Enno Eden sucht seine Heimat und findet etwas ganz Anderes - Erika Oczipka - E-Book

Enno Eden sucht seine Heimat und findet etwas ganz Anderes E-Book

Erika Oczipka

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Beschreibung

Der Begriff "Heimat" ist vielfältig zu interpretieren, obwohl häufig die Verbindung zu einem Ort genannt wird. Vielleicht ist der Ort das wichtigste Element. Meine Protagonisten machen eine andere Erfahrung.

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Chaotischer geht es kaum, das war mein Eindruck von Ennos Verhalten und seiner Vovgehensweise. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.

Es war jedoch nicht einfach, die Gelessenheit dafür bei mir selbst zu entdecken und sie immer wieder suchen zu müssen.

Ohne Johannes ale Korrektiv hätte ich das nicht durchgehulten als Autorin!

Erika Oczipka,

September 2023

Diese Landschaft kann denjenigen, der dafür empfänglich ist, ganz schön ergreifen und ihn aus der Bahn werfen. Sehen Sie sich die Wolken an und die tanzenden Strandkörbe, die sich manchmal gegen den Sturm zusammenraufen, um nicht wegzufliegen trotz ihres beträchtlichen Gewichts. Und dann wird der Sand zum Wüstensand, bei dem man am besten die Augen geschlossen hält, sonst wird es ungemütlich. Unsicheren Ganges schlägt man sich durch.

Aber dann, wenn man es geschafft hat, fühlt man sich sehr stark und wie neugeboren. Jedenfalls erzählen das viele der Gäste, die sich immer wieder hier einfinden in den Ferien.

Enno träumt von einer Heimat, die er seit langer Zeit ersehnt, und begibt sich auf die Suche danach. Diesen Begriff füllt der Mensch mit etwas an, was er sich wünscht und auch für realisierbar hält. Er entwickelt einen Plan. Je mehr er sich einlässt auf das, was sich ihm bietet, desto schneller verzettelt er sich. Das ist nicht gleichzusetzen mit Ziellosigkeit, denn ein Plan muss oft noch künftigen Gegebenheiten angepasst werden, ohne Veränderung des Ziels. Was der Begriff ,Heimat’ bedeutet, beantwortet jeder von uns anders. Das kann ,Versuch und Irrtum’ zur Folge haben, zu neuen Erkenntnissen über die eigene Persönlichkeit führen, zu einem Abbruch des Versuchs oder eine Wende einleiten. Lesen Sie, wohin Enno steuert.

Mit Elan ins Chaos

Inhaltsverzeichnis

Bekenntnis

So begann alles — Rückblick auf Maria

In Gefahr

Wieder in Freiheit

Überraschungen im Internet

Fahrt ins Blaue

Zwischenfälle

Tee mit Frerichs

Ja oder nein

Im Gasthof zur Leybucht

Wer ist Hini wirklich?

Der erste Abend

Am Morgen

Unterwegs am Deich

Alltag

Überraschung am selben Abend

Ein Mann mit Eigenschaften

Wo ist sie geblieben?

Ein paar Tage später

Bei Onno

Motiv

Was weiß Hini?

Aufbruch nach Köln

Kölner Wochen

Mit Johannes nach Norden

Wo ist Hini?

Johannes zweifelt, ich auch

Warum eigentlich Maria?

Ein zu schöner Tag

Endlich am Wasser

Erste Hilfe

Hini lügt ganz offensichtlich

Johannes und andere

Kurzer Wetterwechsel

Rundfahrt

Bekenntnis

Ich heiße Enno Eden, bin gebürtiger Ostfriese, werde noch in diesem Jahr 45 und kenne die Heimat meiner Vorfahren kaum, bis heute, denn ab morgen wird das alles anders werden. Ich bin, wie so viele Zeitgenossen, auf der Suche nach meinen Wurzeln. Nicht bierernst mit Ahnenforschung und dergleichen, mit Papierkram habe ich in meinem Hauptberuf genug zu tun. Doch möchte ich sehen und erleben, was das für ein Menschenschlag ist.

Meine Leser muss ich fairerweise warnen. Ich bin ein echter Ostfriese, und Ostfriesen haben ein gewisses Tempo in allen Dingen, die zu erledigen sind, so auch in ihrem täglichen Leben, das sie zu bestehen haben. Es kann also sein, dass das Tempo, mit dem ich hier bei meinen Beschreibungen vorgehe, nicht immer das des Lesers ist. Reklamationen nehme ich gern entgegen, zu Änderungen werden diese allerdings nicht führen. Auch das ist, neben den Genen, mein ostfriesisches Erbe aus der Erfahrung mit mir selbst.

