Das Portal nach Ot'rona - Gina Grimpo - E-Book

Das Portal nach Ot'rona E-Book

Gina Grimpo

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Beschreibung

Fabelwesen existieren nur in Büchern. Für den achtzehnjährigen Elias ist dies eine unumstößliche Tatsache. Doch als er eines Abends auf seine kleine Schwester Billie aufpassen muss, wird sein Weltbild gehörig auf den Kopf gestellt. Denn in seinem Kleiderschrank öffnet sich plötzlich ein magisches Portal. Und Elias und Billie geraten von jetzt auf gleich in ein Abenteuer, das sie so schnell nicht wieder vergessen werden.

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Buchbeschreibung:

Fabelwesen existieren nur in Büchern. Für den achtzehnjährigen Elias ist dies eine unumstößliche Tatsache. Doch als er eines Abends auf seine kleine Schwester Billie aufpassen muss, wird sein Weltbild gehörig auf den Kopf gestellt. Denn in seinem Kleiderschrank öffnet sich plötzlich ein magisches Portal. Und Elias und Billie geraten von jetzt auf gleich in ein Abenteuer, das sie so schnell nicht wieder vergessen werden.

Über die Autorin:

Gina Grimpo, geboren 1988 in Bremen, hatte schon immer eine Vorliebe für Geschichten und alles Fantastische. Nach dem Lesen unzähliger Romane und der Veröffentlichung von Kurzgeschichten wagt sie nun mit "Das Portal nach Ot'rona" die Veröffentlichung ihres ersten Fantasy-Romans.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Die Autorin meldet sich zu Wort

Caden

EINS

Es sollte ein Abend der Merkwürdigkeiten werden.

Und dabei hatte der Tag so ereignislos angefangen. So ereignislos, dass jetzt, kurz nach neunzehn Uhr, schon niemand mehr zu sagen vermochte, ob in den vergangenen Stunden etwas Erwähnenswertes geschehen war.

Und der Abend hätte gerne so weiter verlaufen können, wenn da nicht die blonde Frau in dem schwarzen, eng geschnittenen Cocktailkleid und der elegant gekleidete Mann mit dem akkurat gestutzten Bart gewesen wären.

Sie strich sich verstohlen lächelnd eine Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr und ihre Finger wanderten langsam in Richtung des Mannes.

Dieser ergriff die ihm dargebotene Hand und seine grünen Augen blitzten. Dies alles geschah unterhalb der Tischplatte, in der festen Absicht, die Berührung zu etwas Persönlichem zu machen, einer Besonderheit, an der niemand sonst teilhaben durfte.

Und dennoch ...

»Sucht euch ein Zimmer!«

Die Reaktion auf diese Worte folgte augenblicklich. Die Hände lösten sich voneinander. Zwei Paar grüne Augen richteten sich auf den achtzehnjährigen Jungen, der den beiden gegenüber saß und seine ebenso grünen Augen mit einer übertriebenen Geste zur Zimmerdecke verdrehte.

»Elias!«

Der Junge strich sich die blonden Haare aus der Stirn und hob seine Hände zu einer bittenden Geste.

»Dann benehmt euch wenigstens so lange, bis ihr das Haus verlassen habt.«

Der Mann öffnete den Mund, um mit einer angemessenen Entgegnung zu reagieren. Elias stellte sich augenblicklich taub.

Sein Ziel war erreicht. Er hatte dem Geturtel seiner Eltern ein rasches Ende bereitet. Es war für ihn nicht zu fassen, dass die beiden sich an diesem Abend wie ein verliebtes Teenager-Pärchen aufführten. Und das nach zwanzig Jahren Ehe.

Elias begrüßte es sehr, dass sich die beiden im Normalfall – nun ja – eben normal verhielten.

Doch heute, an ihrem Hochzeitstag, gab es verliebte Blicke, verstohlene Küsse, außerdem – und das war das Seltsame – Karten für ein Theaterstück.

Elias vermochte sich nicht zu erinnern, wann seine Eltern das letzte Mal ausgegangen waren. So schick herausgeputzt und nur zu zweit. Bis eben war es ihm sogar als Selbstverständlichkeit erschienen, dass seine Mutter und sein Vater im Laufe der Jahre völlig automatisch das Interesse aneinander und am gesellschaftlichen Leben verloren hatten.

Unglücklicherweise zu seinem eigenen Leidwesen, denn die wenigen Abende, an denen er das Haus für sich alleine hatte, waren rar gesät.

Und so begann die Zeit der Merkwürdigkeiten. Merkwürdigkeiten, die mit so etwas Belanglosem wie Theaterkarten ihren Anfang nahmen und, er wünschte sich im Nachhinein, das alles vorher geahnt zu haben, sich weit über diesen einen Abend hinausziehen würden.

Doch zum jetzigen Zeitpunkt wusste er von alledem nichts und in diesem Moment gab es nur etwas, das seine Freude über den elternlosen Samstagabend trübte.

Das Etwas hatte rotblonde Haare, Sommersprossen und saß, mit offenem Mund ein Stück Käse kauend, neben Elias am Tisch.

»Regt euch nicht auf. Er ist nur sauer, weil ihr euren Spaß habt und er gestern Nacht Isabell nicht ins Bett bekommen hat.«

»Billie!«

Die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern galt nun seiner kleinen Schwester.

Das Mädchen zuckte ungerührt mit den Schultern und biss von seinem Brötchen ab.

