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Die Erbin Keraldonias: Das Licht der Wölfe E-Book

Gina Grimpo

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Beschreibung

Nachdem sie einen leuchtenden, blauen Stein findet, überschlagen sich für Shadow die Ereignisse. Denn plötzlich soll sie, die ihr Gedächtnis verloren hat, die verschollene Prinzessin von Keraldonias, Prinzessin Kadenya, sein. Nur sie soll laut einer Prophezeiung in der Lage sein, die Wolfsmenschen, die das Land heimsuchen, zu bekämpfen. Doch Shadow spürt, dass mehr hinter der Prophezeiung und ihrer Vergangenheit steckt. Was verschweigt der Rat Keraldonias? Und wieso kann nur sie den mysteriösen Stein tragen, ohne Qualen zu erleiden?

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Table of Contents

Title Page

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gina Grimpo

DIE ERBIN KERALDONIAS

Das Licht der Wölfe

Kapitel 1

 

 

Die Straße lag da wie ausgestorben. Zu dieser späten Stunde und in diesem ruhigen Viertel der Stadt trieb sich keine Menschenseele mehr draußen herum. Die Häuser waren mitsamt ihrer Umgebung im Dunkeln verschwunden und nur gelegentlich ließ sich ein gelbes flackerndes Licht ausmachen, das sich seinen Weg durch zugezogene Vorhänge gebahnt hatte.

Kein Lüftchen rührte sich und nicht der leiseste Laut wagte es, die Stille zu zerstören, die über der Szenerie lag. Bis vor wenigen Minuten hatte es geschneit und die weiße Decke, die jetzt die Stadt überzog, schien jedes kleinste Geräusch zu verschlucken. Die Stille war vollkommen, die glitzernde Schneedecke makellos.

Ein Außenstehender hätte, aus der Ferne betrachtet, diesen Anblick für ein Gemälde halten können.

Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein schwarzer Schatten auftauchte und die Idylle des Bildes zerstörte.

Der Schatten war eine junge Frau, die mit gesenktem Kopf und in den Jackentaschen vergrabenen Händen durch diese kalte Dezembernacht stapfte. Einige Strähnen ihres dunkelbraunen Haars waren unter der Kapuze hervorgerutscht und Tropfen geschmolzenen Schnees hingen in ihnen fest. Mit jedem Einzelnen ihrer Schritte ruinierte sie die Schneedecke, die sich wie Puderzucker über die Straßen gelegt hatte.

Im Gegensatz zu dem Außenstehenden, der sich in diesem Moment womöglich ärgerte, dass das Gemälde gar keines war, hatte sie nicht das Geringste übrig für die idyllische Schönheit um sich herum.

Sie trieb es nach Hause und das so schnell wie möglich. In wenigen Minuten würde das spärliche Licht der Straßenlaternen erlöschen. Eine neue Sparmaßnahme der Stadt, für die die junge Frau allerdings kein Verständnis hatte.

Sie ging gerne spät am Abend spazieren, zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Menschen es sich in ihre warmen Häuser zurückzogen und nicht einen Blick geschweige denn Gedanken mehr an die Außenwelt verschwendeten. Menschen, die um nichts in der Welt in einer eisigen Nacht wie heute nur einen Fuß vor die Tür setzen würden.

Die Frau hätte es ihnen gerne gleichgetan, doch sie hatte kein warmes Haus, in das sie sich zurückziehen konnte.

Die Kälte ließ sie nachts nicht schlafen und trieb sie nach draußen auf die Straßen.

Wenn sie schnell genug lief, fror sie nicht mehr so erbärmlich. Und wenn sie zu später Stunde durch die nächtlichen Gassen wanderte, begegnete ihr dabei keine Menschenseele.

Wenn die Bewohner der gemütlichen Häuser nichts von seiner Existenz wussten, würde ihre heile Welt keine Risse bekommen und sie konnten ihr sorgenfreies Leben weiterführen, ohne sich Gedanken oder gar Sorgen machen zu müssen.

Die Frau zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern und beschleunigte ihre Schritte. Weiße Atemwölkchen bildeten sich stoßweise vor ihrem Gesicht.

Die Straßenlaternen flackerten und sie wusste genau, was das bedeutete.

Nur Sekunden erlosch das Licht und die Dunkelheit breitete sich wie ein Schleier über der Straße aus. Die Sterne waren kaum ausreichend, um den Weg vor ihr zu erhellen.

Die Frau war kurz stehen geblieben und hatte verärgert zu der Laterne hinaufgesehen. Dann setzte sie ihren Weg fort, den Blick stur auf den Boden gerichtet.

Bis nach Hause, oder zumindest dem Ort, den sie als solches bezeichnete, war es nur ein kurzes Stück, dennoch begann sie, sich unwohl zu fühlen.

Die Dunkelheit war nicht vollkommen, trotzdem fiel es ihr schwerer, den Weg vor sich genau zu erkennen.

Mit vor Kälte tauben Fingern und gesenktem Kopf eilte sie weiter und hatte schon fast ihr Ziel erreicht, als sie ins Straucheln geriet und mit einem leisen Aufschrei zu Boden stürzte. Schnee drang in die Ärmel und durch den Kragen des Mantels und sie schnappte erschrocken nach Luft, als sie die Kälte spürte. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren Ellenbogen und an der linken Hand bildeten sich dort, wo sie auf dem gepflasterten Boden aufgeprallt war, rote Striemen.

»Toll Shadow, das hast du mal wieder super hingekriegt.«

Ihren richtigen Namen wusste sie nicht. Oder nicht mehr, dessen war sie sich nicht sicher. Da sie sich häufig wie ein Schatten in den dunklen Gassen der Stadt herumtrieb, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, war sie irgendwann dazu übergegangen, sich selbst einen zu geben.

Sie rappelte sich auf und versuchte, das Brennen in ihrer Hand zu ignorieren. Sie hatte eine gefrorene Pfütze vermutet, verdeckt unter der Schneeschicht, auf der sie ausgerutscht war.

Ihre Kleidung war mittlerweile fast vollständig vom Schnee durchnässt, doch davon merkte sie nichts mehr, als sie dort, wo sie Pfütze vermutete, ein blaues Leuchten bemerkte.

Sie trat mit vorsichtigen Schritten darauf zu und kniete sich direkt davor in den Schnee, der rund um die leuchtende Stelle herum weggeschmolzen war.

