Das Netz der Stille - Michael Blank - E-Book

Das Netz der Stille E-Book

Michael Blank

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Beschreibung

Im abgelegenen Eiderstedt, zwischen den endlosen Feldern und dem Wind von Westerhever, wird Michael Kropka, ein erfahrener Ermittler, in einen Fall verwickelt, der ihn tief in die dunklen Geheimnisse eines gefährlichen Netzwerks führt. Als er sich mit einem mysteriösen Fall konfrontiert sieht, wird er schnell in ein Netz aus Lügen, Machtspielen und Verrat verstrickt. Mit der Unterstützung von Anke, einer entschlossenen Journalistin, und Maren, seiner langjährigen Vertrauten, muss Kropka nicht nur gegen die äußeren Bedrohungen kämpfen, sondern auch gegen seine eigenen Zweifel und die Schatten seiner Vergangenheit. Doch je weiter er in die Ermittlungen vordringt, desto klarer wird ihm, dass das wahre Netz der Stille weit mehr ist als nur ein kriminalistisches Rätsel - es betrifft auch die Menschen, die ihm am nächsten stehen. In diesem packenden Thriller geht es um die Entschlüsselung von Geheimnissen, den Preis von Loyalität und das ständige Ringen zwischen Wahrheit und Lüge. "Das Netz der Stille" ist eine Geschichte über Vertrauen, Freundschaft und den unaufhaltsamen Drang, das Dunkle zu ergründen, bevor es zu spät ist.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 10

KAPITEL 11

EPILOG

I

PROLOG

Eiderstedt, später Nachmittag, graue Wolken, kaum Licht. Der Deich kauert unter einem bleiernen Himmel, ein dünner Streifen Land zwischen Meer und Nirgendwo. Wind reißt an den Grashalmen, schmeckt nach Salz und Bitterkeit. Die Wellen draußen rollen, brummen tonlos, als kläffen tiefe Mäuler im Grau.

Michael W. Kropka steht mit gesenktem Kopf. Hände in den Taschen seiner sauberen, aber schlichten Jacke. Er konzentriert sich aufs Atmen. Lang, flach, tonlos. Seine Gedanken ziehen Kreise um ein Loch, in dem einmal Familie war, Geborgenheit, Stimmen und Lachen. Nun ist es still. Zäh und dumpf. Das Handy vibriert. Ein vertrauter Name auf dem Display: Maren Putz. Sie ruft an, obwohl er oft nicht weiß, warum. Vielleicht weil sie nicht anders kann, weil sie ihm nicht beim Versinken zusehen mag. Er nimmt ab, legt eine Hand schützend um den Hörer, um dem Wind die Worte nicht zu überlassen.

„Ja?“ Rau, kurz.

„Wo bist du?“ Ihre Stimme ist ruhig, weich, als taste sie im Dunkeln nach ihm.

„Draußen“ sagt er. „Am Deich.“

„Es wird kalt“, murmelt sie. Eine Feststellung, kein Vorwurf. „Geh nach Hause, Michael. Irgendwohin, wo du nicht erfrierst.“

Er schweigt. Was soll er sagen? Dass er keinen Ort kennt, an dem es wirklich warm wäre?

„Hörst du?“, fragt sie leise.

„Ja.“

Der Wind kratzt an ihm, reißt an seiner Jacke. Die Möwen schreien, dunkle Punkte im dämmernden Himmel. Er denkt an die Wohnung, in der er gerade noch wohnt, leer und still. Er sieht kein Licht darin, nur Wände, die ihn anstarren wie Zeugen einer gescheiterten Geschichte.

„Bitte“, sagt Maren, und in diesem einen Wort liegt mehr Wärme, als er verkraften kann. „Geh rein. Schau zu, dass du nicht da draußen verkommst.“

Er schaut hinaus aufs Meer, eine graue Fläche ohne Halt. Dann blickt er zurück, Richtung Dorf, Richtung Straßenlaternen, Richtung Menschen, die hinter Fenstern sitzen und Tee trinken. Er presst die Zähne aufeinander, drückt das Handy fester ans Ohr.

„Ich geh jetzt“, sagt er schließlich. Er klingt müde, klamm, aber es ist mehr als nichts.

Maren atmet leise, wahrscheinlich nickt sie, auch wenn er es nicht sehen kann. „Danke“, flüstert sie.

Dann: „Meld dich, wenn du zuhause bist.“

„Mach ich.“

Er beendet den Anruf, steckt das Handy weg.

Schaut sich kurz um, als könnte er etwas zurücklassen, was längst verloren ist. Dann setzt er einen Fuß vor den anderen. Der Wind begleitet ihn, zerrt an seinen Schritten. Es ist ein Anfang, mehr nicht. Aber vielleicht reicht das für heute.

Er geht vom Deich weg, Richtung Straße. Hinter ihm bleiben Salz Luft, Schreie der Vögel und ein Meer aus Erinnerung, in dem er fast ertrinkt. Vor ihm liegt nur der Weg zurück in die Stille seiner Räume. Doch er geht – weil Marens Stimme ihn daran erinnert, dass er nicht völlig vergessen ist.

KAPITEL 1

Der Wind peitschte über das flache Land, schleifte an den knorrigen Bäumen, die sich an der Auffahrt zu Schloss Hoyerswort duckten. Ein breiter, grauer Himmel spannte sich über die kargen Felder, auf denen kaum noch etwas wuchs, außer hartnäckigem Gras, vom Salz der Nordsee gezeichnet. Schmale Gräben, schlammig und trüb, trennten die Äcker. In der Ferne erhob sich der Deich, ein stiller Verteidiger gegen die unruhigen Gezeiten, aber auch ein stummer Zeuge der Dinge, die geschahen, wenn der Tag zum Abend wurde. Hier draußen war alles karg, minimalistisch, ein raues Gemälde in gedeckten Farben.

Schloss Hoyerswort: Ein alter Adelssitz, ein mächtiges Steinhaus mit breitem Sockel, grau wie der Himmel, das Dach mit dunkelroten Ziegeln gedeckt. Die Fenster tief in die Mauern eingelassen, die Balken im Inneren aus Eichenholz, knarrend und alt, als würden sie Geschichten flüstern. Ein Seitentrakt wies neuere Konstruktionen auf, modernisierter Anbau, eine kleine Cafeteria, ein Laden mit Krimskrams für Touristen, Postkarten, Miniaturleuchttürme aus Plastik. Benno Schepp hatte hier Geld investiert. Er hatte gehofft, diesen Ort zu neuem Leben zu erwecken. Doch jetzt, im frühen Abend, lag ein Schatten auf dem Gemäuer, als würde die Vergangenheit ihre Krallen in die Zukunft schlagen.

Benno stand im Innenhof. Hände in den Taschen seiner Jacke, blickte er an den Mauern hoch. Er war ein Mann um die vierzig, kräftig, kurze Haare, klare Augen. Er hatte sich als Restaurator versucht, als Gastwirt, als Veranstalter kultureller Events. Sein Traum: Schloss Hoyerswort als Magnet für Besucher, ein Ort, an dem Menschen die Geschichte spürten, wo Märkte, Konzerte und Lesungen das tote Land beleben würden. Doch diese letzten Tage hatten etwas verändert: Kleine, aber gezielte Diebstähle. Wenig Geld, ein historischer Dolch aus einer Vitrine, eine alte Karte aus dem Hauptraum. Nichts Großes, aber genug, um die Atmosphäre zu vergiften. Dazu ein paar Drohungen – Zettel, im Wind flatternd gefunden, mit kruden Botschaften, unklare Warnungen. Drohungen, die sich keiner erklären konnte.

Benno ging langsam zum großen Tor. Die Holztüren waren verzogen vom Wetter, doch wenn sie offenstanden, ließen sie den Blick hinaus auf die lange Auffahrt frei, hin zum Dorf, wo ein paar Häuser kauerten. Heute waren die Türen geschlossen, verriegelt. Er hörte den Wind durch die Ritzen pfeifen. Drinnen im Schloss war es still, als hätte jemand die Luft angehalten. Er wollte nicht, dass seine Familie Angst hatte. Er wollte ihnen Sicherheit geben. Doch diese Vorfälle brannten in ihm wie kleine Geschwüre.

Anne Schepp kam den langen Flur entlang, leise Schritte auf dem kalten Steinboden. Ihre Hände umfassten einen Schal, den sie gerade gefaltet hatte. Eine Frau mit schmalen Schultern, ruhigen Augen, ein Gesicht, in dem die Sorge Linien zog. Sie blieb vor Benno stehen, musterte ihn.

„Du hast wieder nichts erfahren?“ Ihre Stimme war gedämpft, als fürchte sie, jemand könne zuhören.

Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Knapp, hart. Er war müde, wollte nicht herumreden.

Anne biss sich auf die Lippe. Sie hatte weiche Gesichtszüge, aber ihre Augen waren wachsam. „Es war niemand im Laden außer Frau Mundt. Sie hat nichts gesehen.“

Benno knirschte mit den Zähnen. Frau Mundt, die Aushilfskraft, ein redseliges Dorforiginal, ihr entging normalerweise nichts. Trotzdem: Keine Spur, keine Erklärung. „Dann eben später.“ Seine Stimme klang wie altes Holz, spröde.

Anne legte ihm eine Hand auf den Arm. Er spürte ihre Kälte, den dünnen Stoff zwischen ihnen. „Die Drohungen… glaubst du, sie meinen es ernst?“

Er zuckte die Achseln, ohne Antwort. Er wusste es nicht. Vielleicht war es nur ein schlechter Scherz, jemand, der das touristische Projekt torpedieren wollte. Vielleicht war es mehr. Er sah Anne an, dann richtete er den Blick die Treppe hinauf, wo im Halbdunkel die Ölgemälde hingen. Alte Herrschaften mit ernsten Blicken. Unnahbar. Er sagte nichts, aber seine Kiefermuskeln spannten sich.

Sinja stand auf der Galerie. Ein kleines Mädchen, kaum acht Jahre alt. Still und blass, die Haare hell, fast weiß, ihr Blick wach und neugierig. Sie klammerte sich an das hölzerne Geländer, sah nach unten zu ihren Eltern. Sie spürte die Spannung, auch wenn niemand es aussprach. Sinja kannte diese dichte Luft, das Schweigen, das nicht richtig passte. Sie fragte nicht, hörte nur zu, merkte sich Details.

Anne sah sie oben stehen. Eine kleine Geste mit der Hand. „Komm runter, es gibt Tee.“ Sinja machte keine Miene, blieb stehen, beobachtete. Benno hob den Kopf, seine Stimme war rau, aber nicht unfreundlich. „Sinja, hör auf Mama.“

Das Mädchen stieg langsam die Stufen hinab. Jede Stufe knarrte, alt und widerspenstig. Der Wind draußen klopfte an die Mauern, murmelte hinter den Fenstern. Im Treppenhaus roch es nach altem Holz und Feuchtigkeit.

Unten angekommen, blickte Sinja ihren Vater an. „Ist was passiert?“ Ihre Stimme war leise, ein hauchdünner Faden. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, auch wenn man sie schonte.

Benno zog die Brauen zusammen, suchte nach Worten, die nicht lügen und nicht erschrecken. „Nur… ein paar Dinge fehlen. Kein Grund zur Sorge.“

Sinja nickte, als hätte sie eine belanglose Antwort erwartet. Doch ihr Blick blieb fragend, als würde sie in seinen Augen nach einer Wahrheit suchen, die er nicht aussprechen wollte.

Anne brach das Schweigen: „Tee ist fertig. Kommt.“ Sie drehte sich um, ging voraus, führte sie in einen Raum, der einst eine kleine Schreibstube gewesen war, jetzt als provisorische Küche diente. Ein runder Holztisch, ein paar Stühle, ein alter Sekretär in der Ecke. Es roch nach Schwarztee und ein wenig nach Staub. Die Wände waren kahl, nur ein kleines Fenster ließ den Abend herein.

Benno setzte sich. Seine Finger klopften unruhig auf die Tischplatte. Er sah, wie Anne die Teekanne neigte, dampfende Ströme in die Tassen. Sinja rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Draußen schlug eine Böe gegen die Scheibe, ließ sie erzittern.

„Benno, wir müssen überlegen, was wir tun“, sagte Anne leise. Sie hatte die Stimme gesenkt, als ob das Schloss selbst nicht zu viel erfahren sollte. „Du wolltest doch mit dem Bürgermeister reden.“

Er nickte, verbissen. Der Bürgermeister war skeptisch gewesen, was die ganzen Tourismusträume anging, aber jetzt musste er helfen. Er musste Maßnahmen ergreifen. Ein paar Diebstähle, heimliche Drohungen – so etwas würde Gäste vertreiben, Gerüchte säen. Das Schloss sollte doch eine Brücke sein, ein Ort, der das Dorf belebt, nicht eine Bühne für Kriminelle.

Sinja schlürfte ihren Tee. „Vielleicht sind es Gespenster“, murmelte sie. Ein Kindersatz, aber in dieser stillen, drückenden Atmosphäre klang es wie eine Ahnung. Anne schüttelte den Kopf. „Nein, Schatz. Keine Gespenster.“

Benno schwieg. Er dachte an die Zettel. Grobe Schrift, unleserlich. Worte wie: „Bleibt weg. Verschwindet. Ihr gehört hier nicht her.“ Drohungen, verwischt von Regen, gefunden am Morgen. Keine Unterschrift, keine Spur. Er blickte auf seine Tasse, sah sein eigenes Spiegelbild im braunen Tee. Er war wütend, aber die Wut verhallte in der Stille, wurde zu dumpfer Sorge.

Er stand auf, schob den Stuhl zurück. Anne hob den Blick, fragend. „Wohin?“

„Raus. Ich schau mich um.“

„Es ist dunkel.“ Ihre Stimme angespannt. „Was willst du sehen?“

Er antwortete nicht. Er musste sich bewegen, den Ort abtasten. Vielleicht gab es Spuren an den Fenstern, am Tor, Fußabdrücke im Matsch, irgendetwas. Vielleicht würde der Wind ihm ein Flüstern zutragen, ein Hinweis. Er verließ die Küche, trat durch den Flur, öffnete eine Seitentür, die in einen kleinen Innenhof führte.

Der Hof war gepflastert, in der Mitte ein Brunnen ohne Wasser. Alte Werkzeuge lehnten an der Wand, Bretter, ein Eimer, ein Besen. Der Wind griff nach seinem Gesicht, ließ ihm kaum Luft. Er kniff die Augen zusammen, ging zum Tor. Riegel, Schloss, alles verschlossen. Er lauschte, hörte nur das Dröhnen des Windes und fern das Summen der See.

Er trat um das Schloss herum, an den Mauern entlang, vorbei an einem schmalen Fenster, das in den Lagerraum des Ladens führte. Dort fehlten die gestohlenen Stücke. Vielleicht hatte der Täter hier ein- und ausgehen können. Er beugte sich vor, sah nichts als Schwärze, spürte einen modrigen Geruch. Er trat zurück, verfluchte die Dunkelheit.

Hinter einer Mauerecke peitschte der Wind ihm Sprühregen ins Gesicht. Er schob die Hand vors Gesicht, stieß mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Ein kleiner Stein, dachte er. Er bückte sich, griff danach. Es war ein abgebrochener Griff, Metall, verbogen. Keine Ahnung, woher. Vielleicht von einem Werkzeug, vielleicht ein Teil von etwas Größerem. Er steckte es in die Jackentasche. Ein Indiz? Oder bloß Müll?

Benno ging weiter, überquerte den schmalen Hof zum Nebentrakt, in dem der kleine Laden untergebracht war. Die Tür war verschlossen. Er zog mit zwei Fingern daran, kein Nachgeben. Er sah hoch. Ein Fenster im ersten Stock stand einen Spalt offen. Da hatte er es: Jemand könnte in der Nacht eingestiegen sein. Ein schlanker Körper, ein leises Heben und Senken. Aber kein Schuhabdruck, nur kalter Wind und das Flattern eines Stofffetzens am Fensterbrett – ein Stück grauer Stoff, abgerissen, in einen winzigen Splitter von Holz verfangen. Er griff danach, zog es herunter, betrachtete es im Schein seiner Taschenlampe. Grobes Material, vielleicht von einer alten Jacke. Er presste die Lippen aufeinander. Hinweise, aber kein Täter.

Ein Schlurfen, ein Knistern. Er fuhr herum, die Taschenlampe in die Dunkelheit. Nichts, nur ein klappernder Ast, vom Sturm gegen die Wand geschleudert. Er spürte, wie sein Herz in seiner Brust klopfte. Das Schloss war alt, es kannte Schatten und Geheimnisse. Er kam sich vor wie ein Eindringling in seiner eigenen Welt. Früher war hier Ruhe gewesen, jetzt lastete eine ungreifbare Bedrohung auf den Mauern.

Er kehrte ins Innere zurück, schüttelte die Feuchtigkeit von der Jacke. Anne und Sinja warteten am Tisch, beide hatten leere Blicke. Er hängte die Jacke an einen Haken, zog den metallenen Griff aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch. „Gefunden draußen“, sagte er, knapp.