»Aber es stimmt«, nuschelte sie mit vollem Mund, »er hat ihr draußen vor der Haustür die Zunge in den Hals gesteckt und hat sie dann überreden wollen noch mit rein zu kommen – auf einen Kaffee … «

Billie sah ihren Bruder bedeutungsvoll an und dieser, plötzlich wieder die Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich ziehend, rutschte auf seinem Stuhl ein ganzes Stück weit nach unten.

»Sei ruhig!«

»Aber sie wollte nicht und als sie gegangen ist, war er total sauer.«

»Halt die Klappe!«

»Dabei hat er am Abend vorher noch vor seinen Freunden am Telefon angegeben, dass er sie nach der Party klar machen würde.«

Billie beendete grinsend ihre Erzählung und schaute in die Runde, als erwartete sie Applaus.

Elias hätte seiner Schwester am liebsten den Hals umgedreht – ein Gefühl, dass ihn nicht allzu selten überkam. Billie war nicht unbedingt das, was man als pflegeleicht bezeichnen konnte.

»Sybille Kramer, es reicht jetzt!«

Die Tatsache, dass ihre Mutter sie mit ihrem richtigen Namen anredete, signalisierte Billie, dass es in der Tat reichte. Billie hasste ihren eigentlichen Vornamen und aus diesem Grund bekam sie diesen nur in besonders ernsten Fällen zu hören.

Das war nicht immer so gewesen. Eine Zeit lang stand Billie ihrem Namen sogar ziemlich gleichgültig gegenüber. Er war nun mal da und er gehörte zu ihr, mehr brauchte sie zu diesem Thema nicht wissen.

Dann wurde sie eingeschult. Billie befand sich vom ersten Tag an mit ihrer Lehrerin auf Kriegsfuß. Als sie erfuhr, dass Frau Kössler mit Vornamen Sybille hieß, bestand Billie auf ihre Kurzform. Die nachfolgende Zeit war vor allem für Billies Eltern eine Herausforderung, denn ihre Tochter ignorierte ihren richtigen Namen mit Erfolg so lange, bis man auf die von ihr gewünschte Ansprache zurückgriff.

Doch jetzt, über sechs Jahre später, hatten sie sich damit abgefunden.

Elias spürte die Blicke seiner Eltern auf sich ruhen. Jetzt, da Billie zurechtgewiesen worden war, galt ihre Aufmerksamkeit wieder ihm.

»Du musst die Gefühle des Mädchens respektieren. Sie ist ein Mensch und kein Objekt.«

»Wenn du sie wirklich liebst, dann lässt du ihr Zeit.«

»Du meinst es doch ernst mit ihr, oder?«

Elias atmete einmal tief ein und wieder aus und wünschte sich nicht zum ersten Mal in seinem Leben, ein Einzelkind zu sein. Er musste das Gespräch zurück auf seine Schwester lenken. Übertrieben freundlich lächelnd drehte er seinen Kopf in ihre Richtung.

Billie sah ihn misstrauisch an und hörte augenblicklich auf zu kauen.

Weiterhin übertrieben freundlich fragte Elias:

»Warum warst du denn letzte Nacht noch so spät auf?«

Der Satz wirkte. Die Köpfe seiner Eltern wandten sich wieder Billie zu, die begann, auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen und mit großer Aufmerksamkeit ein Pfefferkorn aus ihrer Salami pulte.

»Ähm … ich…hatte Durst?!«

Frau Kramer rieb sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen.

»Das regeln wir morgen. Wir müssen jetzt los, sonst verpassen wir das Stück. Elias, bitte sorge dafür, dass deine Schwester heute ausnahmsweise mal früh ins Bett kommt.«

Elias verzog das Gesicht.

»Warum könnt ihr denn keinen Babysitter beschaffen? Ich meine, ausgerechnet heute.«

»Nach dem ganzen Abi-Stress tut dir eine Auszeit ohne zu feiern mal ganz gut«, unterbrach ihn seine Mutter.

Elias wollte einwenden, dass feiern das war, was er unter eine Auszeit verstand, doch sein Vater kam ihm zuvor.

»Warum kannst du deinen Eltern nicht einmal einen Gefallen tun?« Sein tadelnder Tonfall duldete keinen Widerspruch.

Billie protestierte zeitgleich: »Ich bin kein Baby!«

Nun war es Elias, der demonstrativ seine Schläfen massierte und sich dann auf sein Zimmer zurückzog.

Er sehnte den Tag herbei, an dem er sein Auslandsjahr beginnen würde. Zwölf Monate Irland, zwölf Monate Ruhe, zwölf Monate Unabhängigkeit.

Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte ein paar Minuten lang an die Decke. Dann warf er einen Blick auf sein Handy. Kein Anruf, keine SMS, kein Nichts.

Wieso auch? Alle würden sich heute auf der Party amüsieren und alle wussten, dass er, der sonst nie eine Gelegenheit zum Feiern ausließ, dazu verdonnert worden war, auf seine kleine Schwester aufzupassen.

An einem Samstagabend!

Sämtliche Diskussionen hatten nichts genutzt und so sah Elias sich dazu gezwungen, auf die Party des Jahres zu verzichten und stattdessen die Zeit mit einer Zwölfjährigen totzuschlagen.

Konnte es schlimmer kommen?

Es konnte.

Elias hatte es sich mit einer Cola vor seinem Fernseher gemütlich gemacht und zappte gelangweilt durch die Programme. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Zimmertür.

Ohne zu fragen, trat Billie ein, kniete sich direkt vor den Fernseher und schaltete den DVD-Spieler ein. Bud Spencer und Terrence Hill verschwanden vom Bildschirm.

»Was - «, begann Elias und setzte sich auf seinem Bett auf, doch Billie unterbrach ihn.

