Das Paddelboot II - Erika Oczipka - E-Book

Das Paddelboot II E-Book

Erika Oczipka

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Beschreibung

Seit Anna den Campingplatz in Köln verlassen und damit ihren gemeinsamen Urlaub mit ihrem Mann Paul abgebrochen hat, fährt sie nicht, wie geplant, zurück nach Leer, sondern bleibt einige Tage in Köln, wo sie lange gelebt und auch studiert hat. Dass ihr Mann Paul mit einem Paddelboot auf dem Rhein ums Leben gekommen ist, glaubt sie immer noch nicht. Das mindert jedoch nicht ihre Schuldgefühle. Sie geht in Köln an ihre Lieblingsplätze, sinniert viel über ihr Leben mit Paul und warum sie sich von ihm trennen wollte. Das Bild, das sie von Paul hatte, wandelt sich von Tag zu Tag mit der Erkenntnis, dass er zwar anders war als die Menschen, die sie kannte, aber dass ihr Leben mit ihm ihr viel bedeutet. Sie verfällt in eine Unruhe, von der sie nicht weiß, worin sie sich begründet. Vorzeitig verlässt sie Köln. Zurück in Leer in ihrer Wohnung, nimmt sie Kontakt zu Dirk auf, einem Freund und erfährt, dass er die schwere Aufgabe der Identifizierung Pauls übernommen hatte. Dirk trägt ein Geheimnis Pauls mit sich herum, das ihn quält. Noch kann er sich nicht entschließen, Anna einzuweihen.

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Es ist entsetzlich,

wenn du bedenkst,

dass du nach dem Tode

einen sonnigen Tag,

ein Lächeln

oder

einen Freund

für immer verloren hast;

es ist indessen entsetzlicher,

alles das als

Lebender

verloren zu haben und über allem,

was du gehört und gesehen hast,

auszuschreien:

„Niemals, niemals!“

E. M. Cioran: „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“

© Suhrkamp-Verlag 1989

Inhalt

Vorwort und Vorankündigung

Anna nach dem Abschied von Paul

Anna in Köln, im Hotel am Chlodwigplatz

Paul in der Nacht von Annas Flucht – Köln

Anna, noch immer in Köln

Anna - Rückreise nach Leer am 20. Mai

Anna - zurück in Leer

Dirk erhält Besuch von der Kripo

Dirks lange Nacht zum schwersten Tag

Dirks bisher schwerster Tag

Dirk allein zu Hause

Paul kauft ein Flugticket in Köln

Annas erste Woche in ihrer Wohnung

Annas Alptraum gegen die Realität

Paul verlässt das Hotel in Köln

Anna auf Spurensuche

Dirk trifft Anna

Pauls Reise beginnt

Dirks Wiederholungstraum

Dirks lange Nacht

Vorwort und Vorankündigung

Meine Erzählung „Das Paddelboot - Der letzte Ausflug“ schien für mich abgeschlossen, auch wenn mir das offene und spekulative Ende nicht sonderlich gefiel.

Ich kam mir, je länger ich darüber nachdachte, fast wie eine Verräterin an meinem Protagonisten Paul vor, den ich zurückgelassen hatte ohne eine Chance, seine Beziehung zu Anna zu retten. Jede dritte Ehe in unserem Land endet mit Scheidung oder Trennung, aber bis es soweit ist, ist oft viel mehr geschehen als das zwischen Paul und Anna. Ich begann Paul zu mögen, weil er anders war und die Welt schicksalhaft anders erlebte.

Jetzt befinde ich mich in Kroatien auf der zauberhaften Insel Cres, auf dem beliebten Campingplatz Kovacine.

Auf meiner Terrasse sitzend, denke ich an Paul, den ich so sang- und klanglos von der Bühne des ‚Paddelboot’ verbannte, nur weil er es nicht gelernt hatte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Mir war und ist klar, dass es vielen Menschen so geht. Sie verstehen es, ihre eigenen Mängel mehr oder weniger gut zu verbergen, leiden aber heimlich unter ihrem Anderssein.

