Silvesterglocken – Kap. 54
Eine Geschichte aus zwei Städten – Kap. 52
Große Erwartungen – Kap. 37
Harte Zeiten – Kap. 11
Nicholas Nickleby – Kap. 35
Oliver Twist – Kap. 31
19. Dezember
Bislang war niemand tot, dies gleich vorneweg. Doch das sollte sich ändern. R. I. P. saß am Schreibtisch, schaute auf das Meer hinaus und spürte das Herannahen des Todes wie Nadelstiche auf der Haut. Zitternd streiften die Hände die kurzen weißen Handschuhe über. Der Weihnachtsmann sollte dieses Jahr im Gewand des Sensenmannes erscheinen. An den Stechpalmenzweigen würden blutrote Beeren hängen.
R. I. P. faltete die Zeitung zusammen. Das Kreuzworträtsel war gelöst. Alles war vorbereitet, es konnte losgehen. Warum also dieses Zögern? Weil R. I. P. bisher vieles war, aber nicht kriminell. Am Himmel trieben Möwen auf unsichtbaren Böen umher. In wenigen Minuten würde sich das Leben für immer verändern.
Ein schneller Blick auf die Uhr. Bevor es dunkel wurde, war noch viel zu tun. R. I. P. zog eine Schublade auf, holte die Schachtel hervor und sah hinein. Der Anblick des Inhalts verursachte Übelkeit.
Mit einem Seufzen glitt die Schere durch das schwarz-weiß karierte Geschenkpapier, das auf dem Schreibtisch ausgerollt war. R. I. P. stellte die Schachtel in die Mitte und klebte das Papier mit langen Klebestreifen fest – einen über den anderen, wie um eine Geisel an der Flucht zu hindern.
Während R. I. P. die Arme ausbreitete, um das rote Band abzumessen, kehrten die Erinnerungen an einen Adventsgottesdienst vor vielen Jahren zurück. R. I. P. verspürte Reue, wie immer. Doch diese Reue war der Antrieb hinter dem Ganzen. R. I. P. verdrängte die Erinnerung, band eine Schleife um das Päckchen und steckte die Karte darunter. Sie sollte alles in Gang setzen.
Anschließend legte R. I. P. das karierte Päckchen ehrfürchtig wie Myrrhe für das Jesuskind in den Beutel auf dem Teppich, um sich dann entschlossen wiederaufzurichten. Wenn in der Weihnachtsnacht die Uhren zwölf schlügen, würden Menschen gestorben sein. Das war schmerzhaft, aber es ging nicht anders. R. I. P. griff nach dem Geschenk.
Gott segne uns, und alle unsere Opfer.
Fragte man Edie O’Sullivan, dann war der Dezember der schlimmste Monat von allen. Abgesehen von kalten Erinnerungen, brachte er eine Dunkelheit mit sich, die ihren Körper durchdrang wie dichter Winternebel. Zu dieser Zeit des Jahres waren die Schatten nie mehr als einen halben Meter von ihr entfernt.
Es war noch nicht einmal vier Uhr am Nachmittag, und trotzdem wich der Tag schon der Nacht. Nacht – eine behauptete Ziffer, die auf die Sonne folgt. Selbst mit der Lupe waren die Puzzleteile, die sie gerade zusammensetzte, kaum noch in all ihren Einzelheiten zu erkennen. Angesichts der steigenden Kosten zögerte sie es so lange wie möglich hinaus, das Licht und die Heizung einzuschalten, doch manche Dinge waren wichtiger, als Geld zu sparen, und dazu zählten auch Puzzles.
Edie stand auf – ihre Knie knackten wie Holzscheite im Feuer – und ging zum Lichtschalter. Jetzt war das Chaos in ihrem Wohnzimmer für die ganze Straße sichtbar, überall stapelten sich Bücher und schmutzige Teetassen. Die tiefen Fenster der Verandatür verwandelten den Raum in eine Bühne und Edie in die Hauptfigur einer Schmierenkomödie, in der sie herbeihastete, um den Vorhang zuzuziehen, bevor sie jemand sah. Doch dann hielt sie, den Stoff schon in der Hand, inne.
Auf der anderen Straßenseite stand Lucy Pringle, eine überaus liebenswürdige junge Frau, von der Edie sehr viel mehr trennte als nur die Straße zwischen ihren Häusern. Lucy balancierte auf einer hohen Leiter und brachte zusätzliche Weihnachtsdekoration an ihrem Haus an. Die Pringles hatten bereits Anfang November angefangen, das Haus zu schmücken, ein Trend, den Edie zutiefst missbilligte. In diesem Jahr hatten die Christbaumkugeln und Weihnachtssüßigkeiten schon im August neben der Grillkohle im Supermarkt gelegen. Wenn es nach Edie ginge, würde die Weihnachtszeit pünktlich an Heiligabend beginnen und sich am zweiten Weihnachtstag wieder verabschieden. Und selbst das war eigentlich noch zu lang. Für Edie gehörte Weihnachten in die Mülltonne, und zwar nicht in die Recylingtonne, aus der das Fest gekrochen kam, sondern in den Restmüll.
Lucy gab ihrem Mann Graeme, der am Fuß der Leiter stand, ein Zeichen. Er nickte und lief in die Garage. Wenige Sekunden später leuchtete ein gigantischer Weihnachtsmann über der Haustür auf. Die abwechselnd blinkenden Lichter sollten wohl den Eindruck erwecken, dass er winkte, aber aus Edies Perspektive sah es aus, als würde er sich einen runterholen. Ein onanierender Weihnachtsmann. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Lucy stieg die Leiter hinab und stellte sich auf den Rasen vor dem Haus, um ihr Werk zu begutachten. Sie klatschte in die Hände und sah sich um, ob irgendjemand in der Straße zugeschaut hatte. Als sie Edie im Scheinwerferlicht ihres Wohnzimmers entdeckte, winkte sie ihr zu und machte Anstalten, zu ihr herüberzulaufen.
Edies Gesicht brannte. Ihr Herz geriet kurz aus dem Takt. Hastig nahm sie einen Streifen Kaugummi vom Tisch, schob ihn sich in den Mund und machte eine Kaugummiblase. Das beruhigte sie nicht nur, sondern erzeugte buchstäblich einen Puffer zwischen ihr und ihrer Umwelt.
Sie hatte keine Ahnung, warum Lucy mit ihr sprechen wollte. Vielleicht empfand sie Mitleid mit Edie und hatte mit ihren Freundinnen beschlossen, dass man nett sein müsse zu der armen alten Frau von gegenüber. Sobald sie vor der Tür stand, würde Edie sie nur noch mit geballter Griesgrämigkeit davon abhalten können, sie in irgendwelchen Smalltalk zu verwickeln.
Mit einem Ruck zog sie die Vorhänge zu. Sie würde Mitleidsbesuche nicht unterstützen, egal, wie sehr sie sich hin und wieder nach Gesellschaft sehnte. Außerdem hatte sie keine Lust, die ganze Zeit den blinkenden Weihnachtsmann sehen zu müssen.