So begann alles — Rückblick auf Maria

Ich habe von 2014 bis 2019 mit Maria zusammengelebt, die sich auszeichnete durch einen einzigen Satz. ,Ich bin ja sooo blöd!’ Wie mich das immer aufs Neue geärgert hat, glaubt mir noch heute keiner. Wie oft habe ich sie diese Worte sprechen hören, und wie oft habe ich gesagt, es reiche. Ich sah nicht ein, warum sie alles, was mit ihr geschah, mit diesem banalen Satz entschuldigen wollte. Denn es war ja in Wirklichkeit viel schlimmer: Sie zog das Unglück an. Ging es um Geld, sie verlor es. Ging es um ihr neues Motorrad, kam es zu einem Unfall. Fand sie eine ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit, wurde daraus binnen kurzer Zeit ein Prozess vor dem Arbeitsgericht. Jeder andere hätte diesen Prozess gewonnen, sie nicht. Kaufte sie Aktien, fielen diese bald darauf auf einen lächerlichen Kurs. Kaum hatte sie sie verkauft, kletterte der mehr als nur hoch. Ich mochte irgendwann diesen Satz und die darauf unweigerlich folgenden Erläuterungen nicht mehr hören.

Ich hatte aber auch Mitleid mit ihr. Konnte sie etwas dafür? Sie war kein wehleidiger Typ. Gibt es das, dass sich um einen kleinen zierlichen Menschen, dazu eine Frau, solche unerklärlichen Kraftfelder bildeten, es müssen magnetische gewesen sein? Maria ist in meinem Alter, wird wegen ihrer Größe und ihres naturblonden, sanft gekräuselten Haupthaars jünger geschätzt. Vor allem, wenn man sie auf ihrem monströsen Motorrad sieht, im quietschroten Lederanzug, den schweren Helm abgenommen, ganze 1,54 Meter groß, und so mutig. Diesen Mut brauchte sie auch, um mit all den Anfeindungen leben zu können, die ihr widerfahren sind. Am liebsten hätte ich sie zu einem Fachmann geschickt, um Messungen vornehmen zu lassen. Aber bei dieser Frau hätte jedes Instrument wahrscheinlich genau das Gegenteil des Erwarteten angezeigt. Außerdem war mir nicht bekannt, ob es dafür überhaupt geeignete Untersuchungsmöglichkeiten gab. Als sich unsere Wege vor zwei Jahren trennten, sie zog in ihre brasilianische Heimat zurück, wo sie ein Erbe antreten wollte, sah ich ihr traurig hinterher. Ich hätte gern alles Unglück von ihr abgewendet, aber wie? Und heute? Heute bin ich fast überzeugt, dass sie mir auch ein Erbe hinterlassen hat. Die Wirkung dieser vermeintlichen Erbschaft hat aber recht spät eingesetzt. Sie hat mich in der Zwischenzeit kaum wissen lassen, wie es ihr gehe, was sie mit dem Erbe, einer großen Finca und viel Land mit Vieh darauf, beginnen werde oder begonnen habe. Das bedrückt mich, denn wir waren mehr als nur Freunde. Aber meine Fantasie zeigt auch hier keine Grenzen, Maria ist zu allem fähig, zum Untergang, zum rasanten Aufstieg in einer neuen Welt, zur Anpassung an ihr völlig fremde Lebensbedingungen, die Liste ist endlos lang. Sie ist zwar in Brasilien in einer Großstadt aufgewachsen, kam aber dann zum Studium nach Deutschland.

Ich kann es auch kürzer darlegen: sie ist so ganz anders als ich, der ich mich schon mit einem normalen Umzug schwertue, der mich gerade mal ein paar Hundert Kilometer weiter nach Norden bringt, wo nur das Bundesland ein anderes ist. Die Landschaft ist es in weiten Teilen vielleicht auch, erst das Meer aber zeigt mir, wo ich bin! Nun kündigen sich bei mir die ersten folgenschweren Entgleisungen meines bis dahin recht ruhig fahrenden Lebenszuges an, äußerlich ruhig, das muss ich betonen, innerlich bin ich es nie gewesen. Ich versuche zu erklären, was erklärbar ist. Der Rest ist und bleibt höhere Gewalt. Noch waren es nur Gedankenspiele. Aber dann! Maria war fort, ich allein und vergessen. Das schrie nach Veränderung. Ganz sicher bin ich nicht der erste Mann, der diesen Drang verspürte und ihm auch nachzugeben bereit war. Aber wohin sollte ich gehen? Ich fühlte mich in Köln sehr wohl, hier hatte ich die Hälfte meines Lebens verbracht, viel gearbeitet, eine Menge Erfahrungen gesammelt, und gute Freunde wusste ich auch an meiner Seite. Mit Frauen tat ich mich schwerer, denn sie klammerten sich an mich, als glaubten sie, ich hätte gerade auf sie gewartet. Jede Einzelne von ihnen. Das war nur schwer zu ertragen und erinnerte mich nicht nur vage an die Art meiner Mutter, die mich mit ihren zahlreichen psychischen Tentakeln zu umgarnen versuchte, was mir die Luft abschnürte und mich flüchten ließ. Auf diese Weise geprägt und geschädigt, traf ich immer wieder genau auf diesen Typus von Weib.