Vor ihr auf dem Boden lag ein glatt geschliffener, ovaler Stein, der an einem schwarzen Lederband befestigt war und bequem in ihrer Handfläche Platz gehabt hätte.

Er strahlte ein schwaches Licht aus, das ihn wie eine blaue Schutzschicht umhüllte.

Shadow streckte vorsichtig ihre Hand aus und berührte die glatte Oberfläche des Steins. Er fühlte sich an, als wäre er den ganzen Tag von der Sonne angestrahlt worden und hätte ihre Wärme in sich aufgenommen. Shadow hob ihn auf und schloss ihre vor Kälte beinahe tauben Hände darum.

Während sie sich vom Boden erhob, bemerkte sie, wie langsam das Gefühl in ihre steifgefrorenen Finger zurückkehrte. Das Licht des Steines ließ ihre Hände bläulich leuchten.

Woher auch immer dieses wunderliche Ding stammte, Shadow kam es wie gerufen.

Sie setzte ihren Weg fort und erreichte bald ein unscheinbares Reihenhaus. Eine der Türen war verzogen und ließ sich nicht vollständig schließen. Da aber bisher niemand daran interessiert war, die Wohnung, die dahinter lag, zu mieten, war die Tür noch nicht repariert worden. Shadow sah sich einmal kurz um, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde, und betrat dann das Gebäude.

Vor etwa einem Jahr war sie hier sozusagen eingezogen und bisher hatte sie niemand entdeckt. Im Laufe der Zeit hatte sie sich mit verschiedenen Gegenständen, die sie auf ihren Streifzügen gefunden hatte, hier häuslich eingerichtet. Holzkisten, Decken, kaputte Stühle und Kommoden waren wild verstreut und ohne erkennbares System angeordnet, doch für Shadow war dieser Ort der Erste in ihrem Leben, den sie als Zuhause bezeichnen konnte. Dass sie schon so lange unbemerkt hier lebte, lag sicher zum großen Teil an ihrer Vorsicht. Ein anderer Grund war die Wohnung selber. Nie schaute hier jemand vorbei und obwohl sie für Shadow reichte, wusste sie, dass niemand, der Geld besaß, es hierfür ausgeben würde.

Auf direktem Weg ging sie ins Schlafzimmer. Das einzige Möbelstück war ein selbstgebautes Bett, bestehend aus umgedrehten Obstkisten und einer alten Isomatte. Eine riesige Decke und die wenige Kleidung, die sie besaß, dienten ihr als zusätzliche Polsterung und Wärmespender.

Neben dem Bett stand eine Flasche Bourbon Whiskey, die schon zu zwei Dritteln geleert war. Eine Frau aus der Nachbarschaft hatte sie vorige Woche in den Vorgarten geworfen und dabei ihren Mann wegen seiner angeblichen Alkoholsucht lauthals Vorwürfe gemacht. Die Flasche war verschlossen gewesen, der Mann hatte zumindest von diesem Whiskey keinen Schluck getrunken.

Für Shadow ersetzte er die Heizung. Wie jede Nacht zog sie ihre Schuhe aus und stellte sie ordentlich neben das Bett. Dann kuschelte sie sich fröstelnd unter die Decke und trank einige Schlucke aus der Flasche. Sie zog die Decke bis hinauf zum Kinn und wartete darauf, dass das Wärmegefühl sich in ihrem Körper ausbreitete.

In den vergangenen Tagen leerte sich die Flasche schneller, als sie das bisher getan hatte. Es dauerte länger, bis sich die Wärme in ihrem Körper ausbreitete und das wohlige Gefühl blieb immer kürzer bestehen.

Doch für die heutige Nacht hatten sie den blauen Stein und solange er Wärme ausstrahlte, würde sie ihn nicht aus der Hand geben. Sie band sich das Lederband um den Hals, rollte sich seitlich zusammen und schloss ihre Hände um den Stein.

Heute Nacht sollten die Temperaturen mal wieder unter den Gefrierpunkt fallen und Shadow war dankbar für den Stein. Mit Glück würde sie einschlafen, bevor sie zu sehr fror. Vielleicht würden sogar ihre Wünsche wahr und sie würde nicht mehr aufwachen.

Diese Nacht würde tatsächlich anders enden, als die Bisherigen, doch wie sehr, davon hatte sie noch keine Ahnung.

 

***

 

Sie hatte es gerade geschafft, sich in einen angenehm müden Dämmerzustand zu befördern, als etwas ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, das vorher nicht da gewesen war.

Eine neue Präsenz von etwas Unbekanntem, die den Raum erfüllte.

Shadow öffnete die Augen und obwohl sie vollkommene Dunkelheit erwartet hatte, es musste weit nach Mitternacht sein, stellte sie überrascht fest, dass der Raum in ein sanftes Dämmerlicht getaucht war.

»Was zum …«

Sie rieb sich mit beiden Händen über die Augen, setzte sich auf und suchte nach der Lichtquelle.

Ich träume, dachte sie dann, als sie diese gefunden hatte, das muss ein Traum sein.

Höchstens zwei Meter von ihr entfernt stand ein Mann, der direkt aus einem Fantasy-Film entstiegen zu sein schien. Er trug ein bodenlanges graues Gewand und hatte langes weißes Haar, das ihm bis fast auf die Hüfte reichte. Sein wettergegerbtes Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen und seine dunkelblauen Augen waren von einem wässrigen Schleier überzogen.

Und als wäre all das nicht schon seltsam genug, stellte Shadow mit immer größer werdenden Augen fest, dass es tatsächlich dieser Mann war, von dem das Licht auszugehen schien.

»Endlich«, war das erste Wort, was er sagte. Und auch das Einzige. Gleichzeitig streckte er eine knochige Hand nach ihr aus.

Shadow wich bis an die hinter ihr liegende Wand zurück.

»Wer sind Sie?«

Noch während sie die Frage aussprach, war sich nicht mehr sicher, ob sie die Antwort wissen wollte. Zumal sie immer noch nicht wusste, ob dies alles nur ein Traum war oder die Realität.

»Mein Name ist Teramir. Ich bin Vorsitzender des Rates der vier Weisen aus Thesmaal, der Hauptstadt von Keraldonia.«

Shadow warf einen Blick auf ihre Whiskyflasche und nahm sich vor, diese sofort nach ihrem Aufwachen aus diesem seltsamen Traum zu entsorgen.