Anne betrachtete das Teil. „Was ist das?“

„Weiß nicht.“ Er zuckte die Achseln. „Aber es gehört nicht hierher.“

Sinja sah mit großen Augen auf das Metallstück. Sie sagte nichts, aber in ihrem Blick lag etwas wie Vorsicht, als spürte sie, dass dieses Stück Metall ein Zahnrad in einem großen, dunklen Getriebe war.

Benno setzte sich, verschränkte die Arme. „Ich rede morgen mit dem Bürgermeister“, sagte er. „Das darf so nicht weitergehen.“

Anne nickte. „Gut. Vielleicht braucht ihr Hilfe. Jemand, der sich auskennt.“ Ihre Stimme war leise, sie nagte an ihren Worten. Sie wollte ihn nicht drängen, aber er spürte ihre Absicht. Jemanden holen, der Ordnung schafft, der Fragen stellt. Einen, der zwischen den Zeilen liest.

Benno senkte den Blick. Er wollte nicht aufgeben, nicht schon jetzt. Dieses Schloss war sein Projekt, seine Vision von Zukunft. Aber dieser Wind, diese Dunkelheit, diese drohenden Zettel – sie nagten an seinem Mut. Er hörte in Gedanken die Stimmen der Dorfbewohner: „Das ist vergeblich, lass es, hier heroben will keiner hin.“ Doch er hatte es versucht. Jetzt musste er handeln.

Sinja rutschte vom Stuhl. „Ich geh schlafen“, sagte sie leise. Anne stand auf, brachte sie zur Treppe. Benno blieb allein am Tisch sitzen. Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Platte, ließ die Stirn in die Hände sinken. Der Wind wehte draußen, zerrte an den Mauern. Ein tiefes Grollen kam von der See, oder vielleicht war es nur sein eigenes Blut, das in den Ohren klang.

Er würde handeln, Hilfe suchen. Das Schloss durfte nicht zum Opfer werden. Er musste einen Weg finden, die Diebe zu entlarven, die Drohungen zu ersticken. Morgen, ja, morgen würde er anfangen, die Fäden in der Hand zu halten. Doch jetzt, in dieser Nacht, saß er hier, allein, in einem alten Schloss, umgeben von Dunkelheit und Fragen, die auf Antworten warteten wie Raubvögel auf Aas.

Teil 2

Der Wind pfiff über den Deich, heulte durch das Nichts zwischen Meer und Land, schleifte an den Dächern der verstreuten Gehöfte. Es war später Abend. Dichte Wolken, aschgrau, hingen tief, als würde die Welt in ihrem eigenen Ruß ersticken. Kropka trat aus seinem Wagen, schloss die Tür sanft, lauschte dem Klicken des Schlosses, dem Pfeifen der Böen. Der Wind drückte auf seine Brust, als wolle er ihn zurück ins Auto zwingen. Er ignorierte es. Er hatte weitaus Stärkeres überlebt.

Vor ihm: Schloss Hoyerswort. Aufblitzende Fenster, ein langer Bau mit knorrigem Dach, ein Ort aus Stein und alten Geschichten. In den Mauern schwelte etwas, ein Unbehagen, so alt wie der Putz, der bröckelte. Kropka roch feuchte Erde, modrigen Grund. Keine Touristen, keine bunten Lampen, keine beruhigenden Zeichen von Erfolg. Nur das Mahlen des Windes und das Geräusch seiner Schritte auf dem Kies.

Er trat an das große Tor, fand es nur angelehnt, die Riegel nicht ganz zu. Misstrauisch. Wer ließ ein Schloss halboffen in so einer Nacht? Er drückte es auf, spähte hinein. Ein Innenhof, dunkel, von alten Mauern umstellt. Der Schein einer schwachen Außenlampe schmierte fahle Streifen auf den Boden. Ein Schatten bewegte sich, dann eine Gestalt, die hastig näherkam. Ein Mann, um die vierzig, kräftig, nervöse Augen.

„Sie sind Kropka?“ Die Stimme war gedämpft, als wolle sie nicht zu viel verraten.

Kropka nickte, trat einen Schritt näher. „Sie Schepp?“ Er sparte sich Höflichkeiten. Der Wind wehte ein paar dürre Halme vor ihnen her, ließ sie tanzen.

Benno Schepp, der Mann, der ihn angefordert hatte, nickte. „Danke, dass Sie gekommen sind.“ Kurze Pause. „Hier ist es… schwierig.“

Kropka zog die Brauen zusammen, ließ den Blick durch den Hof wandern. Sie hatten telefoniert, kurz, ohne Umschweife. Schepp brauchte einen, der hinschaute, wo andere wegsahen. Kropka hatte nichts mehr zu verlieren. „Zeigen Sie mir“, sagte er knapp.

Benno führte ihn durch eine Seitenpforte ins Innere. Ein flacher Flur, Steinboden, niedrige Decke. Es roch nach Tee, nach altem Holz. Kropka spürte ein Vibrieren in der Luft, als läge etwas Unausgesprochenes zwischen den Wänden. Er hörte gedämpfte Stimmen aus einem anderen Raum, ein Klicken von Porzellan. Wahrscheinlich die Familie, wach, verunsichert.

„Einige Dinge sind verschwunden“, sagte Benno, über die Schulter. „Wertloser Kram, aber wichtig für uns. Und Nachrichten… Drohungen.“ Er klang atemlos, als habe er diese Sätze schon zu oft wiederholt, immer an jemand, der nicht zuhören wollte.

Kropka schwieg, ließ Schepp reden. Er sah an den Wänden Bilder, historische Ansichten des Schlosses, Landkarten, leere Nägel, wo etwas entfernt worden war. Er zog eine Augenbraue hoch, tippte mit dem Finger auf einen fehlenden Gegenstand, ein heller Rechteckschatten auf der Tapete. „Hier was weg?“

Benno nickte. „Karte aus dem 18. Jahrhundert. Kaum Wert für Händler, aber für uns… ein Stück Geschichte.“

„Jemand will Sie treffen, wo’s wehtut.“ Kropkas Stimme war flach. Keine Frage, eher eine Feststellung. Er wusste, dass man mit wertlosen Dingen, die Emotionen tragen, mehr zerstören kann als mit schnellem Diebstahl von Cash.

Benno biss sich auf die Lippe. „Ja. Genau. Und diese Zettel…“ Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. Unscharfe Worte, ruppige Buchstaben, halb verschmiert. „‚Verschwindet,‘ steht drauf. ‚Das ist nicht euer Ort.‘“

Kropka nahm das Papier, strich es glatt, roch daran. Feucht, erdig, Tinte, kein besonderer Duft. Er schnaubte. „Unprofessionell. Lauft ihr irgendeinem Verrückten über den Weg? Dorfbewohner?“

Benno rieb sich die Schläfe. „Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen sie das Projekt verhindern. Wir wollten hier Konzerte, Ausstellungen, den Ort beleben. Es gab Widerstand. Aber wer wird schon so persönlich?“

Kropka zuckte mit den Schultern, bedeutete ihm, weiterzugehen. Sie erreichten einen Raum mit einem Tisch, drei Stühlen. Auf dem Tisch lag ein merkwürdiges Metallstück. Kropka trat näher, hob es an, drehte es im Licht. Ein Griff, oder ein Bruchstück davon. „Woher?“

Benno verschränkte die Arme. „Fand ich draußen, nach einem der Diebstähle. Vielleicht ein Werkzeug. Keine Ahnung.“

„Sah jemand Fremde? Spuren?“ Kropka hielt das Metall zwischen Daumen und Zeigefinger, als sei es ein Insekt, das er sezieren wollte.

Benno schüttelte langsam den Kopf. „Wir sind allein. Ein paar Dorfleute kommen tagsüber. Niemand fällt auf.“ Seine Stimme klang dünn, als würde er selbst nicht glauben, was er sagte.

Kropka ließ das Teil fallen. Ein leises Klirren. Er ging zum Fenster, sah hinaus auf den Hof. Der Himmel war dunkler geworden, fast schwarz. „Der Täter kennt den Ort. Weiß, wie man reinkommt, ohne Lärm.“ Er sprach langsam, ließ den Wind die Stille füllen. „Jemand, der Nähe hat.“

Benno trat hinter ihn, ein paar Schritte Abstand. „Wir sind neu hier. Nicht viele Freunde. Aber Feinde?“ Er zögerte, drehte sich um, als höre er Schritte im Flur.

Kropka registrierte das. „Familie?“

„Meine Frau Anne, meine Tochter Sinja. Beide verängstigt. Sie haben keine Antworten. Nur Fragen.“ Bennos Stimme klang kratzig, ein Mann, der etwas aufhalten will, was er nicht versteht.

