Das Paddelboot - Erika Oczipka - E-Book

Das Paddelboot E-Book

Erika Oczipka

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Beschreibung

Anna sitzt völlig durcheinander in Leer, seit sie weiß, dass ihr Mann Paul tödlich verunglückt ist. Sie zweifelt auch nicht mehr daran, da Dirk, ein Freund Pauls, diesen identifiziert hat. Von dem Tattoo, das er an der Leiche entdeckte, wird er Anna nichts erzählen. Er traut ihr nicht, er mag sie nicht. Er entschließt sich, Paul zu suchen und findet Hinweise auf einen möglichen Aufenthaltsort. Er bucht einen Flug dorthin. Paul ist nach Kroatien geflogen, auf die Insel, zu der sonst mit dem Wohnmobil einmal jährlich aufgebrochen ist. Er lernt einen Geschäftsmann kennen und vertraut erstmalig jemandem an, dass er ein Asperger-Autist ist. Paul möchte zur Ruhe kommen, um dann den Versuch zu starten, Anna wieder für sich zu gewinnen, er ahnt ja nicht, dass man ihn für tot hält. Für Anna wird es Zeit, ihren Eltern ein Geständnis zu machen.

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Inhaltsverzeichnis

Paul nach der ersten Nacht in Kroatien

Anna am Morgen nach dem Treffen mit Dirk

Paul überwindet sich

Anna kommt vom Wege ab

Paul und der Fremde

Dirks Wankelmütigkeit findet ein Ende

Paul, reisefertig

Peter und Paul

Anna räumt auf

Dirks Rückblick

Paul befreit sich

Dirk macht sich auf den Weg

Annas Besuch, Annas Besinnung

Glücklicher Camper auf Cres

I Paul nach der ersten Nacht in Kroatien

Es ist kein Sonnenstrahl, der Paul an diesem Morgen weckt. Dennoch geht sein Blick zuerst zum Fenster, noch bevor er sich erinnern kann, an welchem Ort das Bett steht, in dem er zweifellos liegt, als wäre er selbst auf die Idee gekommen, sich hier schlafen zu legen, keinesfalls entführt, auch nicht verloren gegangen, einfach da und sogar gut ausgeschlafen.

Dem kleinen ALDI-Funkwecker nach, der ihn immer begleitet, ist es früher Tag, sieben Uhr. Paul reibt sich die Augen. An der Fensterscheibe setzen sich nicht nur unzählige Regentropfen fest, wieder und wieder, sondern heftige Windböen treiben für die Jahreszeit viel zu dunkle Wolken vor sich her.

Paul weiß jetzt, was ihn hergeführt hat. Als ihn der große Vogel unsanft auf dem Boden absetzte - da war er noch in seinem Traum gefangen - wusste er bald, was ihn erwartete, denn dafür sorgte schon sein Sitznachbar. Wie arrogant dieser ihn belehren wollte.

‚Aber ich habe den Spieß umgedreht’, freut sich Paul. ‚Als ob ich nichts wüsste über die Bora und ähnliche Wetterphänomene!’ Paul ist kein Langschläfer, der noch im Bett liegen bleibt, wenn er nicht mehr schlafen möchte oder kann. Aber aufzustehen bei diesem dunklen Tagesbeginn, das ist es auch nicht, was er sich gewünscht hat. Deshalb verlässt er das Bett nur, um ans Fenster zu gehen. Er schaut auf die Promenade, schwaches, diffuses Licht dringt von der Hotelterrasse auf den gepflasterten Boden. Ringsherum ist es still. Dafür zeigt sich das Meer so aufgewühlt, als habe es noch eine Rechnung zu begleichen. Die Bora bläst das Wasser voll aufs Ufer, überspült damit die Promenade, die kleinen Fischerboote am Kai bewegen sich, als wollten sie ihrem neuen Kapitän zu Willen sein, zu groß ist seine Macht.