Wie anders war doch Maria, und wie unkonventionell, wenn es für mich auch Augenblicke gab, in denen ich sie für sehr oberflächlich hielt. Das war dann, wenn sie mir berichtete, wie ihr Tag verlaufen war, wenn sie schilderte, wie dieser oder jener Kollege sich aufgeführt, wie er sich ihr gegenüber verhalten habe, dass er womöglich ein Frauenhasser sei und so weiter. Sie als Brasilianerin werde die Deutschen und deren Mentalität niemals verstehen können, auch wenn ihre Vorfahren aus Hamburg stammen sollten. Der brasilianische Anteil in ihren Genen sei der eines warmherzigen, vertrauensseligen, fröhlichen und mitfühlenden Wesens. Was sie zu erwähnen vergaß, waren ihr Geiz, ihre Nörgelei, ihre Besserwisserei und, wie schon angedeutet, ihre Urteile über andere. Schnell war sie bereit, Schubladen zu öffnen und jemanden darin festzunageln, meistens für längere Zeit oder auch für immer. Allerdings muss ich hier zugeben, dass ich mir selten die Mühe machte, sie mit der Nase darauf zu stoßen. Das hätte nur zu Streit geführt, zu einer Auseinandersetzung, begleitet von schnell wechselnden Gefühlsausbrüchen, denen ich nicht gewachsen sein würde. Ich hatte dies zu Beginn unserer Beziehung schmerzlich begriffen. Also wollte ich, friedlich, wie ich nun einmal bin, mir meine Ruhe nicht beeinträchtigen lassen. Sollte sie doch glauben, dass sie das Recht auf ihrer Seite hatte! Was war so wichtig daran, kannte ich doch die meisten der erwähnten Personen gar nicht und würde ihnen wahrscheinlich auch nie begegnen. So lebte ich denn auch in den fünf Jahren mit Maria, und, besonders in ihrer Gegenwart, mit stoischer Ruhe, was sie manchmal aus dem Konzept brachte, aber doch nicht so gravierend, dass ich mir Sorgen hätte machen müssen. Diesen kleinen Trick entwickelte ich zu einer Methode, die auch bei anderen Anlässen mit anderen Menschen ganz gut zu meinem eigenen Schutz einsetzbar war. Rückblickend ist die Zeit mit Maria vergleichbar mit dem Leben in einem mittelstarken Wirbelsturm, der nichts Böses angerichtet, dafür ab und zu Wolken vor die Sonne geschoben hatte, dann langsam abflaute und nach ungewissem Zeitplan seine Reise von Neuem begann. Positiv an unserem kurzen gemeinsamen Leben war, dass wir uns nicht so eng aneinander lehnten, sondern unsere jeweilige Selbständigkeit unangetastet blieb. Sie hatte meine Bewunderung, mein Vertrauen, und sie hatte mein Gefühl für sie, was sie sehr wohl spürte, obwohl wir darüber nie gesprochen haben. Von Marias Seite hatte ich keine Übergriffe zu erwarten, nicht emotional noch finanziell. Auch wenn es ihr schlecht ging in diesen beiden genannten Kategorien, waren wir in der Lage, Eskalationen zwischen uns und unserem Verhalten nicht häufig aufkommen zu lassen. Das bedeutete nicht, dass wir in bestimmten Situationen, die uns überforderten, keine Tränen vergossen hätten, nein, aber jeder war sich des Trostes des anderen sicher, na ja, meistens wohl, mehr oder weniger. Wir ahnten beide, dass Jammern nichts Positives hervorbringen würde. Allerdings, und das habe ich anfangs erwähnt, fiel es mir oft schwer, diesen einen Satz von ihr zu jeder Tagesund Nachtzeit hören zu müssen, diesen Satz: Ich bin ja soooo blöd! Ich bin heute, nach dem zweiten Jahr der Trennung, in der Lage, diesen Satz in meinen Ohren klingen zu lassen und darüber zu lachen. Das geschieht so manches Mal, wenn ich an Maria denke und mich frage, was das Wort ,blöd’ im ureigenen Sinne bedeutet. Neulich raffte ich mich auf und sah nach: Es kommt angeblich aus dem mittelhochdeutschen bloede, was ,schwach‘ oder auch ,zart‘ ausdrückte. In jenen Zeiten wurden auch schwachsinnige Menschen als blöd bezeichnet. kann. Na ja, ich habe so meine Idee, was Maria mit diesem Wort ausdrücken wollte.

