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In den letzten Jahren haben Archäologen immer mehr Belege dafür gefunden, dass es zwischen dem 6. und dem 3. Jahrtausend v. Chr. auf dem Balkan eine Hochkultur gab, die bereits vor den Mesopotamiern die Schrift kannte. Harald Haarmann führt in seinem Buch erstmals umfassend in diese bisher unbekannte, in vielem noch rätselhafte alteuropäische Kultur ein. Er beschreibt Handelswege und Siedlungen, Kunst und Handwerk, Mythologie und Schrift der Donauzivilisation, geht ihren Ursprüngen am Schwarzen Meer nach und zeigt, welchen Einfluss sie auf die Kultur der griechischen Antike und des Vorderen Orients hatte.
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Harald Haarmann
Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas
C.H.Beck
In den letzten Jahren haben Archäologen immer mehr Belege dafür gefunden, dass es zwischen dem 6. und dem 4. Jahrtausend v. Chr. auf dem Balkan eine Hochkultur gab, die bereits vor den Mesopotamiern die Schrift kannte. Harald Haarmann führt in diesem Buch erstmals umfassend in diese bisher unbekannte, in vielem noch rätselhafte alteuropäische Kultur ein. Er beschreibt Handelswege und Siedlungen, Kunst und Handwerk, Mythologie und Schrift der Donauzivilisation, geht ihren Ursprüngen am Schwarzen Meer nach und zeigt auf, welchen Einfluss sie auf die Kultur der griechischen Antike und des Vorderen Orients hatte.
Harald Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. Bei C.H.Beck erschienen von ihm unter anderem «Weltgeschichte der Sprachen» (22010) sowie zuletzt «Auf den Spuren der Indoeuropäer» (2016).
Das Puzzle einer 7000 Jahre alten Zivilisation
1. Der Übergang zum Neolithikum in Europa (ca. 7500–5500 v. Chr.)
Frühe Ackerbauern in Südosteuropa
Phase 1: Kontakte über die Landbrücke am Bosporus (ca. 7500–6700 v. Chr.)
Phase 2: Das Flutszenario und die Flutmythen der Nachwelt (ca. 6700 v. Chr.)
Phase 3: Die formative Periode Alteuropas (6. Jahrtausend v. Chr.)
Die Entstehung der Regionalkulturen
Vinča
Karanovo
Cucuteni
Trypillya
Tisza
Lengyel
Kulturchronologie Alteuropas
2. Auf den Spuren der Alteuropäer
Der genetische Fußabdruck
Sprachliche Spuren
Pflanzen und Tiere Alteuropas
Naturphänomene und Landschaftsformen
Das «Agrarpaket»: Technologien und Gerätschaften
Alteuropäische Strukturelemente im Altgriechischen
Namen: Orte, Personen, Gottheiten
Sprach- und Kulturkontakte
3. Wirtschafts- und Lebensraum
Handelsrouten und Handelsgüter
Warenverkehr
Ritueller Geschenketausch
Wasserfahrzeuge und Bootsmodelle
Siedlungen und Architektur
Die Anlage der Dörfer und Städte
Hauskonstruktionen: Grundrisse und Baustile
Die ersten Reihenhäuser der Geschichte
Kultstätten und Gräber
Schreine und Tempelmodelle
Altäre und OpfertischeBestattungssitten und Grabkultur
4. Handwerk und Kunst
Weben und Textilherstellung
Webstühle und deren Utensilien
Terminologie des Webhandwerks
Textilien und Kleidung der Alteuropäer
Keramik und Brenntechnik
Töpferrad und Brennöfen
Terminologie der Keramikherstellung
Metallbearbeitung
Kupfergewinnung und Schmelzverfahren
Goldschmiedekunst
Kunstformen und Kultursymbole
Kultgefäße
Tonstempel (pintaderas) und Siegel
Vielfalt der Figurinen
Ornamentale Motive und dekoratives Design
Abstraktheit und Symmetrie
5. Das Modell einer egalitären Gesellschaft
Matriarchat oder Matrilinearität?
