Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sie hatten ihn durchleuchtet, um sicherzugehen, dass sie ihm drohen und ihn gleichzeitig mit ihren Versprechungen locken konnten. Und sie mussten sicherstellen, dass er über das, was er jetzt sah, nie ein Wort verlieren würde. Europa, irgendwann in der Zukunft. Einige Länder des Kontinents haben sich zu dem Staat Erimus zusammengeschlossen. Krankheiten gelten als nahezu ausgemerzt. Jeder Einwohner ist zum Schutz der eigenen Gesundheit zur Einnahme staatlich verordneter Vitamine verpflichtet. Dem Nachtwächter Luke, der für das Pharmaunternehmen Sanaris arbeitet, wird eine neue Stelle angeboten. Im streng geheimen Labor, in dem die Vitamine entwickelt werden, blickt er hinter die Kulissen und entdeckt den erschütternden Grund für das scheinbar perfekte und sorgenfreie Leben, das ihm und seinen Mitmenschen vergönnt ist. Für einen Rückzieher ist es zu spät, denn Sanaris erkauft sich Lukes Schweigen zu einem hohen Preis.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 320
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Gina Grimpo, geboren 1988 in Bremen, ist hauptberuflich Bürostuhlakrobatin und nebenberuflich Buchstabenbändigerin.
Wenn sie ihre Zeit nicht gerade mit Lesen, Escape-Spielen oder Reisen verbringt, arbeitet sie mit Leidenschaft an ihren buchigen Projekten.
Ihre Begeisterung für Bücher zeigte sich schon in frühen Jahren und seitdem hat sie nicht nur unzählige Bücher verschlungen, sondern auch einige Geschichten selber zu Papier gebracht. Einige von ihnen haben bereits den Weg in unterschiedliche Anthologien gefunden.
Ihr erstes Buch, den Jugendfantasy-Roman »Das Portal nach Ot'rona« veröffentlichte sie im Jahr 2020 im Selfpublishing.
Website:grimpogina.wixsite.com/ginagrimpo-autorin
Instagram:@seitenweisegina
Facebook:@GinaGrimpoFantasyautorin
KAPITEL 1: LUKE
KAPITEL 2: LUKE
KAPITEL 3: PETER
KAPITEL 4: LUKE
KAPITEL 5: LUKE
KAPITEL 6: LUKE
KAPITEL 7: LUKE
KAPITEL 8: LUKE
KAPITEL 9: LUKE
KAPITEL 10: LUKE
KAPITEL 11: MARI
KAPITEL 12: JANNA
KAPITEL 13: LUKE
KAPITEL 14: LUKE
KAPITEL 15: JANNA
KAPITEL 16: LUKE
KAPITEL 17: LUKE
KAPITEL 18: MARI
KAPITEL 19: LUKE
KAPITEL 20: PETER
KAPITEL 21: LUKE
KAPITEL 22: KYRA
KAPITEL 23: LUKE
KAPITEL 24: LUKE
KAPITEL 25: LUKE
KAPITEL 26: LUKE
KAPITEL 27: LUKE
KAPITEL 28: LUKE
KAPITEL 29: LUKE
KAPITEL 30: LUKE
KAPITEL 31: LUKE
KAPITEL 32: KYRA
KAPITEL 33: KYRA
KAPITEL 34: JANNA
Die Zeiger der Uhr bewegten sich unaufhaltsam vorwärts, so als würden sie einen Countdown zählen.
Fünfzehn Minuten, dann würde Lukas Millers Nachtschicht enden und sein Leben würde sich von Grund auf ändern.
Ersteres war ihm klar, da er genau gegenüber der grauen Uhr mit weißem Ziffernblatt stand. Eine Antiquität, die im Laufe der vergangenen Jahre nichts von ihrer Funktionalität eingebüßt hatte und wie ein Fremdkörper aus ihrer Umgebung inmitten von digitalen Ziffern und blinkenden Bildschirmen herausstach.
Von Letzterem bekam er eine Ahnung, als Frank Wenniger, Geschäftsinhaber des Pharmakonzerns Sanaris und somit Lukes oberster Vorgesetzter, mit ernstem Gesichtsausdruck und zielstrebigen Schritten direkt auf ihn zumarschierte.
Wenniger ließ sich so gut wie nie in diesem Teil des Gebäudes blicken und noch seltener sprach er dabei persönlich mit einem der Mitarbeiter. Die Hierarchien waren deutlich und Wenniger ließ bei seinen seltenen Besuchen keinen Zweifel daran, wer an der Spitze der Nahrungskette stand.
Luke war sich sicher, dass Wenniger ihn verwechselte, rechnete schon fest damit, dass der Anzugträger hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbeirauschen würde, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, doch er irrte sich.
»Lukas Miller?«
Es war weniger eine Frage, sondern vielmehr ein Befehl, so wie sein Gegenüber die Worte ausspuckte.
Lukes Blick huschte erneut zu der Wanduhr.
Vierzehn Minuten.
Die Uhr zählte weiter den Countdown, doch etwas sagte Luke, dass sie von jetzt an nicht mehr seinen Feierabend verkündete.
Wenniger starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen, und Luke erkannte, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.
Da er sich nicht sicher war, welche Reaktion sein Gegenüber am ehesten zufriedenstellen würde, nickte er nur stumm.
Wenniger nickte ebenfalls und hob mit einer auffordernden Bewegung seine Hand.
»Bitte kommen Sie mit.«
Das »Bitte« war nichts weiter als eine Floskel und machte deutlich, dass ihm keine Wahl blieb. Er schluckte und bemühte sich, ein unverfängliches Gesicht aufzusetzen. Sein Mund war trocken und er spürte ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen.
Mit weichen Knien setzte er sich in Bewegung und folgte Wenniger, der mit langen Schritten vorauslief, sodass das Klacken seiner Schuhsohlen hörbar über den Gang hallte.
Ein Kloß hatte sich in Lukes Hals gebildet, der mit jeder Sekunde größer wurde. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, dessen war er sich sicher. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er für diese Firma und hatte niemandem je einen Grund zur Klage geliefert. Was also sollte diese Aktion? Wenn sie ihn rauswerfen wollten, dann wäre nicht der wichtigste und meistbeschäftigte Mann des ganzen Konzerns persönlich auf ihn zugekommen. Er war sich nicht sicher, ob er deswegen beruhigt sein oder noch mehr Angst bekommen sollte.