In Gefahr

Und ich, ich habe so einen Traum, den ich nicht loslassen möchte und auch nicht loslassen kann. Seit ich meine Heimatstadt am Meer, nahe Ostfriesland, verlassen hatte, aufmüpfig und neugierig, wie ich nach gerade mal dreiundzwanzig Lebensjahren war, zog das Wasser in allen möglichen und unmöglichen Formen und Farben durch meine Träume. Es wagte sich sogar in meine Tagträume. Und das war dann doch zu viel! Ich lebe seit vielen, um nicht zu sagen, sehr, sehr vielen Jahren in Köln, dieser kleinen Großstadt, deren Angebote ich bis zum Überdruss wahrgenommen habe. Ich lebe in Lärm, in Gestank, im Rausch, mit vielen Menschen, mit wenigen wichtigen, ich habe ja Zeit, viel Zeit neben meiner Arbeit als Kulturredakteur.

Ich wetze und hetze, wenn es sein muss, wie ein Irrer von Schauplatz zu Schauplatz, nicht um Fotos zu schießen oder Leute zu interviewen, nein, nur um Theater und Konzertkritiken zu schreiben über angeblich Epoche machende Stücke, Theater der Zukunft, Sinn gebende neue Stücke und auch über die ewig gestrigen, so genannten Klassiker im Mantel der Moderne.

Die Musik umfasst noch einige Kategorien mehr. Ich sitze und sitze mir den Hintern breit (leicht übertrieben) und werde jedes Mal unruhiger, bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Ausstieg, aussteigen, oder wenn nicht das, dann wenigstens umziehen, wieder ans Meer ziehen oder in seine Nähe. Das arbeitet in mir wie ein Geschwür. Zum Stillstand wäre es nur zu bringen durch eine Krise, Fieber und Augenblicke der Verwirrung. Oder aber Maria käme zurück. Letzteres wird kaum geschehen. Und, als ich mir das in aller Deutlichkeit vorstelle, bin ich über den Berg, sehe das Meer ganz klar vor meinen Augen. Noch nicht so nah, dass ich hineinlaufen könnte. Ich segele und scoute vielmehr durch das Netz, dass meine Sehnen wehtun. Ich gucke in fremder Leute Wohnungen, googele mich in meine norddeutsche Heimat und lerne sie erstmals richtig kennen. Von oben mit Google Earth, aber ohne die bekannte Street View. Darauf muss ich verzichten, da meine Landsleute im Nordwesten der Republik Google in die Wüste geschickt haben und es nicht zulassen wollten, dass ein jeder über ihre Ortschaften, Straßen und Gebäude sehr viel erfahren kann. Man wollte und will lieber die Touristen einfangen, die man zunächst umarmt, um sie danach auszunehmen, Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.

An einem solchen Google-Abend, nachdem ich lange auf den Bildschirm gesehen und dann den Deckel meines Laptops recht heftig zugeklappt hatte, floh ich ohne diesen für ein paar Tage ins nahe Mittelgebirge zu Freunden. Das alles geschah Anfang März 2019. Nicht gar so lange her also, dass sich ankündigte, was in mir gereift war. Maria war fort, was hielt mich also in Köln.

Dort, in der Vulkan-Eifel, lief ich mir im Wald die Seele aus dem Leib, war weit weg vom Meer und atmete die klare Höhenluft des Ortes. Langsam fand ich etwas Ruhe. Aber in meinem Hirn arbeiteten sich Zweifel an die Oberfläche, Zweifel an meiner Vorliebe für das Wasser anstelle der Hügel, die sich mir auch sehr sympathisch gezeigt hatten über viele Jahre meines Lebens, in denen ich die Wochenenden und manchmal auch Urlaubstage in meiner kleinen Wohnung im Hause meiner Freunde verbracht hatte. Undenkbar war für mich, dass das nun vorbei sein könnte. Dieses Gefühl wuchs und nahm mich derart in Beschlag, dass ich mich in dieser einen Woche darauf einließ, ein frei gewordenes Haus zu besichtigen als potenzieller Mieter. Ich ging mit meinen besten Freunden durch die Räume, zeichnete mir alles maßstabgetreu aufs Papier und legte meine Möbel darauf. Ich rechnete, ob ich mir die Miete wirklich leisten könne und wie oft der Weg zur Redaktion in der Stadt nötig sein und was das zusammen kosten würde. Den Misthaufen des Nachbarn, eines Kleinbauern, unterhalb „meiner“ künftigen Küche fand ich sehr idyllisch. Katzen strichen dort herum. Ich hätte viele Räume, könnte Besuch empfangen, hätte einen Teil meiner Freunde in der Nähe und würde auch noch den einen oder anderen kennen lernen. Vielleicht auch eine nette Frau, wer wusste das. Die Verhandlung mit dem Eigentümer Jupp, nein, richtig gesagt, seiner Frau, dauerte glücklicherweise lange genug, um mir die Gelegenheit zu geben, meinen Verstand wieder zu finden. Es war nicht nur der verlangte Preis. Ich wachte in der besagten Woche eines Morgens auf, sah aus dem Fenster auf unseren ,Hausberg‘, fasste an meine Stirn, zog mich an, ohne geduscht zu haben, packte meinen Koffer und trug das Gepäck ins Auto. Meine Freunde, die das Zuklappen der Autotür gehört haben mussten, sahen aus dem Fenster und fragten mich überrascht, ob ich einen dringenden Termin wahrzunehmen hätte, von dem ich an den Vortagen noch keine Ahnung gehabt hätte. Ich sah sie erstaunt an. Nein, so war das nicht. Ich musste nur weg. Ich wollte doch ans Meer. Und nun hätte ich beinahe dieses Haus gemietet. Wie sollten sie das auch verstehen. Tags zuvor hatten wir noch gemeinsam die Olahus im Garten angestaunt, die ich einst erworben hatte, damit die Verbindung nach Ostfriesland nicht abreiße, und von denen einer inzwischen einen kahlen Kopf hatte. Meine Freunde forderten mich etwas heraus, als sie fragten, ob es äußerlich eine Ähnlichkeit mit den Vertretern meiner ostfriesischen Sippe gäbe. Ich sah mir die beiden Ostfriesischen Langhals-Hühner noch einmal genau an. „Nein“, war meine etwas unwahre Antwort, denn insgeheim gab es für mich doch eine