Familien und Sippen
Ökumene und Handel
6. Religion und Mythologie
Das Weltbild von Wildbeutern und Ackerbauern
Weibliche Gottheiten in Alteuropa
Der Stier – Tiersymbole als Attribute der Göttin
Kulte und Rituale
Fruchtbarkeit
Wasser
Trankopfer
Prozessionen
Mythen
Masken
Musik und Tanz
7. Zählen, Messen, Registrieren
Zahlzeichen und Zahlenmagie
Kalendarische Notationen
Maß- und Gewichtseinheiten
Töpfer- oder Eigentumsmarken
8. Die Erfindung der Schrift
Ursprung und Ausbau der Donauschrift
Die Verbreitung der Schrift in Alteuropa
Beschreibstoffe, Inschriften und Textsorten
Das alteuropäische Zeichenrepertoire
Bildhafte Zeichen
Nicht-bildhafte Zeichen
Schriftzeugnisse der Donauzivilisation
Beschriftete Figurinen
Miniaturaltäre
Weihgefäße
Webutensilien
Die berühmten Täfelchen von Tărtăria
Eine Schrift im Dienst der Religion
Ausklang des Schriftgebrauchs
9. Niedergang und Erbe der Donauzivilisation (ab ca. 4500 v. Chr.)
Politische und kulturelle Umbrüche
Der älteste Goldschatz der Welt
Elitenbildung: Die Steppennomaden
Klimaveränderung und deren Folgen
Die balkanisch-altägäische Kulturdrift
Die Große Göttin und ihre Töchter
Das Geheimnis der minoischen Doppelaxt
Das alteuropäische Erbe in den ägäischen Schriftsystemen
Ägäisches Erbe? Hexameter und griechische Sonderzeichen
Minoisch-kyprische Kontakte: Der ägäische Schriftexport
Epilog
Literatur
Legende zu der Karte auf dem Vorsatz
Die Vorstellung, dass die griechische Zivilisation als erste europäische Hochkultur Licht ins Dunkel der Vorgeschichte gebracht hätte, ist bis heute weit verbreitet. Demnach verdanken wir den Griechen die Grundlagen unserer modernen Welt. Selten wird hinterfragt, ob denn die griechische Zivilisation tatsächlich so originell war, wie wir dies in unserem Schulwissen tradieren. Das vorliegende Buch will dem Leser eine europäische Zivilisation erschließen, die viel älter als die griechische ist und die durch die Forschung in den letzten zwanzig Jahren immer klarere Konturen angenommen hat: Die Donauzivilisation, deren Anfänge im Neolithikum liegen und die ihre Blüte in der Kupferzeit erlebte, hat mit ihren Errungenschaften die Voraussetzungen für den rasanten Aufstieg der griechischen Kultur im ersten Jahrtausend v. Chr. geschaffen.
«Im 5. und frühen 4. Jahrtausend v. Chr. (…) hatten die Alteuropäer Städte mit einer beachtlichen Konzentration an Einwohnern, Tempel, die mehrere Stockwerke hoch waren, eine Sakralschrift, geräumige Häuser mit vier oder fünf Räumen, professionelle Töpfer, Weber, Kupfer- und Goldschmiede und andere Kunsthandwerker, die eine breite Palette hochentwickelter Güter produzierten» (Gimbutas 1991: viii).
Vor zwanzig Jahren war der Begriff «Alteuropa» (Old Europe) in der Regel nur Experten vertraut und die fortschrittliche Kultur der vorgriechischen Bevölkerung war nur schemenhaft bekannt. Vieles von dem, was die amerikanisch-litauische Archäologin Marija Gimbutas (1921–1994) für ihr Mosaik von Alteuropa rekonstruiert hatte, war hypothetisch. Seither hat sich viel getan. Die politischen Umbrüche in Ost- und Südosteuropa nach 1989 haben einen Aufschwung der Forschung und des Kulturschaffens in den neuen unabhängigen Staaten bewirkt und als Folge davon auch eine Intensivierung der Grabungstätigkeit, und zwar sowohl in Südosteuropa als auch in der Ukraine, wo wichtige Fundstätten Alteuropas liegen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Materialbasis erheblich erweitert, und die neueren Erkenntnisse lassen keinen Zweifel an der Qualität der vorgriechischen Kulturstufe als der einer Hochkultur. «Zu seiner Blütezeit, um 5000–3500 v. Chr., entfaltete Alteuropa viele der politischen, technologischen und weltanschaulichen Merkmale, durch die sich eine ‹Zivilisation› auszeichnet» (Anthony 2009 a: 29). Was wir gestern noch der Vorgeschichte zurechneten, gehört tatsächlich der geschichtlichen Periode an.
