Über eine nackte Zahnbürste und weitere 14 Fragezeichen - Erika Oczipka - E-Book

Über eine nackte Zahnbürste und weitere 14 Fragezeichen E-Book

Erika Oczipka

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Beschreibung

In 15 Geschichten mit mehr oder weniger merkwürdigen Ereignissen, einige davon jenseits jeder Vernunft, schildere und beschreibe ich Verhaltensweisen von Männern und Frauen, Menschen, die an ihre physischen oder psychischen Grenzen stoßen, deren Weiterleben nicht sicher ist oder die sich vor dem Aufgeben retten (lassen) können.

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Seitenzahl: 161

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Phantasie aus schöner Empfindung

Kleinste messbare Einheiten

der Zeit

Miniaturen

Spuren nicht des Glücks

Momente

einer Wachheit

über das Leben hinaus

unverankert

vielleicht auch

das Flackern eines Irrlichts

oder

Flügel eines Wiederholungstraums

hineingetaucht

ins wirkliche Leben

Inhaltsverzeichnis

Schöne Aussichten

Als die Nacht zu Ende ging

Die plötzliche Wandlung des stillen Andreas

Aus dem Bauch heraus

Gar nicht weit von hier ...

Inmitten einer Chance

Anja, Musa und kein Land in Sicht

Einer von Vielen

Warten, warten, aber worauf ...

Julias Gedanken auf dem Wasser

Am kleinen Deich

Backfisch

Eine ganz besondere Frau

Wenn Nachbarschaft seltsame Blüten treibt

Trauer um eine kleine Katze (von Michael Oczipka)

Schöne Aussichten

Es ist ein Freitagnachmittag im Sommer, was wir so Sommer nennen. Ich rutsche seit einigen Minuten auf dem Stuhl hin und her, das Zeichen für mich, dass ich eine Pause verdient habe. Ich stehe auf, schiebe mit den Kniekehlen den Stuhl nach hinten und verlasse meinen Schreibtisch.

Manchmal muss er einen Blick aushalten, der bedeutet, ein wenig Abstand könne uns nicht schaden. Ich meine es ernst.

Auf meiner Terrasse sehe ich, dass der Regen nachgelassen hat. Dieses dünne, geräuschlos vom Himmel fallende Nass löst sich an diesem warmen Nachmittag in Dunst auf.

Langsam zeigt sich die Bläue, auf die ich gern hereinfalle.

Ich gehe ins Badezimmer, stehe vorm Spiegel, befinde, dass nicht viel zu tun ist, aus die bequeme Hose, an die Jeans, ein Oberteil gesucht, nach einem Buch gegriffen, unbeschriebenes Papier eingesteckt und die richtigen Schuhe mit Signalwirkung, rot, Tasche und Schlüsselbund in der Hand, und schon stehe ich an meinem Fahrrad.

Bügelschloss auf, in den Gepäckträger damit, einmal kurz ein Fingerdruck auf den Vorderreifen, okay, ich steige auf.

Hier fühle ich mich wohl. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal in meinem Leben Widerstand gegen mein Fahrrad gespürt oder geschürt habe. So ein Ding ersetzte mir so manches Mal auch den Mann. Aber das ist eine andere Geschichte.

Besser als es ist, könnte ich es nicht haben. Rechts in die Straße abgebogen, kurz danach wiederum rechts die Allee hinauf, eine Ampel, radfahrerfreundlich, über die Straße geradeaus auf eine so genannte Fahrradstraße, nach ein paar Hundert Metern Vorfahrt beachten, weiter geradeaus, hinein in den ersten Kreisverkehr.

„Verlassen Sie den Kreisverkehr an der zweiten Ausfahrt“, in Gedanken fährt ab und zu mein Navigationsgerät mit, weiter geradeaus, rechten Arm ausgestreckt zum problemlosen Abbiegen. Ich höre schon, dass die Bahnschranken mich wieder einmal unnötig aufhalten werden.

Unruhig halte ich das Rad, drehe mit der rechten Hand am Lenker, als hätte ich Handgas. Ich will doch nur weiterfahren und vergesse den Spruch: der Weg ist das Ziel. Das gilt immer nur solange, bis etwas geschieht, was mich in seinen Bann zieht.