»Und … was wollen Sie hier in meiner Wohnung?«

»Ich bin gekommen, um dich zu holen.«

»Wo ist Ihre Sense?«

Der Mann schien für einen Moment nicht zu wissen, wovon sie redete, und seine Stirn legte sich in tiefe Furchen, doch er fing sich schnell wieder.

»Der Stein ist der Beweis. Die Prophezeiung wird sich erfüllen.«

Shadow kam der Gedanke, dass sie vielleicht doch nicht träumte. Womöglich war der Mann nur ein weiterer Obdachloser, der schon sein ganzes Leben auf der Straße verbracht hatte und irgendwann verrückt geworden war.

»Tut mir leid, Sie haben die Falsche. Ich … würden Sie bitte gehen?«

Der alte Mann, Teramir war angeblich sein Name, wirkte leider absolut nicht verrückt und das machte Shadow Angst.

Er schüttelte den Kopf und starrte sie die ganze Zeit unentwegt an.

»Du bist die Richtige. Der Stein der Erkenntnis ist der Beweis dafür.«

Shadow löste das Lederband von ihrem Hals und betrachtete den Stein, den immer noch ein blauer Schimmer umgab.

»Der gehört mir nicht, den hab ich gefunden.«

»Nein.«

In den Augen des Mannes hatte sich etwas verändert, eine Art wissendes Funkeln war in sie getreten. Shadow ahnte, dass sie nicht hören wollte, was als Nächstes kam.

»Nicht du hast den Stein gefunden, er hat dich gefunden.«

»Das ist doch Unsinn. Ich bin quasi darüber gestolpert. Das war reiner Zufall. Jeder hätte ihn finden können.«

»Also findest du es normal, dass ein einfacher Stein in deiner Gegenwart plötzlich zu leuchten beginnt, um deine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?«

»Ich … » Shadow verstummte. Warum ließ sie sich überhaupt auf diese Diskussion ein? Sie hatte niemanden gestört und sie hatte darauf geachtet, dass niemand etwas von ihrer Anwesenheit hier erfuhr. Alles, was sie jetzt wollte, war schlafen und dieser Greis war das Einzige, was sie davon abhielt.

»Das liegt nicht an mir«, sagte sie, »Nehmen Sie ihn meinetwegen mit und suchen sich eine andere Auserwählte. Ich will einfach nur meine Ruhe haben.«

Sie warf Teramir den Stein zu und wollte ihn erneut auffordern, zu gehen, doch das plötzliche Aufflammen eines gleißenden Lichts ließ sie rückwärts gegen die Wand taumeln.

Kapitel 2

 

 

Teramir hatte den Stein nicht aufgefangen. Er lag zu Füßen des alten Mannes und hüllte den gesamten Raum in blaues Licht. Es war von einer solchen Intensität, dass Shadow die Augen tränten. Schützend hielt sie sich die Hände vor das Gesicht und blinzelte zwischen ihren Fingern hindurch.

»Was tun Sie da?«, schrie sie Teramir an, doch der lachte nur und trat einige Schritte zurück.

»Nicht ich bin das, der Stein ruft nach dir.«

»So ein Schwachsinn. Steine können nicht rufen. Packen Sie Ihre Trickkiste wieder ein und verschwinden Sie.«

»Es ist dein Schicksal.«

»Ich habe überhaupt keine Ahnung, wovon Sie da reden.«

»Der Stein wird dir die Antwort geben.«

Dämlicher, alter …

Shadow zwang sich, tief durchzuatmen. Wenn sie sich auf einen lautstarken Streit mit Teramir einließ, würde das nur unnötige Aufmerksamkeit auf sie ziehen.

»Ich will keine Antworten, ich will einfach nur meine Ruhe.«

Das Licht schmerzte in ihren Augen und wurde mit jeder Minute, die verstrich, immer heller.

Teramir setzte erneut einen Schritt nach hinten und wies mit seinem Stab auf den am Boden liegenden Stein.

»Es liegt an dir.«

Shadow wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Augen. Wenn sie den Stein in einen anderen Raum warf, wäre sie immerhin das grässliche Licht los und wieder in der Lage, ihre Umgebung zu erkennen. Danach hätte sie immer noch Gelegenheit, sich um den merkwürdigen Alten zu kümmern.

Eine Hand hielt sie sich wie den Schirm einer Mütze vor das Gesicht, dann tastete sie sich mit gesenktem Kopf dem Stein entgegen und streckte die andere Hand nach ihm aus.

Zuerst hielt sie es für eine Einbildung, doch dann stellte sie mit immer größerem Erstaunen fest, dass das Leuchten des Steins nachließ, je näher sie ihm kam. Als sie in die Hocke ging und ihre Finger um die glatte Oberfläche schloss, umgab ihn nur noch ein schwacher Schimmer. Er fühlte sich wärmer an als vorher, fast, als hätte das Licht ihn zusätzlich aufgeheizt.

Das kann nicht sein, dachte sie.

Vorsichtig legte sie den Stein zurück auf den Boden, stand auf und bewegte sich ein Stück von ihm weg. Sofort leuchtete er wieder heller auf. Ein Schritt nach vorne, die Finger schlossen sich erneut um den Stein und der gleiche Effekt, den sie bereits beobachtet hatte, trat auf.

Shadow richtete sich auf.

Teramir stand nur wenige Meter von ihr entfernt und lächelte selbstzufrieden.

»Bist du jetzt gewillt, mir zuzuhören?«

»Was hat das zu bedeuten? Was ist das für ein Trick?«

»Kein Trick. Das ist Magie.«

»Es gibt keine Magie.« Schon bereute Shadow es, sich überhaupt auf diese Diskussion eingelassen zu haben.

»Du irrst dich. In dieser Welt existiert die Magie schon lange nicht mehr, doch das bedeutet nicht, dass dies für jeden Ort der Welt gilt.«

Shadow fragte sich, was das für ein Ort sein sollte, und schalt sich im gleichen Moment für ihre Überlegungen. Was Teramir sagte, war schlicht und ergreifend falsch. Ihr gesunder Menschenverstand wollte jeden weiteren Gedanken an Magie aus ihrem Kopf fortwischen. Doch etwas regte sich in ihr, während sie wie hypnotisiert auf den Stein in ihrer Hand starrte. Ein Teil von ihr, der bisher im Verborgenen geblieben war. Und dieser Teil wusste, dass der alte Mann die Wahrheit sprach. Sie sah auf und suchte seinen Blick.

»Was habe ich damit zu tun?«

Der Bärtige wirkte erleichtert.