Kropka wandte sich um. „Ich möchte mit ihnen sprechen. Sehen, wie sie leben. Vielleicht erkenne ich etwas.“ Er klang hart, aber nicht unfreundlich. Nur zweckmäßig.

Benno nahm einen tiefen Atemzug, als müsse er sich dazu zwingen. „Okay.“ Dann ein Nicken. „Aber behutsam, ja? Meine Tochter ist noch klein.“

Keine Reaktion von Kropka. Er wusste, was er tun musste: Beobachten, lauschen, Löcher in die Oberflächen bohren, bis der Eiter herauskam. Er war müde, innerlich leer, doch das war sein Job – die Dunkelheit absuchen, Hinweise auf menschlichen Zerfall finden. Und er war gut darin, selbst jetzt noch.

„Ist noch was passiert? Irgendwas, das Sie verschweigen?“ Kropkas Stimme war leise, als hätte er Angst, die Mauern könnten antworten.

Benno schluckte. „Einmal… hörten wir nachts Schritte. Ganz oben, im alten Dachstuhl, wo sonst niemand hingeht.“ Er zögerte. „Ich war zu feige nachzusehen.“

Kropka blinzelte, das Gesicht unbewegt. „Feige nicht. Vorsichtig.“ Er kannte das Gefühl, wenn Schritte in der Dunkelheit die Nerven spannen. „Ich schau’s mir an. Später.“

Benno befeuchtete die Lippen. „Danke.“ Ein einfaches Wort, aber er klang, als hinge sein letzter Rest Hoffnung daran.

Kropka ließ den Blick an der Decke entlangwandern. Alte Holzbalken, Spinnweben, Schatten. Der Wind draußen klopfte an die Scheiben, als wolle er sie herausbrechen. „Sie wollen diese Tourismusnummer groß aufziehen, hab ich gehört. Konzerte, Lesungen, der ganze Kram. Warum?“ Seine Stimme klang skeptisch, fast zynisch.

Benno wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Weil hier sonst nichts ist. Das Land stirbt, die Leute gehen. Wir wollten Leben reinbringen, Kultur.“ Ein Funke Idealismus blitzte in seinen Augen, bevor er flackerte.

Kropka nickte mechanisch. Er verstand das Konzept. Ein toter Ort, eine neue Idee, die alte Mächte weckt. Was für ihn zählte, waren Motive. Neid, Angst, Wut auf Veränderungen. Das Dorf gegen den Fremden. Oder war es persönlicher?

Er trat näher zu Benno, ließ seine Präsenz wirken. „Ich bleibe, seh mich um.“ Ein Satz, der ein Zugeständnis war. Er würde diese Sache ernst nehmen. Nicht aus Leidenschaft, sondern weil er gerade hier war, weil er gebraucht wurde, weil er vielleicht so wieder einen Sinn fand.

Bennos Augen wurden schmal. „Was brauchen Sie?“

Kropka überlegte kurz. „Ein Zimmer, Ruhe, alle Informationen, die Sie haben.“ Er runzelte die Stirn. „Ich rede morgen mit dem Bürgermeister. Und ich sehe mir Ihre Spuren an. Jede Ecke. Verstanden?“

Benno nickte. „Ja. Sie kriegen, was Sie brauchen.“

Kropka spürte die Risse in Bennos Fassade: Hinter der Vernunft lag Nervosität, Hoffnung, Angst. Ein Mann, der sein Lebenswerk in Gefahr sah. Kropka kannte solche Blicke. Früher hatte er versucht, Menschen aufzubauen. Jetzt hatte er nicht mehr viel übrig – außer einer sachlichen Distanz, die ihm half, die Dinge klar zu sehen.

„Dann fangen wir an.“ Kropka setzte sich auf den nächstbesten Stuhl, verschränkte die Arme. „Erzählen Sie nochmal. Langsam, Punkt für Punkt. Kein Detail vergessen.“ Seine Stimme flach, fast kalt.

Benno atmete aus, setzte sich ebenfalls, beugte sich vor, die Hände umklammern seine Knie. Er würde reden, alles geben. Er brauchte einen Retter, einen Mann mit scharfen Augen und taubem Herz, der die Schatten ausleuchten konnte.

Draußen heulte der Wind, schlug gegen die Mauern. Drinnen begannen zwei Männer, Fäden zu ziehen, ein Gespinst aus Hinweisen, Motiven und Verdächtigungen. Kein Raum für Wärme, nur die Erwartung, etwas würden sie finden, bevor noch mehr Schatten über dieses alte Gemäuer krochen.

Teil 3

Der Wind zerrte an den Fensterläden, ließ sie klappern wie lose Zähne im gierigen Maul der Nacht. Irgendwo draußen schrie eine Möwe, ein heiserer Laut, dann Stille, nur das beständige Pfeifen der Böen über die kargen Felder. Das Schloss Hoyerswort lag da wie ein störrischer Felsklotz inmitten einer Welt aus Grau und Salz. Kropka stand im Flur, die Hände in den Taschen, blickte auf das grobe Mauerwerk, das fahle Licht einer Flurlampe. Er dachte an die verlorenen Dinge, an die Zettel, an die Angst in Bennos Augen. Er dachte an seine eigene Leere, an die Dinge, die er längst nicht mehr hatte.

Benno führte ihn in die privaten Räume. Kein Prunk, eher pragmatisch eingerichtete Zimmer. Ein Korridor, der in eine Art Wohnzimmer mündete, niedrige Decke, Dielenboden, ein paar Möbelstücke, Bücherregal, eine Stehlampe mit verblichenem Schirm. Annes Reich, wie Kropka vermutete. Sie saß auf einem Stuhl, die Beine eng aneinander, Sinja auf der Couch. Beide schauten auf, als Benno und Kropka eintraten.

Anne wirkte erschöpft, dünne Schatten unter den Augen. Ihr Blick huschte zu Sinja, zurück zu den Männern. Sinja hielt ein Kissen umklammert, als wäre es ein Schutzschild gegen etwas Unsichtbares. Kropka sagte nichts, ließ den Raum wirken. Er roch abgestandene Luft, hörte das Rumpeln des Windes in den Dachbalken. Hier gab es kein Lachen, nur gedämpfte Sorge.

Benno räusperte sich. „Das ist Herr Kropka. Er hilft uns.“ Er sprach leise, als wollte er die Wände nicht wecken.

Anne nickte kaum merklich. Sinja blinzelte, ihre Augen groß und wach, aber wortlos. Kropka trat ein paar Schritte näher, blickte auf einen kleinen Sekretär. Die Schubladen offen, Papier durcheinander. „Wurde hier was gestohlen?“ fragte er knapp.

Anne fasste sich an den Hals, ihr Atem war flach. „Ein Schmuckstück“, sagte sie leise. „Kleiner silberner Anhänger. Er gehörte meiner Großmutter. Wertlos, aber… wichtig.“ Ihre Stimme brach fast.

Kropka schlenderte zum Regal, musterte die leergeräumten Stellen. „Und sonst?“ Er drehte sich halb, fixierte Benno.

Benno trat neben Anne, legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ein alter Dolch aus einem der Ausstellungsräume, ein paar historische Briefe, die Karte… Und dieser Anhänger.“ Er klang bitter, als wolle er jedes Wort ausspucken. „Keine klaren Muster. Alles Kleinkram. Aber es trifft uns ins Herz.“

Kropka nickte langsam. Er verstand: Der Täter zielte auf ihre Geschichte, ihre Identität. Nichts, was man einfach ersetzen konnte. Er ging zur Couch, blieb davorstehen, eine Armlänge entfernt. Sinja kauerte da, mit großen Augen. „Du hast was gesehen?“ fragte er. Ruhig, aber nicht weich. Sie war ein Kind, ja, aber er brauchte jede Faser an Information.

Sinja nagte an ihrer Unterlippe, löste den Blick nicht von ihm. Dann ein zaghaftes Kopfschütteln. „Nur gehört. Manchmal Schritte.“ Ihre Stimme klang dünn, fast übertönt vom Rauschen des Winds draußen. Kropka bemerkte, wie Annes Hand sich um Sinjas Arm legte, Schutzgeste. Er wollte nicht drücken. Ein Kind brauchte keine brutalen Fragen.

„Okay“, sagte er leise. Er wandte sich ab, ging zum Fenster, schob den Vorhang ein Stück beiseite. Der Innenhof lag im Dunkeln, ein paar Blätter wirbelten über den Kies. „Diese Drohungen… tauchen die irgendwo gezielt auf?“

Benno ballte die Hände zu Fäusten. „Meistens morgens. Ein Zettel am Tor, an der Tür, einmal direkt auf der Fensterbank unseres Schlafzimmers.“ Er schluckte hart. „Sie wollen uns Angst machen. Sie schaffen es.“

Anne schloss die Augen, rieb sich die Stirn. Sinja drückte das Kissen fester. Kropka verstand die Dynamik: Ein Vater, der nicht versagen will, eine Mutter, die ihre Tochter schützen muss, ein Kind, das mehr spürt, als es begreift. Und draußen ein Unbekannter, der mit kleinen Nadelstichen ihr Leben verletzt.