Die Anfänge des kulturellen Aufschwungs in Alteuropa liegen in einer Periode ökologischer Umwälzungen. Die Hypothese von einer Großen Flut, in der die Wassermassen des Mittelmeers die bis dahin bestehende Landbrücke am Bosporus durchbrachen, ist heute gut gefestigt. Es ist davon auszugehen, dass über diese Landverbindung Menschen aus Anatolien nach Westen migrierten, die bereits Ackerbau und Viehhaltung kannten. Als Folge der Flut entstand um 6700 v. Chr. das Schwarze Meer, die Küstenlandschaften verwandelten sich nachhaltig. Die drastische Veränderung der Lebensverhältnisse setzte einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf es zur Akkulturation der einheimischen (alteuropäischen) Bevölkerung an agrarische Lebensweisen kam, zu kleinräumigen Binnenmigrationen, zu sozioökonomischen Neuerungen und technologischen Innovationen. Dies ist der Prozess des Übergangs von der mittleren zur jüngeren Steinzeit in Europa. Der spätere Klimasturz um 6200 v. Chr. – inzwischen gut erforscht – wirkte sich zunächst hemmend auf die kulturelle Entwicklung aus, hatte aber langfristig deren Beschleunigung zur Folge.
In den letzten Jahren wurden eine Reihe von erstaunlichen Entdeckungen zum Leben der frühen Ackerbauern im Tal der Donau, ihrer Nebenflüsse und in den Einzugsgebieten der Wasserstraßen gemacht: Es gab hier bereits ein rudimentäres Schriftsystem, lange bevor die Schrift in Mesopotamien entstand; die Metallverarbeitung hatte einen Entwicklungsstand erreicht wie nirgendwo sonst in der damaligen Welt; die darstellende Kunst brachte erstaunliche Meisterwerke hervor; und es gab Großsiedlungen von städtischen Dimensionen. Wie die Alteuropäer ihre Städte nannten, wissen wir (noch) nicht, und die Namen der neuen Fundstätten wie Tallyanky oder Majdanec’ke südlich von Kiev klingen fremdartig. Aber inzwischen kennen wir deren Grundrisse und wissen, dass in diesen Siedlungen Tausende von Menschen lebten. Majdanec’ke hatte zwischen 5500 und 8000 Einwohnern. Einige dieser Großsiedlungen waren zwei- oder dreimal so groß wie die frühen Städte in Mesopotamien. Für diese Hochkultur habe ich vor einigen Jahren den Namen «Donauzivilisation» (Danube civilization) eingeführt. Inzwischen werden die Begriffe «Donauzivilisation» und «Alteuropa» meist synonym verwendet.
Es gibt bereits eine Fülle an neuerer spezieller Forschungsliteratur über Alteuropa auf Englisch (z.B. Marler 2008, Anthony 2009 b), Deutsch (z.B. Hansen 2007, Haarmann 2010 a), Russisch und Ukrainisch (z.B. Videjko 2003, Tkachuk 2005) und in den Balkansprachen (z.B. Kolištrkoska Nasteva 2005, C.-M. und Gh. Lazarovici 2006–2007, Nikolov 2007 b). Die New Yorker Ausstellung «The Lost World of Old Europe – The Danube Valley, 5000–3500 BC», die das Institute for the Study of the Ancient World (New York) organisiert hat und die bis April 2010 zu sehen war, hat erstmals eine umfassende Bilanz des neuen Wissensstands für ein größeres Publikum gezogen. Ein Buch, das die früheste Hochkultur Europas einer breiteren Leserschaft vorstellt, ist aber bisher ein Desiderat.
Die Dokumentation des Kulturniveaus, das die Alteuropäer erreichten, bietet so manche Überraschung und etliche Rekorde im weltweiten Vergleich:
– Die ältesten Großsiedlungen (megasettlements) von Stadtgröße – bedeutend größer als Çatalhöyük in Anatolien oder die ältesten Städte Mesopotamiens – entstehen in Alteuropa.