»Maeve hat mir einen Film ausgeliehen, den sie morgen unbedingt wieder braucht, deswegen muss ich ihn mir heute ansehen.«

Elias atmete einmal tief durch, dann versuchte er es mit Freundlichkeit.

»Und warum ausgerechnet auf meinem Fernseher?«

Billie hantierte weiter mit dem Gerät.

»Weil der DVD-Spieler von Mama und Papa kaputt ist. Durch deine Schuld wohlgemerkt. Technik und Bier vertragen sich nicht, das solltest du wissen.«

Elias gab nicht auf.

Warum es nicht zur Abwechslung einmal mit Worten statt mit Gewalt versuchen? Vielleicht geschah ja ein Wunder.

»Was, wenn ich es dir nicht erlaube?«

Billie drückte auf Play und kroch neben ihrem Bruder auf das Bett.

»Ach komm, dir ist langweilig, mir ist langweilig. Machen wir uns einen schönen Fernsehabend zu zweit.«

Sie schaltete das Licht aus.

»Viel gemütlicher so.«

Elias überlegte, ob er es doch lieber mit Gewalt versuchen sollte, zu seiner Begeisterung zog Billie in diesem Moment allerdings eine Tüte Chips hervor.

»Und außerdem hab ich Chips dabei. Die mit Chili-Geschmack.«

Sie lächelte ihren Bruder gewinnend an. Dieser seufzte und gab sich, zumindest für den Augenblick, geschlagen.

»Also gut, meinetwegen«, sagte er und riss die Tüte auf. Würziger Chili-Geruch stieg ihm in die Nase und er sog tief die Luft ein. Wenigstens etwas Positives, das er seiner gegenwärtigen Lage abgewinnen konnte. Er hörte, wie seine Eltern die Haustür hinter sich schlossen.

Es war Samstag Abend und er sah sich mit seiner kleinen Schwester einen Film an.

Wie viel schlimmer konnte es schon kommen?

Immerhin hatte er etwas zum Knabbern.

Nur wenige Augenblicke später bereute er es sofort, dass er sich mit Chips hatte bestechen lassen.

Der Vorspann lief über den Bildschirm und die mysteriöse Musik und die kunstvoll geschwungenen Buchstaben, die die Namen der Schauspieler bildeten, ließen ihn Schlimmes ahnen.

»Was ist das für ein Film?«, fragte er vorsichtig, obwohl er die Antwort schon kannte.

Billie strahlte und streckte ihre Hand nach der Chips-Tüte aus, doch Elias zog sie aus ihrer Reichweite.

»Es geht um zwei Mädchen, die in den Wäldern in der Nähe ihres Hauses Elfen entdecken und sich mit ihnen anfreunden. Doch dann werden sie von einem Journalisten beobachtet und die Welt der Elfen ist in Gefahr.«

Elias hörte schon nicht mehr zu.

Elfen! Was hatte er anderes erwartet?

Billie war verrückt nach Elfen, genauso wie ihre durchgeknallte Freundin Maeve, die wahrscheinlich auf Grund ihrer irischen Vorfahren einen Hang zu allem Mystischen hatte. Die beiden besaßen unzählige Bücher über diese Fabelwesen, sahen sich stundenlang Filme an, in denen Elfen vorkamen und übten, sie zu zeichnen. Schlimmer noch: Hin und wieder suchten sie selber im Garten nach ihnen.

»Dir ist klar, dass diese Viecher nicht in Wirklichkeit existieren?«

»Du hast keine Fantasie«, antwortete Billie ungerührt. »Und«, fügte sie mit einem Ellenbogenhieb in Elias’ Seite hinzu, »sie sind keine Viecher.«

Elias konzentrierte sich auf die Chips, während Billie gebannt der Handlung des Films folgte und jedes Mal begeistert aufschrie, wenn eine computeranimierte Elfe über den Bildschirm schwebte.

»Da, hast du sie gesehen?«

Elias hob träge den Kopf, sah erst seine Schwester mit hochgezogenen Augenbrauen an und wandte sich dann dem Fernseher zu. Eine der Elfen hatte es endlich unterlassen, sich kichernd zwischen den Bäumen zu verstecken, und schwebte mit weit aufgerissenen Augen auf die Menschenmädchen zu. Sie war ausgesprochen winzig und hätte bequem auf Elias’ Handfläche Platz gehabt, wenn sie in der Realität existiert hätte. Die Elfe sah aus wie eine kleine Puppe, trug ein Kleid, das aus Blütenblättern zu bestehen schien und flatterte eifrig mit ihren Flügeln, die denen von Schmetterlingen erstaunlich ähnlich sahen.

Ein wandelndes Klischee, dachte Elias.

»Wer behauptet eigentlich, dass Elfen wirklich so aussehen?«, fragte er laut, »Es könnte doch auch sein, dass sie zwei Meter groß und fürchterlich hässlich sind.«

Billie sah ihn mit einem finsteren Blick an und versuchte erneut, die Chipstüte zu erobern. Elias schob seine Schwester mühelos außer Reichweite.

»Augenzeugen behaupten das. Aber es ist mehr als eine Behauptung, es ist die Wahrheit.«

Elias widmete sich wieder seinen Chips und sehnte das Ende des Films herbei. Dann würde Billie, ob sie wollte oder nicht, ins Bett gehen und er hätte seine Ruhe. Er überlegte, ob er Isabell anrufen sollte. Ihre letzte Begegnung hatte nicht das erhoffte Ergebnis gebracht, doch was nicht war, konnte ja noch werden.