Sie hielt inne und wartete auf das Geräusch von Schritten auf dem knirschenden Schotter vor ihrer Tür, doch es blieb ruhig. Lucy hatte die Botschaft verstanden. Vermutlich würde sie es nicht so bald noch mal versuchen. Edie war zugleich erleichtert und traurig, eine ihr sehr vertraute Gefühlskombination. Peggoty, eine silbergraue Sibirische Katze, die sich neben zwei weiteren Katzen dazu herabließ, von Edie umsorgt zu werden, strich ihr um die Beine. Edie bückte sich, nahm Peggoty auf den Arm und vergrub die Nase in ihrem Fell. Peggoty hatte ein untrügliches, schnurrendes Gespür für innere Unruhe. Edie machte sich auf den Weg in die kalte Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen. Katzen, Puzzles und Tee: Edies heilige drei Trostspender.
Als sie an ihrer seit zwanzig Jahren verschlossenen Esszimmertür vorbeiging, tauten einige ihrer eingefrorenen Erinnerungen schlagartig auf. Die meiste Zeit des Jahres schaffte sie es, diesen Raum zu ignorieren, doch jetzt musste sie daran denken, wie sie zum letzten Mal darin gewesen war. Es war kurz vor Weihnachten gewesen. Sky hatte gerade ihr Goldschmiedewerkzeug zusammengepackt und den selbstgemachten Schmuck in die mit Samt ausgeschlagenen Kästchen gelegt. In solch einen Sarg hatte sie auch ihre Liebe gebettet.
Sie hatte sich mit schmerzerfülltem Blick zu Edie umgedreht und ihr eine Kette hingehalten, an der eine silberne Mondsichel hing. »Das hätte dein Geschenk werden sollen. Ich finde, du sollst es trotzdem bekommen, als Andenken an uns.«
Edie hatte nach der Kette gegriffen und sie an die Wand geschleudert. »Ich will weder dich noch dein Gebimsel.« Die Kette war auf den Boden gefallen. Edie hatte Sky angesehen und sich gewünscht, dass sie schreien, brüllen, leiden würde.
Aber Skys Stimme war sanft und leise gewesen. »Wir können das hier friedlich zu Ende bringen. Es ist deine Entscheidung, mit welchen Worten wir uns voneinander verabschieden.«
Wenn Edie sich mit irgendetwas auskannte, dann waren es Worte. Als Verfasserin von Kreuzworträtseln konnte sie damit fast alles beschreiben außer ihre wahren Gefühle. »In GEBIMSEL steckt das Wort IGEL. Lateinischer Name: Erinaceidae. Definition: Stacheliger Vertreter der einheimischen Fauna, der sich gern im Laub verkriecht.«
Skys Tränen sahen aus wie flüssiges Silber. »Mach’s gut, Edie.« Sie wartete auf eine Antwort, aber Edie schwieg.
Als Sky das Haus verließ und die Tür so hinter sich zuzog, wie sie auch ihre Beziehung beendet hatte – nicht mit einem lauten Knall, sondern quälend behutsam –, wäre Edie ihr am liebsten hinterhergelaufen. Aber das ließen weder ihre Beine zu noch ihr Stolz. Ihr blieb nur, das Esszimmer zu verlassen und ein Vorhängeschloss davor anzubringen, wie auch vor ihrem Herzen.
Jetzt hastete sie an der Tür vorbei und schob die Erinnerungen wieder zurück in die Tiefen ihrer geistigen Gefriertruhe, begleitet von einem Stoßgebet, sie mögen dort bleiben.
Draußen vor dem Küchenfenster gingen nach und nach die Lichter in den anderen Häusern an. Dünne, silbrige Wolken schoben sich vor den Mond und erinnerten Edie abermals an die Kette. Sie durfte nicht ständig an Sky denken.
Nachdem sie sich eine Kanne Tee gemacht hatte (ein Teelöffel Ceylon, ein Teelöffel Assam und ein Teelöffel Lady Grey, genau sechs Minuten ziehen lassen und dann mit einem Gebet zur Jungfrau Maria herausnehmen), setzte sie sich wieder ins Wohnzimmer, eine Katze auf jeder Seite und das Puzzletablett auf dem Schoß. Ihr Herz beruhigte sich mit jedem passenden Teil. Auf das Puzzeln konnte sie sich verlassen wie sonst auf nichts und niemanden, nicht einmal auf ihren eigenen Verstand. Durch das methodische, stetige Zusammensetzen der Teile ergab sich ein lückenloses Bild, egal, wie lange es dauerte.
Es klingelte an der Tür. Offenbar hatte Lucy es sich doch anders überlegt. Sie war beharrlich, das musste Edie ihr lassen. Trotzdem, sie würde ihr nicht die Genugtuung verschaffen, aufzumachen.
Doch die Schritte entfernten sich rasch wieder, sie waren erst auf dem Schotter vor dem Haus zu hören, dann auf dem Gehweg und anschließend in der schmalen Gasse neben Edies Garten, in der die Mülltonnen standen. Wahrscheinlich ein Paketbote. Ihr Chef bei The National schickte ihr jedes Jahr zu Weihnachten einen Präsentkorb von Fortnum & Mason, immer mit dem gleichen Text in der Karte: Für die beste Verfasserin von Kreuzworträtseln im ganzen Land. Den wollte sie sich nicht entgehen lassen, sonst verschwand er womöglich genauso schnell wie die lilafarbenen Süßigkeiten aus der Quality-Street-Dose, selbst in einem Wohnviertel wie diesem.
Edie kämpfte sich wieder hoch und achtete dabei darauf, die Puzzleteile nicht durcheinanderzubringen. Peggoty und Fezziwig folgten ihr hinaus in den eiskalten Flur. Durch die Glasscheibe der Haustür waren die Umrisse eines mittelgroßen Pakets zu sehen, das draußen auf dem Treppenabsatz stand.
Edie öffnete die Tür und hob das Paket hoch. Es war in schwarz-weiß kariertes Geschenkpapier gehüllt, mit einem blutroten Schleifenband verziert und so leicht wie der Schnee, der gerade zu fallen begann. Der Inhalt rutschte hin und her, und der Umschlag, der unter dem Band steckte, war an sie adressiert: Ms Edith O’Sullivan. Edies Neugier siegte über die Kälte. Also stellte sie das Paket auf das Verandageländer, öffnete den Umschlag und zog eine Weihnachtskarte einer Wohltätigkeitsorganisation mit Stechpalmenzweigen vorne drauf heraus. Edie klappte die Karte auf und las den gedruckten Text:
Ms O’Sullivan,
Sie sind nicht nur bekannt für gekreuzte Worte, sondern auch dafür, dass Ihre Worte ein Kreuz sind. Aber lassen sich Ihre Fähigkeiten auch auf Mord anwenden? Mindestens vier Menschen werden bis Heiligabend um Mitternacht den Tod gefunden haben, wenn Sie es nicht schaffen, alle Teile zusammenzusetzen und mich aufzuhalten. Bleiben Sie auf geraden Wegen – seitliche Sprünge waren noch nie Ihre Stärke.
Viel Erfolg,
R. I. P.
Edies Gedanken erstarrten, aber ihre Hände zitterten und ihr Herz hämmerte, als sie jetzt das Geschenkpapier vom Paket riss und eine quadratische, weiße Schachtel zum Vorschein kam. Sie nahm den Deckel ab und erblickte sechs Puzzleteile. Durch die Macht der Gewohnheit fing sie sofort an, die Kanten abzugleichen und die passenden Teile zusammenzusetzen. Ihre Brust schnürte sich zusammen, als sie erkannte, was sie dort vor sich hatte.