– Die ältesten, kontinuierlich bewohnten Orte in Europa sind nicht Städte wie Athen oder Rom, wo die frühesten Siedlungsspuren ins 2. Jahrtausend v. Chr. datieren; Larissa in Thessalien und Varna in Bulgarien sind mehr als doppelt so alt.
– Die Alteuropäer kennen bereits Einfamilienhäuser mit mehr als 100 qm Grundfläche.
– Die ersten zweigeschossigen Reihenhäuser der Welt werden in einigen der Großsiedlungen Alteuropas gebaut.
– Das Töpferrad, ein Vorläufer der Töpferscheibe, wird in Alteuropa entwickelt, erst später tritt diese technische Neuerung auch in Mesopotamien auf.
– Die ersten zylindrischen Rollsiegel der Welt werden in Alteuropa verwendet.
– Die ersten Brennöfen zur Herstellung hochwertiger Keramikprodukte, in denen die Temperaturen kontrolliert und reguliert werden konnten, werden in Alteuropa in Betrieb genommen.
– Die Technologie des Metallgusses (Verfahren zum Schmelzen von Kupfer) wird erstmals in Alteuropa angewandt, und zwar im ausgehenden 6. Jahrtausend v. Chr., und erst einige Jahrhunderte später auch in Anatolien.
– Die ältesten Artefakte aus Gold wurden in Alteuropa gefunden und in die Zeit um 4500 v. Chr. datiert (der Goldschatz von Varna).
– Die frühesten Notationssysteme mit konventionellem Zeichengebrauch werden in Alteuropa entwickelt; dies sind ein System zur Notation von Zahlen und ein Schriftsystem.
– Jahrtausende vor den Griechen wurde in Alteuropa Wein gekeltert und Olivenöl produziert; und lange vor den Griechen aßen die Alteuropäer Kirschen, Erbsen und Petersilie.
Weder die Minoer in Altkreta noch die mykenischen Griechen haben bei Null angefangen, als sie ihre Zivilisationen aufbauten, von den Griechen der klassischen Antike ganz zu schweigen. Sie alle haben auf die eine oder andere Weise von den Leistungen vorangegangener Generationen profitiert, deren Wissen nicht verloren ging, sondern aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Insbesondere die Griechen haben viele der alteuropäischen Errungenschaften mitsamt deren Namen übernommen.
Man mag nun einwenden, dass die Errungenschaften der Alteuropäer vielleicht gar nicht so exklusiv sind, denn schließlich wurden ihnen die sesshafte Lebensweise und das Know-how von Ackerbau und Viehhaltung von Anatolien herübergebracht. Die Alteuropäer, so könnte man meinen, haben einfach eine andere Lebensweise angenommen und ihre Gemeinwesen neu organisiert. Doch die Alteuropäer konnten die nahrungsproduzierenden Wirtschaftsform nicht einfach so, wie sie aus Anatolien vermittelt wurde, übernehmen, denn Europa gehört zu ganz anderen Klimazonen mit andersartiger Vegetation. Das erforderte erhebliche Anpassungsleistungen und ein zielgerichtetes Experimentieren mit der Domestizierung einheimischer Spezies, von Pflanzen wie von Tieren. Wenn auch die Idee des Ackerbaus von außerhalb nach Europa gelangte, verdankt der soziokulturelle Aufschwung, den Südosteuropa im 7. und 6. Jahrtausend v. Chr. erlebt, seine Dynamik doch der Initiative, Flexibilität und Kreativität der einheimischen Bevölkerung. Zu diesem Kulturkomplex gehört auch die südliche und westliche Ukraine.
Der Innovationsschub der alteuropäischen Kultur kann auf einen einfachen Nenner gebracht werden: Der Funke sprang von Anatolien über, aber schon bald hüteten die Europäer ihr Feuer ganz allein. Und wie sie das taten, davon handelt dieses Buch.