Es war fast zehn, als der Film sich endlich dem Ende zuneigte. Auf dem Bildschirm begann das große Finale und Billies Konzentration galt vollständig dem Fernseher.

Sie hätte ihn wahrscheinlich nicht einmal dann gehört, wenn er ihr direkt ins Ohr gebrüllt hätte.

Und so war es auch Elias, der das Geräusch zuerst bemerkte, das von irgendwoher aus seinem Zimmer kam. Er lauschte und sah sich suchend im Raum um.

Das Geräusch verstummte. Er sah wieder auf den Fernseher, in der Auffassung, dass er sich geirrt hatte. Das Geräusch stammte aus dem Film, alles andere ergab keinen Sinn.

Doch Sekunden später war es wieder da. Er setzte sich auf und spitzte die Ohren.

Da war ein leises Rumpeln, verbunden mit einem vorsichtigen Schaben. Als er genauer hin hörte, erkannte er, dass die Quelle dieses merkwürdigen Rumpelns aus seinem Kleiderschrank kommen musste.

Er drehte seinen Kopf in Richtung des Schranks und sofort verstummte das Geräusch.

Elias kam zunächst die Idee, dass es sich um eine Ratte handeln könnte. Doch eine Ratte würde die ganze Zeit Lärm machen, eine Ratte würde nicht in ihren Bewegungen innehalten, wenn sie befürchtete, dass man sie entdeckt hatte.

Was auch immer in seinem Schrank saß, es legte großen Wert darauf, nicht bemerkt zu werden.

Elias schaute erneut scheinbar interessiert auf den Fernseher, aber seine gesamte Aufmerksamkeit galt dem Kleiderschrank. Das Geräusch war wieder zu hören und aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sich die Tür seines Schranks einen winzigen Spalt öffnete.

Ratten öffneten keine Türen.

Elias’ Nackenhaare stellten sich auf.

Er versuchte, den Kleiderschrank, so gut es ging, im Blick zu behalten, ohne dabei den Kopf zu bewegen.

Ob er seine Schwester warnen sollte?

»Billie, ich habe mir überlegt, die Möbel hier ein wenig umzudekorieren«, versuchte er, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Der Kleiderschrank würde sich doch neben der Tür gut machen, oder?«

Elias befürchtete fast, dass der Wink mit dem Zaunpfahl zu auffällig war. Seine Befürchtungen waren überflüssig, denn seine Schwester hatte ihn gar nicht gehört. Er boxte ihr leicht in die Rippen.

»Billie!«

Immer noch keine Reaktion. Er schaute zum Schrank hinüber. Ihm war, als würde ein großer Schatten zurückzucken.

Elias beugte sich nach vorne und schaltete den Fernseher aus. Was auch immer dort im Schrank saß, es hatte bemerkt, dass es entdeckt worden war. Es gab keinen Grund mehr, sich weiter unwissend zu geben.

Doch zunächst konnte er nichts tun, außer abzuwarten, bis Billie den Schock über die plötzliche Unterbrechung des Films verkraftet hatte. Sie starrte sekundenlang fassungslos auf den Fernseher und es dauerte einen Moment, bis sie sich gedanklich in der Realität wieder gefunden hatte. Dann wandte sie sich ihrem Bruder zu. Doch bevor ein Donnerwetter von unvorstellbarer Intensität über Elias losgehen konnte, erstarrte Billie.

»Wir werden beobachtet«, flüsterte sie.

Elias nickte.

»Ich weiß«, flüsterte er zurück und deutete mit dem Kopf in Richtung Kleiderschrank.

Bevor er Billie fragen konnte, was sie unternehmen sollten, war diese schon aufgesprungen und steuerte zielstrebig den Schrank an. Elias öffnete den Mund, um ihr eine Warnung zuzurufen, doch es war zu spät.

Billie packte beide Schranktüren und riss sie mit einem Ruck auf.

Elias hätte alles erwartet, nur nicht das, was da zutiefst erschrocken auf dem Schrankboden kauerte.

Billie ging es ähnlich, denn sie wich ein paar Schritte zurück.

Ein Mädchen saß dort, vielleicht auch eine junge Frau, das war bei der Dunkelheit nicht genau zu erkennen. Sie trug ein dunkles Kleid, hatte kurze, schwarze Haare und ungewöhnlich große, azurblaue Augen. Augen, die noch größer wirkten, weil sie vor Schreck weit aufgerissen waren.

Etwas an ihr erschien Elias absonderlich und das lag nicht allein an der Tatsache, dass sie sich in seinem Kleiderschrank versteckt hatte.

Das Mädchen an sich war seltsam. Irgendetwas an ihr war anders, doch er konnte nicht sagen, woran das lag.

Wie lange sie wohl dort schon gesessen hatte?

Er gab sich nicht die Mühe, es heraus zu finden, denn etwas hinter dem Mädchen fesselte seine Aufmerksamkeit und ließ alle anderen Gedanken in weite Ferne rücken.

Dort, wo die Schrankwand hätte sein sollen, war ein großes Loch.

Es war von einem solchen Durchmesser, dass Elias sich nur ein wenig hätte bücken müssen, um bequem hindurch zu passen.

Er erkannte helle und dunkelgraue Strudel, die an Gewitterwolken erinnerten. Sie wirbelten im Kreis, kamen näher, entfernten sich wieder und sahen aus, als würden sie alles, was sich ihnen näherte, zu verschlingen drohen.

Elias blinzelte. Erst einmal, dann ein zweites und drittes Mal, doch egal, wie oft er seine Augen schloss und wieder öffnete, das Bild änderte sich nicht. Die Rückseite des Schranks blieb verschwunden.