Stillstand ist ein Zustand, dem ich nichts abgewinnen kann. Das ist mir zu passiv. Ich brauche jetzt die Bewegung. Ich schiele nach links unten in die dunkle Höhle der Bahnunterführung. Das Ding werde ich nicht benutzen. Nach meinen Erfahrungen riecht es dort unten immer so nach Urin und Sonstigem, was da nichts zu suchen hat und mich deshalb nicht in diesen Abgrund ziehen soll.

Ein Zug kommt langsam in die Gänge, ist vorbei, die Schranken bleiben geschlossen. Ich bin eingekeilt von Radfahrern und Fußgängern, als hätten wir alle eine Verabredung zu einem gemeinsamen Ziel. Es wird mir auf immer ein Rätsel bleiben, wieso ich stets ungeschoren aus diesem Beinknäuel, das keine sichtbare Leitstelle kennt, herausfinde, und das nicht etwa mit verhaltenem Fahren, sondern mit ganz normaler Geschwindigkeit!

Leer ist eine besondere Stadt. So, jetzt wissen Sie es! Das ist aber ein wirklich ernst zu nehmendes Bekenntnis zu der Stadt, in der ich seit einiger Zeit gern wohne und lebe.

Für die Fremden unter Ihnen: Ich bin in einigen Städten Rad gefahren, zum Beispiel in Köln. Aber dort war es jeden Tag aufs Neue ein Kampf ums Überleben, unter großem Konkurrenzdruck und mit den narkotisierenden Ausdünstungen einer Großstadt. Nicht einmal am Rheinufer konnte ich einfach nur so loslegen. Hunde, Jogger, Triathleten, Skater, Spaziergänger, Radfahrer wie ich, sie alle waren zu umfahrende Hindernisse. Und alle hatten sie auch nur zwei Augen im Kopf, und zwar vorn unter der Stirn. Das reichte selten.

Eine einsame Lok passiert die Straße. Meine Nachbarn zur Linken und zur Rechten verziehen keine Miene. Ich glaube, ein paar Monate weiter bin ich genau wie sie. Ostfriese bin ich sowieso, und den Gleichmut haben sie mir in die Wiege gelegt, meine Vorfahren.

Das erlösende Geräusch der hochgehenden Schranken holt mich wieder ins Hier und Jetzt. Ein kurzes Stück noch auf dem Rad, an einer Ampel wieder anhalten, und dann zum kurzen Endspurt angesetzt. Abspringen vor der Fußgängerzone, das Rad abgestellt und abgeschlossen, zu Fuß weiter geradeaus, Schwenk nach links Richtung Yachthafen, Restaurant und Café ‚Schöne Aussichten’.

Es gibt Nachmittage im Sommer, die sind wie dieser so verlockend, dass ich mich auf die Terrasse des Cafés setze, Hafen und Promenade im Blick, mit oder ohne Buch, mit oder ohne Schreibzeug. Der Regen ist wohl für heute vorbei. Und ich lasse mich inspirieren, je nachdem, was um mich herum geschieht.

Während der Fahrt hatte ich den Himmel völlig aus meiner Beobachtung entlassen. Ich wundere mich, dass ich so wenige Leute hier sehe, und erst der Blick nach oben zeigt, dass sich noch eine tief hängende Wolke nähert.

Auch auf der Terrasse, den Rücken mir zugewandt, sitzt ein Paar. Er, schwarzes dichtes Haar, wild gestikulierend, sie, mit blondem Vogelnest auf dem Kopf, ihm lauschend. Ich gehe an ihnen vorbei, grüße dabei freundlich, sehe nur ihre Blicke, weil sie nicht innehalten mit Reden und Zuhören. Leichtes Kopfnicken akzeptiere ich als Gruß.

Im Windschatten sitzend an der Wand des Hauses, links neben mir die beiden, vor mir ein paar Spatzen, die auf den Tischen spazieren fliegen. Eher hüpfen, gehen kann ich das nicht nennen. Ich glaube, Spatzen gehen wirklich nicht.