Wie alle frühen Zivilisationen der Welt, so wurde auch die Hochkultur Alteuropas von Menschen aufgebaut, die sesshaft waren und Ackerbau betrieben. Hier tun sich bereits elementare Fragen auf, und je nachdem, welche Antworten man auf diese Fragen findet, treten uns weitere Fragen entgegen. Denn gerade der Übergang vom Wildbeutertum zum Ackerbau in Europa ist eines der kniffligsten Themen der Altertumsforschung. Nun mag man denken, dass die Diskussion über die Bedingungen, wie der Ackerbau nach Europa kam, thematisch irrelevant für die Darstellung der Hochkultur Alteuropas ist. Dem ist nicht so, denn die Art und Weise, wie die Alteuropäer mit der neuen Technologie umgingen, verrät sehr viel über die Entwicklungsdynamik ihrer Gemeinwesen. Genau genommen handelt es sich beim Ackerbau auch nicht um eine einzige Technologie, sondern um ein ganzes Paket von Einzeltechnologien, das sogenannte Agrarpaket (engl. agrarian package), wozu nicht nur das Know-how der Kultivation von Nutzpflanzen, sondern auch das Einmaleins der Vorratswirtschaft und der Viehhaltung gehört.
War der Wechsel vom Wildbeutertum zur Pflanzenkultivation eine Revolution oder ein allmählicher Übergang? Auf diese Frage hat man eine schlüssige Antwort gefunden. Der Übergang zum Ackerbau leitet die Ära des Neolithikums (Jungsteinzeit) ein. Inzwischen sind Vorstellungen veraltet, wonach die Umstellung auf Feldbau ein schneller Wechsel gewesen wäre, eine Art Revolution. Lange Zeit wurde der Ausdruck «neolithische Revolution» verwendet, seit einigen Jahren ist in vorsichtiger Ausdrucksweise von «Übergang» (engl. transition) die Rede. Immerhin hat im Nahen Osten die Umstellung von den ersten Experimenten mit den Samen von Nutzpflanzen bis zum voll ausgebildeten Ackerbau rund 2500 Jahre gedauert, d.h. von ca. 10.000 bis 7500 v. Chr. Wer wollte bei einem solchen langen Zeitraum von Revolution sprechen? Ist die Ackerbautechnologie von Asien nach Europa gelangt, oder haben die alteuropäischen Jäger und Sammler aus eigenem Antrieb eine nahrungsproduzierende Wirtschaftsform angenommen? Der Übergang zum Neolithikum findet erstmals im Nahen Osten statt. In allen anderen Regionen der Welt liegen die Anfänge der Pflanzenkultivation später. Dies bedeutete aber nicht automatisch, dass die Ackerbautechnologie vom Nahen Osten in die übrige Welt und damit auch nach Europa exportiert worden wäre. Wie dies bei anderen Technologien ebenfalls zu beobachten ist, waren die Menschen auch beim Übergang zum Feldbau in mehreren Regionen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten ähnlich innovativ und haben eine entsprechende Umstellung vollzogen – unabhängig von dem Know-how der ersten Ackerbauern im Nahen Osten.
Sesshaftigkeit ist die Voraussetzung für Bodenbebauung, denn wenn einmal das Feld bestellt ist, muss das Wachstum der Pflanzen beaufsichtigt werden, es muss zum richtigen Zeitpunkt geerntet werden und es sind Vorkehrungen nötig, um die geernteten Früchte wie Körner oder Schoten zu horten. Im Allgemeinen wird die Wechselbeziehung von Sesshaftigkeit und Ackerbau einseitig so verstanden, dass Menschen mit der Absicht, Nahrung zu produzieren, in festen Siedlungen sesshaft wurden. Tatsächlich haben aber neuere Forschungen gezeigt, dass Sesshaftigkeit nicht unbedingt Bodenbebauung nach sich zieht.
In der ältesten Fundschicht von Can Hasan in Westanatolien hat man Hinweise auf eine größtenteils sesshafte Bevölkerung gefunden, die zwar eine Vorratswirtschaft, aber keinen Ackerbau betrieb. Auch in Europa ist die Sesshaftigkeit nicht direkt mit dem Ackerbau verbunden. Die frühesten Hinweise auf «zumindest saisonal sesshafte Gemeinschaften» (Thorpe 1999: 25) finden sich im Donautal, und zwar in Lepenski Vir am Eisernen Tor, an der serbisch-rumänischen Grenze, im 8. Jahrtausend v. Chr. Der Ackerbau gelangte dorthin aber erst viel später (Anfang des 6. Jahrtausends v. Chr.).