Es musste etwas Ernstes sein, sehr ernst.
Während er neben Wenniger herlief, versuchte Luke, in dessen Gesichtsausdruck zu erkennen, was der hinter seinem plötzlichen Auftauchen steckte.
Doch Wenniger schaute wie eh und je mürrisch unter seinen struppigen grauen Augenbrauen hervor. Er sah weder nach links noch nach rechts und bahnte sich seinen Weg zielstrebig durch die Gänge des Gebäudes.
Luke bemühte sich, Schritt zu halten, ohne dabei zu rennen anzufangen.
Sein Atem hatte sich beschleunigt und das lag nicht nur an der Aufregung. Der grauhaarige Mann war zwanzig Jahre älter als er, doch seinen Bewegungen merkte man dies in keiner Sekunde an.
Als der Geschäftsführer abrupt vor dem Fahrstuhl anhielt, bemerkte Luke es zu spät und stieß gegen die Schulter, die Wenniger ihm zugewandt hatte. Der Mann stand starr wie eine Statue, Luke hingegen geriet leicht ins Taumeln.
»Verzeihung«, murmelte er, senkte den Blick und ärgerte sich in der gleichen Sekunde über seine Reaktion.
Reiß dich zusammen, mahnte er sich, du bist kein Schuljunge auf dem Weg zum Direktor.
Die Fahrstuhltür öffnete sich geräuschlos und sie traten in das Innere der Kabine.
Wenniger drückte die Zahl Sieben, drehte sich zur Tür und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
Luke verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu räuspern und gleichzeitig, dies um jeden Preis zu vermeiden. Er sah auf das Zahlenfeld des Fahrstuhls, um sich abzulenken. Die Eins leuchtet auf, die Zwei, die Drei …
Im siebten Stockwerk öffnete sich der Aufzug, Wenniger trat auf den Gang hinaus und Luke folgte ihm erneut. Dabei ließ er seinen Blick über die Türen schweifen, an denen sie vorbeikamen. Die meisten waren verschlossen, bei einigen wenigen waren auf Augenhöhe Schilder angebracht, die Luke aber nicht lesen konnte, ohne Gefahr zu laufen, den Anschluss an Wenniger zu verlieren.
Obwohl er seit fünfzehn Jahren bei Sanaris tätig war und beinahe täglich mehrere Stunden in diesem Gebäude verbrachte, war heute das erste Mal, dass er die oberste Etage des Firmenkomplexes betrat. Hier arbeitete die Elite, die wirklich wichtigen Leute.
Statt glänzender Maschinen, riesiger Lagerhallen und einem regen Durchgangsverkehr im Empfangsbereich, wie immer um diese Zeit, wenn seine Schicht zu Ende war, herrschte hier eine Stille, die ihm das Gefühl gab, sich durch ein Museum oder eine Kunstgalerie zu bewegen.
Sie bogen nach rechts ab und liefen einen langen Gang entlang, vorbei an verglasten Bürowänden, durch die Luke in schwarze Anzüge gekleidete Menschen entdeckte, die eifrig auf Tastaturen herumtippten. Einige trugen ein Headset und liefen mit wild gestikulierenden Armbewegungen in ihren Büros auf und ab.
Sämtliche Türen waren geschlossen und kein einziger Laut drang auf den Gang. Es war, als hätte jemand bei einem Fernseher den Ton ausgeschaltet.
Um ein Haar wäre Luke erneut in Wenniger gelaufen, da dieser unvermittelt vor einer großen Milchglastür anhielt.
Wenniger legte seinen Daumen auf ein Touchpad neben der Tür und diese fuhr mit einem leisen Sirren zur Seite.
»Nach Ihnen«, sagte er.
Luke betrat einen fensterlosen Raum, dessen Wände von Bildschirmen gesäumt waren. Sein mulmiges Gefühl schlug in große Sorge um. Alles, was hier drin geschah, würde nicht den Weg nach draußen finden.
Zwei Männer und eine Frau saßen an einem ovalen Besprechungstisch und sahen ihn mit ernsten Mienen an. Luke blieb mitten in der Tür stehen und rührte sich nicht, bis die Frau ihm bedeutete, auf einem der Stühle Platz zu nehmen.
Er ließ seinen Blick wie beiläufig über die drei Gesichter schweifen und versuchte nach wie vor, den Grund für seine Anwesenheit in diesem Raum herauszufinden.
Die Frau kannte er. Laura Irgendwas, die persönliche Assistentin von Wenniger. Schulterlange blonde Haare, eisblaue Augen, sehr jung, sehr hübsch.
Böse Zungen behaupteten, dass ihre Aufgaben über die einer reinen Bürotätigkeit hinausgingen. Angeblich benötigte Wenniger schon bei der morgendlichen Auswahl seiner Krawatte ihre Hilfe und auch in anderen Bereichen seines Lebens sei er nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen.
Luke wusste nicht, ob die Geschichte mit den Krawatten stimmte, aber Wenniger erweckte nicht den Eindruck, als wäre er jemand, der sich bei geschäftlichen Belangen reinreden lassen würde.
Er setzte sich und hoffte, dass niemand seine zitternden Knie bemerkte.
Drei Augenpaare richteten sich auf ihn und er begann, unter dem Tisch seine Hände zu kneten.
»Wasser?«
Sein Blick zuckte nach rechts. Laura lächelte ihn freundlich an, zumindest vermutete er, dass es freundlich sein sollte, denn der Ausdruck in ihren Augen wirkte aufrichtig. Sie hielt ihm eine kleine Flasche Wasser entgegen.
Obwohl sein Hals mit jedem Schritt, den er Wenniger gefolgt war, immer trockener geworden war, schüttelte er den Kopf. Mit Mühe bekam er ein »Nein, danke« zustande.
Laura stellte die Flasche weg und widmete sich wieder ihrem Tablet.