»Du glaubst mir also endlich?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich will nur wissen, was dieser Stein mit mir zu tun hat.«

»Er ist deine Bestimmung, dein Schicksal.«

Shadow schnaubte unwirsch. Sie wollte eine Antwort, und zwar eine richtige.

Teramir redete weiter, als würde es aus einem Buch zitieren: »Es ist die Bestimmung der Kriegerin Kadenya das Land Keraldonia zu erlösen und es von dem Unbekanntem zu befreien, durch das unsere Welt dem Untergang geweiht ist.«

Die Temperatur im Raum schien um einige Grad gefallen zu sein. Weiße Atemwölkchen bildeten sich vor Shadows Mund. Teramir hingegen zeigte sich von der Kälte absolut unbeeindruckt, nichts an seinem Verhalten deutete darauf hin, dass er die Veränderung bemerkt hatte.

»Sie haben die Falsche. Mein Name ist nicht Kad ...«

»Kadenya.« Er hob die Schultern und lächelte mit schräggelegtem Kopf. »Nun, wenn du es nicht bist, so sage mir doch wenigstens deinen richtigen Namen.«

»Shadow. Mein Name ist Shadow und ich habe weder von der Kriegerin noch von diesem Land je etwas gehört. Sie haben die Falsche.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und deutete mit dem Kopf Richtung Tür. Ihr war es gleich, auf welchem Weg er das Haus verließ, Hauptsache er tat es sofort.

Schluss mit den kryptischen Worten und den Hirngespinsten.

Die weißen Atemwolken vor ihrem Mund bildeten sich in immer kürzeren Abständen und Shadow zwang sich, ruhiger zu atmen. Es gab absolut keinen Grund, nervös zu werden. Der Alte würde seinen Irrtum einsehen und verschwinden.

»Shadow – hmhm.« Teramir legte seine Fingerspitzen aneinander und nickte bedächtig, als würde er über die Bedeutung ihres Namens nachdenken.

»Dann habe ich vielleicht wirklich die Falsche. Shadow ist also der Name, den dir deine Eltern gegeben haben?«

Sie öffnete den Mund, um zu antworten, verstummte jedoch sofort wieder. Ihr Atem beschleunigte sich erneut und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus.

»Nun?« Teramirs intensiver Blick ruhte auf ihr.

Shadow kniff ihre Lippen zusammen und schwieg beharrlich.

»Du weißt, dass es sehr unhöflich ist, nicht zu antworten?«

»Und Sie wissen, dass es gegen das Gesetz ist, in die Wohnung fremder Leute einzudringen?«

»Dann nennst du dieses bescheidene Heim also dein Eigen?«

Er bemerkte ihr Gesicht und hob die Hände.

»Ich weiß mehr über dich, als du denkst. Du weißt nichts über deine Eltern, habe ich recht? Du weißt noch nicht einmal, wer du selber bist und deswegen hast du dir den Namen Shadow gegeben.«

Shadows Finger krampften sich so fest zusammen, dass sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen bohrten. »Wenn Sie ohnehin schon alles wissen, wieso fragen Sie mich dann noch?« Sie wollte nicht daran erinnert werden, wer sie war. Oder nicht war.

Teramir trat einige Schritte auf sie zu und versuchte ihr schon fast väterlich, eine Hand auf die Schulter zu legen.

Unwirsch wich Shadow von ihm weg und schlug seinen ausgestreckten Arm beiseite.

»Willst du denn gar nicht wissen, wer du in Wirklichkeit bist?«

»Mir gefällt mein Leben so, wie es ist.«

Der alte Mann sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen in dem kargen Raum um und betrachtete die notdürftig zusammengewürfelte Einrichtung.

»Gewiss, das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Ich kann keine Welt vor dem Untergang bewahren. Dafür bin ich einfach nicht die Richtige. Ich bin nicht die Kriegerin aus der Bestimmung, das ist unmöglich.«

»Dein Kopf sagt dir, dass es unmöglich ist, aber dort drin«, er wies auf ihren Bauch, in dem sich inzwischen ein schmerzhafter Knoten gebildet hatte, »weißt du, dass es stimmt. Wolltest du nicht schon immer wissen, was vor deinem Gedächtnisverlust gewesen ist? Ich gebe dir die Antwort.«

Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht wissen. Nicht, wenn dies die Antwort war. Ein normales Leben, in einer richtigen Wohnung, einem festen Job und Freunden, das war es, was sie sich von ihrer Vergangenheit vorgestellt hatte. Aber nicht so etwas.

»Wo liegt dieses Land, wo sie herkommen?«

»Keraldonia?« Teramir breitete seine knochigen Arme aus. »Überall und doch nirgendwo. Du wirst es auf keiner Landkarte finden und doch existiert es. Es ist …«

»Jaja, schon gut.« Shadow rieb sich die Stirn. Hatte sie von einem Weisen etwa eine zufriedenstellende Antwort erwartet?

»Und wie bin ich dann hierhergekommen?«

»Ein Riss in der Realität. Ein Hirngespinst der Fantasie. Niemand weiß es und doch war immer klar, dass du eines Tages zurückkehren wirst, Kadenya.«

Sie setzte zu einer Entgegnung an, als sie von draußen Stimmen hörte, die rasch lauter wurden. Sie näherten sich der Tür ihrer Wohnung.

»Ob wir nicht lieber auf die Polizei warten sollten?«

»Du hast das Licht doch auch gesehen.«

»Aber hier wohnt doch schon seit Jahren niemand mehr.«

Shadows Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus.

Sie war entdeckt worden.

Der wärmende Stein, für den sie bis vor Kurzem Dankbarkeit empfunden hatte, hatte sie verraten. Es gab keine Chance, unbemerkt das Weite zu suchen.

Und selbst, wenn sie die Gelegenheit hätte, sie würde nie wieder hierher zurückkehren können. Es blieb ihr nicht genügend Zeit, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und so ihre Anwesenheit zu vertuschen. Die Polizei war schon auf dem Weg.

Teramir hatte seine Hand nach ihr ausgestreckt.

»Du hast die Wahl. Ein Leben in Unwissenheit, in dem du dich immer wirst verstecken müssen …«

Mit klopfendem Herzen starrte Shadow auf die Tür des Schlafzimmers. Die Türklinke wurde langsam heruntergedrückt.

»… oder eine Vergangenheit, die deine Zukunft werden kann.«

Shadow biss sich auf die Lippe und beobachte, wie sich die Schlafzimmertür wie in Zeitlupe öffnete. Dann stieß sie den Atem aus. Was hatte sie schon zu verlieren?