Er musterte Benno. „Ihr Projekt… irgendwem auf die Füße getreten? Geld, alte Rechnungen?“ Die Worte kamen staccatoartig, als wäre jedes ein Hieb.

Benno lockerte die Fäuste. „Ich weiß es nicht. Manche im Dorf mögen uns nicht. Sie wollen kein Schloss als Attraktion, keine Fremden, kein Trara. Sie wollen Ruhe, Tradition. Aber Drohungen? Diebstahl? Das ist mehr als nur Unmut.“

Anne hob den Kopf, ihre Stimme zitterte leicht. „Jemand sagte uns mal, wir sollen verschwinden. Dass wir hier nicht hingehören. Doch wer? Jeder lächelt freundlich, wenn wir sie fragen.“ Sie lachte bitter, ein tonloses Geräusch. „Hinterhältig, im Dunkeln.“

Kropka trat einen Schritt zurück, lehnte sich an die Wand. „Macht ihr die Türen über Nacht zu?“ Eine banale Frage, aber wichtig.

Benno nickte. „Alles verriegelt. Trotzdem finden wir morgens Spuren, geöffnete Fenster, fehlende Dinge.“ Sein Kiefer mahlte. „Als würde jemand durch Wände gehen.“

Kropka schnaubte leise. „Niemand geht durch Wände. Jemand kennt dieses Schloss. Jemand ist nahe dran.“ Er sah wieder zu Sinja. Das Mädchen presste ihre Lippen aufeinander, zeigte keine Regung. Er hoffte, sie würde nichts Traumatisches sehen müssen.

Ein Geräusch: Ein Kratzen am Fenster oder nur der Wind? Anne zuckte zusammen, Sinja schreckte hoch. Benno wirbelte herum, starrte ins Dunkel. Kropka blieb still, lauschte. Nichts mehr, nur der Wind. Aber in dieser Stille lag etwas Schweres, ein Magenkrampf aus Angst.

„Ich möchte den Ort besser kennen“, sagte Kropka knapp. „Alle Räume, Gänge, versteckte Türen. Gibt es alte Fluchtwege, Geheimgänge? Historische Burgen haben sowas.“

Benno zögerte, dann schüttelte er den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Wir haben Pläne gewälzt, aber nichts gefunden. Nur dunkle Keller, Dachböden voller Gerümpel. Keine geheimen Tunnel.“

Kropka nickte. Er glaubte ihm. Trotzdem würde er selbst nachsehen.

Anne rieb sich die Hände, als hätte sie kalte Finger. „Was werden Sie tun?“

Kropka sah sie an, ruhig, ohne viel Mimik. „Untersuchen. Reden. Fallen stellen. Wenn es sein muss, nachts Wache halten. Ich find den Bastard.“ Klare Worte, ohne Trost, aber mit Entschlossenheit.

Benno atmete durch, als wollte er danken, brachte aber kein Wort heraus. Seine Frau senkte den Blick. Sinja schaute Kropka an, als würde sie in seinem Gesicht nach einer Antwort suchen, die er ihr nicht geben konnte.

Sie hörten Schritte im Flur. Eine Gestalt in Dunkelheit, dann ein leises Klopfen an der Tür. Benno ging hin, öffnete. Frau Mundt, die Aushilfskraft. Eine hagere Frau, Mitte fünfzig, wettergegerbtes Gesicht, enge Lippen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie. Ihre Stimme war flach, ein harter Ton wie Kies unter Reifen. „Ich wollte… ich bin fertig für heute, gehe nach Hause.“

Benno nickte, abwesend. „Gut. Danke.“ Keine weiteren Worte. Frau Mundt warf einen flüchtigen Blick auf Kropka, musterte ihn mit dem Misstrauen einer Einheimischen, die Fremdes wittert. Dann verschwand sie im Flur. Ihre Schritte verhallten.

Kropka zog die Brauen zusammen. „Was hält sie von Ihnen?“ fragte er knapp.

Benno hob die Schultern. „Sie redet wenig. Macht ihre Arbeit. Verdächtig ist sie nicht.“

Kropka behielt seine Zweifel für sich. Wer weiß schon, wer verdächtig war. Schweigen kann Tarnung sein.

Er ging zur Tür. „Ich sehe mich um. Innenhof, Lagerraum, Dachboden. Irgendwo muss es Spuren geben.“ Er warf einen langen Blick auf Anne und Sinja. „Sie sollten schlafen. Tür abschließen.“

Anne nickte langsam, Sinja drückte immer noch das Kissen. Benno wollte etwas sagen, hielt aber den Mund. Kropka verstand: Der Mann war am Ende seiner Nerven, wusste nicht, welche Worte noch Sinn hatten.

Er verließ den Raum, ging durch den Flur, der Wind hörbar hinter den Fenstern. Er durchquerte einen seitlichen Gang, fand eine Treppe. Spinnweben, staubige Ecken, unregelmäßige Schritte auf altem Holz. Er fand einen kleinen Abstellraum, altmodische Requisiten, Kisten mit Papieren, Dokumenten über das Schloss. Er wühlte kurz, sah nach Spuren von Fremden. Nichts Auffälliges, nur Modergeruch. Weiter.

Im Innenhof raste der Wind, warf kleine Steinchen umher. Kropka trat hinaus, zog die Jacke enger. Er spähte zur Mauer, zum Tor, ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Pflastersteine wandern. Er kniete sich hin, suchte nach Fußabdrücken, Fetzen von Stoff, abgebrochenem Holz. Gestern schon hatte Benno ein Metallstück gefunden. Heute? Nichts Neues. Aber er hörte etwas – ein Schaben, als reibe Metall an Stein. Oder spielte sein Kopf ihm einen Streich?

Er leuchtete zur Wand hinüber. Nichts. Nur feuchte Steine. Dann schien ein Schatten sich zu bewegen, doch es war nur der Flackerschatten seiner Lampe. Kropka fluchte leise, richtete sich auf. Der Wind drückte auf seine Lunge, er schmeckte Salz auf den Lippen, als hätte er ins Meerwasser gebissen.

Zurück ins Schloss, Schritt für Schritt. Im Flur hörte er einen dumpfen Schlag. Er beschleunigte den Schritt, kam um eine Ecke. Auf dem Boden: Ein weiterer Zettel. Er bückte sich, hob ihn auf. Papier dünn wie alte Haut, Tinte verwischt, doch die Worte waren lesbar: „Haut ab oder wir nehmen mehr. Viel mehr.“

Kropka starrte darauf, spürte eine kalte Wut in seiner Brust. Es war nur ein Stück Papier, aber die Botschaft war klar: Die Täter spielten ein Spiel, zeigten, dass sie nahe dran waren. Sie konnten jederzeit zuschlagen, nicht nur Dinge stehlen, sondern womöglich… mehr. Er dachte an Sinja, an die Angst in ihren Augen. An die zitternden Hände von Anne. Das hier war nicht nur eine Warnung, es war eine Kampfansage.

Er steckte den Zettel ein, eilte zurück zu Bennos Wohnräumen. Er klopfte hart an die Tür. Sekunden später öffnete Benno, erschrocken. „Was ist los?“

Kropka hielt ihm den Zettel vor die Nase. „Das lag eben da draußen. Eben erst hingelegt, sonst hätte ich’s früher gesehen. Jemand war hier, jetzt.“

Benno wurde kalkweiß, griff nach dem Zettel, las, fluchte. „Verdammte Schweine.“ Er sprach leise, bebend vor Zorn.

Anne trat hinter Benno, Sinja lugte am Türrahmen vorbei. „Was steht da?“ fragte Anne mit dünner Stimme.

„Sie wollen mehr“, sagte Kropka. „Klartext: Sie drohen euch. Nicht nur mit Kleinkram.“ Er hielt den Blick auf Anne, um ihre Reaktion zu sehen. Sie schluckte, ihre Augen wurden feucht. Sinja versteckte sich hinter ihrer Mutter, schloss die Augen.

Benno rieb sich durchs Haar, sah Kropka an. „Was… was tun wir jetzt?“ Seine Worte klangen hohl, als wären sie durch einen langen Tunnel gedrungen.