»Nun, Herr Miller«, setzte Wenniger an und ließ sich auf dem freien Stuhl zwischen den beiden Männern nieder, »ich will nicht lange drumherum reden, Zeit ist schließlich Geld, Ihres und auch meines.«
Ihres wohl mehr als meines, dachte Luke.
Einen der beiden Männer kannte er, Michael Gant, seinen direkten Vorgesetzten. Den anderen hatte er noch nie zuvor gesehen.
»Hab ich etwas falsch gemacht?«, stieß er hervor und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Jetzt wünschte er sich doch, die Wasserflasche genommen zu haben. Aber Laura hatte sie außerhalb seiner Reichweite auf den Tisch gestellt.
»Nein, Luke«, sagte Michael und lächelte, »im Gegenteil.«
Lukes verwirrte Miene ließ die Männer in lautes Lachen ausbrechen. Laura hob den Blick nicht von ihrem Tablet, aber das Schmunzeln, das sich in ihr Gesicht stahl, war dennoch deutlich zu erkennen.
»Herr Miller«, setzte Wenniger erneut an, »was ist Ihre Tätigkeit hier bei uns?«
Luke ließ seinen Blick von einem zum anderen schweifen. War das ein Trick? Sollte er diesen Männern erklären, was seine Aufgabe in dieser Firma war? Bei einer Position, die er seit fünfzehn Jahren schon innehatte?
Da keiner der drei Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, räusperte sich Luke nach einem kurzen Schweigen und sagte: »Ich bin der Nachtwächter.«
»Aber nicht irgendeiner«, ermunterte Michael ihn, als er nicht weitersprach.
»Ich bin der Nachtwächter«, nahm Luke den Faden wieder auf und zuckte zusammen, als einer seiner Finger, den er ohne Unterlass geknetet hatte, ein lautes Knacken von sich gab, »und zuständig für die technische Kontrolle der Sicherheitsvorkehrungen in diesem Unternehmen. Ich prüfe, ob alle Alarmanlagen korrekt geschaltet sind und ob sämtliche Türen fehlerfrei funktionieren.«
»Aus welchem Grund?«
Luke starrte Wenniger an. »Um zu verhindern, dass unbefugte Personen nachts dieses Gebäude betreten?«
Er hatte seine Antwort nicht wie eine Frage klingen lassen wollen, aber dieses Verhör, denn wie nichts anderes kam es ihm vor, wirkte von Sekunde zu Sekunde absurder auf ihn.
»Sie wissen, warum dieses Gebäude so wichtig ist?«
Der dritte Mann mischte sich in das Gespräch ein. Luke schätzte ihn auf Anfang bis Mitte vierzig. Seine grauen Augen musterten Luke so intensiv, dass er dem Blick nicht standhielt und wegsah.
Er kam sich langsam veralbert vor. Sie stellten ihm Fragen, von denen sie, und er, die Antwort kannten. Und das zu einem Zweck, den Luke noch immer nicht ergründen konnte.
»Weil in diesem Gebäude des Sanaris-Konzerns seit über zwanzig Jahren die einwandfreie Verpackung und Auslieferung der Vitamine gewährleistet wird«, sagte er und es klang wie ein Ausschnitt aus einer Werbebroschüre. Wahrscheinlich hatte er es von da aufgeschnappt.
Dabei hatte Sanaris es nicht einmal nötig, Werbung zu machen. Die Einnahme der Vitamine war staatlich verordnet. Jeder Einwohner Erimus bekam einmal im Monat eine Dose mit den kleinen Kapseln nach Hause geschickt. Die Kosten wurden automatisch vom Konto abgebucht, der Bestellvorgang für die nächste Dosis verlief ebenso automatisch. Vergessen war keine Ausrede. Für Luke gehörten sie zum täglichen Leben dazu, er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der er nicht täglich eine der Kapseln genommen hatte.
»Und Sie wissen, was diese Vitamine enthalten?«
Luke schwieg für einen Moment. Diese Frage hatte er befürchtet.
Selbstverständlich wusste er, was die Vitamine enthielten. Durch seinen Job war er verpflichtet, mehrmals pro Schicht durch viele Abteilungen zu laufen, dort die Sicherheitsvorkehrungen zu überwachen und zu überprüfen und verschiedene Datenbanken auf Schwachstellen zu untersuchen.
Jeder, der länger hier arbeitete, schnappte immer mal wieder einzelne Informationen auf und mit der Zeit war es ein Leichtes, sich diese zu einer Antwort zusammenzureimen.
Und alle waren sich im Klaren, dass sie darüber auf keinen Fall ein Wort verlieren durften, wenn ihnen der Erhalt ihres Arbeitsplatzes wichtig war.
Es arbeiteten nur etwa fünfzig Leute in dem riesigen Komplex und jeder trug sein Wissen wie ein offenes Geheimnis mit sich herum.
Sie verbrachten ihre Mittagspausen miteinander, trafen sich vor der Tür auf eine Zigarette, teilten sich mitunter sogar einen gemeinsamen Arbeitsweg. Dabei wurde geredet, nur nie über das, was jeder wusste, offiziell aber keiner wissen durfte.
»Nun?« Der Mann hatte eine Augenbraue gehoben.
Luke sah von Wenniger zu Michael und knetete weiter seine Hände. Beide nickten auffordernd. Ein kleiner Seitenblick zu Laura verriet ihm, dass sie nach wie vor in ihr Tablet vertieft war. Oder zumindest so tat.
Es half nichts, ohne eine Antwort würden sie ihn hier nicht rauslassen.
Er atmete einmal tief durch. »Die Vitamine sind keine Vitamine.«
Er stockte und ließ erneut seinen Blick von einem zum anderen gleiten. Keiner der Anwesenden zuckte zusammen oder versuchte, ihn zu unterbrechen, Laura löste nicht einmal für eine Sekunde ihre Augen vom Tablet. Kurz fragte Luke sich, was sie da so eifrig tippte. Ob sie seine Mitarbeiterakte um eine weitere Information ergänzte? Nämlich die, dass er hinter das Geheimnis der Vitaminkapseln gekommen war?
Ein offenes Geheimnis, niemand war überrascht.