Auf einem der Teile schien der Ausschnitt eines handgeschriebenen Schildes zu sehen zu sein. Die anderen zeigten schwarz-weiße Kacheln, blutverschmiert und mit dem unvollständigen Kreideumriss einer Leiche darauf. Ein Tatort in einer Schachtel, und sie war diejenige, die das Rätsel lösen sollte.
Offenbar standen ihr mörderische Weihnachtstage bevor.
»Wenn die Person, die dahintersteckt, glaubt, ich würde ihr blödes Spielchen mitspielen, dann hat sie sich geschnitten«, sagte Edie. Sie hatte mittlerweile so viel von Rigas »Lebensgeister-Trank« intus, dass sie aufgehört hatte zu zittern.
Riga Novack war ihre neunzigjährige Nachbarin und zählte, neben Edies Großneffen und Adoptivsohn Sean, zu den wenigen Menschen, deren Gegenwart sie ertrug. Riga war vor fünfzehn Jahren nebenan eingezogen und hatte kurz darauf im Chanel-Kostüm und mit einer Dose selbstgebackener kolaczki-Plätzchen mit Lavendelgeschmack vor Edies Haustür gestanden. »Damit du mich magst«, hatte sie gesagt. »Aber ich hätte sonst auch Schnaps dabei.« Seitdem waren die beiden unzertrennlich.
Jetzt saßen sie in Rigas Wintergarten. Die Glaswände und die Decke waren von Ranken und Blättern bedeckt, was Edie das seltsame Gefühl gab, langsam von einer fleischfressenden Pflanze verschlungen zu werden. Dieser Wintergarten war wirklich ein Garten, und die Luft roch nach den vielen Gewächsen, die Riga für ihre verschiedenen Tränke heranzog. Manche Leute hielten sie für eine Kräuterexpertin, andere für eine Hobbyhexe. Für Edie war sie einfach ihre beste Freundin.
»Aber du bist doch bestimmt neugierig, oder?«, fragte Riga, stellte die Schachtel mit den Puzzleteilen zurück auf den Tisch und zog die Handschuhe aus, die Edie ihr gegeben hatte, um keine Spuren auf dem Beweismaterial zu hinterlassen. »Du hast schließlich Katzen-Gene in dir.«
»Das ist das größte Kompliment, das du mir je gemacht hast. Nichts für ungut, Nicholas.« Edie schaute zu Rigas Lieblingssessel hinüber, wo sich der Mops auf einer Decke zusammengerollt hatte. Nicholas hob die Schnauze und schnüffelte. Er war sehr schnell beleidigt. »Und ja, natürlich bin ich neugierig. Schließlich ist es ein Rätsel in Puzzleform.« Edie lehnte sich in Rigas zweitbestem Korbstuhl zurück. »Ein großer Teil von mir schreit danach, mich in die Sache hineinzustürzen und herauszufinden, wer mir das Päckchen geschickt hat … Ich habe mehr Fragen, als ich dieses Jahr Weihnachtskarten bekommen habe. Aber das Ganze ist eben nicht ohne.« Sie biss in eines von Rigas Shortbreads. Das Gebäck duftete, hatte einen butterweichen Kern und war einfach unwiderstehlich. Genau wie Riga selbst. »Hier droht jemand mit Mord.«
»Du sagst doch immer, dass du alles lösen kannst.« Riga ließ sich in ihren drittbesten Sessel sinken. Obwohl Edie wusste, dass sie Schmerzen hatte, war Riga nichts davon anzumerken. Sie bewegte sich nur etwas langsamer.
»Rätsel ja, aber doch keine Mordfälle.«
»Gibt es da nicht gewisse Parallelen?«
Edie dachte nach. »Bei beidem erhält man Hinweise, die zur Lösung führen. Und auch bei einem Verbrechen würde ich bei den Fragen ansetzen, die mir am einfachsten erscheinen. Dann würde ich mir mögliche Antworten notieren und sie miteinander abgleichen, um zu schauen, ob sie zusammenpassen.«
»Klingt so, als würdest du eine gute Detektivin abgeben.«
»Aber warum habe gerade ich das Päckchen bekommen?«
Riga hielt sich die Karte noch einmal dicht vor die Augen und las den Text. »Hier werden Kreuzworträtsel erwähnt. Es könnte also einer der unzähligen Nerds sein, die deine Rätsel in den lokalen und überregionalen Zeitungen lösen. Vor allem, seit die Times diesen Artikel veröffentlicht hat, in dem sie dich als ›Rätselrentnerin‹ bezeichnet hat.«
Edie verzog das Gesicht. Diese Formulierung hatte sie nach dem Erscheinen des Artikels monatelang verfolgt. Sie hatte immer schon als Besserwisserin, Klugschwätzerin, Streberin gegolten. Jetzt war noch ein weiterer Spitzname hinzugekommen.
»Wer auch immer dir das geschickt hat, hat es auf dein Köpfchen abgesehen.«
»Wenn in dem Paket ein Kreuzworträtsel gewesen wäre, ja. Aber ein Puzzle? Kaum jemand weiß, dass ich zur Entspannung puzzle.«
Riga legte die Stirn in Falten. »Also geht’s um was Persönliches. Ein alter Groll?« Sie zeigte auf die Worte »seitliche Sprünge« in der Karte. »Was soll das heißen? Herumgehüpfe? Eine Affäre?«
Edie wandte den Blick ab. Nicht einmal Sky wusste, dass Edie ihr einmal fremdgegangen war. Zumindest hoffte Edie das. »Wie alle Leute in meinem Alter besteht meine einzige sportliche Betätigung darin, dem Tod von der Schippe zu springen. Ansonsten kann ich mit sinnlosem Herumgehopse nichts anfangen. Ich marschiere lieber strikt geradeaus.«
»Könnte dir jemand einen Streich spielen wollen? Immerhin bringst du ständig irgendwelche Leute gegen dich auf.«
»Das stimmt wohl. Das Gleiche habe ich auch Sean in meiner Nachricht gesagt.« Sean war vor Kurzem zum Detective Inspector der Polizei in Weymouth befördert worden. Er würde wissen, was zu tun war. Edie schaute immer wieder auf ihr Handy, um zu sehen, ob er sich schon zurückgemeldet hatte.
»Hast du Lucy Pringle gefragt, ob sie gesehen hat, wer das Päckchen bei dir abgestellt hat?«
»Ich bin direkt zu dir gekommen.«
Rigas Augen funkelten. »Weil ich so gerne am Fenster stehe und die Nachbarschaft ausspioniere?«
»Weil du die aufmerksamere Beobachterin bist.«
»Das war einmal. Der graue Star hat meine Augen in die Judaspfennige der Lunaria annua verwandelt.« Riga beugte sich vor und strich über die silbernen Schötchen der Pflanze vor ihr. Im Sommer trug sie violette Blüten, doch jetzt sah es aus, als hingen gespenstische Münzen an den toten Zweigen. Edie prägte sich den lateinischen Namen für das nächste Kreuzworträtsel ein. Was das anging, war Riga eine reichhaltige Fundgrube.