Ähnlichkeit. Ich weiß nicht, ob meine Freunde jemals darauf gekommen wären. Für mich war und ist deutlich erkennbar, dass den Olahus Wind und Wetter nichts anhaben können und sie sehr naturverbunden sind, genau wie meine Ostfriesen. Zurück zu meiner Flucht. Meine Freunde sahen, wie ich den Wagen belud, liefen die Treppe hinab und luden mich zum Frühstück ein, das war zu viel. Ich war plötzlich betrübt und zugleich verärgert, merkwürdiger Zustand.

Ich streichelte die Katze, sprach zu ihr so etwas wie „tut mir leid, geht leider nicht“, umarmte meine Freunde und fuhr vom Grundstück.

Wieder in Freiheit

Erst als ich die Dorfgrenze überwunden hatte, öffnete ich die Fenster und atmete einige Male tief ein und aus, der beginnende Vorfrühling im Mittelgebirge hat seine eigenen Düfte. Im Radio hämmerte gerade Lang Lang auf die Klaviertasten ein. Ich hämmerte aufs Lenkrad, zumindest mit der rechten Faust und hörte erst auf, als ich merkte, dass mein Fuß enorm schwer auf dem Gaspedal lag. Und ich merkte das auch nur, weil die Kurve, die ich zu nehmen hatte, eine richtige Kurve war, und die Eifelfahrer die Angewohnheit haben, Kurven zu schneiden. So zumindest war meine Erfahrung. An den großen Rest der Fahrt nach Köln erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur noch, als ich ankomme, regnet es. Mit Mühe finde ich nach 20 Minuten Suchens einen Parkplatz. Typisches Kölner Schmuddelwetter, ist mein einziger Gedanke. Und Hundekot hier und Abfall dort. Keine Gründe, an diesem Ort noch weitere Jahre meines Lebens zu verbringen. Meine Wohnung ist schön, gewiss, auch bezahlbar, ich fühle mich zu Hause. Aber es zieht mich fort. Nun geht es wieder los. Ich stelle mein Gepäck in der Diele ab und falle über meinen Laptop her. Gut, dass der keine Seele hat. Dann würde er das sicher ausnutzen und mich erst mal auflaufen lassen. Er ist sofort da. Sechs Tage bin ich fort gewesen. Mein Suchauftrag ist bestens ausgeführt worden. Ich werde mit etwa vierzig Wohnungs- und Hausangeboten an der Küste belohnt. Langsam verfliegt meine Unruhe, ich gehe in die Küche. Irgendwo muss noch eine Dose mit der berühmten ostfriesischen Schwarzteemischung herumstehen, ein Geschenk meiner Mutter. Wo war sie nur, diese Dose? Ich habe mich doch schnellstens an die Sitten und Gebräuche meiner Landsleute anzupassen. Ich stelle mir vor, ich komme in eine der zu mietenden Wohnungen und werde den vom Eigentümer angebotenen schwarzen Tee dankend ablehnen oder vielleicht sogar unbewusst das Gesicht verziehen, nähme ich ihn denn doch an. Welch entsetzliche Konsequenzen! Dieser süße Kandis von unterschiedlicher Form und Größe, wo ist er? Der gehört dazu! Ich wühle mich so lange durch die Regale des Einbauschranks in der Diele, bis ich neben schwarzer Schuhcreme tatsächlich die Teedose finde. Aber wo sind die Kluntjes? Ein mutiger Blick auf ein Küchenregal zeigt mir, als ich mich endlich auf die Zehenspitzen stelle, in der hintersten Reihe ein Glas mit dem kristallinen Zeugs. Aber Sahne habe ich nicht. In Köln gibt es an jeder Straßenecke sogenannte Büdchen. Ich flitze die Treppen hinunter und frage atemlos den türkischen Inhaber eines Büdchens nach einem Päckchen Kaffeesahne oder Schlagsahne. Bei der Frage nach Teesahne hätte es längerer Erklärungen bedurft, da die Türken noch mehr Tee trinken als wir Ostfriesen, aber ohne Sahne. Er hat nur Kondensmilch. Ich unterdrücke meine Enttäuschung. Eine weitere Chance auf etwas Umsatz gewähre ich ihm noch, denn mein Blick streift die Gegenstände in seinen Regalen, bleibt an holländischen Keksen hängen. Da ist wenigstens schon etwas von Verwandtschaft zum Norden zu spüren. Mit der Kondensmilch und den mit Schokolade gefüllten Keksen renne ich die Treppe hinauf. Das Wasser ist fast verdampft, die Scheibe des Küchenfensters zeigt, wie schlecht oder auch kunstvoll meine letzte Putzaktion gewesen ist. Egal. Ich will es wissen, setze neues Wasser auf, schalte das Radio ein und bleibe zur Sicherheit neben dem Wasserkocher stehen. Der tut dann auch, was ich will. Mehr muss ich nicht erzählen. Der Tee kommt zustande, die Details hätten meine Mutter verärgert, denn sie glaubt immer noch, dass ich wenigstens das Teezubereiten verstehe. Aber sie ist ja Gott sei Dank nicht dabei. Mit einer Tasse Kaffee wäre ich längst wieder an meinem Arbeitsplatz gewesen. Aber das ist mit Tee nicht möglich. Wo soll ich denn das Stövchen, die Milch, die Tasse, den Kuchenteller, den Zucker und das alles hinstellen? Also bleibe ich erst mal in der Küche. Mein Tee ist doch nicht schlecht geraten. Rotbraun und kräftig, gut gesüßt und mit Kondensmilch, ein wenig seltsam sieht er schon aus und wird auch so schmecken. Und es fehlen die obligatorischen Wölkchen. Ich habe nur Kaffeetassen zur Hand. Die kleinen feinen Teetassen will ich momentan nicht suchen. Nachdem ich die zweite Tasse geleert habe, spüre ich endlich mal wieder mein Herz kräftig schlagen. Gelassen lege ich die rechte Hand aufs Herz. Es klopft ungewöhnlich stark. Ist das früher auch so gewesen? Derartiges Herzklopfen habe ich gewöhnlich bei ganz anderen Anstrengungen. Ich stehe auf, fülle die rotbraune Flüssigkeit in die Tasse, nehme einen letzten Keks und setze mich an meinen Laptop. Ich bin einfach zu neugierig und will die Bilder sehen. Ich will das Wasser sehen. Es wartet sicher schon auf mich.