Natürlich ist das nicht alles, was es über Pauls Verhalten Anna gegenüber zu bemängeln gibt. Er hätte seiner Frau mehr Aufmerksamkeit widmen sollen, sie in Bezug auf seine sexuellen Bedürfnisse aufklären müssen und Anna nicht allein ins Messer der normalen Erwartungen seitens ihrer Umwelt laufen lassen dürfen. Ihm, dem die Small-Talk-Wortgewandtheit nicht gegeben war, hätte zumindest im Gespräch mit ihr einfallen müssen, dass Anna andere Erwartungen an ihn haben könnte. Je länger ich über sein Verhalten nachdenke, desto mehr komme ich zu der Vermutung, dass Paul durch eine leichte Form des Autismus, wie dem Asperger-Syndrom, zu bestimmten Verhaltensweisen nicht fähig gewesen sein könnte.

Unbewusst habe ich ihn möglicherweise damit ausgestattet. Ich weiß, dass diese Menschen beeinträchtigt sind in Bezug auf Sozialkontakte und Interaktionen wie Körperhaltung, Gestik, Blickkontakt und vieles mehr. Ich weiß auch, und das ist wohl bei Paul evident, dass es ihm an sozialer und emotionaler Gegenseitigkeit mangelt.

Aber wie sollte Anna das wissen, die eine sehr enge Beziehung zu ihrem Bruder gehabt hatte und nun mit dem netten, aber leicht autistischen Paul den Mann an ihrer Seite hat, der ihrem Leben in der scheinbaren Zweisamkeit vieles abverlangt und ihr dafür keine Erklärungen liefert, wozu er tatsächlich nicht in der Lage ist.

Intelligent genug dazu ist er sicher; ich muss es ja wissen, da ich ihn geschaffen habe. Ausdauer, Ehrlichkeit und andere weitere positive Eigenschaften hat Paul zweifellos, vielleicht sogar mehr als andere Menschen, mit denen wir uns umgeben.

Mein Plan war zunächst, nachdem ich ‚Das Paddelboot – Der letzte Ausflug‘ aus den Augen verloren, besser gesagt, fast aus meinem Leben geworfen hatte, eine neue Erzählung oder einen Roman zu schreiben, wie sonst auch.

Dann aber geschah etwas, was meinen Plan in eine ganz andere Richtung drängte. Ralph Biedermann aus Fulda, guter Kenner der Insel Cres und bewährter Geschichten-Erzähler, konnte mich vor Ort davon überzeugen, dass es sich geradezu aufdränge, die Insel Cres zum Schauplatz einer neuen Erzählung werden zu lassen.

Und da fühlte ich, dass ich Paul eine Chance geben sollte. Paul ist mir näher gekommen. Inzwischen habe ich begonnen, Paul eine Art Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Was ich als Erzeugerin der Figur vor einigen Monaten selbst nicht ahnte, habe ich nun in Buchstaben umgesetzt: Paddelboot II – Spurensuche.

Das ist jedoch nicht alles: Spurensuche kann auf verschiedene Weise gedeutet werden, ist letztlich für mich die Vorbereitung auf den dritten Band gewesen, den ich für den Sommer 2016 plane. In ihm gebe ich die bisherigen Schauplätze Leer und Köln auf und ziehe mit meinen Leuten auf die Insel Cres.

Ich verlasse mich dabei auf die zugesagte Unterstützung von Ralph sowie von meinem Lebensgefährten John Zwaga. Er war ebenso schnell eingeweiht wie begeistert. Ralph und John, beide kritische Widerspruchsgeister, haben meinen Ehrgeiz geweckt, und ich freue mich schon auf ihre phantasiereiche Unterstützung.

Ich bin gespannt, in welche Winkel dieser Insel Paddelboot III uns führen wird. Und ich hoffe, dass mir die Leser sowohl bei der Spurensuche als auch bei der letzten Folge die Treue halten werden.

Cres, im Juni/Sept. 2015 (Platz 264, grün)

Anna nach dem Abschied von Paul

Als Anna nach ihrer Flucht vom Campingplatz in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai in Köln-Rodenkirchen im Taxi sitzt und dem Fahrer zusieht, welche Route er nimmt und was noch auf den Straßen los ist nach Mitternacht an einem Sonnabend, treffen zwei Gedanken aufeinander, die das Ziel ihrer Taxifahrt betreffen. Einerseits möchte Anna eine große räumliche Distanz herstellen und direkt nach Leer zurückkehren. Sie ist überzeugt, eine passende Zugverbindung zu finden. Andererseits hält sie es für gegeben, noch ein paar Tage in einem Kölner Hotel zu verbringen, um sich aus ihren widersprüchlichen Emotionen, die ständig in ihr hochsteigen, herauszuwinden.