»Ich war natürlich hier hinten, wo sonst«, fuhr Riga fort. »Und selbst wenn ich jemanden bemerkt hätte, hätte ich nur eine verschwommene Gestalt gesehen. Aber das weißt du ganz genau. Du hattest nur keine Lust, mit Lucy zu sprechen.«
»Sie hätte mir ein Ohr abgekaut über ihren letzten Halbmarathon. Oder mir von den hässlichen Bastelarbeiten ihrer unzähligen Kinder vorgeschwärmt.«
»Pass auf, sonst endest du noch wie ich – einsam und allein bis auf die Besuche klatschsüchtiger Nachbarn und mürrischer alter Frauen wie dir.«
»Und was ist der neueste Klatsch?«
Rigas Augen leuchteten auf. »Weißt du, wo Graeme Lucy den Heiratsantrag gemacht hat? Auf der Toilette eines Costa-Cafés!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen wollte.«
»Dann hättest du nicht fragen sollen. Und wie dir meine abtrünnige Familie jederzeit bestätigen kann: Ich sage oft Dinge, die niemand hören will.« Rigas Lachen klang höhnisch. Sie nahm einen weiteren großen Schluck von ihrem Campari-Soda, der hauptsächlich Campari war. Manchmal kam sie Edie vor wie eine alte Vampirwitwe, die ausschließlich von blutroten Drinks und geistreichen Bemerkungen lebte.
Es stimmte, dass Riga nur selten Besuch von ihrer Familie erhielt. Der letzte große Streit mit ihrer Tochter hatte das verbliebene bisschen Wohlwollen zwischen ihnen weggespült, sodass die Beziehung jetzt brachlag, trotz Rigas schwächelnder Gesundheit.
Riga klatschte in die Hände und riss Edie damit aus ihren Gedanken. »Genug von mir«, beschloss sie mit glänzenden Augen. »Ich bin kaum mehr als ein Gespenst. Lass dir das von einer in ihrem Topf festgewachsenen Kräuterhexe mit fast durchsichtiger Haut gesagt sein: Leb dein Leben. Lern jemand Neues kennen, lass dich auf Abenteuer ein, sei glücklich.«
»Ich bin achtzig, Riga.«
»Eben. Du hast noch genug Zeit.«
»Es geht mir gut«, log Edie.
»Weißt du, wie ich dich meiner Brieffreundin gegenüber nenne? Die trauernde Witwe.«
Edie wurde rot. »Ich bin keine Witwe. Ich war nie verheiratet.«
»Du hast vielleicht nie einen anderen Namen angenommen oder dich den Wasserfall der Ehe hinabgestürzt, aber das ändert nichts daran, dass du das Ende deiner Beziehung nie verwunden hast. Du bist eine moderne Miss Havisham, nur dass du selbstverschuldet sitzengelassen worden bist.«
Edie zuckte zusammen. »Literarische Beleidigungen – das ist dein Fachgebiet.«
Riga zuckte mit den Schultern. »Wer dem Tod nahe ist, hat wenig zu verlieren.«
Edies Handy vibrierte. Sean. Sie ging ran. Er war außer Atem und durch den Geräuschpegel in der Polizeistation nur schwer zu verstehen. »Tut mir leid, Tante Edie, es ging nicht früher. Was ist das für eine Sache mit dem Puzzle? Ich habe deine Nachricht nicht richtig verstanden. Bist du auf der Suche nach einem Geschenk?«
Edie erzählte ihm von dem Päckchen und der Karte mit der Aufforderung.
»Ich komme nach meiner Schicht bei dir vorbei«, sagte Sean. »So um halb acht.«
»Dann treffen wir uns am besten im Merry Chipmunk.« Edie wollte nicht nach Hause gehen, aber das würde sie Sean nicht auf die Nase binden.
Am anderen Ende der Leitung waren plötzlich laute Rufe und hektische Schritte zu hören. »Ich muss aufhören. Hier geht es gerade rund.«
Beim Auflegen spürte Edie eine Welle der Erleichterung darüber, dass Sean ihr beim Puzzlerätsel helfen würde. Aber gleichzeitig beunruhigte sie der Gedanke. Sie hatte sich schon vor langer Zeit geschworen, ihn vor allen Gefahren zu beschützen. Das hier konnte das Gegenteil bewirken.
»Wie läuft es mit der Adoption?« Rigas glasiger Blick deutete darauf hin, dass der Alkohol langsam Wirkung zeigte.
Sean und sein Mann Liam durchliefen gerade ein langes, aufreibendes Adoptionsverfahren. Sie hatten sämtliche Kurse und Gutachten hinter sich gebracht und waren jetzt offiziell potenzielle Adoptiveltern. »Eventuell können sie ein kleines Mädchen namens Juniper adoptieren. Morgen treffen sie sich mit der zuständigen Sozialarbeiterin.«
»Juniper«, sagte Riga. »Wie die Wacholderpflanze. Der Name gefällt mir.«
»Natürlich. Du liebst Gin.«
Riga lachte. »Das stimmt. Aber die Wacholderbeere hat außerdem Schutz- und Heilkräfte. Sie hält das Böse fern. So ein Name ist wie eine Rüstung für ein Kind.«
»Solange noch nichts feststeht, versuche ich, möglichst wenig darüber nachzudenken. Sonst wird es zu schmerzhaft, falls es nicht klappt.«
»Und falls doch?«
»Dann könnte Juniper in ein oder zwei Monaten zu ihnen kommen. Nach zehn Wochen dürften sie die offizielle Adoption beantragen.«
»Dann wärst du Urgroßtante. Und in gewissem Sinne auch Großmutter.«
Edie richtete den Blick auf die Puzzleteile. »Gute Urgroßtanten – oder Großmütter – bekommen zu Weihnachten keine mörderischen Rätsel zugeschickt. Wie soll ich denn da ein Vorbild sein?«
»Es macht dich auf jeden Fall einzigartig. Aber darauf kommt es nicht an. Du hast dich dein Leben lang um Sean gekümmert. Obwohl du dich nie freiwillig für ein Kind entschieden hast, warst du ihm eine richtig gute Mutter.«
»Wohl kaum.«
»Auch wenn du mal Fehler gemacht hast, du warst immer für ihn da. Und jetzt ist er zu einem wunderbaren jungen Mann herangewachsen.«
»Das stimmt. Auch wenn er mir garantiert sagen wird, dass ich mich aus diesem Fall heraushalten soll.« Sean schenkte Edie jedes Jahr ein Puzzle zu Weihnachten, aber sie wettete, dass er ihr dieses hier wegnehmen würde.
»Seit wann hörst du darauf, was andere sagen?«
»Aber wie soll das gehen?«, fuhr Edie fort. »Schließlich kann ich nicht einfach alles stehen und liegen lassen und mich in Hercule Poirot verwandeln. Das scheitert doch schon am Bartwuchs. Obwohl – mit dem Alter wird der Flaum immer dichter.«
Riga strich sich über das Kinn, als wäre es von einem Rauschebart bedeckt. »Warte mal ab, bis du neunzig bist.«
»Das Tolle ist, dass ich immer jünger sein werde als du, egal, wie alt ich bin. Komm also bloß nicht auf die Idee, mir wegzusterben, ja?«
»Der Tod ist ein Zug, den man umleiten, aber nicht zum Entgleisen bringen kann.« Riga trank einen Schluck aus ihrem wiederaufgefüllten Campariglas und nickte sowohl das Getränk als auch die Lebensweisheit zufrieden ab.
Edie dachte an den »Christmas Express«, den schottischen Nachtzug, in dem letztes Jahr zu Weihnachten drei Menschen umgekommen waren. Das Ganze bereitete ihr immer noch Kopfzerbrechen. Irgendetwas passte nicht richtig zusammen, und es juckte ihr in den Fingern, herauszufinden, was es war. Vielleicht eignete sie sich doch als Sofadetektivin. Oder besser noch als Liegesesseldetektivin.