Der Mann mit den grauen Augen lächelte, wie ein Lehrer, dessen Spitzenschüler eine besonders kluge Antwort gegeben hatte. »Sondern?«
»Eine Impfung«, sagte Luke und fügte dann, weil ihn weiter alle auffordernd ansahen, nach einer kurzen Pause hinzu: »Eine Schluckimpfung.«
»Sehr gut«, lobte der Mann überschwänglich und sein Lächeln wurde immer breiter. Luke kam sich erneut wie ein Schuljunge vor. Nur war er sich nicht sicher, ob er eine Bestnote bekommen oder der Schule verwiesen werden würde.
»Warum«, fragte Wenniger, lehnte sich leicht nach vorn und verschränkte die Finger ineinander, »verpacken und verschicken wir Tag für Tag Tausende Päckchen mit kleinen Kapseln und geben vor, es wären Vitaminpräparate?«
Diese Frage hatte Luke sich in der Vergangenheit oft gestellt. Allerdings hatte er nie damit gerechnet, sie eines Tages beantworten zu müssen.
»Weil die –«, er zögerte kurz und räusperte sich, bevor er erneut ansetzte, »weil die Einnahme der Vitamine verpflichtend für jeden Einwohner von Erimus ist. Eine harmlose Kapsel mit verschiedenen Vitaminen, die wir auch aus unserer täglichen Nahrung kennen, wird von der Bevölkerung eher akzeptiert als eine tägliche Impfdosis, deren Zweck man nicht kennt.«
Diese Antwort ließ sich keinem Prospekt finden. Er hatte einfach geraten.
Die drei Männer nickten synchron wie eine Gruppe Wackeldackel und Luke musste sich trotz aller Aufregung ein Grinsen verkneifen.
»Luke, weswegen wir hier sind«, sagte Michael, nachdem die Wackeldackel wieder stillhielten, »wir möchten dir einen Job anbieten.«
Luke riss verblüfft die Augen auf. Seit Wenniger auf ihn zugekommen war, hatte er mit allem gerechnet, nur nicht mit der Aussicht auf einen neuen Job.
»Was?«
Vermutlich wäre eine andere Reaktion richtiger gewesen, doch in diesem Moment war das alles, was er hervorbrachte.
»Du arbeitest seit fünfzehn Jahren hier. Das ist eine lange Zeit, länger als die meisten unserer Angestellten hier überhaupt verbracht haben. Und in diesen Jahren hast du dich als genau der Mitarbeiter gezeigt, den wir hier brauchen: immer zuverlässig, immer loyal und vor allem immer schweigsam.«
Wenniger schaltete sich ein: »Herr Miller, Sie haben mit Ihrem Daumen die Zugangsberechtigungen für sämtliche Räume in den unteren Stockwerken. Ihre rechte Hand ist sozusagen ein Universalschlüssel. Sie könnten jeden einzelnen Raum betreten und verlassen, wann und wie es Ihnen passt, und Sie könnten sich, wenn Sie wollten, durch sämtliche Unterlagen wälzen.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, die wirklich wichtigen Dokumente waren ausschließlich im Bürotrakt zu finden. Aber Luke sagte nichts, denn er wollte Wenniger nicht unterbrechen und seinen Redefluss stoppen. Zu groß war seine Neugier inzwischen geworden.
»Sie könnten ihr Wissen sofort nach außen tragen und eine große Unsicherheit in die Bevölkerung bringen. Aber das tun Sie nicht. Sie haben nicht einmal aktiv nach weiteren Informationen gesucht und das kann ich leider nicht von allen behaupten.«
Seine Augen richteten sich auf Laura, die ihre Schultern hochzog und sich tiefer über ihr Tablet beugte.
»Kurzum, und das zeigen mir auch die Bilder der Überwachungskameras, Sie machen Ihren Job, und zwar nur den und das ist genau das, was wir wollen.«
Lukes Verwirrung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Mit gerunzelter Stirn ließ er seinen Blick durch die Runde wandern.
»Haben Sie nicht gerade gesagt, Sie wollen mir einen anderen Job geben?«
Der Mann mit den grauen Augen beugte sich vor.
»Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, mich vorzustellen. Mein Name ist Dr. Peter Jonas, ich bin einer der führenden Projektleiter bei Sanaris und mit meinem Team verantwortlich für die Produktion und stetige Weiterentwicklung der Vitamine.«
Luke nickte. Dies war ebenfalls ein offenes Geheimnis. Der Pharmakonzern Sanaris verpackte und lieferte zwar überall in Erimus seine Vitamine aus, das Hauptlabor und ein Großteil der Produktion waren aber irgendwo hier, innerhalb der Grenzen des 5. Sektors. Wo genau, das hatte Luke nie mitbekommen und niemand, den er kannte, wusste davon. Und es war gut, dass es dabei blieb, denn manche Geheimnisse durften nicht einmal die eigenen Mitarbeiter des Konzerns erfahren, wenn sie nicht direkt im Labor angestellt waren. Es war eines der bestgehüteten in Erimus und das schon seit Jahren.
»Für unser Labor«, fuhr Dr. Jonas fort, »brauchen wir zum schnellstmöglichen Zeitpunkt einen Nachtwächter. Einen, der sehr verschwiegen ist und der – nun ja – seine Nase nicht in Angelegenheiten steckt, die ihn nichts angehen.«
Er lächelte wieder, doch das Lächeln erreichte seine grauen Augen nicht. Sein Blick bohrte sich, ohne ein Blinzeln, in Lukes. Diesem gelang es nur mit großer Mühe, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten.
Seine Gedanken wirbelten im Kopf herum, und auch wenn Dr. Jonas gleich auf den Punkt gekommen war, verstand Luke immer noch nicht, was sich hier abspielte. Das Labor umgab eine Art Mythos, es war die wichtigste Institution des gesamten Konzerns. Und nun boten sie ihm, einem einfachen Nachtwächter, an, in die tiefsten Geheimnisse von Sanaris Einblick zu erhalten?