Es ist ihr klar geworden, dass beide Möglichkeiten Vorzüge bieten. Sie hat das noch auszuloten. Doch bevor der Taxifahrer über die Bonner Straße auf den Chlodwigplatz zusteuern kann, greift sie ein und erklärt die Änderung ihres Ziels.

Sie zahlt, nimmt ihre Tasche, grüßt den Fahrer und steigt aus. Sie geht zunächst in das am Kreisverkehr gelegene Caférestaurant, das gerade schließen will – man lässt sie aber noch kurz hinein – und bestellt einen Capuccino und ein Sandwich. ‚Wie nett die Leute hier doch sind’, denkt Anna.

Als sie den Reißverschluss ihrer Tasche öffnet, um ihr Handy herauszuholen, hält sie inne, da ihr bewusst wird, dass Paul ihr das Handy ja abgenommen hat. Stimmt das wirklich, oder ist alles doch nur ein Traum? Nur ein Traum? Das Nur scheint ihr fehl am Platz zu sein. Sie stützt den rechten Ellenbogen auf dem Tisch ab, als suche sie in dieser offensichtlichen Schieflage nach einer stabilen Lösung. An diesem Abend wird es keine mehr geben, beschließt Anna. Sie wird einige Tage hier bleiben, ihr fällt ohne zu überlegen das Hotel am Chlodwigplatz ein, das sie ihren Eltern vor Jahren vorgeschlagen hatte, um eine Woche mit ihnen und ihrem Bruder Andreas in Köln zu verbringen und die ‚Kinder’ dabei die Rolle des Fremdenführers übernehmen zu lassen. Beides war gelungen, das Hotel war angenehm gewesen und relativ preiswert. Anna und Andreas führten ihre Eltern durch Köln, nicht nur darauf bedacht, ein möglichst gutes, sondern ein realistisches Bild zu zeichnen. Auch das war ganz im Sinne ihrer lieben Eltern abgelaufen.

‚Wie lange das alles her ist’, sinniert Anna, jedoch ohne diesen Beigeschmack des Bedauerns, eher wie eine erfreuliche Tatsache, gespeichert und wieder abrufbar wie jetzt.

Sie zahlt, nimmt ihre Tasche auf und überquert die Bonner Straße mit dem auch nachts noch starken Verkehr. Neu sind für Anna die immer noch geschlossenen Zugänge zur Nord-Süd-U-Bahn, die erst im Sommer 2016 in Betrieb genommen werden sollen. Im Moment bedeutet dieses Bauwerk noch mehr Verkehrsenge im gesamten Chaosbereich des Chlodwigplatzes.

Im 2009 fertig gestellten Kreisverkehr brummt und summt es. Ein langer Transporter hatte es sogar einmal geschafft, die Fahrt im Kreis abzukürzen und, vom Rhein kommend, wie früher möglich, direkt links in die Bonner Straße abzubiegen. Sie las das im Kölner Stadtanzeiger und amüsierte sich. Vom Hotel, das seinen Eingang in der Merowingerstraße Ecke Elsass-Straße hat, war ihr besonders der Außenanstrich in einem verwaschenen Grün im Gedächtnis geblieben und das freundliche Personal. Von hier aus kann man zu Fuß große Teile der Stadt erkunden.

Sie klingelt, freut sich, dass noch Licht zu sehen ist. Der Nachtportier ist höflich. Er kann ihr nur ein Doppelzimmer vermieten zu einem reduzierten Preis. In dieser Stadt findet täglich mehr als eine Messe statt.