»Wann triffst du dich mit Sean?«
»Um halb acht.« Irgendetwas an diesen Worten ließ sie stocken. Sie erinnerten sie an eines der Puzzleteile.
Edie zog ihre Lupe aus der Handtasche, streifte sich die Gartenhandschuhe über und griff nach dem Teil, um es genauer zu betrachten. Es zeigte den Umriss einer Hand auf dem schwarz-weißen Fliesenboden. Auf Höhe des Handgelenks lag eine echte Armbanduhr. Edie erstarrte. Das Glas der Uhr war zersplittert, und die Zeiger standen auf halb zwölf.
»Was ist los?«, fragte Riga und beugte sich vor.
»Die Uhr.« Edie brachte die Worte kaum über die Lippen. »Die gehört Sean.«
»Bist du dir sicher? Uhren können sich ähneln.«
»Ganz sicher.« Edie hatte sie ihrem Bruder Anthony, Seans Großvater, zum Geburtstag geschenkt. Nach dessen Tod hatte sie sie an Duncan, Seans Vater, weitergegeben.
Mit aller Wucht brach die Vergangenheit über sie herein …
Sie erinnerte sich, wie sie an Heiligabend 1988 aus dem Haus gestürmt war und die Tür zugeknallt hatte, um Skys Flehen zu entkommen. Die Wut und der Buck’s Fizz, den Sky ihr unbedingt hatte mixen wollen – als gäbe es an Weihnachten etwas zu feiern –, hatten Edie so aufgepeitscht, dass sie kilometerweit durch die Gegend gelaufen war. Während ihr der Schneeregen wie Nadeln in die Haut stach, führte sie den Streit im Kopf fort. Als sie irgendwann aufschaute, hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie war. Zitternd lief sie weiter, bis sie eine Telefonzelle fand und mit dem Kleingeld in ihrer Tasche bei Anthony anrufen konnte. Dann saß sie eine Stunde lang auf der Bordsteinkante und wartete darauf, dass ihr Bruder sie abholte. Aber er kam nicht.
Als ihre Füße schon ganz taub vor Kälte waren, rief sie Sky an, die sofort da war und sie trotz aller bösen Worte in den Arm nahm. Später umarmte sie sie noch fester, als sie erfuhren, dass Anthony auf dem Weg zu Edie von der vereisten Straße abgekommen und tödlich verunglückt war. Kurz darauf hatte Edie seine Sachen aus dem Krankenhaus abgeholt und die noch tickende Armbanduhr an ihr gebrochenes Herz gedrückt.
Dann katapultierten ihre Erinnerungen sie in die Polizeiwache von Swanage, wo sie an einem anderen Weihnachtstag die gleiche Uhr in der Hand gehalten hatte: 1990, am Tag nach dem Autounfall, der Seans Eltern Duncan und Melissa sowie seinen älteren Bruder William das Leben gekostet hatte. Sie waren auf dem Weg zu einem Krippenspiel gewesen, während Edie auf den neun Monate alten Sean aufgepasst hatte. Der schlief jetzt friedlich in seinem Kinderwagen neben Edie in der Polizeiwache. Die Luft roch nach Bleiche, Schweiß und den Mince Pies, die überall im Raum standen. Der Mann hinter dem Schreibtisch überreichte Edie einen Plastikbeutel mit einem blutgetränkten Teddybären und der Armbanduhr, als handle es sich um Sonderangebote im Supermarkt, nicht um ihre letzte Verbindung zu Duncan und dem vierjährigen William.
Edie hob den verschlafenen Sean aus dem Wagen und drückte ihn an sich. Dabei flüsterte sie ihm Sätze ins Ohr, die sie selbst nicht glaubte, etwa: »Alles wird gut.« Wäre Weihnachten für Edie nicht ein ohnehin schon vergiftetes Fest gewesen, seit ihre Mutter bei Anthonys Geburt am 25. Dezember 1946 gestorben war, hätte dieser Tag ihr Urteil besiegelt. Woran sollte man glauben, wenn solche Dinge in der Welt passierten?
Als Edie Sean offiziell adoptierte, hatte sie beschlossen, die mittlerweile reparierte Armbanduhr aufzubewahren und sie ihm zur Konfirmation zu schenken. Seitdem trug er sie jeden Tag.
Und jetzt war genau diese Uhr auf dem Puzzleteil abgebildet, das Glas abermals zersplittert. Edie hatte das Gefühl, als würde sich eine der Efeuranken des Wintergartens um ihr Herz schlingen und es zerquetschen.
»Bist du noch da, Edie?« Riga tippte gegen ihr Glas, als wolle sie eine Rede halten.
»Tut mir leid. Bin kurz in die Vergangenheit abgetaucht.« Edie wünschte sich, sie könnte die Augen schließen und sie erst im neuen Jahr wieder öffnen. Jedes Jahr im Dezember verwandelte sie sich in eine leere Hülle, die nur aus Erinnerungsfetzen bestand.
»Vielleicht solltest du dich mal damit auseinandersetzen, was da so auftaucht.«
Edie schüttelte den Kopf. »Was vorbei ist, ist vorbei. Und so soll es auch bleiben.«
»Erzähl das den Geistern«, erwiderte Riga. »Wie auch immer – was hat Seans Uhr da zu suchen?«
»Ich habe keine Ahnung.« Edie drehte das Puzzleteil hin und her. Zum ersten Mal seit Jahren empfand sie ein gewisses Kribbeln in den Fingern. War das hier etwa ein Rätsel, das sie nicht lösen konnte? Sie hatte noch nie mit einem so hohen Einsatz gespielt.
Sie sah auf und bemerkte, dass Riga sie anstarrte. »Deine Augen glänzen, und nicht nur wegen meinem Lebensgeister-Trank. Du willst der Sache auf den Grund gehen, hab ich recht?«
Edie spürte, wie sich ihr Gesicht zu einem ungewohnten Lächeln verzog. »Ich bin die Rätselrentnerin. Natürlich will ich der Sache auf den Grund gehen.«
Das Adrenalin in den Adern bewirkte, dass R. I. P. einfach losrennen wollte. Aber schnelles Laufen war verdächtig. Die Äste der Bäume wirkten wie die knochigen Hände von Tanten, die jedem Vorbeikommenden durch das Haar strubbeln wollten. Wurzeln luden zum Stolpern ein. Im dunklen Wald von Godlingston Heath wimmelte es schon vor Fallen, bevor R. I. P. eine eigene aufstellte.
Ein Rascheln im Gebüsch ließ R. I. P.s Herz schneller schlagen. Der hektische Blick in die Umgebung brachte jedoch gar nichts – es war so dunkel, dass man nicht einmal den Pfad auf dem Boden vor sich erkennen konnte. Doch die Kopflampe und das Handy mussten ausgeschaltet bleiben. Das Licht wäre zu verräterisch gewesen. Die Atemwölkchen stiegen auf wie kleine Rauchsignale in der kalten Finsternis. R. I. P. war sich ziemlich sicher, nicht verfolgt zu werden, aber im Zweifelsfall reichten schon ein Gassigeher oder eine Joggerin, um den Plan zu vereiteln. R. I. P. musste sich so verhalten, als sei dies ein ganz normaler abendlicher Winterspaziergang.