»Hat das Labor denn noch keinen Nachtwächter? Ich meine, wenn man die Bedeutung …«
»Wir hatten einen«, unterbrach ihn Dr. Jonas, »eine engagierte junge Frau. Aber leider … Sie wissen ja, wie das ist, Frauen und Geheimnisse.«
Er lachte und schaute zu Wenniger und Michael, als wollte er sich vergewissern, dass seine Bemerkung Zuspruch fand. Michael grinste nur leicht und hielt den Blick gesenkt, doch Wenniger grölte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Sie sagen es. Wenn ich nicht wüsste, dass Frau Sonner vierundzwanzig Stunden täglich damit beschäftigt ist, für mich zu arbeiten, müsste ich auch befürchten, dass sie bei einem Kaffeeklatsch alles ausplaudert.«
Laura beugte sich noch ein wenig tiefer über ihr Tablet, als wollte sie am liebsten durch das Display hineinfallen.
Luke sah unauffällig auf die Uhr. Seit einer halben Stunde saß er bereits in diesem Besprechungsraum und bisher hatten sich für ihn mehr Fragen aufgetan, als er Antworten erhalten hatte. Sie hatten von dem Job im Labor gesprochen, aber nichts Konkretes verlauten lassen. Ihn nicht einmal nach seiner Meinung gefragt.
Wollten sie ihn testen? Prüfen, ob er doch gewillt war, gegen eine kleine Finanzspritze etwas auszuplaudern?
Nein, so blöd war er nicht. Und so blöd, dies zu glauben, waren die anderen Männer auch nicht.
In seinen fünfzehn Jahren bei Sanaris hatte er viele Kollegen kommen und fast genauso viele wieder gehen sehen. Mit jedem von ihnen war der Kontakt abgebrochen. Immer hatte es geheißen, dass sie in einen anderen Sektor gezogen waren. Neue Arbeit, neues Leben. Er glaubte es. Musste es glauben.
Aber warum dann diese Funkstille? Kein Anruf, keine Mail. Es war, als wären sie allesamt in den einzigen Sektor ohne jeglichen Empfang versetzt worden, welcher auch immer das sein mochte.
Wenniger hatte Recht, er machte seinen Job und nichts weiter.
Das lag allerdings nicht daran, dass er nicht von Neugier getrieben war und keinerlei Interesse an dem hatte, was um ihn herum vorging. Der Grund war um einiges banaler: Er wollte, dass alles so blieb, wie es war. Er wollte seine Miete zahlen können, seine Steuern, die Versicherungen und die Lebensmittel in seinem Kühlschrank. Es war ein kleiner Luxus, den er sich gönnte, ab und zu Mari ins Restaurant auszuführen, ein Besuch im Kino, ein kurzer Wellness-Urlaub. Normale Sachen in einem normalen Alltag.
Und du willst das Baby nicht gefährden.
Maris Stimme. So klar und deutlich, als säße sie direkt neben ihm.
Er fuhr sich kurz mit beiden Händen über den Kopf, tat, als müsste er ein paar Haarsträhnen aus der Stirn streichen, um sie aus seinen Gedanken zu verbannen.
»Wir wollen Sie«, sagte Dr. Jonas und lehnte sich zurück, als wäre das ganze Thema für ihn schon beschlossene Sache.
»Und zwar explizit Sie. In unserem Labor forschen wir an verbesserten Ausführungen der Vitamine, wir gewinnen die Inhaltsstoffe, wir testen ihre Wirksamkeit. Selbstverständlich alles unter absoluter Geheimhaltung.«
Dr. Jonas hob in einer entschuldigenden Geste beide Handflächen nach oben.
»Ich will Sie nicht belügen. Wir beobachten Sie schon eine ganze Weile und wir sind uns sicher, dass wir Ihnen vertrauen können.«
Lukes Herzschlag beschleunigte sich und er hoffte inständig, dass man seinem Gesicht nicht ansah, wie es sich anfühlte. Heiß, rot, förmlich leuchtend. Dabei hatte er nicht einmal einen Grund dafür. Er verrichtete seine Arbeit gewissenhaft und es gab nichts, was seine jetzige Reaktion gerechtfertigt hätte.
»Was bedeutet eine ganze Weile?«, fragte er vorsichtig, weil keiner der Männer etwas sagte.
Er war sich darüber im Klaren, dass im gesamten Gebäude Überwachungskameras verteilt waren, bis jetzt war ihm aber nie der Gedanke gekommen, dass diese dazu benutzt wurden, ihn gezielt bei der Arbeit zu beobachten.
Wenniger ergriff wieder das Wort: »Lange genug, um zu wissen, dass Sie auf Ihre Bewerbung bisher noch keine Antwort erhalten haben. Lange genug, um zu wissen, dass Ihre zauberhafte Frau tagtäglich ein kleines bisschen mehr in sich selbst verschwindet. Lange genug, um zu wissen, dass wir Ihren größten Wunsch erfüllen könnten und damit gleichzeitig ein Druckmittel haben, um Sie nicht zu verlieren.«
Luke wurde schwindelig.
Überwachung, Druckmittel, Maris Verhalten. Was ging hier vor?
Alles in ihm drängte danach, wegzulaufen, von seinem Stuhl aufzuspringen und sich von hier fort und in Sicherheit zu bringen. Dafür zu sorgen, dass er sein normales Leben weiterleben konnte.
Er wollte nicht hören, was als Nächstes kam, und doch wusste er, dass er keine andere Wahl hatte.
Sie würden ihm keine lassen. Mari würde ihm keine lassen.
Er sackte leicht nach vorne.
Auf Wennigers Gesicht breitete sich ein gewinnendes Grinsen aus, so als wüsste er, dass er Luke jetzt da hatte, wo er ihn haben wollte.
»Sie fangen bei Dr. Jonas im Labor die Stelle als Nachtwächter an und das bereits morgen. Sie werden nichts von dem, was Sie dort zu Gesicht bekommen, jemals jemandem erzählen, nicht einmal Ihrer wunderschönen Frau. Wenn Sie die Stelle antreten, werde ich dafür sorgen, dass Ihre Bewerbung den Weg von ganz unten im Stapel«, er hob seine flache Hand von der Tischplatte ab, »nach ganz oben findet.«
Lukes Herz schlug wie wild.
Das Baby.
»Wenn wir jedoch herausfinden, dass etwas das Labor verlassen hat, was draußen nichts zu suchen hat, und damit meine ich nicht nur Informationen …«
Seine Hand knallte zurück auf den Tisch und alle im Raum zuckten zusammen. Michael lächelte nervös und Laura konnte gerade noch rechtzeitig ihr Tablet festhalten, das ihr zu entgleiten drohte.