So lauert die Angst in jeder Bucht, auf jedem Bergkamm, in den Wäldern und erst recht auf See, und sogar in den älteren Häusern und immer wieder auch auf den zahlreichen Campingplätzen, die zu dieser Jahreszeit, wenn auch nicht voll belegt, so doch schon zahlreiche Gäste aus dem kühleren Norden jenseits der Alpen aufgenommen haben. Paul kennt die Geschichten über die Bora aus eigenem Erleben. Für den einen gehört sie zum Aufenthalt in der anmutigen Landschaft mit dem wohltuenden Klima dazu, für den andern ist sie vielmehr ein überflüssiger Schrecken, auf den er gern verzichten würde. Den Versicherungsgesellschaften im Norden ist die Bora auch ein Begriff, ein Name, der jedes Jahr viele Male Einzug in Antragsformulare hält, um Schadenersatz für verloren geglaubte oder auch für tatsächlich verlorene Gegenstände zu fordern. Da fliegen Zelte durch die Gegend, auch Vorzelte opfern sich für ihre Eigner, geöffnete Dachfenster von Caravan und Wohnmobil fliegen mit oder ohne Scheibe in tausend Stücken den Nachbarn um die Ohren. Mitgeführte Kleintiere laufen ängstlich davon, man sieht sie manchmal nicht wieder.

Das Leben findet an diesen dunklen Tagen fast nur im Innern der Behausungen statt, was selten ohne Folgen bleibt. Streit kann nicht mehr aufgeschoben werden, alles muss heraus bei diesem Wetter, darf nicht ungesagt bleiben. Da kommen Worte zum Vorschein, mit denen keiner der Beteiligten gerechnet hat; da werden Kinder zur Disziplin verpflichtet, wo Eltern sonst schon mal ein Auge zugedrückt haben.

Das ist die Zeit im Urlaub, wenn Stress sich den Weg bahnt in die oft nur scheinbare Idylle bei dem Versuch der Familienzusammenführung für Tage oder Wochen. Der einzige Ausweg aus dem Chaos ist dann ein Ausflug mit dem Pkw, in dem die Menschen sich noch halbwegs sicher fühlen, ein Trugschluss, wie schon einige lernen mussten.

Und Paul? Paul liegt zunächst wieder auf dem Bett, kriecht dann unter die Bettdecke, da es ziemlich kühl ist. Er denkt an ein Frühstück. Doch noch beschäftigt ihn die momentan nicht zu beantwortende Frage, die sich aber immer wieder in den Vordergrund drängt, wann er wird weiterreisen können zu seinem Ziel, der Insel Cres.

Als er am vorangegangenen späten Nachmittag, dem Rat eines Flugbegleiters folgend, sich ein Taxi genommen hatte, um nicht in der Nähe des Flughafens bleiben zu müssen, sondern sich etwas weiter nach Süden zu begeben, das empfohlene Hotel Miramare in Njivice anzusteuern, da hatte er kaum etwas sehen können, so dunkel war es bereits geworden.

Für den, der noch nie eine Bora erwartet und beobachtet hat und ein wenig ängstlich ist, birgt das Wolkenspiel am verdunkelten Himmel kriminelle Energie, die so nicht in ein Urlaubsgebiet gehört und schon gar nicht auf einen Campingplatz, auf dem ein Großteil der Leute sich gänzlich von Kleidern befreit hat, um Teil der Natur zu sein, aber doch nicht einer solch brutalen. Gott bewahre! Aber die Bora war gottlos und ohne Nachsicht, so schien es. Paul wurde durch eine nach seiner Meinung menschenleere Landschaft gefahren. Lichter, auch nur eines kleinen Ortes, zeigten sich nicht. Im Fernlicht des Taxis sah Paul nur die glatte asphaltierte Straße vor sich, die der Chauffeur erfolgreich als Rennbahn zu nutzen versuchte.

Mit klopfendem Herzen, aber ohne den Mut, den Fahrer anzusprechen, saß Paul steif auf seinem Sitz, sich krampfhaft mit der rechten Hand am Griff festhaltend. Ein Kroate, dem ein paar Brocken der deutschen Sprache zur Verfügung standen, hatte Pauls Bitte entsprochen, ein Taxi für ihn ausfindig zu machen, das ihn nach Njivice bringen sollte an diesem düsteren Spätnachmittag.

Man hatte Paul versichert, dass es sich lediglich um elf, zwölf Kilometer handeln würde, die man gut in einer Viertelstunde bewältigen könne.

Paul wollte unbedingt weg vom Flughafen, überlegte dabei nicht, dass es auch einem Einheimischen nicht leicht fallen würde, im Angesicht der sich unaufhörlich nähernden Bora einen solchen Auftrag anzunehmen, denn immerhin hätte der Fahrer auch noch den Rückweg zu bewältigen. Paul, der es im Verlaufe seines Lebens gelernt hatte, sich anzupassen um nicht aufzufallen, verkrampfte immer mehr. Ein Seitenblick des Fahrers streifte ihn.