Dann würde vielleicht gar nicht auffallen, dass R. I. P. einen schweren Ast dabeihatte, der nicht für ein prasselndes Kaminfeuer gedacht war, sondern für den Kopf des ersten Opfers.
Bei dem Gedanken daran fing R. I. P. an zu zittern, redete sich aber immer wieder ein, dass dies eine normale Reaktion des Körpers war vor einer solchen Tat. Auf diese Weise wurden Cortisol und weiteres Adrenalin ausgeschüttet. Allerdings war Vorsicht geboten. Zu viel davon konnte alles zunichtemachen.
In den Baumkronen schrien Eulen. In der Ferne schlug eine Autotür zu.
Das Opfer war pünktlich. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Heute Abend würde ein Leben enden und das von R. I. P. für immer verändert werden. Nicht mehr lange, dann würde sich die Dunkelheit über sie alle senken.
***
Carl Latimer lief ein Rennen gegen sich selbst. Zwei Tage zuvor hatte er die Strecke bis zur Eiche in seiner persönlichen Bestzeit zurückgelegt, und heute würde er diesen Rekord in Grund und Boden stampfen. Ich bin der Beste, sagte er sich immer wieder, und seine Überzeugung wuchs mit jedem Schritt. Er sah bereits vor sich, wie die anderen in seiner Laufgruppe gucken würden, wenn er ihnen von seinem Erfolg berichtete. Sie hatten immer noch nicht verschmerzt, dass er den Chase-the-Pudding-Lauf gestern am Strand gewonnen hatte – er war der schnellste Weihnachtsmann von ganz Weymouth gewesen. Er liebte diesen Neid in den Blicken der anderen, die Eifersucht, den Stolz.
Es war dunkel, aber er war mit dem Terrain vertraut. Er hatte die volle Kontrolle. Seine Füße waren flink und geschickt, und sie kannten jede Wurzel, die aus dem Boden ragte.
Carl lief hier immer zu so später Stunde. Er fühlte sich den Eulen verbunden, dem Dachs, der kurz wie erstarrt auf dem Weg stand und dann mit gesenktem Kopf davontrottete. Und den Vögeln, die in Grüppchen in den kahlen Bäumen hockten und nie allein sein wollten. Anders als Carl. Er lief zu Höchstform auf, wenn er allein war. So war es immer schon gewesen, und so würde es auch immer sein. Scheiß auf die Frauen, die ihn abwiesen. Er würde es ihnen zeigen. Er war schnell. Er war stark. Und er hatte einen eisernen Willen.
Musik schallte über die Baumwipfel hinweg und brachte die nachtaktiven Vögel zum Verstummen. Carl kannte den Song, auch wenn ihm nicht einfiel, woher.
Aber die Musik bedeutete, dass außer ihm noch jemand im Wald war. Genau dort, wo er unterwegs war. Jemand machte ihm seine Strecke, seinen Raum streitig. Carl beschleunigte seine Schritte. Er würde nicht nur sich selbst schlagen, sondern auch diese andere Person. Und sich dann später, nach dem Proteinriegel, mit zwei Bier belohnen.
Der Songtext waberte durch seine Gedanken. Irgendetwas mit Bildern. Jetzt blitzte ein Licht auf. Wahrscheinlich Teenager, die knutschend und fummelnd auf einem Baumstumpf saßen und dabei Cider tranken, ohne dass sie davon Kopfschmerzen bekamen und sich sämtliche Chancen auf sportliche Betätigung am nächsten Tag ruinierten. Jugendliche wussten ihr Glück nicht zu schätzen. Sie hatten Körper, die sie meilenweit laufen ließen, ohne Pausen, ohne Schmerzen. Es war einfach ungerecht.
Der Wind frischte auf, und Carl musste gegen eine kalte Böe ankämpfen. Kein Problem. Die Musik verstummte, als sei auch sie von seiner Übermacht eingeschüchtert.
Auf dem letzten Stück beschleunigte er noch einmal. Seine Beine brannten, die Lunge dehnte sich aus, und sein Herz hämmerte so laut, dass die Vögel kreischend in die Dunkelheit entschwanden. Die Eiche am Ende des Pfades ragte massiv vor ihm auf. Er spürte ihre robuste, alte, englische Präsenz. Dort hätte er es geschafft.
Auf einmal stieß sein sonst so trittsicherer Fuß gegen einen Widerstand, und er geriet ins Straucheln. Mit Brust und Gesicht prallte Carl auf dem Waldboden auf. Tannenzapfen drückten gegen seine Wange. Matsch an den Händen. Brennende Schmerzen im Arm und im Bereich der Rippen. Außer Atem, aber nicht außer Gefecht. Stöhnend tastete er nach seiner Wasserflasche, bekam aber stattdessen einen langen Ast zu fassen, der quer über dem Pfad lag. Er war wohl im Sturm der vergangenen Nacht heruntergefallen.
Die Musik wurde lauter, und Carl musste plötzlich an zurückgekämmtes Haar und Eyeliner denken.
Knackende Zweige. Schritte. Da kam jemand.
Carl wollte sich hochstemmen, aber sein Handgelenk trug ihn nicht.
Die Person war direkt hinter ihm. Sie kam bestimmt, um ihm zu helfen – natürlich, was denn sonst? Carl versuchte, sich umzudrehen, um zu sehen, wer es war.
Dann spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf. Der Schmerz steigerte sich zu einem Kreischen, und auf einmal war alles dunkel.
Wie so viele Pubs seiner Art siechte auch der Merry Chipmunk dahin. Die Aromen von Kaminfeuer, nassem Hundefell und Glühwein konnten nicht über den Geruch des schwarzen Schimmels hinwegtäuschen. The Anchor auf der gegenüberliegenden Straßenseite war irgendwann in den 2010er-Jahren von Bier und Erdnüssen auf Chenin Blanc und Barbecue-Abende umgestiegen. Dank des kostenlosen Popcorns dort hatte Edie nichts gegen den Wandel einzuwenden, aber der Merry Chipmunk stand ihrem altmodischen Herzen immer noch näher, trotz der kitschigen Weihnachtsdekoration. Hier hatte sie schon zu Punk- und Ska-Bands gepogt. Außerdem war hier wenig los, was heute Abend genau das Richtige war.
Edie orderte einen Drink an der Bar, ohne dem Tresen zu nahezukommen. Nicht, dass ihre Vivienne-Westwood-Jacke noch an den Bierflecken klebenblieb.
Um ihre Nerven zu beruhigen, spielte sie mit Worten herum. Der Name The Merry Chipmunk enthielt »Reichtum« und »Ruin«, was gut zur hintersten Ecke des Raumes passte – dort blinkten und klingelten die einarmigen Banditen. Genau wie das Weihnachtsfest versprachen auch diese mehr, als man letzten Endes bekam.