Überraschungen im Internet

Ich bekomme große Augen. Welche Vielfalt bietet sich mir! Das sieht ja nach Landflucht aus. So viele freie oder freiwerdende Häuser und Wohnungen. Wo sind denn all die Leute hin, die dort gewohnt oder auch gebaut haben? Und erst die Preise. Ich befürchte schon, ich habe etwas Wesentliches zu erwähnen versäumt bei meiner Anfrage im Immobilien-Netz. Da müssen doch Haken dabei sein. Aber welche? Ich studiere ein Angebot nach dem anderen. Wohnungen über 100 m2, von denen ich in Köln nur träumen kann, mit Terrasse oder Balkon, oder auch Garten, mit Einbauküchen, viel Licht und - ganz nah am Wasser. Ich finde keinen Hinweis auf eine Falle. Manches ist mit Maklerprovision verbunden, aber das kenne ich ja. Anders ist es, und das verblüfft mich, dass man nicht sofort am nächsten Tag einzuziehen hat wie in Köln. Monate liegen dazwischen. Aha, man plant also im Nordwesten noch. Ich schließe daraus auf die Mentalität meiner Landsleute und freue mich schon auf meine künftigen Nachbarn. Übrigens sieht alles rundherum so sauber und gepflegt aus, die Hecken, der Rasen, die Straßen, die Räume mit den Möbeln, wie aus einem Bilderbuch. ch stutze. Ich bin doch gar nicht so ein Typ Mann, der auf Derartiges fliegt. Wieso gefällt mir das jetzt? Habe ich mich selbst versäumt? Bin ich meiner eigenen Entwicklung nicht mehr Herr? Komisch, denke ich, diese Fragestellung. Fahr doch mal hin. Du hast Zeit, und niemand drängt dich zu einer schnellen Entscheidung. Nach einer Stunde, ich sehe doch gelegentlich auf die Uhr, steige ich aus dem Programm aus. Ich lösche keines der Angebote, speichere aber auch keins. Lasse alles so in Outlook, wie es angekommen ist. Es ist zu viel auf einmal. Ich brauche Zeit zur Besinnung. Wenn das Angebot so vielfältig ist, habe ich mich nicht zu beeilen. Schließlich kommt das Frühjahr erst noch richtig, und in einer anderen Jahreszeit zieht kein Kölner um. Punkt. Was habe ich eben gesagt, Kölner? Eines Nachmittags schaue ich in einen trüben Himmel. Die Wolenschiffchen segeln über den Rhein, manche treffen sich auf ihrem Weg ins Weiß-nicht-Wohin, einige treiben parallel, manche lösen sich auf. Plötzlich ist das Blau des Himmels sichtbar. Blau. Aber dann kommt ein Sturm auf, wie aus dem Nichts, und er fegt alles vor sich her. Die Baumkronen bewegen sich beängstigend. Ich bewundere wieder einmal die enorme Elastizität großer Bäume, welche Kraft lässt sich erahnen, welche Standfestigkeit, welche Verankerung, welches Wurzelgeflecht hält unterirdisch alles fest, mehr oder weniger tief.

