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War Thomas Manns Meinung gegenüber Frankreich unmittelbar nach Kriegsende noch ganz von einer subjektiven, ideologisch geprägten Ablehnung bestimmt, so hatte sie sich bereits gewandelt, als er im Dezember 1921 diesen Text verfasste. Er reagierte damit auf eine Diskussion um die humanistisch-pazifistische Clarté-Gruppe, die den sogenannten »Zivilisationsliteraten« nahestand. Trotz einer Weiterentwicklung zeigt sich Mann hier stellenweise auch noch in Einklang mit den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), die er zu jener Zeit im Zusammenhang mit einer geplanten Neuauflage noch einmal las. Wie die vorangegangenen Beiträge zu der Diskussion (unter anderem von André Gide) wurde auch dieser Beitrag im Neuen Merkur, in der Januarausgabe 1922, veröffentlicht und anschließend auszugsweise auch in anderen Zeitschriften.
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Seitenzahl: 36
Thomas Mann
Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Eben legte ich das Oktoberheft des »Neuen Merkur« mit André Gide’s bewunderungswürdiger Vorrede zu Stendhal’s »Armance« aus der Hand (– bewunderungswürdig: mein Gott, ich will nicht hoffen, daß diese Äußerung literarischen Entzückens als Taktlosigkeit und ungeschlachte main tendue »sans rancune« gedeutet werden kann!) – da lief die November-Ausgabe der »Nouvelle Revue Française« bei mir ein, die desselben französischen Schriftstellers Bemerkungen über »Les rapports intellectuels entre la France et l’Allemagne« enthält, diese Bemerkungen, zu denen der Aufsatz von Ernst Robert Curtius »Deutsch-französische Kulturprobleme« im Juni-Heft Ihrer Zeitschrift Anlaß gab, und die sich an längere Auszüge aus diesem Aufsatz knüpfen. Da ich aber selten etwas gelesen hatte, was in höherem Grade nach meinem Herzen gewesen wäre, als der Artikel des Marburger Professors, so mußten die deutsch-französischen Beziehungen mir glänzend scheinen in dem Augenblick, da ich von André Gide erfuhr, er habe diese Befriedigung geteilt.
»C’est donc avec une extrême satisfaction«, sagt er, »que j’ai pu lire dans cet article de Curtius les lignes suivantes«. Und dann übersetzt er, mit sichtlichem Genuß, jene Abschnitte des deutschen Aufsatzes, die eine Kritik der französischen Gruppe geben, mit der während des Krieges und nachher manche von uns, zurückgestoßen durch die geistigen Äußerungen des französischen Nationalismus, Verbindung gesucht hätten: der Gruppe »Clarté«. Curtius spricht dort von der Programmschrift dieser Vereinigung, dem Buche »La lueur dans l’abîme« des Henri Barbusse. Er lobt den ersten, analytischen Teil dieses {446}Manifestes, »weil hier eines der ganz wenigen Dokumente vorliege, in welchen aus der französischen Situation heraus jenes apokalyptische Bewußtsein von einer Weltwende hervorbräche, das unser deutsches Denken beherrsche, und ohne dessen Vorhandensein eine die zentralen Dinge betreffende deutsch-französische Aussprache unmöglich sei.« Mit verstärkter Entschiedenheit aber lehnt er den zweiten Teil des Buches ab, den konstruktiven, mit seiner gestikulierenden Überschrift »La révolte de la raison«, seinem naiven und abstrakten Vernunft-Doktrinarismus, seiner »Gleichheitsregel«, seinen Aufklärungen darüber, daß das Vaterlandsideal durch das Menschheitsideal, der Nationalismus durch den Internationalismus zu ersetzen sei – u.s.f. –, diesen ganzen abgeschmackten Freidenker-Codex, den Curtius nicht zögert als das zu kennzeichnen, was er ist: als »die letzte, ärmlichste Form des modernen Bourgeois-Geistes, seines Welterfassungsschemas und seines Wertungssystems; eine extreme, völlig blutleer gewordene Schematisierung der Aufklärungs-Ideologien des 18. und 19. Jahrhunderts.«
Er zeigt es als die Paradoxie der Clarté-Bewegung auf, daß sie diese Denkformen einer zu Ende gehenden Welt – Denkformen, fremd dem »lebendigen Wertempfinden, das der Geist in sich trägt«, – zur Grundlage eines neuen Aufbaus machen möchte. Er erklärt die moralischen Kräfte achten zu wollen, die in ihr wirksam seien, denn gewiß sei es schön und erstrebenswert, Brücken über den Abgrund des Völkerhasses zu schlagen und einer geistigen Verständigung Europas die Wege zu bereiten. Aber … Nein, wir wollen das auf französisch hören, in Gide’s Übersetzung! Es gewinnt dadurch eine geistige Pikanterie, die etwas Berauschendes hat – und etwas Beschämendes; denn wir hatten verlernt, es auf französisch für möglich zu halten:
{447}»Mais si cela n’est possible qu’au prix du sacrifice de toutes les profondeurs et de tous les sommets de l’âme, et à la condition d’accepter les doctrines insipides de quelque association de libres-penseurs – alors plutôt y renoncer et se tenir à l’écart d’une activité (»von solchem Aktivismus« heißt es deutsch) qui demande comme condition première un Sacrifizio dell’ intelletto. Nous ne devons pas acheter la défaite du nationalisme au prix d’une domestication de l’esprit. Tendons-y; mais par d’autres chemins. Nous ne voulons pas, nous ne devons pas nous laisser acculer à l’alternative du nationalisme ou de l’internationalisme. Tant que cette alternative pernicieuse et trompeuse ne sera pas écartée, tout effort d’apporter clarté et assainissement dans les rapports intellectuels franco-allemands sera faillite. Tant qu’elle ne sera pas dépassée, nous resterons à un point mort – tant que nous n’aurons le choix qu’entre un étroit repliement sur nous-mêmes, et d’indignes concessions.«
Seitdem diese Sätze zweisprachig in der Welt stehen, scheinen die deutsch-französischen Beziehungen mir die herzlichsten.