Es dauert, bis eine Kellnerin mich wahrgenommen hat. Eine Wolke droht noch am Himmel, und welche Kellnerin möchte dabei auf der Terrasse die Gäste gern bedienen. Ich bestelle einen Milchkaffee. Bis der dann kommt, es dauert wirklich sehr lange, bis der dann kommt, ziehen meine Blicke einen Halbkreis über den Hafen. Noch spüre ich nicht, dass dieser Tag ein Freitag ist. Das bestätigt auch mein neugieriger Blick durch die Scheibe ins Innere der Lokalität. Die Ruhe vor dem Sturm.

Kaffee am Nachmittag ist eine neue Gewohnheit von mir. Welches Getränk sollte ich sonst bestellen? Tee geht nicht, schmeckt hier nicht. Kalte Getränke mag ich nicht, ein Bier vielleicht noch, aber dafür ist es nicht heiß genug. Für Glühwein ist es nicht die passende Jahreszeit. Was ich gern trinken würde, was bisher noch kein ostfriesischer Kneipier nach meinem Geschmack hergestellt hat, ist eine Caipirinha. Seit einigen Jahren hat sie ihren Stammplatz auf deutschen Getränkekarten. Ich hätte es vor dreißig Jahren, einem Impuls folgend, der lange anhielt und dann keiner mehr war, nach Deutschland bringen sollen. Ich war nicht mutig genug für diese Idee, obwohl die brasilianische Pop- und Rockmusik schon einigermaßen bekannt war und von den größeren Radiosendern gern und oft gespielt wurde. Aber was hat schon Popmusik mit einem Getränk zu tun.

Ich mag diese Stelle der Stadt, weil es eine Menge zu beobachten gibt und ich Anregungen zum Schreiben geliefert bekomme. Heute greife ich allerdings zu meinem Buch.

Was soll ich mit zwei Personen Großartiges anfangen? Als ich die markierte Seite aufschlage, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie zwei Männer Mitte dreißig den Weg auf die Terrasse nehmen und sich in die erste Reihe nahe der Brüstung begeben. Nichts Spektakuläres also, Freunde.

Ich beginne zu lesen und, wie man es so macht, riskiere ich ab und zu einen Seitenblick, ob sich nicht doch etwas verändert hat zwischendurch. Wenn es sich lohnen soll, kann ich nur nach links schauen. Ich sehe geradewegs in die Augen des Mannes, der neben der Blonden sitzt. Er spricht auf die Dame ein und sein Blick in meine Augen war nur ein Blick von mir in seine Augen.

Die Dame sieht ihn an. Vor ihr liegt ein Buch, aufgeschlagen und mit fixierten Seiten. Ich sehe, dass sie seinen Redefluss gern unterbrechen würde.

Er lässt ihr keine Chance, kaum, dass er Luft holt. Dabei fällt mir erst jetzt die Diskrepanz zwischen seinem pechschwarzen Haar und dem von mir auf 70 Jahre geschätzten Alter auf. Ein drahtiger Typ, das ist er, aber sehr geschwätzig.

Ich denke noch darüber nach, ob ich nicht ungerecht bin, als ich feststelle, dass auch ich ihm zuhöre. Natürlich starre ich ihn nicht an. Meine Ohren sind jedoch äußerst wachsam.

Was ein Mensch in wenigen Minuten an Wiederholungen aus seinem Mund herauslassen kann, das erfahre ich hier. Ich beginne zu zählen. Die Sätze versuche ich zu greifen. Eine Stoppuhr hätte ich jetzt gern zur Hand. In jedem dritten Satz kommt das Wort ‚hirnverbrannt’ vor. Vor lauter Zuhören und Mitzählen geht mir der Zusammenhang mit dem übrigen Text verloren. Ich werde unruhig. Er hat sich richtig in das Wort verbissen, ich inzwischen auch. Er schiebt es jetzt mit aller Gewalt zwischen seine Lippen nach außen. Die Dame sieht ihn an. Sie wartet noch immer auf eine Möglichkeit zu sprechen. Ihr Blick wird etwas finster. Sie fährt mit dem rechten Zeigefinger über die Buchseiten.