Kropka trat näher. „Ich bleib die Nacht wach. Checke Fenster, Türen, gehe aufs Dach, wenn’s sein muss. Ihr bleibt zusammen, Licht an, redet nicht laut über Pläne. Sie werden euch beobachten.“

Anne nickte heftig, wie in Trance. Sinja kein Laut, nur großes Augenpaar im Halbschatten. Benno starrte auf den Zettel, als könnte er ihn mit purem Willen verbrennen.

„Morgen reden wir mit dem Bürgermeister“, sagte Kropka mit fester Stimme. „Und mit ein paar anderen Leuten. Ich will wissen, wer hier einen Groll hegt.“

Benno stimmte zu, ein abgehacktes „Ja“.

Der Wind schlug gegen die Scheiben, ließ sie zittern. In der Ferne zischte die See, oder war es nur Einbildung? Kropka wusste, dass die Nacht lang werden würde. Er würde die Dunkelheit durchstreifen, nach Geräuschen lauschen, nichts dem Zufall überlassen. Das Schloss war ein Labyrinth aus Schatten, und jemand schlug in den Winkeln zu, unsichtbar, leise, skrupellos.

Er verließ den Raum wieder, ließ die Familie mit ihrer Angst allein. Vielleicht brauchte Benno jetzt einen Moment, um Anne und Sinja zu beruhigen. Kropka kannte die Hilflosigkeit. Die Feinde bleiben im Dunkeln, und jede Bewegung könnte ein Fehler sein.

Im Flur lehnte er sich an die Wand, atmete flach. Er dachte an seine eigene Vergangenheit, an Verluste, an Menschen, die er nicht retten konnte. Er ballte die Fäuste. Nicht wieder. Hier würde er es besser machen. Er war hergekommen, um Antworten zu finden, um Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Er würde nicht zulassen, dass diese Schattenfamilie, wer auch immer sie war, das Schloss und seine Bewohner in den Abgrund zerrte.

Draußen schwirrte ein Krächzen, ein Laut, als würde ein Vogel gegen die Mauern schlagen. Kropka hörte es, rührte sich nicht. Die Nacht war noch jung. Er hatte Arbeit vor sich. Und es begann bereits, unter seiner Haut zu kribbeln, ein beklemmendes Gefühl, dass hier mehr auf dem Spiel stand als ein paar historische Objekte. Hier ging es um Leben, um Wurzeln, um Territorium. Er war mitten in einem Revierkampf, in einem Landstrich, der sich dem Wandel widersetzte. Er würde es ans Licht zerren, Schritt für Schritt, egal, wie hart der Wind blies.

Teil 4

Der Himmel presste sich wie ein dunkler Stein auf die Welt. Wolkenschichten, grau und formlos, schoben sich gegeneinander, als würden sie die Küste ersticken. Der Wind schnitt scharf über den Deich, schleuderte Sandkörner und feine Kiesel gegen die Mauern von Schloss Hoyerswort. Kropka zog den Jackenkragen hoch, trat hinaus in den hinteren Teil des Anwesens, den Garten, der in einen kleinen Wald überging. Benno folgte ihm, die Schultern hochgezogen, nervöse Blicke in alle Richtungen.

Es war spät. Das Gras feucht, roch nach Moder und Salz. Ein paar verkümmerte Sträucher, ein krummer Apfelbaum, dessen letzte Früchte verschrumpelt in der Dunkelheit hingen. Dahinter ragten Bäume auf, schwarz, stumm, ein aufgereihtes Heer von Schatten, der Wald: ein Grenzland zwischen Zivilisation und etwas Uraltem, Unberechenbarem.

Kropka lief langsam, die Hände in den Taschen, den Blick wach. Er suchte nach Hinweisen. Fußspuren, abgerissene Stofffetzen, ein heruntergefallener Gegenstand. Irgendetwas, das ihm sagte, wer hier sein Unwesen trieb. Benno trat auf einen Ast, ein Knacken, er fluchte leise, nervös. Kropka ignorierte ihn. Er ließ den Lichtkegel seiner kleinen Taschenlampe über den Boden streichen.

„Warum gehen wir hier raus?“ fragte Benno, die Stimme heiser.

„Die wollen euch Angst machen. Vielleicht kommen sie von hinten, aus dem Wald. Vielleicht haben sie hier etwas versteckt.“ Kropkas Stimme war knapp, als würde er mit sich selbst reden.

Benno nickte zögerlich, trat näher. Ein Geruch von feuchter Rinde, verwesenden Blättern, ein leises Rascheln in den Ästen. Keine Tiere, kein Vogelruf, als hätten sie alle den Atem angehalten.

Anne tauchte plötzlich am Rand des Gartens auf, Sinja an der Hand. Sie war blass, die Lippen schmal. „Michael… komm zurück, bitte.“ Ihre Stimme zitterte. „Wir haben etwas gefunden.“

Kropka spürte, wie Bennos Nervosität umschlug in panische Neugier. „Was ist los?“ fragte er.

Anne kam näher, Sinja klammerte sich an ihren Arm. Das Mädchen sagte kein Wort, sah Kropka mit großen, ängstlichen Augen an. „In der Küche… wir wollten Tee machen. Der Wasserkessel… irgendwas stimmt nicht.“ Annes Stimme war leise, fast verschluckt vom Wind. „Ein Pulver, weiß, am Boden des Kessels.“

Benno straffte sich, wurde kreidebleich. „Vergiftung?“ Sein Wort stach in die Nacht, als hätte er es selbst kaum geglaubt.

Anne nickte, ein winziges, verzweifeltes Nicken. „Ich habe es rechtzeitig bemerkt. Wir haben nicht davon getrunken. Aber… sie wollen uns nicht nur verjagen.“ Sie schluckte, ihre Augen glasig. „Sie wollen uns schaden. Vielleicht töten.“

Sinja duckte sich hinter ihre Mutter, presste das Gesicht in den Stoff von Annes Jacke. Kropka knirschte die Zähne. Das hier war kein harmloser Einschüchterungsversuch mehr. Das war ein direkter Angriff, ein Schritt über die Grenze.

„Zeig es mir“, sagte Kropka. Er klang ruhig, doch innerlich rumorte es. Gift. Das war kein harmloser Streich. Das war Krieg.

Anne deutete Richtung Schloss. Sie gingen schnell zurück, Benno knapp hinter Kropka, Sinja mit kleinen, hastigen Schritten, die sich an Annes Seite schmiegte, als könnte sie in ihr verschwinden. Der Wind versuchte, sie aufzuhalten, zerrte an den Haaren, pfiff in die Ohren, aber sie kämpften sich voran, zurück ins sichere Innere.

In der Küche brannte schwaches Licht. Eine einfache Einrichtung: ein Tisch, ein paar Schränke, ein Waschbecken, ein großer, gusseiserner Wasserkessel. Anne zeigte stumm darauf. Kropka trat näher, zog ein Taschentuch aus der Tasche, hob den Deckel an. Er leuchtete mit seiner Lampe hinein. Am Boden ein helles Pulver, klumpig, fremd. Keinerlei Grund, warum es da sein sollte.

Er roch daran, vorsichtig, aber hielt das Taschentuch zwischen Nase und Kessel. „Chemikalie“, murmelte er. „Nicht normal.“ Er war kein Experte, aber Gift war Gift, es reichte ihm als Hinweis. „Jemand muss hier reingekommen sein, nachdem wir den letzten Rundgang gemacht haben.“ Er schloss den Deckel, versteckte seine Wut hinter sachlicher Kühle.

Benno fuhr sich durch die Haare, seine Hände zitterten. „Wie kommen sie hier rein, verdammt nochmal? Alles verriegelt. Wir sind wach, wir passen auf. Und trotzdem…“ Seine Stimme brach. Er war ein Mann, der nicht versagen wollte, doch die Realität prügelte ihn in die Knie.

Kropka schaltete die Lampe aus, steckte sie weg. „Der Täter kennt diesen Ort besser als ihr. Vielleicht ein alter Zugang, ein Brett locker, ein Fenster, das nicht richtig schließt.“ Er sah Anne an. „Wer hatte zuletzt Zugang zur Küche, zum Wasser?“

Sie schluckte, dachte nach. „Wir alle. Frau Mundt war noch hier, hat geholfen. Aber sie ging früher nach Hause. Ich… weiß nicht.“

Sinja zitterte am ganzen Körper, klammerte sich an ihre Mutter. Anne strich ihr über den Kopf. Eine Geste, sanft, aber hilflos.

Kropka trat zum Fenster, spähte in den dunklen Hof. „Ich muss hier jede Ecke kennen. Morgen ist nicht früh genug. Wir fangen jetzt an. Benno, komm mit.“ Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu.