Kapitel 3

 

 

Ihre eiskalten Finger umfassten Teramirs Hand und im selben Augenblick verschwand der Raum vor ihr. Er verschwamm nicht oder löste sich langsam auf. Es war, als hätte sie die ganze Zeit vor einer riesigen bemalten Leinwand gestanden, die mit einem Ruck heruntergerissen wurde.

Shadow strauchelte. Als hätte ihr jemand mit einem Faustschlag sämtliche Luft aus den Lungen getrieben sank sie hustend zu Boden.

Erst als sie wieder zu Atem gekommen war, bemerkte sie, dass ihre Fingerspitzen kalten Marmorstein berührten. Langsam hob sie den Kopf. Ihr Gehirn wollte nicht begreifen, was ihre Augen erfassten.

Die kleine, baufällige Wohnung war verschwunden. Statt ihrer fand sich Shadow in einer Halle wieder, von einer Größe, wie sie es sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.

Wie in Zeitlupe kam sie auf die Beine. Sie legte den Kopf in den Nacken und bestaunte die gigantische gewölbte Decke, die makellosen Säulen, die in regelmäßigem Abstand in der kreisrunden Halle angebracht waren und die schweren, reich verzierten Holztüren.

Shadow taumelte, sie merkte, wie ihr schwindelig wurde, und senkte eilig den Kopf. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von all der Pracht um sie herum abwenden. Staunen offenem Mund drehte sie sich langsam um die eigene Achse und bewegte sich dabei so vorsichtig, als befürchte sie, eine zu hastige Bewegung könnte dies alles verschwinden lassen.

Obwohl die Halle kein einziges Fenster besaß, leuchtete der Marmor, als würde er direkt von der Sonne angestrahlt werden.

»Willkommen zu Hause.«

Shadow schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht mein Zuhause. Das ist ein Museum.«

Teramir nahm sie am Arm und führte sie zu einer der Holztüren.

»Und doch ist es dein Palast, Prinzessin Kadenya.«

Shadow riss sich los und starrte den Weisen mit gerunzelter Stirn an.

»Prinzessin? Was kommt denn noch alles?«

Die schwere Holztür öffnete sich und ein etwa siebzehnjähriges Mädchen steckte den Kopf heraus. Sie war klein, zierlich und hatte ihre schwarzen Haare zu einem ordentlichen Knoten auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. Eine störrische Haarsträhne kringelte sich an ihrem rechten Ohr entlang.

Sie bemerkte zuerst Teramir und dann erblickten ihre dunklen Augen Shadow, die immer noch völlig überwältigt dastand und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Kriegerin, Prinzessin, Palast. Die Worte bildeten verworrene Knäuel und rasten durch ihren Kopf, während sich in ihr Zweifel erhoben, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Oder ob vielleicht doch nur alles ein merkwürdiges Versehen war.

Das Mädchen riss die Augenbrauen nach oben. Mit fast schon ungläubigem Blick sah sie von Shadow zu Teramir und wieder zurück.

»Meister Teramir, Ihr hattet Recht behalten … »

Mit einer plötzlichen, erschrockenen Bewegung schlug sie sich die Hand vor den Mund und verstummte augenblicklich.

Und dann, Shadow konnte es kaum glauben, trat sie zwei kleine Schritte nach vorne, senkte den Kopf, knickste leicht und sagte: »Hoheit, Ihr seid wieder da. Welch Freude.«

Shadow sah an sich herab, betrachtete die löcherigen Schuhe, die abgewetzte schwarze Jeans und den zu großen Mantel, den sie trug und der an Saum und Ellenbogen bereits stark zerfranste. Nichts konnte einer Prinzessin ferner sein und dennoch kam ihr diese ganze Situation nicht annähernd so verstörend vor, wie sie hätte sollen.

Sie hob die Hände und wich zurück. Sie wollte das Mädchen nicht beleidigen, aber diese Begrüßung konnte doch wirklich nicht ernst gemeint sein. »Du irrst dich. Ich bin nicht … »

Sie verstummte, als Teramir ihr seine Hand auf die Schulter legte und sie beschwörend ansah.

»Es wird sich alles zusammenfügen. Auch wenn du es jetzt noch nicht glaubst, nicht glauben willst, das hier war deine Welt und sie wird es ab jetzt wieder sein.«

Teramir wies mit einem Kopfnicken auf das Mädchen, das mit vor Aufregung rotglühenden Wangen vor ihr stand.

»Tabia wird sich um dich kümmern. Du kannst dich neu einkleiden und dich etwas stärken. Ich werde in der Zwischenzeit den Rat der Weisen über deine Ankunft informieren.«

Er drehte sich um und schritt weit ausholend durch die Halle, sein langes Gewand wallte dabei um seinen Körper.

Widerstandslos ließ sich Shadow von Tabia in den Raum führen, der hinter der Holztür lag und staunte erneut über die architektonische Meisterleistung, die sich ihr darbot.

Hatte die große Halle komplett aus weißem Marmor bestanden, so war hier Holz das vorherrschende Material. Dunkles Holz, das Shadow, würde sie sich auskennen, als Mahagoni identifiziert hätte. Der Raum sah aus, als wäre er in einem Stück aus einem überdimensionalen Holzstamm geschnitzt worden. Die Decke, der Boden und die Wände, alles bildete eine Einheit. Dieses Zimmer war eindeutig künstlich erschaffen worden und doch sahen die Strukturen aus, als wäre es die Natur selbst gewesen, die ein solches Wunderwerk vollbracht hatte.

»Unglaublich.« Sie zwang sich, ihren Blick von dem Zimmer loszureißen und sich Tabia zuzuwenden.

»Ein wahres Kunstwerk, nicht wahr?«, fragte das Mädchen strahlend.

»Das kann man wohl sagen. Wessen Idee war das? Wer hat das hier erschaffen?«

Tabia kicherte und Shadow warf ihr einen irritierten Blick zu. War die Frage wirklich so dumm gewesen?

»Wisst Ihr es denn nicht mehr?«

»Was weiß ich nicht mehr?«

Tabia breitete ihre Arme aus und drehte sich langsam im Kreis.

»Ihr wart das. Den Marmor des großen Saals empfandet ihr als protzig und kalt. Ihr fühltet Euch sehr mit der Natur verbunden. Nur zu gerne wärt ihr in den Wald gezogen und dort geblieben. Als Euch dieser Wunsch untersagt wurde, habt ihr den Wald zu Euch geholt.«

Naturverbunden. Das klang so gar nicht nach ihr selber.