Sophie, die Wirtin des Pubs, stellte Edie einen doppelten Brandy hin und knallte eine Zeitung mit aufgeschlagener Rätselseite daneben. Dann zeigte sie auf das »kryptische Kreuzworträtsel«. »Ist das hier von dir, Edie?«
Edie schüttelte den Kopf. »Für dieses Schundblatt arbeite ich nicht.«
»Schade. Ich hab gehofft, du könntest mir helfen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du solche Kreuzworträtsel machst, Sophie.«
»Ich wollte es immer schon mal probieren, aber ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wenn du erst mal die Regeln verstanden hast, ist es gar nicht mehr so schwer, wie bei allem. Oft ist es so, dass das erste oder das letzte Wort oder Satzglied der Frage auf die Lösung hindeutet. Und dann gibt es meist noch einen SI – einen subsidiären Indikator.«
»Einen was?«
»Einfacher gesagt: einen Hinweis innerhalb der Frage, der dich in die richtige Richtung schubsen soll. Das können Synonyme oder verwandte Begriffe sein, oder eine Anspielung darauf, dass Buchstaben umgestellt werden müssen. Zum Beispiel, wenn von ›schütteln‹ die Rede ist. Oder die Frage trägt die Lösung in sich.«
»Kann man sich auf diese Regeln verlassen?«
»Wenn irgendwo ein Fragezeichen oder ein ›vielleicht‹ steht, hat jemand mit den Regeln herumgespielt. Und manchmal gibt es einen Rebus – eine Lösung, bei der mehrere Buchstaben in ein Kästchen gequetscht werden müssen. Aber das ist sehr selten, und normalerweise gibt es einen entsprechenden Hinweis.«
Sophie sah kein bisschen klüger aus. Sie tippte auf die Zeitung. »Zeig mir mal ein Beispiel.«
Edie ging die Fragen durch. »Vier waagerecht ist wirklich anständig formuliert. ›Schon originell, wo sich das Ehrenhafte verbirgt‹.«
Während Sophie den Blick noch auf die entsprechende Stelle im Rätsel gerichtet hatte, kam Sean herein. Sophies Gesichtsausdruck war genauso leer wie die sieben Kästchen.
»Komm schon«, sagte Edie. »Hab nicht so viel Respekt vor dem Rätsel.«
Sophie straffte die Schultern und schaute auf. »Was soll das heißen?«
Sean beugte sich vor und gab Edie einen Kuss auf den Kopf. »Quälst du schon wieder Leute mit Kreuzworträtseln?«
»Du findest es bestimmt sofort raus.« Edie hatte Sean das Kreuzworträtseln beigebracht, noch bevor er Skateboard fahren konnte. »Ein anderes Wort für ›ehrenhaft‹?«
»Redlich? Charakterfest?«, schlug Sean vor.
»So ähnlich. Und was denkst du, wenn du das Wort ›verbergen‹ liest?«
»Dass die Antwort in der Frage enthalten ist.«
»Na also. Wie lautet das Wort, das Sophie sucht?«
Edie verspürte einen Anflug von Stolz, als Sean bei vier waagerecht »honorig« eintrug.
Sophie stöhnte. »Und das soll einfach sein?«
Edie unterstrich das Ende von »schon« und den Anfang von »originell«, wo sich das Wort »honorig« versteckte wie ein gehetztes Beutetier. »Ich habe extra gesagt, dass du nicht so viel Respekt vor dem Rätsel haben sollst, Betonung auf ›Respekt‹.«
Sophie schüttelte resigniert den Kopf. »Und du hast die Formulierung als ›anständig‹ bezeichnet. Ich wusste nicht, dass das schon ein Hinweis war.«
»Das macht sie gerne.« Sean nahm seine Großtante kurz in den Arm. »Hinweise geben, ohne dass man es merkt.«
»Was kann ich dir bringen?«, fragte Sophie Sean.
»Einen Cider vom Fass, bitte. Tolle Deko übrigens.« Sean zeigte auf die farbenfrohen Girlanden an der Decke. Es waren solche, die man flach zusammengefaltet kaufte und dann auseinanderzog wie ein knallbuntes Akkordeon. Diese hier waren fleckig und verknickt, als seien sie wider besseres Wissen in den Achtzigern in einem Woolworth erstanden worden. Aber Seans Lob war wie immer aufrichtig gemeint. Seine Begeisterung für Weihnachten stand Edies Abneigung in nichts nach.
»Ich stelle heute den Baum auf«, erklärte Sophie. Selbst ihre Augen, die schon wirklich alles gesehen hatten, begannen bei dem Gedanken, ein lebendiges Wesen umzuhacken und es in einer Ecke des Raumes aufzubahren, zu leuchten. »Ich habe Baumschmuck aus Bierflaschen gebastelt.«
Sophie und Sean redeten weiter über die Freuden des Weihnachtsfestes und andere Belanglosigkeiten. »Seid ihr bald fertig?«, fragte Edie nach einer Weile, während die beiden gerade eine hitzige Diskussion darüber führten, wie man den Weihnachtsschinken am besten in Cherry-Cola marinierte. »Sean und ich haben wichtige Dinge zu besprechen.«
Auf dem Weg zu einem freien Tisch legte Sean den Arm um seine Großtante. »Gut, dass du mich angerufen hast. Jetzt bist du bestimmt froh, dass ich Polizist geworden bin.«
Edie hatte lange versucht, Sean so ziemlich jeden anderen Beruf schmackhaft zu machen – na ja, jeden, der keine tödlichen Gefahren mit sich brachte. Beim Gedanken daran, dass er in riskante Situationen geraten könnte, drehte sich ihr bis heute der Magen um. »Lass uns lieber nicht darüber reden, ja?«
»Das Ganze wäre viel einfacher, wenn du eine Haustürkamera hättest, wie ich es dir schon vor Ewigkeiten geraten habe. Dann könnten wir uns jetzt einfach anschauen, wer das Paket dort hingelegt hat.«
»Glaubst du, das wüsste ich nicht selbst?« Edie steuerte einen Ecktisch an und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Fenster fallen. An der Scheibe klebte ein Weihnachtsmann, der sich an einigen Stellen schon ablöste. »Weihnachtsmann«, dachte sie, um sich von ihren eigenen Versäumnissen abzulenken. Darin stecken »Wachmann« und »Schamane«.
»Was ist mit deinen Nachbarn? Hat von denen irgendwer eine Kamera?«, fragte Sean und duckte sich unter dem Lametta hindurch, das von der Decke hing. Edie verspürte das Bedürfnis, an einem der glitzernden Fäden zu ziehen und dieses ganze Brandrisiko herunterzureißen.
»Manche ja, aber die sind alle auf die Stufen vor ihren Häusern gerichtet, falls jemand ein Amazon-Paket klaut. Wenn irgendeine von diesen Kameras auch nur in die Nähe meines Hauses zeigen würde, hätte ich mich schon längst beschwert. Das Recht auf Privatsphäre ist vom Aussterben bedroht, weißt du.«
»Wenn jemand Hinweise auf ein Verbrechen vor deiner Haustür ablegt, wäre etwas weniger Privatsphäre ziemlich praktisch.«
Edie verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. »Und wie genau hilft uns das jetzt weiter?«
»Ich mache mir einfach Sorgen um dich.«
»Nicht nötig. Achtzig ist das neue dreißig. Das haben sie im Fernsehen gesagt.«
»Und was bin ich dann?« Sean nahm einen Schluck aus seinem Glas, und als er es wieder abstellte, schwappte der Cider über. Er wischte die Lache mit dem Ärmel weg, was Edie an den kleinen Jungen erinnerte, der er mal gewesen war.