Benno nickte, starrte auf seine Hände, öffnete und schloss sie, als müsse er Kraft sammeln. Anne rührte sich nicht, hielt Sinja fest umschlungen. Kropka war klar: Diese Familie steht am Abgrund. Er musste verhindern, dass sie hineinstürzten.

Er führte Benno hinaus in den Hausflur, wieder in den hinteren Bereich. Ihr Atem dampfte in der kühlen Luft. Kropka leuchtete Wände, Decken, Böden ab, trat an jedes Fenster, rüttelte an Griffen. Er untersuchte Türen, die zur Vorratskammer führten, kellerartige Räume, in denen der Wind verzerrt klang, als hole er von außen Luft, um sie von innen anzuspucken.

Spuren: Ein paar feine Kratzer an einem Fensterrahmen, als habe jemand es aufgehebelt. Ein kleines Stück Stoff, grau und grob, an einem Balkennagel hängen geblieben. Kropka zog es ab, hielt es hoch. „Einer muss hier rein. Nicht nachts das erste Mal. Der kennt’s schon, war vielleicht früher hier.“ Er sprach mehr zu sich selbst als zu Benno.

Benno trat näher, blinzelte, als würde er die Wahrheit nicht sehen wollen. „Ein Dorfbewohner?“

Kropka wandte sich um, schaltete die Lampe aus, die Augen im Halbdunkel anpassend. „Wahrscheinlich.“ Dann, beinahe ein Zischen: „Vielleicht mehr als einer. Das hier ist kein Einzeltäter, der zufällig Dinge klaut. Das ist ein gezielter Angriff. Auf euch, auf eure Pläne.“

Benno schluckte hart, lehnte sich an die Wand. Sein Atem klang flach. Er hatte gehofft, einfach einen Idioten zu fassen, der Souvenirs klaute. Jetzt war es ein Vergiftungsversuch, ein brutales Spiel mit Leben und Tod.

„Ich werde den Bürgermeister einweihen“, sagte Kropka leise. „Aber wir brauchen mehr. Beweise, Spuren, jemand, der redet. Morgen durchs Dorf. Fragen stellen. Das ist nicht nur ein Einbruch. Das ist ein Terrorakt.“

Benno nickte stumm, kehrte den Blick nach unten, als schämte er sich für seine Hilflosigkeit.

Ein fernes Knarren lenkte Kropkas Aufmerksamkeit auf das hohe, schmale Fenster zum Garten. Der Wald dahinter wirkte jetzt wie ein schwarzer Schlund, die Bäume ineinander verflochten, kein Mondlicht, nur Finsternis. Er fragte sich, wer da draußen lauerte. Ob der Täter jetzt im Unterholz kauerte, lauschte, grinste.

Er machte ein paar Schritte zurück in den Flur, stieß die Tür zur Küche auf. Anne stand noch da, Sinja an ihrer Seite. Beide sahen ihn an, als erwarteten sie ein Wunder. Er schenkte ihnen nichts außer einem knappen Nicken. „Alles zu. Niemand geht allein raus“, sagte er. „Ich bleibe bis zum Morgen, halte die Augen offen.“

Anne verzog das Gesicht, bittere Resignation. Sinja schmiegte sich fester an ihre Mutter, und in ihrem Blick lag etwas, das Kropka traf wie ein Stich: die Ahnung, dass dieser Fremde, dieser Mann namens Kropka, vielleicht ihre einzige Hoffnung war.

Der Wind sprang gegen die Scheibe, ein hartes Pochen, als wolle er Einlass erzwingen. Kropka trat näher, sah sein eigenes müdes Spiegelbild im Glas. Er wusste, er würde diese Nacht nicht schlafen. Er spürte den Schatten der Bäume im Nacken, das Knirschen von Schritten, die einst hier verhallt waren. Der Täter war nah, unsichtbar, ein Raubtier mit Geduld. Doch Kropka war auch da, verbissen und leer, bereit, die Schatten aufzulösen, Stück für Stück.

Benno trat hinter ihn, leise. „Wir schaffen das, oder?“

Kropka antwortete nicht sofort. Er zwang sich zu einem kurzen Nicken. Keine falschen Worte, keine Lügen. Nur die kalte Wahrheit: Sie mussten kämpfen, sehen, fragen, graben, bis die Wurzeln der Bedrohung offenlagen. Dann würde er zuschlagen, ohne Gnade.

Hinter ihnen knarrte eine Tür. Sinja erschrak, klammerte sich an Anne. Draußen wehte der Wind, die Nordsee murmelte ferne Drohungen. Hier drinnen ging es um ihr Leben, um die Frage, wer flieht und wer bleibt.

Kropka ballte die Hände in den Taschen, spürte den Stoff an den Knöcheln. Er war bereit, die Nacht durchzustehen. Der Morgen würde vielleicht Antworten bringen. Jetzt war Dunkelheit. Und in der Dunkelheit lauerten viele Dinge, hungrig, namenlos, bereit, ihre Beute einzufordern.

Teil 5

Der Morgen war noch fern. Der Wind raste über den Deich, pfiff durch Ritzen und Fugen, als wolle er in jedes dunkle Loch vordringen. Im Schloss war das Licht schwach, nur ein paar Funzeln hielten die Nacht in Schach. Kropka stand am Einstieg zum Keller, der Türrahmen aus altem Holz, das Treppengeländer von Holzwürmern zerfressen. Er wusste, dass er runter musste. Kein Weg daran vorbei.

Anne trat neben ihn. Eine dünne Jacke, das Haar straff zurückgebunden, die Augen gerötet vor Angst und Schlafmangel. Doch sie hielt sich aufrecht, mit einer leisen Entschlossenheit, die Kropka registrierte, ohne sie zu kommentieren.

„Unten war schon lange niemand“, sagte sie leise. „Wir lagern da nur Gerümpel, alte Kisten. Nichts Wichtiges.“ Ihre Stimme klang angestrengt, als würde sie sich selbst überzeugen.

Kropka nickte. Kein überflüssiges Wort. Er leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe den Treppenabgang hinab. Feuchte Luft schlug ihm entgegen, modrig, scharf. Ein Geruch nach fauligem Holz, nach Pilzen, die im Dunkel gediehen. Die Steinstufen waren schmal, glitschig. Er setzte einen Fuß drauf, testete das Gewicht. Anne wartete, sah sich um, als fürchtete sie, jemand könnte sie von hinten anfassen.

„Komm mit“, sagte Kropka knapp. Kein Befehl, eher eine Feststellung. Er wollte Augen im Rücken haben, jemanden, der den Fluchtweg sicherte. Sie zögerte einen Moment, schloss dann leise die Tür hinter sich und folgte ihm nach unten. Ihre Schritte hallten dumpf.

Der Keller war ein Raum aus rauem Stein, niedrig und geduckt, als wolle er sich verstecken. Das Licht der Lampe tanzte über Mauerrisse, Spinnweben, verrostete Haken an den Wänden. Irgendwo tropfte Wasser, ein unregelmäßiger Beat, der in den Ohren dröhnte. Sie standen auf festgestampfter Erde, da und dort lose Steine, Holztrümmer. Regale aus altem Holz, halb verfallen, Kisten mit verstaubten Büchern, ein paar zerfledderte Bilderrahmen.

Anne umklammerte ihre eigene Hand, starrte ins Dunkel. „Worauf hoffen wir hier?“ fragte sie, flüsternd. Als könnte zu lautes Reden etwas wecken.

„Spuren“, sagte Kropka. Einfaches Wort, harte Kante. Er trat langsam vor, ließ den Lichtkegel über die Wände gleiten. Feuchtigkeit glänzte an Stellen, als schwitzte der Stein. Die Luft war stickig. Er kniff die Augen zusammen, suchte nach einer Abweichung, einem Hinweis, dass jemand hier unten war.

Ein Stapel Bretter in der Ecke. Ein krummer, alter Stuhl. Er ging näher ran, leuchtete zwischen die Bretter, sah Spuren im Staub. Keine Fußabdrücke, aber Linien, als hätte jemand etwas Schweres über den Boden gezogen. Schleifspuren, dünn und scharfkantig. Er hockte sich hin, berührte den Boden mit den Fingerspitzen. Feucht, klebrig. Ein dunkler Fleck, vielleicht Öl oder Teer.

„Hier war jemand“, murmelte er. „Hat was bewegt.“ Er richtete sich auf, sah zu Anne. Sie trat näher, ihr Gesicht geisterhaft im Lampenlicht.