Wie sich der Übergang vom Jäger- und Sammlerstadium zur Pflanzenkultivation und Viehhaltung vollzieht, hat ganz entscheidend mit regionalen klimatischen Bedingungen sowie mit der lokalen Ökologie von Pflanzen und Tieren zu tun. Und hier wichen im Neolithikum die Gegebenheiten in Südosteuropa, wo die ersten Siedlungen von Ackerbauern gegründet wurden, in einigen Besonderheiten von denen im Nahen Osten ab. Zweifellos steht die Entwicklung in Anatolien in einer Beziehung zu der in Europa. Wären die Alteuropäer aber auf dem technologischen Stand der anatolischen Ackerbauern verblieben, dann hätte es sehr lang gedauert, bis sich der Ackerbau in Europa verbreitet hätte. Und mit Sicherheit wären Feldbau und Viehhaltung auch nicht in alle jene Regionen Europas gelangt, wo sie später praktiziert wurden. In der Tat verbreitete sich die Pflanzenkultivation relativ schnell vom Balkan nach Mittel- und Westeuropa. Auf der Suche nach Erklärungen dafür stellen sich weitere Fragen.
Woher, wann und wie gelangte der Ackerbau nach Europa? Wurde die Technologie der Pflanzenkultivation von Migranten zu den Europäern gebracht, oder verbreitete sich die neue Lebensweise als Ideentransfer? Wie gelangten Menschen, Gerätschaften und Tiere über das Ägäische Meer? Es sind zwar keine Reste prähistorischer Boote gefunden worden, die Hinweise auf die Bauart von seetauglichen Fahrzeugen geben könnten, aber klare Indizien sprechen dafür, dass die Jäger und Sammler des Mesolithikums (mittlere Steinzeit) die an der Westküste der Ägäis lebten, sich auch in küstennahen Gewässern bewegt haben. An den Lagerplätzen hat man Reste von Thunfisch gefunden, der nur in offenen Gewässern gefangen werden kann. Die Menschen der mittleren Steinzeit waren aber nicht nur geschickte Fischer, sie waren auch die ersten, die Handelsrouten über See erkundeten.
Eine der ältesten Waren, die über See transportiert wurden, war schwarzglänzender Obsidian, Materie aus vulkanischem Glas. Dieses Material war besonders geschätzt wegen der scharfkantigen Abschläge, die als Werkzeuge dienten. Obsidian hat eine Struktur, die ortsspezifisch ist. Daher kann man mit modernen Analysemethoden das vulkanische Gestein und damit den Herkunftsort von Obsidian-Artefakten recht genau bestimmen. Das Material der Werkzeuge aus Obsidian, die in der Franchthi-Höhle am Golf von Argos im Osten der Peloponnes gefunden worden sind, stammt von der Kykladeninsel Melos und datiert in die Zeit um 11.000 v. Chr. (Cunliffe 2008: 71). Melos ist rund 120 km von der griechischen Küste entfernt – diese Distanz müssen die Mesolithiker also bereits damals mit Booten bewältigt haben.
In der Periode des frühen Neolithikums, als der Ackerbau nach Europa gelangte, war es sicher schon möglich, die Ägäis – mit Zwischenstationen über die Inseln – zu überqueren. Und diejenigen, die damals Boote bauten und damit das Meer befuhren, müssen versierte Spezialisten gewesen sein. Man muss sich vergegenwärtigen, «dass die Konstruktion von Booten ein bestimmtes Niveau an Planung und Design und ein Verständnis für das Konzept von Seetauglichkeit» voraussetzt (Farr 2010: 20). Längere Fahrten über das Meer, die womöglich mehrere Tage dauerten, erforderten nautische Kenntnisse. Woran sich die neolithischen Seefahrer orientierten, wird man wohl nie mit Sicherheit erfahren. Man kann sich nur vorstellen, dass zur Orientierung die Konfigurationen von Sternbildern, Windströmungen oder Drifts der Meeresströmungen eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls haben die Neolithiker zu ihrer Zeit bereits erstaunliche Entfernungen über See gemeistert.