»Eine absurd große befruchtete Eizelle.«
Sean lachte, aber das Lachen ging in einen Hustenanfall über. Das pfeifende Geräusch, das aus seiner Brust drang, schnürte auch Edie den Hals zu. Als Sean den blauen Inhalator aus der Tasche zog und in seinen Mund steckte, musste sie an die schrecklichen Nächte denken, die sie während seiner frühen Kindheit im Krankenhaus vor dem Vernebler verbracht hatten. Er war immer ein »kränkliches Kind« gewesen, genau wie sein Opa Anthony, Edies Bruder. Jetzt gerade wirkte er dünner denn je, auch wenn er durch das Fitnesstraining etwas Muskelmasse zugelegt hatte. Das hatte er seinem Mann zu verdanken. Liam trieb Sean ständig zur Selbstoptimierung an, als könne an Sean noch irgendetwas optimiert werden. Er hatte ihm sogar eine persönliche Fitnesstrainerin besorgt. Dadurch war Sean zwar kräftiger geworden, aber sein Gesicht hatte die Farbe von entrahmter Milch angenommen.
Als Edie Liam kennengelernt hatte, hatte der gerade eine Ausbildung zum Floristen gemacht und ihr einen Blumenstrauß mitgebracht, der größer und schöner war als alles, was sie je von ihren Liebhaberinnen bekommen hatte – ein farblich perfekt abgestimmtes Kunstwerk aus hellen Lilien, Ranunkeln und Pfingstrosen, aufgefächert wie ein weißer Pfauenschwanz. Edie hatte der Gedanke, womöglich nie wieder eine Beziehung zu haben, in diesem Moment einen derartigen Stich versetzt, dass sie die Giftspritze herausgeholt und verkündet hatte: »Glaub ja nicht, dass du dir mein Herz genauso erkaufen kannst wie das von Sean. Ich bin nicht so naiv.« Sean hatte sofort gemeinsam mit Liam das Haus verlassen. Es hatte Wochen gedauert, bis er ihr verziehen hatte. Nicht, dass sie sich bei ihm entschuldigt hätte. Mittlerweile war Liam einer der angesagtesten Floristen Südenglands, aber er hatte ihr nie wieder einen Strauß geschenkt und kam nur selten zu Besuch. Edie konnte es ihm nicht verübeln.
Sie musste an etwas denken, das Sky am Tag der Trennung zu ihr gesagt hatte: »Du tust alles, um Menschen vor den Kopf zu stoßen und sie aus deinem Leben zu vertreiben.«
Edie schob die störenden Gedanken beiseite wie unpassende Puzzleteile.
»Kann ich es mal sehen?«, fragte Sean jetzt. »Das Puzzle?«
Edie zog ihre Gartenhandschuhe aus der Manteltasche, aber Sean schüttelte den Kopf. Dann holte er zwei Paar eingeschweißte Einmalhandschuhe aus dem Rucksack und reichte eines davon an sie weiter.
Mit übergestreiften Handschuhen nahm Edie die weiße Schachtel aus der Tragetasche und stellte sie auf den Tisch. Der Deckel gab beim Anheben ein leises Seufzen von sich.
Sean beugte sich vor und griff nach den Puzzleteilen. Er drehte sie hin und her und ordnete sie mit seinen langen, schmalen Fingern in der Schachtel.
»Nur fünf Stück?«, fragte er.
Edies Herz schlug schneller. Wenn sie ihm das Teil mit seiner Armbanduhr zeigte – derselben, die in diesem Augenblick an seinem Puls tickte – und die Polizei dann offizielle Ermittlungen einleitete, würde Sean von dem Fall abgezogen werden, weil er persönlich involviert war. Dann hätte Edie keinen Zugang mehr zu den Informationen, die ihr beim Lösen des Rätsels helfen könnten.
Sie senkte den Blick, um Sean nicht in die Augen schauen zu müssen. »Ja, genau. Vier von ihnen passen zusammen. Sie zeigen einen Ausschnitt, der in Verbindung mit anderen Puzzleteilen den Umriss einer Leiche ergeben dürfte, vermutlich in der Mitte des Puzzles. Das letzte Teil ist die Ecke oben links.«
Sean nahm jedes Teil einzeln in Augenschein. »Kennst du die schwarz-weißen Fliesen unter dem Umriss?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Das Ganze wirkt wie eine Collage aus mehreren Bildern. Ich schaue mal, ob ich die Teile und die Schachtel auf Fingerabdrücke überprüfen lassen kann. Und vielleicht reicht unser Budget ja auch für einen IT-Forensiker.«
Edie war erleichtert, dass die Puzzlestücke untersucht werden würden, und noch erleichterter, dass sie vorher Fotos von ihnen gemacht hatte. »Ja, da ist ein Schatten zwischen der Kreidelinie und den Fliesen, der mich an die frühen Zeiten von Photoshop erinnert.«
Sean zog die Augenbrauen so weit hoch, dass sie seine Haarspitzen berührten.
»Guck nicht so überrascht. Ihr Millennials habt die digitale Welt nicht erfunden. Diese Technologie gibt es schon ziemlich lange – nicht so lange wie mich, klar, aber sie ist mir nicht ganz unbekannt. Unterschätz mal nicht die Achtzigjährigen.«
»Würde mir nie in den Sinn kommen.«
»Gut.«
Sean griff mit der behandschuhten Hand nach der Ecke, die nicht zu den übrigen Teilen passte. Er drehte sie hin und her und befühlte die Kanten. Immer wieder schaute er sie an und runzelte dabei die Stirn.
»Was ist los?«, fragte Edie.
»Dieses Teil lässt mir keine Ruhe. Es erinnert mich an irgendetwas, aber ich weiß nicht, was.«
Edie sah es sich noch einmal an. »Parallele Balken, vielleicht aus Holz, mit einem Zettel dran. Ich kann aber nicht erkennen, was draufsteht.« Sie holte ihre Lupe heraus und versuchte, die Schrift zu entziffern, doch die Vergrößerung reichte nicht aus.
»Lass mich mal.« Sean zog sein Handy aus der Tasche, öffnete die Kamera-App und fotografierte das Puzzleteil. Dann zoomte er ins Foto rein.
Edie nahm ihm das Telefon aus der Hand und las die Sätze, die auf ein großes Blatt Papier geschrieben und mit Tesafilm an die Holzstreben geklebt worden waren.
Niemand kann dich kleinhalten außer dir selbst.
Niemand kann dich zum Erfolg führen außer dir selbst.
Lass dich nicht hängen.
Sei dein eigenes Sprungbrett.
Edie las die Sätze laut vor. Ihr Tonfall troff vor Sarkasmus. »Was für ein Blödsinn! Typisches Geschwafel dieser Lifestyle-Generation!«
»Sprungbrett!«, rief Sean und schlug so hart auf den Tisch, dass die Puzzleteile in der Schachtel umhersprangen. »Da hab ich es gesehen. In der Sporthalle einer Schule, wo ich vor ein paar Wochen war und meinen ›Keine Macht den Drogen‹-Vortrag gehalten hab.«
»Welche Schule war das?«
»St Germaine’s, glaube ich. Auf dem Martyr’s Hill.«
»Ich weiß, wo das ist.« Edie trank einen großen Schluck Brandy.
Sean nickte. »Da hast du früher unterrichtet, oder? Bevor du angefangen hast, als Vertretungslehrerin zu arbeiten und Kreuzworträtsel zu verfassen?«
»Ja.« Eine Flut von Erinnerungen spülte über sie hinweg und brachte Geheimnisse mit sich, die Edie tief auf dem Meeresgrund gewähnt hatte. Unmittelbar darauf folgte jedoch eine Welle der Neugier. Dieses eine Mal wusste sie nicht alles. Und das war aufregend.
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