Der war nicht gerade freundlich, das verstand Paul. Ihm fiel nichts ein, was er dazu beitragen könnte, die Situation zu entspannen. Er dachte an die Landstraßen in Ostfriesland. Eine solche wie diese hier gab es dort kaum, dafür Schlaglöcher in so großer Zahl, dass man sich gar keine Mühe mehr geben wollte, ihnen auszuweichen. Nach jedem Frost wurden die Löcher breiter und tiefer. Erst wenn es zu einem Unfall mit Personenschaden gekommen war, beklagte man in der Presse den unzumutbaren Zustand der Straßen im Allgemeinen. Abhilfe konnte lange dauern.

So saßen Paul und der Taxifahrer wortlos nebeneinander, als Paul langsam begann, die Kilometer in geschätzten Fünfhunderter-Abständen zu zählen. Aber es war zu spät, er wusste nicht, wie viele Kilometer sie schon hinter sich gebracht hatten. Und dem Fahrer die Antwort zu entlocken war ihm eine zu schwierige Aufgabe. Wie aus dem Nichts tauchte stattdessen plötzlich Annas Gesicht vor ihm auf. Er wollte es festhalten, aber das schaffte er nicht. Er rutschte auf seinem Sitz ganz dezent hin und her. Seine Unruhe steigerte sich jedoch. Er fühlte sich – und so war es ja auch in der Realität – mit jedem Meter weiter von Anna entfernt. Was sollte er machen, ihm fiel nichts ein. Warum war er hier eigentlich allein, nicht einmal sprechen konnte er mit ihr. Wenn er sonst nach Kroatien gefahren war, wusste Anna das. Sie telefonierten einige Male am Tag, die Kosten dafür waren unbedeutend. Ehrlicherweise fragte er sich aber, ob er das, wenn es denn möglich wäre, wirklich tun würde, einfach anrufen und damit wieder mitten in das in Gang gekommene fremde Leben treten, sich bewusst machen, dass es ja Anna gewesen war, die ihn auf dem Campingplatz in Köln zurück gelassen hatte. Und er wollte doch nur in Ruhe darüber Klarheit bekommen, was geschehen war und wie es vernünftig weitergehen könne mit ihm und Anna!

Paul wurde durch einen scharfen Bremsvorgang abrupt aus seiner Gedankenbahn gerissen. Als er wieder in seine normale Sitzposition zurückgefallen war, atmete er tief ein und aus und hielt die Augen geschlossen. Der Fahrer stieß eine Reihe von Wörtern aus, Flüche, so hörte es sich an. Er fuhr jetzt langsamer, schaute Paul wütend an, als schimpfe er auf ihn, gestikulierte dazu noch mit beiden Händen, dass Paul Angst bekam. Ungeduldig wies er mit der Hand auf ein Verkehrsschild, das Paul im Vorbeifahren erkannte als einen Hinweis auf Wildwechsel. Dabei sah die Landschaft nicht so aus, als könne es hier Hirsche und Rehe geben.

Die hätten ja gar keine Deckung. Im Dunkel sah Paul nur die Silhouetten von Pflanzen mit niedrigem Wuchs, die ziemlich ohne Saft dastanden und den Böen der Bora zu trotzen versuchten. Hier ging es rechts ab zum Auto-Camp Njivice. Das war nicht der Anblick, den er von Cres kannte. Vor allem nicht Ende Mai. Jetzt erst bemerkte er, dass doch Vieles anders war. Besonders vermisste er die Steine und Steinmauern an den Straßenrändern, die ihm so sehr vertraut geworden waren und ohne die die Landschaft auf Cres für ihn nicht mehr denkbar war. Und hier gab es nur ein paar angehäufelte Steine, die wie eine Versuchsreihe auf Paul wirkten, aber keineswegs kunstvoll mit Verstand und mit dem Bestreben, hier mit einem Material aus ungleichen Größen eine Mauer zu errichten, die ohne Mörtel Bestand haben und damit auch dem Wind mit Erfolg trotzen würde.