»Was ist das?«

Billie hatte es ebenfalls gesehen. Elias starrte in die düsteren Verwirbelungen, doch egal, wie sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht erkennen, was sich dahinter verbarg. Falls es überhaupt irgendetwas gab, dass sich dort entdecken ließ.

Dann fesselte etwas anderes wieder seine Aufmerksamkeit.

Das Mädchen stand langsam auf, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Strudeln nicht zu Nahe zu kommen. Sie blieb zwischen seinen unordentlich aufgehängten Kleidungsstücken stehen und wirkte, als wüsste sie nicht genau, was sie als Nächstes tun sollte. Die Angst war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Elias konnte seinen Augen nicht von ihr lassen. Noch immer war er nicht hinter die Ursachen ihrer Andersartigkeit gekommen.

Billie machte dem ganzen Spuk ein Ende. Sie schaltete das Licht an und das Mädchen, im Schein der Deckenleuchte fast vollständig zu erkennen, blinzelte in die plötzliche Helligkeit und kniff die Augen zusammen.

Elias blieb keine Zeit, sie genauer in Augenschein zu nehmen.

Hätte er geahnt, was als Nächstes passieren würde, er hätte Billie daran gehindert, das Licht einzuschalten und so schnell wie möglich so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Loch im Schrank gebracht.

Da Elias jedoch nicht mit der Gabe der Hellsichtigkeit gesegnet war, blieb er stehen und schaute erst die seltsame Besucherin an und dann Billie, die scharf die Luft einsog. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Ihr Mund schloss und öffnete sich abwechselnd, ihr Augen wurden immer größer und sie deutete eifrig auf das schwarzhaarige Mädchen.

Elias verstand nicht, worauf Billie hinaus wollte und sie machte sich auch nicht die Mühe, ihn in ihr merkwürdiges Verhalten einzuweihen.

Stattdessen lief sie, weiterhin mit den Fingern deutend, auf den Schrank zu.

»Ich wusste es! Du bist eine - «

Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick stolperte sie über einen Schuh, der einzeln auf dem Teppich gelegen hatte, taumelte nach vorne und in den Schrank hinein. Dort prallte sie auf das geheimnisvolle Mädchen und brachte es ebenfalls aus dem Gleichgewicht.

Elias registrierte für den Bruchteil einer Sekunde die ungewöhnlich spitzen Ohren des Mädchens. Wenige Augenblicke später verschwand es mitsamt seiner kleinen Schwester aufschreiend in dem dunklen Strudel.

Die Geräusche der zwei verstummten augenblicklich und Elias blickte verblüfft auf die sich drehenden Wirbel und horchte auf einen Aufprall, der nicht kam. Er wartete darauf, dass das Loch die beiden wieder ausspucken würde.

Doch nichts geschah, er war allein.

Alles in ihm sträubte sich dagegen, sich ebenfalls in dieses dunkle Nichts zu stürzen, doch dann meldete sich sein Gewissen.

Es ging immerhin um seine Schwester. Zudem würde er seinen Eltern eine Menge zu erklären haben, wenn sie nach Hause kamen und ihre Tochter nicht dort vorfanden, wo sie hingehörte.

Er war ohnehin mehr denn je davon überzeugt, dass er vor dem Fernseher eingeschlafen war und alles nur träumte. Da konnte er auch in dieses Loch steigen, ohne zu wissen, wohin es führte.

Kurz überlegte er, seinen Eltern eine Nachricht zu hinterlassen. Dann bemerkte er, dass das Loch plötzlich kleiner wurde. Es zog sich in erschreckender Geschwindigkeit zusammen und gab den Blick auf die dunkelbraune Rückwand des Schranks frei. Nur noch wenige Augenblicke und er würde nicht mehr hindurch passen. Er atmete einmal tief durch, redete sich erneut ein, dass er alles nur träumte, und sprang kopfüber in das Loch hinein.

ZWEI

Er hatte fest damit gerechnet, dass die Strudel ihn umherwirbeln und mit sich ziehen würden, doch seine Befürchtungen traten nicht ein.

Elias tauchte hinein in eine vollständige Dunkelheit, die sämtliche Farben und alles Licht absorbierte. Für wenige Sekunden schwebte er buchstäblich im Nichts.

Nur Augenblicke später prallte er unsanft, mit dem Gesicht nach vorne, auf den Boden. Irgendetwas kitzelte seine Nase. Verwirrt hob er den Kopf und schaute auf Grashalme hinab.

Das ist nur ein Traum, redete er sich wieder ein, in meinen Schrank wächst kein Gras.

Er setzte sich langsam auf und sah sich um. Zunächst vermutete er, auf einer Wiese gelandet zu sein. Doch dann drehte er seinen Kopf und ihm wurde schwindelig.

Egal, in welche Richtung er sah, von allen Seiten umgab ihn ein sattes Grün, das Hänge und flache Hügel bedeckte und sich bis fast zum Horizont erstreckte.

Links von sich erkannte er in großer Ferne einen schneebedeckten Gebirgszug.

Als er seinen Blick weiter schweifen ließ, bemerkte er ein ineinander verknotetes Knäuel, das aus seiner Schwester und dem seltsamen Mädchen bestand.

Er rappelte sich auf und eilte zu den beiden hinüber.

Dann packte er Billie an den Schultern und stellte sie auf die Beine. Sie wirkte nicht im mindesten verwirrt darüber, dass der Kleiderschrank sie aus dem Haus hinaus ans helle Tageslicht befördert hatte.