Wie spiegelt sich das und was diese Stadt sonst noch zu bieten hat an Attraktionen wider oder wirkt sich aus in der Arbeitslosenquote Kölns? Dafür hat sich Anna vor Jahren aus beruflichen Gründen interessiert. Die Diskrepanz beginnt schon mit der Definition. Es gibt eine errechnete Arbeitslosenquote, zum Beispiel 9,8 %. Gleichzeitig spricht man von einer Unterbeschäftigungsquote, die 12,5 % betragen soll. Diese Werte müssten eigentlich übereinstimmen, tun sie aber nicht. Es ist gleichermaßen pervers wie erfindungsreich, was die Statistiker zustande bringen. Anna steht kurz davor, sich aufzuregen, bis ihr einfällt, dass sie sich mit so etwas momentan nicht beschäftigen möchte. Und spätestens jetzt stellt Anna fest, dass sie ganz weit weg ist von Paul und dem Campingplatz.

Der Portier ist so nett, die Formalitäten der Anmeldung auf den nächsten Morgen zu vertagen, händigt Anna einen Schlüssel aus, beschreibt ihr den Weg zu ihrem Zimmer im zweiten Stock und wünscht ihr eine gute Nacht. Leise, fast unhörbar, schleicht Anna die Treppe hinauf ins Zimmer mit dem Doppelbett. ‚Es geht wohl nicht anders’, denkt sie. ‚Überall wird man als Einzelwesen mit der Nase darauf gestoßen, dass man ein solches ist.’ Weder schaut Anna sich das Interieur an, noch setzt sie sich einen Moment, um zur Besinnung zu kommen, in einen der Sessel, nein, sie zieht sich nach einem kurzen Aufenthalt im Bad in ihr Bett zurück, löscht das Licht der Nachttischlampe und fällt nach diesem merkwürdigen Abend und der schon halb vergangenen Nacht schnell in Schlaf.

Anna in Köln, im Hotel am Chlodwigplatz

Der erste Gedanke, als Anna am Morgen aufwacht, ist ein von der Realität noch ungetrübter. Die Hände unterm Kopf gefaltet, liegt Anna in den Kissen und schaut hinaus ins Licht eines neuen Tages. Wie schön, dass die Vorhänge nicht zugezogen sind. Es besteht kein Zweifel: Sie ist in Köln und sie fühlt sich frei. Nach den Erfahrungen der letzten Tage würde sie ahnen können, wäre jemand ihr auf der Spur, doch ein solcher Gedanke ist nicht einmal ansatzweise vorhanden.

‚Was für ein schönes Gefühl, ich liege hier in einem Hotel in der Südstadt Kölns, werde gleich frühstücken gehen und mich frei bewegen.’

Der erste Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es kurz vor Mittag ist. Sie springt aus dem Bett, geht ins Bad, um anschließend festzustellen, dass sie in ihrer Tasche nur ein einziges Kleid hat. ‚Macht nichts, ich gehe in die nächste Boutique und werde mich beraten lassen. Auf der Severinstraße und in den Seitenstraßen und Gassen muss doch etwas zu finden sein’, erinnert sie sich.

Im Empfangsbereich sitzt ein junges Mädchen. Anna stellt sich vor und legt ihren Personalausweis auf den Tresen.

„Gestern war es schon sehr spät, als ich hier ankam, eigentlich war es schon heute“, erklärt sie.

„Ja, ich weiß“, lächelt ihr das junge Mädchen zu und macht ihre Eintragungen. „Wie lange haben Sie vor zu bleiben?“

„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortet Anna wahrheitsgemäß“.

„Es ist nur wegen der zwei Messen, die morgen beginnen und ein paar Tage dauern. Da sind wir leicht ausgebucht. Sie haben sowieso Glück gehabt mit dem Doppelzimmer.

Vielleicht können Sie mir im Verlauf des Tages eine konkrete Antwort geben“, sagt sie freundlich.

„Ich werde es versuchen.“

Vor einem kleinen Café auf dem Sachsenring, unweit des Hotels, sitzen Gäste in der Sonne und plaudern miteinander. Die Inhaber sind Italiener und schon einige Jahre an diesem Platz, wie Anna weiß. Sie begrüßt im Innenraum die Frau des Hauses und fühlt sich schnell wie eine alte Bekannte, die mal wieder hineinschaut. Anna bestellt ein Baguette mit Mailänder Salami und einen Milchkaffee.