Was mich gerade jetzt treibt, wieder in die Wohnungsangebote zu sehen, ich weiß es nicht. Mit einer Tasse Kaffee und ab und zu einem Blick aus dem Fenster sitze ich sehr entspannt vor meinem Laptop, während ich eine Seite lade. Das erste Foto einer Reihe aus einem Angebot zeigt einen großen Bauernhof aus roten Klinkern, auf einem riesigen Grundstück gelegen, das von altem Baumbestand eingesäumt ist. Die Auffahrt zum Hof scheint mir wie eine Zufahrt zu einem Märchenschloss. Was ist das denn nur? Wer vermietet ein solches Anwesen, und habe ich nicht letztlich nach einer Wohnung gesucht? Wo ist der beschreibende Text? Aha, da steht ja einiges. Aber was lese ich? Wohngemeinschaft auf einem Domänenhof nahe dem Deich. Und damit ist mein Schicksal, von ein paar Holprigkeiten begleitet, erst einmal besiegelt. Was ist denn nur in der Heimat meiner Ahnen los? Es gibt schon Wohngemeinschaften! Ich suche im Text nach Hinweisen, dass es sich um einen Irrtum handele. Offensichtlich habe ich die letzten Entwicklungen in Ostfriesland verschlafen und Köln für das Maß aller Dinge gehalten. Das gibt es, diese Blindheit, wenn man seinen Aktionsradius einengt. Und hier wird es mir deutlich. Der Abend, der auf diesen Schrecken folgt, ist eigenartig ausgefüllt mit Scheinaktionen, Herunterfahren des Rechners, erneutem Hochfahren, wieder runter, wieder rauf, nein, hoch. Und immer die Suche nach demselben Objekt und das Starren auf dieses. In den letzten zehn Minuten vor dem Zubettgehen schreibe ich mir noch die Telefonnummer des Eigentümers auf. Mein Bett ist meine Zuflucht, besonders an jenem Abend. Einerseits verstecke ich mich vor mir selbst, weil ich mir nicht mehr geheuer bin. Die Entwicklung in den letzten Wochen lässt nur den Schluss zu, dass ich an Hormonstörungen leide. Kein vernünftiger Mensch fällt so von einem Extrem ins andere ohne inneren Zwang. Ich entscheide mich für eine genaue Selbstbeobachtung in den nächsten Tagen. Ich entscheide nicht, dass meine Suche ein Ende haben soll. So ein schönes Objekt! Hoffentlich bleibt es noch ein wenig im Netz, bitte meinetwegen, über Nacht wenigstens! Plötzlich stehe ich wie ferngesteuert wieder auf und greife nach dem Hörer meines Festnetztelefons. Bis ich dann an mir hinuntersehe, den Pyjama entdecke und doch noch einen Blick auf die Uhr werfe. Selbst für ein Telefonat in die Heimat meiner Vorfahren ist es wohl zu spät. Ich lege mich wieder hin. Aber eigentlich, 24.00 Uhr, was ist daran Besonderes? Mit einer Hand ziehe ich den Notizzettel mit der Nummer vom Tisch und wähle drauf los. Klingeltöne, vier, fünf, sechs. Herzklopfen. Mit kleiner Stimme wegen der späten Stunde: „Enno Eden hier aus Köln. Ich habe eben das Wohnungsangebot gesehen, und da dachte ich, ich rufe sofort an. Entschuldigen Sie bitte.“ Ehe ich weitersprechen kann, höre ich: „Hin-rich Frerichs.“ Ich, sage ich, ich sei ja wohl unverschämt, so spät noch zu stören. Stille. Nichts. Ich sage „Hallo, sind Sie noch dran?“ Gott sei Dank, der Mann lässt sich herab: „Ja.“ „Soll ich lieber morgen wieder anrufen?“ „Nee, nun machen Sie man weiter, ich schlafe ja noch nicht ganz, aber wenn das so weiter geht, dann wohl.“ Da wache ich auf: „Wann kann ich das Haus besichtigen, eh, ich meine, die Räume für mich, und die Gemeinschaftsräume?“ -„Das liegt an Ihnen“, höre ich ihn sagen. Im Kopf dreht sich mein Terminkalender, die Monate geraten durcheinander, die Tage auch. „Was haben wir denn heute“, frage ich, „ich komme morgen, gegen 10.00 Uhr.“ Der Mann: „Von Köln?“ Ich, überrascht: „Ja, da wohne ich ja. Ist das schlimm?“ Dann fällt es mir ein: „Ach, das ist für Sie unpassend. Bitte schlagen Sie eine Uhrzeit vor.“