»Ich wusste es«, rief sie aufgeregt, »Ich habe es schon immer gewusst!«

Elias wollte seine Schwester an den Schultern packen und sie schütteln, um sie auf ihre aktuelle Lage aufmerksam zu machen. Doch dazu kam es nicht.

Das schwarz gekleidete Mädchen sprang mit erstaunlicher Leichtigkeit auf ihre Füße und rannte auf Elias zu. Bevor er es schaffte, auszuweichen, schubste sie ihn zur Seite und stürmte an ihm vorbei. Elias landete erneut mit dem Gesicht im Gras.

Wütend wälzte er sich auf den Rücken. Das Loch war mittlerweile nur noch so groß wie sein Kopf. Es verkleinerte sich immer mehr und verschwand, bevor das Mädchen es erreichen konnte. Statt des Loches war jetzt, so weit das Auge reichte, nichts als Gras zu sehen. Am Horizont erkannte Elias die Silhouette eines Waldes. Das Mädchen fluchte und Elias riss erstaunt die Augen auf. Nicht nur, dass selbst er es nicht wagen würde, einige der Wörter zu benutzen, die sie von sich gab, es überraschte ihn, dass er jedes davon verstand, obwohl sie eindeutig kein Deutsch sprach.

Die Worte klangen in seinen Ohren fremdartig. Er konnte sie keiner Sprache zuordnen, die er kannte, und trotzdem formten sie sich in seinem Kopf zu Bedeutungen, die er verstand.

Billie erging es genau so, denn sie wirkte ebenfalls erstaunt, zugleich breitete sich aber ein Ausdruck großer Enttäuschung auf ihrem sommersprossigen Gesicht aus.

»Alles in Ordnung?«, fragte er seine Schwester. Er wurde aus ihrem Verhalten nach wie vor nicht schlau.

Billie nickte. Dann begannen ihre Augen wieder zu glänzen.

»Das wird Maeve mir nie glauben!«

»Was?« Er war genervt. Nicht mal er glaubte irgendetwas von dem, was gerade geschah und dabei erlebte er es hautnah.

Billie zeigte auf das Mädchen.

»Schau doch mal hin. Sie ist eine Elfe! Eine echte Elfe.«

Elias folgte ihrem Blick. Das Mädchen – sein Verstand sagte ihm, dass sie unmöglich eine Elfe sein konnte – war in dem Augenblick verstummt, in dem Billie ihre Vermutung äußerte.

»Ich. Bin. Keine. Elfe«, sagte sie, wobei sie jedes einzelne Wort betonte. Ihre Stimme wurde dabei immer bedrohlicher. Sie fluchte erneut und raufte sich die Haare.

Elias seufzte erleichtert auf.

Keine Elfe. Natürlich!

Vielleicht gab es doch eine schlüssige Erklärung für alles.

Das glaubst du ja wohl selbst nicht?

Er gestand sich ein, dass das plötzliche Verschwinden der Hinterwand seines Schrankes nicht eben logisch war, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie sich nicht mehr in seinem Zimmer befanden.

Auch irritierte ihn das Äußere des Mädchens.

Bei Tageslicht betrachtet sah sie tatsächlich mehr wie eine junge Frau aus.

Er schätzte, dass sie etwa zwei Jahre älter war als er. Die Andersartigkeit, die ihm schon in seinem Zimmer aufgefallen war, kam jetzt deutlich zum Vorschein.

Sie hatte längliche, spitze Ohren. Ihr Gesicht und ihr Körper sahen durchaus menschlich aus, waren allerdings um einiges feingliedriger und schmaler, als er es von anderen Menschen kannte.

Und jetzt, im Schein der Sonne (War es nicht eben noch zehn Uhr abends gewesen?), gewahrte er auch etwas, das ihm in seinem Zimmer verborgen geblieben war. Die Haut des Mädchens sah zwar seiner, vom Winter noch blassen, ähnlich und doch war sie von grünem und blauem Schimmer überzogen.

Elias hatte noch nie jemanden wie sie gesehen, aber sie konnte einfach keine Elfe sein. Sie selbst hatte ja betont, dass sie keine wäre.

Billie war anderer Meinung.

»Natürlich bist du eine Elfe. Du siehst genau so aus wie auf den Bildern.«

»Ich bin keine Elfe!«

»Aber wenn ich es dir doch sage. Du -«

Elias hielt seiner Schwester mit der einen Hand den Mund zu, die andere reichte er dem Mädchen.

»Ich bin Elias«, stellte er sich vor, »Und du heißt?«

Sie schaute seine Hand an, als wüsste sie nicht so recht, was sie damit anfangen soll.

»Tia«, sagte sie schließlich, ohne den Blick von seiner ausgestreckten Hand zu wenden.

Elias ließ sie wieder sinken.

Billie hatte sich inzwischen befreit, griff nach Tias Hand und schüttelte sie überschwänglich.

»Ich heiße Billie«, rief sie, »Ich kann es kaum glauben. Eine echte Elfe.«

Sie betrachtete ehrfurchtsvoll Tias spitze Ohren. Diese sah Billie an und ihr Blick verfinsterte sich.

»Du«, sagte sie. Das war alles und doch ließ Billie augenblicklich ihre Hand los und stolperte ein paar Schritte zurück. Tia zeigte auf die Stelle, an der sich bis vor wenigen Minuten das seltsame Loch befunden hatte.

»Was hattet ihr da zu suchen?«, schrie sie, »Ihr habt alles kaputt gemacht.«

»Wir wohnen da«, protestierte Elias.