„Wozu?“ flüsterte sie, die Stimme brüchig. „Was wollen sie mit unserem Keller?“

Kropka runzelte die Stirn, ließ den Lichtkegel weiterwandern. Da, am Ende der Wand, ein schmaler Spalt, als hätte sich ein Stein gelöst. Er trat hin, drückte mit der Hand. Ein Knirschen, der Stein gab nicht nach. Vielleicht ein Fehlalarm. Doch der Boden davor wirkte ungleichmäßig. Er hockte sich erneut, tastete vorsichtig mit der Kuppe des Zeigefingers. Eine tiefe Rille im Erdreich, über die Staubkörner rutschten.

„Versteck“, sagte er knapp. „Möglich, dass sie hier etwas lagern oder rausholen.“ Sein Atem war flach, diese Dunkelheit war zäh, jeder Laut wirkte unnatürlich laut.

Anne zog die Schultern an. „Wir haben diesen Keller nicht renoviert. Vielleicht gibt’s alte Nischen, einen Geheimgang.“ Sie klang, als wolle sie Ausreden finden, aber ihre Stimme verriet Angst.

Kropka stand auf, trat vorsichtig ein paar Schritte zurück, leuchtete in alle Richtungen. Er fand einen Eisenhaken, halb aus der Wand ragend. Daran hing ein zerrissenes Stück Stoff, grau und grob – exakt derselbe Stoff, den er schon oben gefunden hatte. Er zog daran, es löste sich. Einen Moment betrachtete er es schweigend. „Das gleiche Material“, sagte er leise. „Der Täter trägt vielleicht eine alte Jacke, Arbeitssachen. Kommt hier runter, nutzt den Keller als Weg.“

Anne trat näher, ihr Atem roch nach Angst. Sie hob die Hand, als wolle sie das Stück Stoff berühren, hielt dann inne. „Also ein Dorfbewohner? Jemand, der sich hier auskennt?“

Kropka nickte, warf das Stoffstück in seine Jackentasche. „Wahrscheinlich.“ Er Schritt weiter, fand ein paar zerdrückte Blätter auf dem Boden, nass und verrottet. Er hob einen davon an, drehte ihn um. Eine alte Rechnung, halb unleserlich, Tinte verwischt. Nichts Relevantes. Doch darüber zog er ein dünnes Stück Papier hervor, kaum größer als ein Kassenbon. Er hielt es ins Licht.

Darauf stand nur ein Wort, schief gekritzelt, kaum zu erkennen: „Aufhören“.

Er fluchte leise. Eine weitere Botschaft. So weit unten, versteckt? Vielleicht nur ein Zufallsfund, etwas, das der Täter verloren hatte. Oder ein Signal, dass es ernst wird.

Anne trat ganz dicht hinter ihn. „Aufhören?“ Ihre Stimme klang spröde, als würde das Wort in ihren Ohren knirschen. „Sind wir hier in einer Falle?“

Kropka steckte das Papier ein, presste die Lippen zusammen. „Vielleicht drohen sie nicht nur. Vielleicht bereiten sie etwas vor. Der Keller ist unbewacht, sie können hier alles Mögliche deponieren.“

Die Lampe glitt über den Boden. Da – ein Abbruch von Mauermörtel, darunter eine kleine Mulde, als hätte jemand ein Werkzeug angesetzt. Kropka kniete sich hin, fuhr mit der Hand darüber. Frisches Gesteinsmehl. „Jemand hat hier gegraben.“

Anne sog scharf die Luft ein. „Graben? Wozu?“

Kropka richtete sich auf. „Wenn sie einen Zugang schaffen wollen. Oder etwas verstecken. Eine Waffe? Gift? Noch mehr von diesem Pulver?“

Er klang hart, ohne Rücksicht. Anne zitterte, doch sie verharrte, sie lief nicht weg. Das imponierte ihm. In ihr war mehr Kraft, als man vermuten mochte. Er registrierte es ohne Kommentar.

„Wir müssen das Dorf einschalten, den Bürgermeister, die Polizei. Das reicht nicht mehr“, sagte Anne leise, aber bestimmt. Sie sah ihn an, als wolle sie seine Zustimmung erzwingen.

Kropka wandte sich um, sein Gesicht hart im Lichtschein. Er überlegte kurz. „Ja. Aber zuerst brauchen wir mehr. Diese Leute sind schlau. Ich will nicht mit leeren Händen vor den Bürgermeister treten.“

Anne biss sich auf die Lippe. „Was können wir tun?“

„Abwarten, beobachten, Fallen stellen. Morgen früh durchs Dorf, reden, Gesichter lesen.“ Er trat an sie heran, hielt den Lichtkegel so, dass ihre Gesichter im Halbdunkel lagen. „Sie wollen euch einschüchtern. Sie setzen auf eure Angst. Gebt ihnen nicht, was sie wollen.“

Sie schwieg, aber in ihren Augen sah er einen Funken. Kein blinder Mut, eher ein Eingeständnis: Er hat Recht. Aber das löst nicht das Problem.

„Warum ich hier?“ fragte sie plötzlich, leise. „Warum haben Sie mich mitgenommen?“

Kropka schnaubte. „Weil Benno zittert wie ein Blatt. Weil Sie mehr Überblick behalten. Und weil Sinja einen ruhigen Pol braucht. Einer muss wissen, was hier unten passiert.“ Er sagte es roh, ohne Zierde. Ehrlichkeit war sein Pfund.

Anne nickte langsam. Sie verstand. Sie war stärker als sie aussah, und er brauchte jemanden, der nicht sofort zusammenbrach.

Der Tropfen im Hintergrund fiel wieder, Platsch, Platsch, in unregelmäßigem Takt. Der Keller war feucht, trostlos, eine Hölle aus Schmutz und Schweigen. Kropka drehte sich um, ging zum Treppenaufgang zurück. Anne folgte ihm, den Blick über die Schulter nach hinten, als fürchte sie, etwas könnte aus der Finsternis springen.

Auf der mittleren Stufe blieb Kropka kurz stehen. „Sie haben euch Gift untergejubelt. Sie haben versucht, euch in den Wahnsinn zu treiben. Jetzt sammeln sie sich hier unten, graben, planen etwas. Sie meinen es verdammt ernst.“ Er sprach wie ein Arzt, der eine schlechte Diagnose stellt: kühl, ohne Lüge.

Anne holte zitternd Luft. „Wie halten wir das auf?“

Er wandte sich um, sein Gesicht im Schatten. „Indem wir sie vor die Wahl stellen: Scheitern oder gesehen werden. Sie wollen aus dem Dunkeln handeln. Wir werden das Licht draufhalten, jede Bewegung beobachten, jede Frage stellen, bis ihnen nichts bleibt.“

Anne schloss für einen Augenblick die Augen, dann stieg sie hinter ihm die Treppe hinauf, Schritt für Schritt, zurück ins Schloss, weg aus diesem feuchten Loch. Oben angekommen, atmete sie hörbar aus. Ein schwacher Lichtstreifen vom Flur her, der Geruch von Kerzenwachs. Draußen schrie wieder der Wind, unzufrieden, hungrig.

Kropka schloss die Kellertür hinter ihnen, schob einen Riegel vor. Nicht dass das viel nützte, aber es war ein symbolischer Akt. Er sah Anne an. „Kein Wort vor Sinja von dem, was wir gefunden haben. Sie hat genug Angst.“

Anne legte den Kopf schief. Ein leichtes Zucken um die Lippen, als wollte sie wütend widersprechen, aber sie schluckte es hinunter. „Natürlich nicht.“ Ihre Stimme gefasst, aber leise.

Er ging voraus in den Flur, sie folgte. „Und Benno?“ fragte sie.

„Ich erzähl ihm das Nötigste. Er muss wissen, dass wir Hinweise gefunden haben. Aber nicht alle Details. Er soll sich auf die Außenseite konzentrieren, Kontakte ins Dorf. Ich brauche ihn aktiv, nicht panisch.“

Anne nickte, strich sich über die Arme, als fröre sie. „Sie meinen, wir haben eine Chance?“

Kropka hielt inne, drehte sich um, musterte sie. Die Frau hatte Mut gezeigt, war mit ihm in dieses Loch gestiegen. Er konnte sie nicht belügen, aber er würde auch nicht die Hoffnung zerschlagen. „Wir haben Anhaltspunkte. Mehr als vor ein paar Stunden.“ Seine Stimme klang nüchtern, aber nicht kalt. „Jetzt wissen wir, wo sie wühlen. Das ist ein Anfang.“

Anne blickte zur Seite, in Gedanken. Dann hob sie den Kopf, sah ihm in die Augen. „Gut“ sagte sie knapp.

Keine weiteren Fragen. Er respektierte das. Keine sinnlose Panik, kein Lamentieren. Sie ging zurück zur Wohnstube, um nach Sinja zu sehen. Kropka blieb im Flur, lauschte den Geräuschen des Hauses. Nichts als der raue Atem des Windes.