Ein freier Platz findet sich auch, sie blinzelt in die Sonne. Ihre Sonnenbrille liegt im Wohnmobil. Ein verbotener Gedanke, denn es würde eine lange Reihe von Gegenständen werden, zählte sie sie alle auf. Sie verbietet es sich noch einmal ganz explizit.

Sie sieht den Straßenbahnen nach und überlegt, ob sie nicht ins Zentrum fahren solle. Bei diesem Wetter könnte ein gemütlicher Spaziergang vom Neumarkt über die Schildergasse und Hohe Straße zum Dom eine Abwechslung sein und zugleich ließen sich einige notwendige Einkäufe damit verbinden.

Mit dem Blick auf vorübergehende Frauen wird Anna klar, dass sie einige Kleidungsstücke wird kaufen müssen. Das könnte sie hier in der Südstadt auch, aber da dieser Tag ein Samstag ist und Anna weiß, was bei schönem Wetter im Zentrum los sein wird, lässt sie sich auf ihren selten aufkommenden Wunsch ein, sich in die Menschenmenge zu werfen, sich treiben zu lassen, sich wie ein Tourist, jedoch mit Insiderwissen, dem Kommerz hinzugeben. In Leer ist das nicht möglich, warum eigentlich nicht? Anna glaubt, dass die Biederkeit der Ostfriesen keinen Raum lasse für Experimente oder, freundlicher gesagt, ist bei der recht geringen Anzahl der Frauen und Männer, die das dann doch mitmachen würden, der finanzielle Aufwand für die Geschäftsleute zu groß und damit auch das Risiko, auf angemessene Gewinne verzichten zu müssen.

‚Ach, was denke ich da’, lacht Anna über sich selbst, ‚ich tue ja so, als wäre ich eine der mutigen Frauen, die in der Mode immer den Ton angeben möchten und das auch um jeden Preis. Stimmt ja gar nicht. Erstens könnte ich es mir nicht leisten, und zweitens, was würde Paul ...‚’ Anna stockt. ‚Er schleicht sich wieder in mein neues Leben, oder stecke ich noch mitten drin im alten? Klar ist das so!’

Ihr eigenes, darauf folgendes Kopfschütteln nimmt Anna mit Humor. Mit jeder Bahn, die vorbei fährt, löst sich einerseits die Spannung in ihr, lässt jedoch die Unruhe ansteigen. Sie trinkt den Kaffee schneller als gewöhnlich und nimmt beim Baguette alle Finger zu Hilfe, um es in kleine Stücke zu teilen. Schließlich steht sie auf und bittet um eine weitere Serviette. Dabei spricht sie mit vollem Mund, was gar nicht zu ihren Gewohnheiten gehört, zahlt, grüßt freundlich beim Hinausgehen.

Fast hätte sie ihre Tasche stehen lassen, wieder einmal, fällt ihr ein. ‚Das muss anders werden’, denkt sie.

Sie sieht die Linie 16 kommen und weiß, dass sie diese Bahn nicht mehr erreichen wird. Nun werden ihre Schritte wieder auf eine normale Größe und Geschwindigkeit zurückgestellt. Ab und zu dreht sie sich auf ihrem Weg zur nächsten Haltestelle um, nur um zu sehen, welche Bahn in ihre Richtung fährt, auf die sie vielleicht aufspringen könnte. Es wimmelt von Zeitgenossen, die wuseln durcheinander, überholen einander, gehen schrittweise neben ihr her, verlieren sich in einer anderen Spur. Tauchen wieder auf, haben sich eine Zigarette angezündet oder bleiben mitten auf dem Bürgersteig stehen und beschäftigen sich mit ihren Telefonen. Wortfetzen dringen an Annas Ohr. Sie lacht innerlich, wenn sie das Kölsch hört. Am liebsten würde sie allen erzählen, dass sie lange in Köln gelebt hat.

‚Wie kindisch bin ich doch, wen sollte das interessieren? Und außerdem will ich gar nicht auffallen oder doch? Wenn man sich selbst nicht mehr kennt, ist man sich auch fremd geworden’, denkt Anna. ‚Was würde ich wohl tun, wenn mir jemand entgegenkäme, den ich kenne, egal, ob vom Studium, oder Nachbarn oder andere Bekannte?’ Sie weiß es nicht.