Ich überlege krampfhaft, wie ich den Mann zum Schweigen bringen könnte. Beide haben offensichtlich Wasser getrunken. Ich krame in meiner Tasche nach den Zigarillos, die ich immer mitführe, auch wenn ich schon seit Wochen keine mehr geraucht habe. Ich habe auch jetzt kein Bedürfnis danach, aber ich bin in Not.

Ich ziehe meinen Stuhl ein wenig weg vom Tisch und wende mich mit einer Vierteldrehung der Frau zu. Freundlich sehe ich sie an und frage nach einem Feuerzeug, ich hätte es zuhause vergessen.

Es lag schon eins auf dem Tisch, sie nimmt es auf und reicht es mir mit ein paar Worten, eine Niederländerin.

Der Mann ist aus dem Konzept. Dankend lege ich das Feuerzeug auf ihren Tisch zurück.

„Wollen wir noch etwas bestellen, Kaffee oder Kuchen oder beides?“

Sie sagt, etwas zögernd, ja.

„Ich bin gleich wieder zurück“, er steht auf, „bis hier jemand kommt, ist es Abend oder es regnet“, fügt er hinzu.

Ich hatte den Kopf gehoben, aber nur ganz leicht. Jetzt spricht die Frau mich an: „Das hat er nur so gesagt“.

„Ja, sicher“.

Der Mann kommt die kurze Treppe heruntergetrippelt und winkt ihr zu.

„Sie werden sehen, das geht wie geschmiert, wenn man selbst flott ist“, ruft er. Dann sitzt er wieder neben ihr. Ich spüre, sie haben den Faden verloren, sehen sich das erste Mal um nach weiteren Gästen. Bis auf die beiden Freunde ist niemand hinzugekommen.

Als sich die Kellnerin mit dem Tablett nähert, zappelt der Mann plötzlich wie ein Schuljunge, den nichts mehr auf der Bank hält, weil es zur Pause geklingelt hat.

Endlich sind beide versorgt und ich kann weiterlesen. Währenddessen höre ich nur das beruhigende Geklapper von Metall auf Keramik.

Gerade, als er den leeren Teller von sich schiebt, sehe ich ihn an. Er mich auch für den Bruchteil einer Sekunde. Dann sieht er ungeduldig auf den Teller der Frau. Kurze Zeit später redet er wieder auf sie ein.

Plötzlich steht er auf: „Und jetzt einen Wein. Den bestelle ich uns, bin gleich zurück.“ Es dauert nicht lange, da kommt er mitsamt der Kellnerin und bittet sie, die Krümel aufzunehmen und das Kaffeegeschirr abzuräumen. Das geschieht wortlos. Die restlichen verbliebenen Krümel schiebt der Mann mit seinem Jackenärmel über die Tischkante. Das freut die Spatzen.

Ich sehe immer wieder hinüber, aber davon merkt er nichts. Fragend sieht die Niederländerin den Mann an. Das aufgeschlagene Buch erträgt das Gewicht einiger ihrer Finger. Sie deutet auf etwas. Da fasst sich der Mann an die Stirn, nickt heftig mit dem Kopf. Dann legt er zuerst nachdenklich, dann beruhigend den Arm auf ihre linke Schulter, wie um sich abzustützen, steht dabei auf. Seine linke Hand greift in die Tasche des Jacketts.

„Wir haben gerade Kuchen gegessen, also etwas Süßes. Damit ist nicht zu spaßen!“ Er zieht eine Zahnbürste aus der Jackentasche, weiß mit rot, und wedelt damit der Frau vor der Nase herum. Ihre Augen folgen dem Gegenstand. Ihre Mimik bleibt unverändert. Der Mann nimmt wahr, dass ich zuschaue. Lauthals erklärt er: „Ich habe nur noch zwei eigene Zähne, und die will ich behalten. Mein Zahnarzt hat schon 52.000 Euro von mir bekommen. So geht das nicht weiter. Bin gleich zurück“. Er stürmt auf die kleine Treppe zu, dreht sich zu der Frau um, als er oben angekommen ist. „Ich erkläre es Ihnen gleich genauer.“

Ich wage nicht die Frau anzusehen, lache in mich hinein. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, spricht kurz und knapp auf Niederländisch mit jemandem.