»Aber heute ist doch Samstag«, rief Tia aus, als wäre das die Erklärung für alles, was bisher geschehen war.

Sie sah in Billies Richtung und einen Moment lang glaubte Elias, die Wut, die in ihren Augen aufflackerte, förmlich sehen zu können. Dann schien sie es sich anders zu überlegen. Resigniert ließ sie sich auf den Boden sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Heute ist doch Samstag«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf.

Elias war verunsichert. Er warf Billie einen hilfesuchenden Blick zu, doch die blieb nach Tias Wutausbruch auch lieber auf Abstand. Ihre anfängliche Euphorie hatte einen Dämpfer bekommen, das merkte Elias deutlich.

Er versuchte, Mitgefühl zu zeigen. Eine Charaktereigenschaft, mit der sonst nicht allzu freigiebig war.

»Alles in Ordnung?«

Eine mehr als überflüssige Frage. Doch Elias gab nicht auf. Er musste Tia zum Reden bringen, schon allein um zu erfahren, wie er und Billie hierher gekommen waren.

Traum oder logische Erklärung. Eines von beiden war die Antwort auf ihre Lage.

»Ähm…können wir dir irgendwie helfen?«

Tia schüttelte den Kopf.

»Ich bin keine Elfe.« Sie hob den Kopf und sah Billie an. »Ich bin eine Fee.«

Elias schloss die Augen und seufzte tief.

Waren denn alle verrückt geworden?

Die logische Erklärung, auf die er nach wie vor hoffte, entfernte sich immer weiter von ihm. Vielleicht hatte er sie nur falsch verstanden. Vielleicht bildete er sich nur ein, die Bedeutung der Worte zu kennen, die sie sprach.

»Es gibt keine Feen.«

Tia stand auf.

»Dann bin ich eine Halluzination?«

»Genau!« An diese Art von Erklärung hatte Elias bisher gar nicht gedacht. »Du bist nur eine Einbildung.«

»Und ich?«, mischte sich Billie ein, »Bin ich auch nur eine Einbildung?«

Schön wär’s, dachte Elias.

»Nein, du nicht. Aber Feen existieren genauso wenig wie Elfen.«

Tia hatte sich umgedreht und stapfte davon.

»He, wo willst du hin?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Das kann dir doch egal sein. Ich bin eh nur eine Einbildung. Deine Worte.«

Elias verdrehte die Augen und lief hinter ihr her, Billie folgte ihm.

»Warte! Wie kommen wir wieder zurück nach Hause? Wir können nicht hierbleiben.«

Tia blieb stehen und sah ihn spöttisch an. »Also doch keine Halluzination?«

Billie ergriff das Wort.

»Hör nicht auf ihn. Er bildet sich ein, nur weil er sein Abitur bestanden hat, alles zu wissen.«

Elias starrte seine Schwester finster an. Doch er sagte nichts. Vielleicht würde sie es ja schaffen, einen Ausweg zu finden.

»Kannst du uns sagen, wo wir hier sind?«

»Ja, das kann ich.«

Elias und Billie warteten auf eine Antwort, doch Tia schwieg.

Billie fragte: »Würdest du uns sagen, wo wir hier sind?«

»Ja.«

Wieder Schweigen. Elias begann, die Geduld zu verlieren.

»Wo sind wir hier?«

Tia wirkte zufrieden. »Dieses Land heißt Ot’rona.«

Sie wandte sich wieder zum Gehen. »Im Moment befinden wir uns in den unendlichen Grasebenen.«

Wie einfallsreich, dachte Elias.

Er hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

»Wohin gehst du?«

»Die Sonne geht in ein paar Stunden unter. Im Wald sind wir sicherer.« Sie zeigte in die entsprechende Richtung.

Elias folgte ihrem Blick. Aus dieser Entfernung sah der Wald eher wie ein Wäldchen aus.

»Wie unendlich sind die unendlichen Grasebenen?«, fragte Billie, die anscheinend denselben Gedanken gehabt hatte.

Tia machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Der Name ist übertrieben. In vier, vielleicht fünf Stunden sind wir da.«

Billie keuchte entsetzt auf und auch Elias versetzte die Aussicht, etliche Stunden über mit Gras bewachsene Hügel zu wandern, nicht gerade in Hochstimmung.

»Sollten wir nicht hierbleiben und darauf warten, dass das -« Elias versuchte, die richtigen Worte zu finden, doch scheiterte kläglich. »Dass dieses Dings wieder auftaucht.«

»Es wird nicht wieder auftauchen«, fauchte Tia so heftig, dass sowohl Elias als auch Billie unwillkürlich einige Schritte zurückwichen und näher aneinanderrückten.

»Und du willst hier nicht warten, glaube mir.«

Elias hätte noch einige Fragen mehr gehabt, doch Tia hatte sich wieder umgedreht und war losgelaufen. Das Tempo, das sie vorlegte, zeigte deutlich, dass die Unterhaltung für sie beendet war.

Die Geschwister hatten Mühe, ihr zu folgen.

Elias gefiel zwar die Vorstellung nicht, sich immer weiter von dem Ort zu entfernen, an dem er sein Zimmer vermutete, aber was hätte er tun sollen?

Billie versuchte trotz allem, Tia mit Fragen zu bombardieren, doch diese marschierte, ohne ein Wort zu sagen, unbeirrt weiter.

Nach anderthalb Stunden war Billie verstummt. Das Reden strengte sie zu sehr an und sie verwendete all ihre Kraft darauf, mit Tia Schritt zu halten.