Wie oft war er, über Rupa, Slovenien, kommend, über die E 61/A7 an Rijeka vorbeifahrend, weiter auf der A7 fahrend bis zur Abzweigung auf die D 102, um dann nach wenigen Kilometern am Hinweisschild nach Njivice auf der D 102 mit seinem Wohnmobil in geruhsamer Fahrt die letzten acht Kilometer auf der D 104 zurückzulegen, endlich in Valbiska anzukommen, selten aber in der Dunkelheit. Paul hatte sich dann auf die Überfahrt zu seiner Lieblingsinsel Cres gefreut, auch wenn es sich um die letzte Fähre nach Merag gegen 22 Uhr gehandelt hatte.

Aber jetzt saß er hier, genau wie der Fahrer, unglücklich über die Fahrt durch Sturm, Wolken und eine Landschaft, die etwas Fremdes, Bedrohliches zeigte, als wolle auch sie sich nur gegen ihren Willen darauf einlassen, mit dieser schnell aufziehenden Bora zu kämpfen. Denn es war klar, wer die besseren Karten haben würde.

In einer der letzten Kurven, bevor der Fahrer sich endgültig von der D 102 verabschieden würde, um rechts auf die abschüssige Primarska Cesta in den Ort Njivice abzubiegen, wurde der Wagen von einer sich aufblasenden Böe erwischt und ein Stück weiter auf einer kleinen Verkehrsinsel abgesetzt. Der Fahrer bremste unter einer Schimpfkanonade, zog den Wagen in die richtige Richtung und fuhr - entgegen der Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h - auf nicht geringem Gefälle schnell in den Ort hinein. Über die Draga, die dann in die enge Ribarska obala überging, brachte der kroatische Fahrer seinen deutschen Gast, der das Hotel Miramare noch nicht kannte, an das ersehnte Ziel. So standen sie schließlich auf der Promenade, die wilde Jagd war vorbei. Der Kroate machte es seinem Beifahrer deutlich: Bitte schnell zahlen, ich muss nach Hause. Paul nickte, zog einen 50-Euro-Schein aus seiner Brieftasche, hielt ihn fragend in der Hand. Für einen kurzen Moment glaubte Paul ein Zeichen des Dankes zu sehen. Wenn das so gewesen sein sollte, könnte es sich nur um Bruchteile von Sekunden gehandelt haben, die Paul in seiner Art der Wahrnehmung gar nicht hätte erkennen können. Dafür hätte er viel mehr Zeit benötigt. Aber wer weiß?

Paul drückte ihm schnell den Schein in die Hand, nahm seine Reisetasche und verließ den Wagen, zum Abschied mit einer Hand dem sich Entfernenden nachwinkend.

Als er dann so plötzlich entlassen war und mutterseelenallein auf der Promenade und dann auf der Terrasse vor dem Hotel stand, begann es mächtig zu regnen. Paul regte sich nicht. Er sah hinaus in die Dunkelheit, auf das Meer. Das Meer bei Nacht war für Paul nichts Erbauliches, es zog ihn nicht an, er konnte an seinem Anblick, wenn auch der Mond am Himmel stehen würde und dessen Schein sich im bewegten Fahrwasser eines Schiffes widerspiegelte, nicht in Begeisterung ausbrechen und wie andere Passagiere nach einer Kamera greifen, als ob dieser Augenblick ein einzigartiger wäre, den man unbedingt einfangen musste. Bevor der Regen, vom Wind gepeitscht, ihn ganz durchnässen würde, besann sich Paul, wo er sich befand. Ein mattes Licht war in der Rezeption zu sehen. Die Terrassenstühle hatte jemand miteinander verkettet, um sie so vor der Bora zu retten. Die Pflanzenkübel hatte man nebeneinander dicht an die Hauswand gestellt. Sie dürften einiges wiegen und waren wohl nicht so gefährdet.

Paul fand eine Klingel, und es dauerte nicht lange, bis die Tür aufgeschlossen und er unter freundlicher Begrüßung von einer jungen Frau eingelassen wurde. Er stand vor dem Empfangstresen, zog mit langsamen Bewegungen seinen Pass aus der Tasche. Sie legte ihm ein Formular vor, das er brav und in aller Ruhe wortlos ausfüllte. Als sie ihn dann auf Deutsch angesprochen hatte, um zu fragen, wie lange er zu bleiben gedenke, war ihm ganz schnell ein Satz entschlüpft: Ich muss dringend nach Cres. Die nette Frau hatte ihn immer noch freundlich angesehen und dann fragend auf das Meer gezeigt. Doch Pauls Gedanken waren längst abgedriftet und hatten sich zu der großen Frage formiert, wann sein Leben endlich wieder in die richtige Bahn kommen würde.