Zum Lesen komme ich nicht mehr, zum Schreiben auch nicht. Ich warte auf seine Rückkehr. Er kommt, mit der Zahnbürste in der Luft Kurven zeichnend, zu seinem Tisch. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie er sie nackt in seine Jackentasche steckt.

Ich kann nicht anders als zusehen.

Als er wieder neben der Frau sitzt, öffnet er den Mund, so weit es geht und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf seine oberen Vorderzähne.

„Hier“, sagt er, „diese beiden sind noch meine eigenen. Und ich werde sie nicht hergeben!“ Sie schaut interessiert auf sein Gebiss. Ich wage es nicht, die beiden länger anzusehen, bekomme aber noch mit, wie die Niederländerin ebenfalls ihr Gebiss entblößt, ebenso unterstützt von ihrem Zeigefinger. Nur von den Kosten spricht sie nicht. Zum Zähneputzen geht sie auch nicht. Ich meine, er hätte ihr die Zahnbürste doch anbieten können. Ziemlich egoistisch, der Mann. Stattdessen sagt er laut: “Und jetzt kommt das Beste!“

Er nimmt sein Weinglas auf und prostet ihr zu. Sie spielt das Spiel mit. Dann beugen sich beide über eine Seite des vor ihr liegenden Buches. Er biegt seine Brille zurecht, schließlich klappt es. Er schüttelt den Kopf. Ich höre wieder: „Hirnverbrannt!“

Er drückt sich an seine Stuhllehne, als müsse diese ihm Halt geben, und schnappt nach Luft.

Laut sagt er: “Weißt du was? Diese Urknalltheorie, die ist total hirnverbrannt. Verbrannter geht es nicht, mein Gott! Und welches Geld schon verpulvert wurde und immer noch verpulvert wird für die Forschung hierüber!“

„Ich“, und er deutet mit dem Finger auf seine Brust, „ich hatte als Zehnjähriger in Mathe und Physik eine Eins. Die konnten mir nichts mehr beibringen. Aber“, sagt er, „dafür haben sie mich aus der Schule geworfen. Später ist das dann noch einmal passiert. Weißt du, wie das ist, wenn du den Lehrern nicht glauben kannst, weil du schon Einsichten hast, zu denen diese Lehrer nie kommen werden? Weil es bei ihnen dazu nicht reicht!?“ Ich höre, wie er noch eine Weile auf die Frau einspricht. Dann wird es still. Die beiden jungen Männer, denen plötzlich etwas fehlt, drehen sich um, lachen mir zu, als sie sehen, dass ich das wahrnehme.

Dann spricht zum ersten Mal die Frau, ruhig, aber fest: “Den Vortrag kenne ich schon.“

Der Mann springt auf, die linke Hand auf dem Herzen, und entschuldigt sich bei ihr. Ich kann sie nicht ansehen, denke, dass sie beschämt ist.

Es dauert nicht lange, da sind sie wieder mit ihrem Buch beschäftigt, trinken Wein. Er doziert und sie hört ihm zu.

Ich war schon die ganze Zeit über unruhig, da ich mein Lesepensum nicht erreicht habe. Gerade lässt sich ein Kellner blicken. Ich spreche ihn ziemlich laut an: „Bringen Sie mir bitte noch einen Kaffee, ich ziehe um, da hinten hin, ans Ende der Terrasse.“

Er lächelt mich verständnisvoll an, die beiden Männer drehen sich kurz zu mir um und lachen verhalten. Ich nehme meine Sachen und verziehe mich. Dann stelle ich fest, ich hätte ruhig sitzen bleiben können. Als hätten sie sich verabredet, Mann und Frau, werden ihre Worte lauter, und der Wind, der aufgekommen ist, tut das seine dazu, dass mir keines ihrer Worte entgeht. Immerhin duzen sie sich nun. Möge es ihnen zu irgendetwas nützlich sein. Ich aber kann nicht mehr unbefangen mein Café aufsuchen. Das steht fest.