Elias ging es nicht anders. Er war nicht unsportlich, aber es dauerte nicht lange, bis er bemerkte, wie ihm die Puste ausging.

»Können wir nicht eine Pause machen?«, jammerte Billie.

Tia hörte sie nicht. Oder wollte sie nicht hören. Elias tippte auf Zweiteres. Ihm erging es oft so, wenn Billie etwas von ihm wollte.

»Was ist denn so gefährlich, dass wir nicht hierbleiben können?«, fragte er.

Tia drehte sich um und lief rückwärts weiter.

»Willst du hier warten und es herausfinden? Dann brauchst du nur den Sonnenuntergang abwarten.«

Elias antwortete nicht. Tia kehrte im wieder den Rücken zu.

Nach weiteren zwei Stunden hatte Elias Seitenstechen und Billie immer größere Schwierigkeiten, mit ihnen Schritt zu halten. Doch der Wald war inzwischen in fast greifbare Nähe gerückt. Elias bemerkte, wie Tia nervös einen Blick zu der stetig tiefer sinkenden Sonne warf.

Die Welt war in rötliches Dämmerlicht getaucht.

Zum zweiten Mal an diesem Samstag wurde es für Elias und Billie Abend. Und was auch immer nachts in den unendlichen Grasebenen sein Unwesen trieb, es schien Tia ernsthaft zu beunruhigen. Sie lief schneller und Elias und Billie mussten fast rennen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Sie erreichten den Waldrand und endlich verlangsamte Tia ihr Tempo. Sie wirkte nicht einmal ansatzweise erschöpft. Billie hingegen lehnte sich schnaufend gegen einen Baum und Elias beugte sich keuchend nach vorne und stützte sich auf seine Oberschenkel.

Ein riesiger Schatten schwebte über sie hinweg und im selben Moment verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont. Es wurde so dunkel, dass Elias kaum noch die Hand vor Augen sah.

»Was war das?«, fragte er Tia und suchte mit seinen Blicken den dunklen Himmel ab. Der Schatten war nicht mehr zu sehen. Was aber nicht hieß, dass er nicht noch in ihrer Nähe war.

»Das«, sagte Tia, »ist der Grund, warum wir uns jetzt so weit wie möglich vom Waldrand entfernen, bevor sie uns entdecken.«

Sie setzte sich wieder in Bewegung. Billie stapfte murrend hinter ihr her. Elias konnte es ihr nicht verübeln. Seine Beine schmerzten, er war müde und hungrig.

»Wer sind sie?«, wollte er wissen, während er sich in der Finsternis des Waldes bemühte, nicht über aus dem Boden ragende Wurzeln zu stolpern. Erneut gab Tia keine Antwort. Sie suchte etwas. Nach nicht einmal zehn Minuten hielt sie an. Elias sah an ihr vorbei und entdeckte neben einem knorrigen Baum mit einer üppigen Krone eine Art Lager aus Moos. Es schien das zu sein, was Tia gesucht hatte, denn sie begann damit, das Moos aufzuschütteln und zu einem Bett zu formen. Das war es zumindest, was man mit einiger Fantasie daraus erkannte.

»Hast du vor, hier zu schlafen?«, fragte Billie.

»Ja.«

»Hast du hier letzte Nacht auch schon geschlafen?«, wollte Elias wissen.

»Ja.«

»Warum?« Diese Frage kam fast synchron aus Billies und Elias’ Mund.

Tia hielt mit ihrer Arbeit inne.

»Stellt ihr Menschen immer so viele Fragen?«

Sie schüttelte ihr provisorisches Kopfkissen auf und legte sich dann mit ausgestreckten Beinen auf den Boden.

»Aber wir können doch nicht hier im Wald schlafen«, protestierte Billie.

Das sah Tia anders. Sie rollte sich auf die Seite und wandte den Geschwistern den Rücken zu.

»Hier seid ihr vorerst in Sicherheit, für euer weiteres Überleben bin ich nicht zuständig«, brummte sie, »Und jetzt verschwindet.«

Elias glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.

In was waren sie da nur hinein geraten? Aus Tia war nichts mehr heraus zu bekommen und so lehnten er und Billie sich an den dicken Stamm eines Baumes. Sie hatten die feste Absicht zu warten, bis es Tag wurde, um dann Tia dazu zu bringen, sie nach Hause zu führen.

Elias war sich sicher, dass die angebliche Fee besser darüber Bescheid wusste, warum sie jetzt in diesem Schlamassel steckten, als sie zugab.

»Ich will nach Hause«, jammerte Billie und Elias stöhnte innerlich auf. Als hätten sie nicht schon genug Probleme, nun musste er auch noch seine kleine Schwester bemuttern. Leicht genervt legte er ihr einen Arm um die Schultern und sagte: »Keine Sorge, wir finden hier wieder raus … irgendwie.«

»Ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt«, sagte Billie.

Elias wusste zunächst nicht, was sie meinte, doch Billie redete weiter: »Sie ist eine Fee, da bin ich mir sicher. Aber in den Büchern heißt es immer, dass Feen…nun ja…nett sind.«

Sie richtete sich auf und ihre Augen leuchteten.

»Aber ist das nicht unglaublich? Da drüben ist der Beweis, dass es Feen wirklich gibt. Und du glaubst mir endlich.«

Elias nickte, aber in Wahrheit glaubte er immer noch nicht an Feen oder andere Fabelwesen. Obwohl eine Vertreterin dieser Art keine drei Meter von ihm entfernt lag, sagte seine Vernunft ihm, dass das unmöglich die Wahrheit sein konnte.