Luke schluckte. Er brauchte nicht viel Fantasie, um zu erraten, was damit gemeint war.
Laura erhob sich von ihrem Stuhl und legte das Tablet vor Luke auf den Tisch.
»Wenn Sie dann bitte hier unterschreiben würden.«
Habe ich zu viel versprochen?« Frank Wenniger lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wenige Augenblicke, nachdem alle Details geklärt waren und ein deutlich verwirrter Lukas Miller den Raum verlassen hatte.
Peter breitete die Arme aus und lächelte die beiden Männer, die mit ihm am Tisch sitzen geblieben waren, an.
»Er ist genau der Richtige. Warum nur geben Sie ihn her?«
Michael Gant, der ihm nur wenige Minuten vor dem Gespräch als Millers Vorgesetzter vorgestellt worden war, gab ein Schnauben von sich.
»Wenn es nach mir ginge, würde Luke bis zu seiner Rente hierbleiben.«
»Aber es geht nicht nach Ihnen«, entgegnete Wenniger in einem Tonfall, der die Raumtemperatur um einige Grad sinken ließ. »Ich habe Herrn Miller immer als äußerst loyal und verschwiegen erlebt und gerade deshalb ist es wichtig, dass wir ihn versetzen. Ein weiteres …«, er hielt inne und fixierte Peter mit seinen Blicken, »Malheur darf nicht passieren.«
Peter merkte, wie ihm sein Lächeln im Gesicht gefror. Er begann zu schwitzen und konzentrierte sich darauf, weiterhin ruhig und entspannt zu arbeiten. Dabei waren Wennigers Worte äußerst wohlwollend gewählt.
Das sogenannte Malheur war in Wirklichkeit einer Katastrophe gleichgekommen und ihn traf eine nicht unerhebliche Schuld an der Misere. Er hatte die Nachtwächterin ausgesucht, hatte sich von ihrem charmanten Wesen und ihrer freundlichen und zurückhaltenden Art einnehmen lassen. Fast zwei Jahre lang hatte sie ihn eingelullt, nur um ihm dann in den Rücken zu fallen.
Es war dem bloßen Zufall geschuldet, dass sie keinen größeren Schaden angerichtet hatte.
»Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach er mit zusammengepressten Zähnen.
»Das rate ich Ihnen«, sagte Wenniger und Peter bemerkte aus den Augenwinkeln Michael Gant, der sich in diesem Moment vermutlich sehr weit wegwünschte.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gewillt sind, auf einen Ihrer fähigsten Mitarbeiter zu verzichten.« Selbst in seinen eigenen Ohren klangen diese Worte aufgesetzt, aber Wenniger tat so, als würde er es nicht bemerken.
Der Geschäftsführer erhob sich. »Sehen Sie zu, dass er so schnell wie möglich vollständig eingesetzt werden kann.«
Peter nickte.
»Selbstredend. Inzwischen wird ihm Derr …«
»Ich habe es schon einmal erwähnt«, unterbrach ihn Wenniger, »aber ich tue es gern noch einmal. Ich wünsche nicht, dass Ihr Techniker zu viel Zeit in den verschiedenen Teilen des Labors verbringt.«
»Er ist mein fähigster Mitarbeiter«, verteidigte sich Peter und registrierte verärgert, dass seine Stimme lauter klang, als er es beabsichtigt hatte.
»Genau aus diesem Grund. Für das Unternehmen ist es von Vorteil, wenn so wenige Menschen wie möglich auf alle Bereiche Zugriff haben. Ihr Techniker soll sich um …« Wenniger wedelte mit den Armen in der Luft, »Computer-Updates und Firewalls kümmern. Ich möchte nicht, dass er im Labor herumstreunt, als wäre es sein Zuhause. Wir haben unsere Fachkräfte und diese werden nur ihres Fachbereichs entsprechend eingesetzt. Vergessen Sie das nicht, andernfalls wäre ich gewillt, Ihnen das Budget für Ihr Projekt zu kürzen.«
Als Wenniger an ihm vorbeiging und vor ihm den Besprechungsraum verließ, nutzte Peter die Gelegenheit, um seine vom Lächeln verkrampften Mundwinkel nach unten zu verziehen.
Dämlicher alter Sack, dachte er, das Projekt hat dir in den vergangenen Jahren mehr Geld eingebracht, als du jemals wirst ausgeben können.
Er hasste es, vor dem mächtigsten Mann des Konzerns zu buckeln. Aber auch wenn Wenniger es vermutlich nicht wagen würde, ihm das Projekt zu entziehen – zu viel stand auch für ihn auf dem Spiel – so vermochte er es durchaus fertigzubringen, ihn in seinem Spielraum einzuschränken. Und das wollte er auf keinen Fall riskieren.
Er hatte sein Vertrauen bereits aufs Äußerste ausgereizt, als er einer jungen Frau namens Kyra Andersson gestattet hatte, trotz ihrer Unerfahrenheit eine Stelle beim wichtigsten Arbeitgeber des ganzen Staates anzutreten. Der Gedanke daran, dass er sich von ihr hatte einlullen lassen, trieb seinen Puls in die Höhe. Er dachte, er hätte damit abgeschlossen, doch dieser größte Fehler seiner bisherigen Karriere würde ihn womöglich noch bis zur Rente verfolgen.
Sein einziger Trost war, dass Kyra nicht nur sein Leben beinahe vollständig ruiniert hatte, sondern ihr eigenes gleich mit. Wo auch immer sie jetzt ihr Dasein fristete, er hoffte, es ging ihr schlecht.
Er zwang sich, sich wieder zu entspannen und seine Gedanken auf wichtigere Dinge zu lenken. Gut, er durfte keine personellen Entscheidungen mehr treffen. Diese Hoheit war ihm entzogen worden. Jeder, der das Labor zukünftig betrat, wurde eigens von Sanaris auf Herz und Nieren geprüft. Aber das war nicht weiter schlimm, solange nur das Projekt nicht gefährdet würde. Das Projekt, das zunächst jahrelang in seinen Gedanken gekreist hatte, nur um dann endlich zu einer Realität zu werden, deren Erfolg er sich so nie hätte träumen lassen.