„Nee, nee, ist schon in Ordnung, dachte nur, Sie hätten sich geirrt.“ Ich stutze wieder. „Nein, ich habe Ihr Angebot schon lange studiert, kann es schon fast auswendig, und möchte gern in meine Heimat zurück.“ „Ja, das kann ich wohl verstehen“, sagt er nachdenklich, „denn bis morgen um 10 Uhr, vormittags, nicht?“ „Ja, danke, das ist sehr nett.“ Ich unterdrücke gerade noch das ,Ich freue mich schon’, wäre damit auch zu spät gekommen, denn er hat aufgelegt. Ich stehe mit dem Mobilteil in der Hand herum, starre darauf, als erwarte ich ein Zeichen. Es kommt aber nichts. Wieder in meinem Bett, lege ich mich auf den Rücken und sehe mich nahe am Deich, am Wasser, nahe bei den Wolken und anderen Schiffen, rieche den Fisch und das Fischwasser im Hafen, und muss wohl bald eingeschlafen sein, und das tief und fest. Im Traum spreche ich mit Maria, erzähle ihr von meinem Projekt, bis sie mich lächelnd ansieht und fragt, ob sie mich besuchen dürfe. Das gestehe ich ihr gern zu. Sie dürfe nicht nur, sie müsse mich besuchen. Dann schläft sie an meiner Seite ein.

Fahrt ins Blaue

Pünktlich um sechs Uhr am nächsten Morgen befinde ich mich auf der A 3, eingereiht in die lange Schlange der Pendler und sonstiger Berufsfahrer. Es ist noch sehr dunkel, so dass ich mit meinen Gedanken zunächst diese vielen Lichter, die mir entgegenkommen oder mir folgen, zu überstehen habe. Mit dem Verschwinden der Dämmerung sollten auch sie verschwunden sein. Das dauert. Es ist immer wieder absurd zu erleben, wie viele Menschen morgens in aller Frühe in ihren Blechkisten sitzen und durch die Gegend düsen. Nicht nur das, die Aggressionen, die Menschen nach einem nächtlichen Schlaf mit in den Tag bringen, sind noch absurder. Wenn ich nachts schlafe, bin ich morgens frei von allem Gerümpel des Vortags. Dazu gehören auch, zumindest zu so früher Stunde, alle negativen Gedanken und Gedankenspiele. Der Tag beginnt jungfräulich, sonst ist etwas aus dem Lot.

Gerade beim Lenken eines schnellen Fahrzeugs ist mir fast jedes Mal bewusst, wie rasch meinem Leben ein Ende gesetzt werden kann. Bruchteile von Sekunden genügen, um einen endgültigen Abschied als unumstößliche Tatsache einzuleiten und auch zu vollenden.

Um 6.30 Uhr stelle ich den Deutschlandfunk an, höre die Nachrichten, auch immer die gleichen Horrorgeschichten, als gäbe es nichts Erbauliches auf der Welt, was man den Hörern, egal, wo diese sich gerade aufhielten, mit in den Tag geben könnte. Hier Tote nach einem Unfall, dort nach einem Selbstmordattentat, hier werden Siedlungen zerstört, dort werden Handgranaten geworfen. Es wird gedopt und gemordet, hingerichtet und gerichtet. Sind wir deshalb auf diesem Planeten? Der Wetterbericht ist auch keine Vorhersage, sondern ein austauschbares Programm, jeden Tag dasselbe. Es ist nur langweilig. Ein Freund hat mich neulich auf eine alte Platte von Udo Lindenberg, den ich in meiner Jugend verpasst habe, aufmerksam gemacht. Ich fahre einen Parkplatz an und krame in meiner Tasche. Da ist sie, nicht die Platte, aber eine alte CD. „Daumen im Wind“, ha, wie das passen wird. Ich bin on the road, wie er. Ich schiebe sie ein und fahre weiter. Nachdem ich sie erworben hatte, hörte ich sie fast Tag und Nacht. Es ist lange her, dass ich so etwas getan habe. Eine gewisse Melancholie und die Erkenntnis, dass das Leben manchmal eben gerade so abläuft, wie man es am allerwenigsten gewünscht hat. Im Rhythmus von „Hoch im Norden“ hoppele ich über die zum Teil ziemlich schadhafte Autobahn und höre wiederholt zu.