Als die Nacht zu Ende ging

Wie ich überhaupt durch den verharschten Schnee die Treppenstufen zum Haus hinauf gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich mit dem Geländer geredet habe, auf das ich mich stützen konnte und dass ich in einer Linkswende auf die Eingangstür zugegangen bin.

Wie ich die Haustür habe aufschließen können, weiß ich ebenfalls nicht mehr. Ich sprach mit den Gegenständen, die mir im Wege waren oder die mich freundlicherweise unterstützten. Das Schlüsselloch war für den einzelnen Schlüssel, den ich in der Hand hielt, wieder einmal viel zu klein. Es bedurfte einiger Versuche, bis ich meinen nicht sehr mageren Körper in den Flur zwängen konnte.

Den Mantel muss ich noch unten im Flur über das Treppengeländer geworfen haben, der Hut und mein roter Schal fanden sich später auf einem kleinen Tisch und ich staunte über diese Herausforderungen, denen ich offensichtlich noch gewachsen war.

Starker Harndrang hatte mich die Treppe hinauf geführt. Mehr intuitiv, denn die gewundene Treppe ist für einen Betrunkenen nicht einfach zu begehen. Die Toilette im Erdgeschoss jedoch, soviel musste ich erinnert haben, war an diesen Wintertagen unbeheizt, also äußerst ungemütlich. Ich hatte zuviel getrunken. Tage dieser Art waren keine besonderen Meilensteine mehr, eher war es umgekehrt. Die Tage, an denen ich nüchtern versuchte, meinen Alltag zu bewältigen, waren in den vergangenen zehn Jahren auf wenige geschrumpft. Wobei ich zugeben muss, dass sogar vor jener Zeit der Alkohol vor mir nie sicher war. Ich will das gar nicht weiter erläutern. Nur das eine: diese jahrelangen Kämpfe vor Gericht hatten mich zermürbt und ließen es an manchen dunklen Tagen nicht zu, dass ich meine Nase unter der Bettdecke hervorholte, es sei denn zum Trinken von Wodka und mindestens ebenso viel Wasser.

Ich lag, auch an Tagen ohne Alkohol, viel im Doppelbett herum, plazierte alles, was ich den Tag über brauchte, zum Essen, zum Lesen, zum Rauchen, zum Telefonieren, um mich herum, Fernbedienungen hier, Handys da und ein ehemaliges Würstchenglas mit Schraubdeckel, das ich zum Ablegen der Kippen missbrauchte. Und immer Wasser, und die Flaschen, mit Wodka gefüllt. Und Tempotaschentücher, nicht zum Trocknen irgendwelcher Tränen, die sich verirrt haben würden, nein, da waren mein Raucherhusten und meine Erkältungen (ich schlief selten bei mehr als sechs Grad Raumtemperatur).

Allein daran sieht jeder, wie mein Leben aussah. Der Raum war dunkel und meistens auch abgeschlossen. Das einzige Farbenfrohe waren die Bettwäsche und die Fernsehbilder.

Aber zurück zu jener unheilvollen Nacht, als ich immerhin noch die Treppe bewältigt, die Tür zum Bad aufgestoßen hatte, die Jeans bis auf die Knie heruntergezogen und mich auf die Toilettenbrille gesetzt hatte. Ich bin nämlich, was mir sicher niemand abnimmt, kein Stehpinkler.

Da klingelt das Handy in der Hosentasche. Ich nestele so lange, bis ich antworten kann. Ich sage nur: „Ich kann nicht, morgen, okay?“, lege es auf die Fensterbank.

Meine linke Hand ergreift die Toilettenpapierschlange. Ich muss wohl etwas zu kräftig gezogen haben. Denn später, wieder nüchtern, sehe ich eine endlos lange Schlange herumliegen. Und neben dem Toilettenbecken liegen auch einige Blätter, zerknüllt, sie haben wohl ihr Ziel verfehlt.