Er würde auf keinen Fall zulassen, dass irgendein anderer Stümper seinen Platz einnahm. Studierte Virologen gab es viele, das hatten die Umstände der Vergangenheit mit sich gebracht. Aber er war der Beste auf diesem Gebiet. Der Ehrgeizigste. Er hatte das Projekt ins Rollen gebracht, hatte in heimlichen Forschungen und Überstunden das zustande gebracht, was dem Pharmaunternehmen Sanaris jetzt Geld und Erfolg zukommen ließ.
Er lockerte seine angespannten Schultern und bemerkte, dass Gant ihm die Hand hinhielt. Wie lange er dort schon stand, vermochte er nicht zu sagen, aber der Mann ließ sich nichts anmerken.
»Hat mich gefreut«, sagte er nur und Peter ergriff die ihm dargebotene Hand. »Vergraulen Sie ihn nicht.«
Er erwiderte die Mahnung mit einem Lächeln. Dieses Mal war es ein ehrliches.
»Keine Sorge«, sagte er. »Wenn er sich erst einmal mit den Gepflogenheiten unseres Labors auseinandergesetzt hat, wird er so schnell nicht wieder wegwollen.«
Dafür würde er sorgen. Sein Projekt hatte schon einigen Mitmenschen den Mund offen stehen lassen. Aber es gab immer Mittel und Wege, sie auf seine Seite zu ziehen. Oder wenigstens dafür Sorge zu tragen, dass sie für ihn so taten.
Denn eines hatte er schon früh gelernt: Jeder Mensch war käuflich. Zu seinem Bedauern nahm er sich da nicht von aus.
Und was noch wichtiger war: Nicht jeder Preis, der gezahlt werden musste, bestand aus Geld.
Wie ferngesteuert setzte Luke einen Fuß vor den anderen, passte sich in Rhythmus und Tempo den anderen Fußgängern an und ließ sein Unterbewusstsein den Weg nach Hause steuern.
Die Stadt um ihn herum erwachte zum Leben, während sein Arbeitstag für heute beendet war. Die Sonne stieg höher, die Straßen und Bürgersteige füllten sich mit Menschen und die Stille der Nacht hob sich wie ein Vorhang und gab einer emsig murmelnden und surrenden Geräuschkulisse den Vortritt.
Als er die Stelle bei Sanaris angetreten hatte, war er, wie die meisten seiner Mitmenschen, täglich mit dem Bus gefahren. Er hatte sich mit müdem Gesicht zwischen andere müde Gesichter gequetscht, viele von ihnen waren auf dem Weg zur Arbeit, einige wenige, so wie er, auf dem Heimweg gewesen.
Eine immergleiche Tristesse, deren schaler Geschmack sich auf die Atemluft im Inneren des Busses niedergeschlagen zu haben schien.
Die Luft war dick gewesen, hatte träge über ihnen gehangen und nur gelegentlich war etwas unverbrauchter Sauerstoff hineingeströmt, wenn ein paar der müden Gesichter an einer Haltestelle gegen einen neuen Schwung müder Gesichter getauscht worden waren.
Luke hatte schnell eingesehen, dass die kurze Busfahrt ihm zwar eine große Zeitersparnis einbrachte, der längere Spaziergang vor und nach Ende jeder Schicht ihm hingegen eine andere Form von Zeit schenkte: Zeit für sich. Zeit zum Nachdenken.
Und genau die brauchte er jetzt. Er atmete tief die unverbrauchte Morgenluft ein und setzte seinen Weg fort. Langsam und mit bedächtigen Schritten, als fürchtete er sich vor dem, was ihn zu Hause erwarten würde.
Zu Hause bei Mari, mit einer Neuigkeit, die ihrer beider Leben für immer auf den Kopf stellen würde. Er hätte sich freuen sollen, denn sie würde es sicher tun. Und doch hatte sich etwas in ihm breitgemacht, ein Gefühl, das er nicht näher bestimmen konnte.
Der Fußmarsch erschien ihm heute um ein Vielfaches kürzer, und als er vor der Eingangstür des mehrstöckigen, eckigen Flachdach-Hauses stand, in dem er mit Mari eine Dreizimmerwohnung bewohnte, hatte er keinerlei Erinnerung daran, wie er überhaupt nach Hause gekommen war. Das Gebäude ragte fast schon erwartungsvoll vor ihm auf und selbst der sonnengelbe Anstrich half nicht, wie sonst immer, Lukes Stimmung zu heben.
Per Fingerscan öffnete er die Haustür und lief das Treppenhaus zu seiner Wohnung hinauf. Die geöffneten Glastüren des Fahrstuhls ignorierte er. Eine weitere Zeitersparnis, die ihm dem Unvermeidlichen nur schneller näher bringen würde.
Ein weiterer Fingerscan und die Wohnungstür öffnete sich mit einem leisen Summen.
Wie jeden Morgen empfing ihn der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und leicht angebranntem Toast.
Mari bereitete sich auf ihren Tag vor.
Er straffte seine Schultern und reckte sein Kinn. Gleichzeitig ärgerte er sich über sein Verhalten. Es waren gute Neuigkeiten. Und er würde gleich seiner Frau gegenüberstehen. Nicht Wenniger.
Er betrat die Küche und fand Mari so vor, wie sie ihn immer erwartete, wenn sein Tag endete und ihrer begann.
In der einen Hand einen Kaffeebecher, in der anderen eine Scheibe Toast, dessen verbrannte Stellen sie mit extra dicken Schichten Marmelade zu kaschieren versuchte. Heute schien es gut gelaufen zu sein. Wenig Marmelade und der verkohlte Geruch, der häufig in der Luft hing, war schwächer als üblich.
Maris glatte hellbraune Haare fielen ihr offen auf die Schultern und das Sonnenlicht, das sich einen Weg durch das geöffnete Küchenfenster bahnte, erhellte ihr leicht gebräuntes Gesicht.
Sie hatte frisch geduscht und dunkle feuchte Haarsträhnen klebten ihr am Nacken. Der Geruch ihres Shampoos verschmolz mit dem der Marmelade.