»Ich war wohl ziemlich lange weg, hm?«

Tabia nickte eifrig.

»Doch jetzt seid Ihr wieder hier und nur das zählt.«

Sie verschwand hinter einer Wand und tauchte gleich darauf mit einem Berg Stoff auf ihrem Arm auf.

»Ein heißes Bad wird Euch bestimmt guttun. Hier habt Ihr etwas, um Euch abzutrocknen.«

Sie eilte auf einen Paravent zu, der in einer Ecke des Zimmers stand und Shadow folgte ihr neugierig. Erst jetzt bemerkte sie, wie sie fror und ein heißes Bad war etwas, dass sie noch nie hatte genießen können. Zumindest nicht, soweit es ihre Erinnerungen zuließen.

Tabia knickste einmal und hängte dann ein grünes Gewand zu dem weißen Tuch über den Paravent. Shadow bestaunte den feinen Stoff mit den Stickereien.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Euch eines Eurer Kleidungsstücke herauszusuchen. Wenn Ihr etwas anderes tragen wollte, dann … »

»Nein, nein, das ist perfekt.«

Shadow glaubte zu träumen, als sie hinter den Paravent trat und die weiße Badewanne erblickte, die dort vor ihr stand. Sie war gefüllt mit dampfendem Wasser und ein leichter Rosengeruch stieg ihr in die Nase.

Sie ließ ihre Finger über die Wasseroberfläche gleiten und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Heißes Wasser«, hauchte sie glücklich und betrachtete die Tropfen, die von ihren Fingern zurück in die Badewanne fielen.

»Es wurde gerade eingefüllt. Teramir war sich so sicher, dass Ihr heute heimkehren würdet und er hat Recht behalten.«

Andächtig strich Shadow über den grünen Stoff ihres Gewandes. Sauber, ohne Löcher.

»Und das gehört wirklich mir?«

»Es gehörte zu Euren Lieblingsstücken, bevor Ihr verschwandet, deswegen dachte ich … »

Plötzlich raffte sie ihre Röcke und wandte sich zum Gehen.

»Wie dumm von mir. Es ist schon spät. Ihr müsst am Verhungern sein. Entkleidet Euch und genießt das Bad, ich werde sehen, was ich zu essen auftreiben kann.«

Auch ohne Tabias Aufforderung hätte Shadow sich nicht länger zurückhalten wollen. Achtlos warf sie ihre Kleidung zu Boden und ließ sich langsam ins Wasser gleiten. Es musste tatsächlich erst vor wenigen Minuten eingelassen worden sein und war noch so heiß, dass es auf ihrer Haut prickelte. Mit einem tiefen Seufzer schloss sie die Augen und ließ sich nach unten sinken, bis sie ihr Kopf gänzlich von Wasser umgeben war. Mit einem Lächeln auf den Lippen genoss sie das wohlige Gefühl, vollständig in Wärme eingehüllt zu sein, und nur ihre brennenden Lungen zwangen sie dazu, wieder aufzutauchen und Luft zu holen.

Sie verließ die Badewanne erst, als ihre Fingerkuppen bereits schrumpelten und das Wasser nur noch lauwarm war.

Sie trocknete sich ab und schlüpfte mit einem etwas befremdlichen Gefühl in ihre neue Kleidung. Die Ärmel der knielangen, schmal geschnittenen Tunika lagen eng an ihren Armen an und reichten ihr bis zu den Handgelenken. Der Stoff war ab Hüfthöhe an vier Stellen mit einem langen Schlitz versehen, sodass sie sich ungehindert bewegen konnte.

Die dunkelbraunen Stickereien am Ausschnitt des Oberteils fühlten sich rau an unter ihren Fingern. Die weiche Hose war aus einem dunkleren Grün und der Saum endete einige Zentimeter über ihren Knöcheln.

Ein breiter Gürtel aus braunem Leder vervollständigte ihr neues Erscheinungsbild.

Shadow griff nach einem Holzkamm, der auf einer kleinen, ebenfalls aus Holz gefertigten, Kommode lag. Ein schlichter, ovaler Spiegel hing an der Wand und sie stellte sich davor. Mit einem Gefühl, als würde sie nicht sie selbst sein, betrachtete sie ihre dunkelbraunen, nassglänzenden Haare. Dann begann sie, den Kamm mit langsamen Bewegungen durch ihre Strähnen zu ziehen.

Je länger sie vor dem Spiegel stand und ihre eingefallenen Wangen, die dunklen Augenringe und die herausstehenden Schlüsselbeine betrachtet, desto selbstverständlicher kam es ihr vor, hier zu sein. Zurück in ihrem alten neuen Leben.

Es war verrückt und unwirklich und doch schien es richtig.

Sie legte den Kamm zur Seite, als sie ein Geräusch hörte und trat hinter dem Paravent hervor. Tabia war mit dem Essen zurückgekommen und Shadows Magen knurrte laut, als sie das riesige Tablett sah, auf dem sich Brot, Weintrauben und verführerisch duftender Braten neben einem Krug und einem Becher aus Ton stapelten.

Tabia betrachtete Shadow und ihre Augen leuchteten auf.

»Ihr habt Euch kaum verändert«. Ihr Blick fiel auf die zu kurzen Hosenbeine.

»Nun, abgesehen von der Tatsache, dass Ihr doch mehr gewachsen seid, als ich vermutet hatte. Ich habe mir erlaubt, Eure Kleidung umzunähen, aber es hat wohl nicht gereicht.«

»Es ist perfekt«, beeilte sich Shadow zu versichern. Wen kümmerte es schon, dass die Hose etwas zu kurz war? Der Stoff lag sauber und weich an ihrem Körper an und sie genoss das Gefühl auf ihrer Haut.

Mit fast unerklärlicher Leichtigkeit trug Tabia jetzt das Tablett mit den Köstlichkeiten zu einem Tisch und stellte Teller und Krug auf die Tischseite, an der ein dunkelbrauner Stuhl mit hoher Rückenlehne stand.

»Greift zu«, sagte sie zu Shadow und lachte, als deren Magen erneut laut knurrte.

Wie hypnotisiert ließ Shadow sich auf den Stuhl sinken und sog den Duft des frisch gebackenen Brotes und des noch dampfenden Bratens ein. Mit beiden Händen umfasste sie den Tonkrug und hielt ihn sich unter die Nase.