Über allem steht die Sonne am Himmel, der blau leuchtet und den keine einzige Wolke trübt.

Die Tasche wird Anna lästig, sie wird sie am Bahnhof ins Schließfach legen und nur ihr Portemonnaie mitnehmen. Wie neulich. Wie lange ist das her, neulich. Sie erschrickt: zwei Tage! Dazwischen liegen Welten und Tausende langer, endlos langer Sekunden, wie sie es vorher nie erlebt hat.

Doch auch Freude hat sie erfahren, Freude, die sie nicht mehr für möglich gehalten hätte, Freude über Kleinigkeiten, über die man meistens hinweggeht, weil sie so banal, so alltäglich sind.

‚Ich bin ausgebrochen’, sagt Anna vor sich hin, als sie auf die Straße tritt, die sie überqueren muss, um ihre Bahn zu erwischen. Kaum kann sie es erwarten, dass die Ampel auf Grün schaltet, einen Fuß hat sie schon auf der Straße, zieht ihn schnell zurück. Da fährt doch einer noch bei Rot über die Kreuzung! Sie erreicht die Bahn gerade noch, hat keinen Fahrschein, drängelt nach vorn zum Automaten. Das Spiel kennt sie, die kennen keine Gnade, wenn sie dich erwischen. Selbst Touristen spüren das. Warum auch nicht. Sie kramt in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld, fragt die Frau, die neben ihr steht, nach dem Preis für ein Einzelticket zum Dom. Die weiß das nicht, da sie eine Jahreskarte hat.

2,40 sagt ein Mann, der mitgehört hat. Anna dankt und wirft 2,50 ein, drückt und erhält die Karte. Muss sie die nun noch abstempeln oder nicht? Sie beschließt, nicht wieder zum Stempeln den ganzen Waggon zu durchqueren. Einer steht auf um auszusteigen. Schnell setzt sich Anna. Dieser Hektik bin ich nicht mehr gewachsen, denkt sie und betrachtet ältere Männer und Frauen, die gelassen stehen oder sitzen, sich unterhalten oder auch nicht, gleichmütig mit dem Gesicht der Großstadtgeprüften, aber nicht unfreundlich oder abweisend.

Sie steigt aus, begibt sich auf die Treppe, die nach oben führt, läuft einen Gang entlang mit vielen anderen, um sich auf einer Rolltreppe zur Bahnhofshalle fahren zu lassen, eingekeilt oben, unten und neben ihr stehen ihre Mitfahrer. Die beste Gelegenheit für Taschendiebe, das weiß Anna noch. Nicht nur einmal ist ihr das passiert. Aber aufzupassen gelingt nicht. Die Tricks sind so sicher wie die Ankunft in der Halle.

Wieder ihre Füße zum Gehen benutzend, geht sie geradewegs auf die Schließfächer zu. ‚Hoffentlich ist eines leer’, denkt Anna. Sie hat Glück.

Sie steht auf nach der ihr schon vertrauten Aktion und geht dem Ausgang zu. Draußen sieht sie zunächst in den Himmel, dann auf den Dom, zu dem sie keine gute Beziehung hat. Anna empfindet ihn äußerlich als wenig ansprechend. Er muss dauernd großflächig gereinigt werden und ist ständig von Baugerüsten umgeben. Und wer geht schon regelmäßig in das Dom-Innere.

Ästhetik sieht anders aus, findet sie. Das darf man aber nicht laut sagen, dann wird es ungemütlich oder man hält das für einen schlechten Scherz.

Hier ist Leben, du bestimmst kaum noch selbst, wohin du gehst, du wirst getrieben. Wo es einen Platz gibt in der Sonne, sitzen sie, oder einer steht, der andere sitzt, und das im Wechsel. Diese Menschen hier haben auch Probleme, aber sie lassen sie zuhause, wenn sie unterwegs sind. Was soll auch dieses Herumreiten auf immer denselben Fehlern der anderen, was sollen Trauer und Enttäuschung, das Leben ist zu kurz, sich daran zu klammern wie an ein untergehendes Schiff, das zunächst nur Schlagseite hat.