Einen Fuß auf den Boden gestellt, den anderen hinter sich abgestützt, lehnte sie an der Wand. Sie frühstückte nie im Sitzen.
»Du bist spät«, sagte sie, nachdem sie ihn bemerkt hatte, und drückte ihm einen Becher Kaffee in die Hand.
Er lehnte sich neben sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Mir wurde ein Job angeboten«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee. Mari hob die Augenbrauen, erwiderte jedoch nichts. Ihre dunkelbraunen Augen ruhten auf ihm, doch der fehlende Ausdruck in ihnen zeigte, dass sie mit den Gedanken woanders war. Sie hörte ihm zu, nahm aber nicht wahr, was er sagte.
Er versuchte es trotzdem.
»Bei Sanaris – im Labor. Sie werden mir einen Wagen zur Verfügung stellen, der Weg ist etwas weiter als jetzt. Aber die Bezahlung ist besser, wir könnten vielleicht mal wieder in den Urlaub fahren.«
»Vielleicht.«
Mari senkte den Blick und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Inhalt der Kaffeetasse. Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort, dann holte Mari tief Luft.
»Mona ist angerufen worden. Sie ist in der Warteliste hochgerutscht. Soll sich bereithalten, falls jemand abspringt.« Sie lachte freudlos auf. »Warum sollte jemand so etwas tun wollen?«
»Für uns würde sich kaum etwas ändern, gleiche Arbeitszeit. Nur der etwas längere Weg«, versuchte Luke es erneut, obwohl er wusste, was seine Frau beschäftigte. Aber er konnte dieses Thema jetzt nicht aufgreifen. Nicht schon wieder. »Und die bessere Bezahlung«, schloss er daher. »Das ist alles.«
Das war nicht alles, doch jetzt, wo er vor Mari stand, fiel es ihm schwer, diese Bombe platzen zu lassen. Nicht, bevor er sicher war, dass Wenniger die Wahrheit gesagt hatte.
»Mona ist erst zweiunddreißig«, sagte Mari, legte ihren angebissenen Toast zur Seite und strich sich die nassen Haare aus der Stirn.
»Drei Jahre jünger als wir.« Sie schrie die Zahl fast heraus. »Wir haben es verdient, wir warten schon so lange. Die Tests verliefen gut. Sie haben gesagt, dass wir alles mitbringen. Warum also sie?«
Sie blinzelte energisch gegen die Tränen an und Luke stand nur da und sah sie an. Tröstende Worte, eine Umarmung, ein Kuss – über diesen Punkt waren sie schon lange hinweg. Es gab nichts mehr, was den Schmerz lindern konnte.
Luke kannte die Antwort auf Maris Frage, selbst wenn es eine war, auf die sie keine Antwort erwartete.
Mehr noch, nicht hören wollte.
Monas Mann war Unternehmensberater und kein Nachtwächter. Mona war Zahnärztin und keine Verkäuferin. Und das waren nur zwei der Gründe, warum ein Paar in der Lage war, auf der Warteliste aufzurücken, während andere gezwungen waren, sich immer wieder hintenanzustellen.
»Vielleicht kommt der Anruf ja noch«, versuchte Luke, sie aufzumuntern, aber seine Worte waren so leer, wie sie klangen. Der Drang, es ihr zu erzählen, wurde mit jeder weiteren Minute, die sie hier standen, stärker.
Er konnte es nicht. Nicht, bevor er sich sicher war, andernfalls würde es sie endgültig zerstören.
Mari drängte sich an ihm vorbei.
»Ich muss los. Glückwunsch zur Beförderung.«
Nachdem sie gegangen war, schälte Luke sich aus einer Kleidung, reckte seinen schmerzenden Rücken und betrat das Badezimmer. Er hatte gehofft, dass die Anspannung von ihm abfallen würde, wenn er erst einmal zu Hause wäre, doch das war nicht der Fall.
Lange stand er unter der Dusche, und erst als er das Gefühl hatte, das heiße Wasser würde ihm die gekochte Haut vom Leib schälen, trocknete er sich ab. Dann schlurfte er ins Schlafzimmer und fiel der Länge nach in das breite Boxspringbett.
Er hatte damit gerechnet, noch lange wach zu liegen, doch als sein Kopf das Kissen berührte und er die Augen schloss, umfing ihn eine fast schon dankbare Müdigkeit und er schlief ein.
Er erwachte aus einem tiefen traumlosen Schlaf, als sich ein warmer weicher Körper an ihn schmiegte.
»Hi.«
Blinzelnd öffnete er die Augen und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Mari lächelte ihn an. Sie sah müde aus, doch sie hatte sich wieder gefangen. Fürs Erste waren die dunklen Schatten aus ihrem Blick verschwunden.
Er lächelte zurück und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nase.
»Wie war es im Geschäft?«
Sie hielt einen verbundenen Finger hoch und setzte eine gekünstelt wehleidige Miene auf.
»Einer der Kunden hat beim Abfüllen der Nudeln sein Glas fallen lassen. Die Scherben waren überall.«
Luke setzte sich im Bett auf und schnupperte.
»Wo wir gerade von Nudeln sprechen …«
Mari zog ihn hoch und hinter sich her in die Küche.
»Pasta Pomodoro. Und ein schöner Rotwein, um deinen neuen Job zu feiern.«
Luke gähnte herzhaft und rieb sich seinen knurrenden Magen. Mari kochte gern. Nicht besonders gut, aber er war ohne etwas zu essen ins Bett gefallen und so hungrig, dass er bereit war, jedes Küchenexperiment bis auf den letzten Krümel aufzuessen.
Dann holte die Realität ihn ein, als sich seine Müdigkeit wie ein Schleier hob und die Erinnerung an den Morgen sich wieder in seinem Kopf breitmachte und von dort wie zäher Schleim in seinen Magen floss.
Das Hungergefühl verschwand augenblicklich.
Für einen kurzen Moment hatte er sich der Illusion hingegeben, es sei alles wie immer. Doch jetzt waren sie wieder da, die Gedanken, die ihn nicht entscheiden ließen, ob er Freude oder Angst empfinden sollte.