»Rotwein.« Sie hob verblüfft den Blick. Dann goss sich den Becher voll und nahm einen langen Schluck. Die schwere Süße legte sich auf ihre Zunge und fast meinte sie, die Trauben und Beeren tatsächlich einzeln herausschmecken zu können.

»Oh Mann, das ist ja hier wie im Schlaraffenland.«

»Ist dies das Land, in dem Teramir Euch gefunden hat?«

Shadow lachte und biss von dem Brot ab. Es war noch warm und die würzige Kruste bildete einen hervorragenden Kontrast zu dem Wein.

»Nein«, sagte sie mit vollem Mund, »Das Schlaraffenland ist … »

Sie sah Tabia an, die mit interessiertem Gesichtsausdruck neben ihr stand. Das Mädchen lebte in einer völlig anderen Welt als sie. Wahrscheinlich hatte sie von diesem Märchen noch nie in ihrem Leben etwas gehört.

»Da, wo ich herkomme, war es nicht so schön«, sagte sie schließlich nur. Zwei Bratenstücke hatte sie mittlerweile gegessen und nun leckte sie sich genießerisch die fettigen Finger ab. »Zumindest nicht für mich.«

»Umso schöner ist es, Euch wieder hier zu haben. Welch ein Glück, dass Teramir Euch gefunden hat.«

»Teramir hat behauptet, der Stein hätte mich gefunden … »

Shadow verschluckte sich beinahe an dem Schluck Wein, den sie gerade genommen hatte.

Der Stein!

Hastig sprang sie auf und lief zu dem Haufen zerschlissener Kleidung, die sie vorher so achtlos zu Boden geworfen hatte. Mit fahrigen Bewegungen durchwühlte sie sämtliche Taschen und war schon kurz davor in Panik auszubrechen, als sich ihre Finger endlich um die vertraute glatte Oberfläche schlossen.

Erleichtert atmete sie aus und fragte sich gleichzeitig, warum ihr dieser Stein auf einmal so wichtig war.

»Er leuchtet gar nicht mehr«, stellte sie erstaunt fest, während sie das Lederband um ihren Hals legte und im Nacken verknotete.

»Natürlich nicht«, ertönte es von der Tür, »er hat seine Aufgabe erfüllt.«

Shadow hob den Kopf.

Teramir gebot Tabia mit einer Kopfbewegung sie alleine zu lassen und das Mädchen knickste und verließ eilig den Raum.

»Und? Immer noch davon überzeugt, dass ich nur ein verrückter alter Mann bin?«

»Das habe ich niemals gesagt.«

»Aber gedacht.«

Dagegen ließ sich nichts sagen und so zog Shadow es vor, zu schweigen.

Teramir hielt die Tür auf und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, hindurchzugehen. Dann bemerkte er ihre nackten Füße.

Shadow folgte seinem Blick und sah sich suchend im Raum um.

Neben dem Paravent entdeckte sie ein Paar weicher Wollsocken und braune Lederstiefel, die sie bis fast zu den Knien hinauf schnüren konnte.

Als Shadow zum nunmehr zweiten Mal die gigantische Marmorhalle betrat, kam sie ihr bei Weitem nicht mehr imposant vor, eher kalt und abweisend.

»Wohin gehen wir?«

»Der Rat erwartet dich.« Teramir warf Shadow einen Seitenblick zu und betrachtete mit wohlwollendem Blick ihre Kleidung. »Nun, mir scheint es, als hättest du dich einer deiner neuen Rolle ganz gut eingefunden.«

»In meiner neuen alten Rolle«, ergänzte Shadow, »Tabia meinte, ich wäre vor langer Zeit verschwunden. Was ist passiert?«

»Deine Fragen werden gleich beantwortet werden.«

Sie durchquerten die Halle und Shadow fragte sich, wie man jemals diese ganzen Türen auseinanderhalten sollte, die für sie alle identisch aussahen. Teramir öffnete eine weitere Holztür und ließ Shadow zuerst hindurchtreten.

Sie betraten einen, im Vergleich zur Marmorhalle, überraschend kleinen Raum, dessen einzige Möbelstücke ein runder Holztisch und vier Stühle waren.

Bei der Erwähnung des Rates der vier Weisen hatte Shadow sich alte Männer vorgestellt, in ein ebenso seltsames Gewand gehüllt wie Teramir, mit Rauschebart und weißen Haaren. Umso erstaunter stand sie daher den anderen Mitgliedern des Rates gegenüber.

Ein Mann, der etwa Mitte dreißig sein mochte, mit langen schwarzen Haaren, die er im Nacken zusammengebunden trug, ein Mädchen, ungefähr in Tabias Alter und, und das überraschte Shadow am meisten, ein kleiner Junge von etwa zehn Jahren.

Alle drei starrten sie mit so ernsten Gesichtern an, dass Shadow sich unruhig zu Teramir umwandte.

»Das ist der Rat?«, wisperte sie ungläubig.

Teramir nickte und gesellte sich zu den anderen dreien.

»Aber sicher. Dieser Rat vereinigt alles in sich, die Weisheit des Alters«, er zeigte auf sich, »die Weisheit der Erwachsenen, der Jugend und«, er ließ seinen Finger von Person zu Person wandern und verblieb schließlich bei dem kleinen Jungen, »die wichtigste. Die unbeschwerte Weisheit der Kindheit.«

Shadow warf einen skeptischen Blick auf den blonden Jungen mit den großen Kulleraugen und der Stupsnase.

»Wenn ich mich dann vorstellen dürfte«, sagte dieser plötzlich, trat ein paar Schritte nach vorne und verneigte sich, »Teramir berichtete uns bereits von Eurem Gedächtnisverlust und wir alle werden uns nach Kräften bemühen, Euch in Eurer Erinnerung zu unterstützen. Mein Name ist Anuj.«

Er verneigte sich erneut und trat dann wieder in den Kreis der anderen zurück, aus dem sich jetzt das Mädchen löste.

»Ich bin Mabyn.« Schwarze Locken umrahmte das dunkle Gesicht. Sie lächelte, doch ihre Augen blieben dabei ausdruckslos.

»Gereon.« Es war nur ein einziges Wort, was der schwarzhaarige Mann sprach.

»Und uns allen ist es eine Freude, Euch wieder in unserer Mitte begrüßen zu dürfen.«, ergänzte Teramir.

Shadow warf einen skeptischen Blick auf Mabyn. Deren dunkle, schon fast schwarze Augen schienen jegliches Licht zu absorbieren, das in sie fiel. Mabyn wirkte sehr ernst, ernster, als sie das in ihrem Alter hätte sein dürfen, und Shadow fragte sich mit leichtem Unbehagen, ob es einen Grund dafür gab.

Kapitel 4

 

 

Mit einem gezwungen Lächeln stand sie den vier Weisen gegenüber und zwirbelte nervös an einer Strähne ihrer Haare. Sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, und schon gar nicht vor Menschen, die sie so unverhohlen, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, anstarrten.

»Also …«, sagte sie schließlich gedehnt, als sie die Stille nicht mehr aushielt, aber im gleichen Augenblick, ohne Vorwarnung, löste sich Gereon von der Stelle, an der er gestanden hatte und streckte seine Hand nach ihr aus.

Shadow war so perplex, dass sie einige Schritte rückwärts stolperte. Nur Wimpernschläge später spürte sie eine kalte Steinwand in ihrem Rücken.

»Ähm … » Sie lachte nervös, obwohl ihr gar nicht nach Lachen zumute war. Gereons Augen hatten einen fast schon hypnotischen Ausdruck angenommen, als seine Finger genau vor ihrer Brust stoppten und er langsam die Hand sinken ließ.

Sie hielt den Atem an, als er den blauen Stein berührte, unsicher, was als Nächstes passieren würde. Er bewegte sich nicht mehr, behielt seinen Blick nur weiterhin auf den Stein fixiert. Shadow senkte den Blick und stellte fest, dass seine Fingerkuppen wenige Millimeter vor der glatten Oberfläche verharrten, als wären sie auf eine unsichtbare Barriere gestoßen.

Einige Herzschläge standen sie so da, Gereons Hand nahe dem Stein, Shadow gegen die Wand gepresst, unfähig sich zu rühren.

Dann senkte er seine Hand und fixierte ihren Blick mit seinen Augen.

Als sie den Ausdruck darin sah, fuhr sie zusammen und nur die Steinwand hinter ihr hinderte sie daran, noch weiter vor ihm zurückzuweichen.

Endlich wandte er sich von ihr ab und kehrte zurück zu den anderen Ratsmitgliedern, die sich nicht von der Stelle bewegt hatten.

Erst jetzt bemerkte Shadow, dass sie die ganze Zeit über den Atem an gehalten hatte. Mit einem tiefen Atemzug sog sie neuen Sauerstoff ein und versuchte, das Zittern ihrer Knie zu unterdrücken.

Mabyn warf Gereon einen verärgerten Blick zu und sagte dann leise etwas zu Teramir. Der Alte nickte und bedeutete Shadow mit einer einladenden Handbewegung, am Tisch Platz zu nehmen.

Nachdem sie sich gesetzt hatte, ließen sich nacheinander Anuj, Mabyn und Teramir an den anderen drei Stühlen nieder.

Nur Gereon blieb stehen und starrte aus dem Fenster. Sie Sehnen an seinem Hals traten deutlich hervor, so sehr biss er die Zähne zusammen und Shadow suchte mit hochgezogenen Augenbrauen den Blick der übrigen Ratsmitglieder, die ihr jedoch eine Erklärung schuldig blieben.

Mabyn betrachtete die Tischplatte unter ihren Händen und warf nur gelegentliche Seitenblicke auf Teramir. Anuj betrachtete sie aus großen Augen, ließ aber nicht erkennen, dass er die Situation als so einschüchternd einschätzte, wie Shadow sie empfunden hatte. Er wippte mit den Füßen auf und ab und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, bis er eine Position gefunden hatte, in der aufrecht saß und jetzt nicht mehr allzu klein wirkte. Auch er fixierte Teramir, als wartete er darauf, zu erfahren, was als Nächstes geschehen würde.

Shadow konnte es ihm nicht verübeln. Egal vor wie langer Zeit die Prinzessin verschwunden war, er war in jedem Fall noch ein kleines Kind gewesen, vielleicht sogar erst vor Kurzem in den Rat aufgenommen worden. Shadow fragte sich, ob vorher Mabyn diese Rolle übernommen hatte. Sie war noch jung und wirkte viel zu Ernst für ihr Alter. Eine lange Tätigkeit in einem Rat der Weisen konnte eine Erklärung dafür sein.

»Heute ist ein glücklicher Tag für Keraldonia und all seine Einwohner«, sagte Anuj plötzlich, nachdem Teramir ihm aufmunternd zugenickt hatte, und Shadow war erstaunt angesichts der Worte, die viel zu geschwollen für den Jungen wirkten, »Prinzessin Kadenya, Ihr seid zurückgekehrt, um die Prophezeiung zu erfüllen. Wir haben nie aufgehört an Euch zu glauben und mit dem heutigen Tage sind unsere Gebete erhört worden. Bald wird wieder Frieden in unserem Land einkehren, dessen bin ich mir sicher.«

»Mein Name ist nicht Ka ...«, hob sie zu einem Protest an, doch Teramir bedeutete ihr mit einer Handbewegung, zu schweigen.

»Die Kunde über deine Rückkehr verbreitet sich bereits wie ein Lauffeuer über das ganze Land, obwohl Thesmaal Eure Rückkehr noch gar nicht offiziell bekannt gegeben hat«, sprach Mabyn weiter, hastig und mit leicht gesenktem Blick, doch Shadow konnte das Lächeln auf ihren Lippen und das zarte Glühen ihrer Wangen erkennen, »Vielen wird heute eine schwere Last vom Herzen genommen. Sie alle hegen die Hoffnung, schon bald wieder ohne Angst des Nachts die Augen schließen zu können.«

Shadow knetete ihre Finger. Die neue Kleidung, das warme Bad, ja sogar die merkwürdige Art, sie anzusprechen, das alles hatte sie bereitwillig hingenommen, es zum Teil genossen. Aber seit sie vor wenigen Minuten durch die hölzerne Tür getreten und dem Rat zum ersten Mal begegnet war, wurde ihr Wunsch stetig größer, sich von all dem hier wieder zurückzuziehen.

»Was ist denn das überhaupt für eine Prophezeiung, wenn ich fragen darf?«

Mabyn strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr sofort wieder in die Stirn fiel.

»Verzeiht.« Sie warf Shadow ein scheues Lächeln zu. »Ich vergesse immer wieder, dass ich nicht mehr die Kadenya vor mir habe, die vor vier Jahren in den Wäldern Eklor’dans verschwand.«