1/2 Frühneolithische Figurinen aus der südlichen ÄgäisLinks: Kreta, 7. Jahrtausend v. Chr. (nach Sakellarakis 1985: 134)Rechts: Karpathos, 5. Jahrtausend v. Chr. (nach Fitton 1989: 19)
Einen klaren Beweis für die Seetüchtigkeit der Bewohner an den Küsten der Ägäis und ihrer Wasserfahrzeuge gibt es für das ausgehende 8. Jahrtausend v. Chr. Spätestens um 7000 v. Chr. gelangte die Ackerbautechnologie nach Kreta. Diejenigen, die für den Transfer des Know-how verantwortlich waren, kamen entweder als Händler oder als Neusiedler, um die Insel zu erkunden. Die Route dieser frühen Pioniere führte über die verschiedenen Inseln, die zwischen Kreta und der anatolischen Küste liegen, Rhodos, Karpathos und Kasos. Die Pioniere brachten Gerätschaften und Saatgut für den Feldbau mit nach Kreta. Als erstes wurde Brotweizen (Triticum aestivum) angebaut, dessen Ursprungsgebiet Anatolien ist.
Es gab aber andere Dinge, die die Migranten nicht mitbrachten. In den ältesten Fundschichten von Knossos fehlt Tonware. Diejenigen, die das Agrarpaket nach Kreta brachten, lebten in der Periode des vorkeramischen Neolithikums. Was die Viehhaltung betraf, so brachten sie nur die Idee dazu, denn sie kamen ohne Rinder oder Schafe. Wildtiere gab es in Kreta, sie wurden im Laufe des 7. Jahrtausends v. Chr. domestiziert. «Auerochsen, die Tiere, von denen die modernen Rinder abstammen, sind offensichtlich bis um 6000 v. Chr. in Kreta domestiziert worden» (Roberts 1996: 11). Die Kolonisten auf den Inseln der südlichen Ägäis haben unter anderem materielle Güter produziert, die nicht für den praktischen Gebrauch bestimmt waren. Das waren kleine Skulpturen aus Stein, weibliche Figurinen (Abb. 1/2). Diese Artefakte lassen die stilistischen und ästhetischen Eigenheiten in der künstlerischen Ausdrucksform der frühen Neolithiker erkennen. Die Figurinen als Kunstgenre entwickeln sich auf dem europäischen Festland technisch und stilistisch rasant weiter (s. Kap. 4).
Die Kolonisierung Kretas durch Ackerbauern verdeutlicht einerseits die technologische Fähigkeit der neolithischen Menschen, leistungsfähige Wasserfahrzeuge zu bauen und damit Hunderte von Kilometern über das Meer zu fahren. Andererseits zeigt uns der Transfer von Menschen und Gütern nach Kreta, dass die Kapazitäten für den Transport größerer Lasten damals noch ziemlich begrenzt waren. Selbst wenn also Fahrten über das Meer bereits in prähistorischer Zeit unternommen wurden, ist es somit eine ganz andere Sache, eine zielgerichtete Migration über die Ägäis anzunehmen, an der viele Menschen beteiligt gewesen wären. Bis heute werden verallgemeinernde Erklärungen gegeben, wie Menschen und Tiere über das Meer gelangt sein könnten, das Europa von Kleinasien trennt. Die Vorstellungen von frühen Massenmigrationen sind recht fantasievoll, teilweise geradezu abenteuerlich.
Einer Theorie zufolge erlebte Europa im 7. Jahrtausend v. Chr. eine Masseneinwanderung von Ackerbauern aus Anatolien, die angeblich in offenen Booten die Ägäis durchkreuzt hätten und an den Küsten Griechenlands an Land gegangen wären. Dies ist die Theorie der Diffusionisten, die von Renfrew (1987) initiiert worden ist. Es entbehrt nicht der Komik, sich ein solches Szenario vorzustellen:
Ackerbauern im westlichen Anatolien verspüren den kollektiven Drang zu migrieren, verlassen ihre Felder und wandern an die Ostküste der Ägäis. Die Motivation für solches Handeln bleibt mysteriös, denn Anzeichen von Überbevölkerung sind für die Periode des frühen Neolithikums in Anatolien archäologisch nicht auszumachen. An der Küste fangen die Bauern an, Boote zu bauen, obwohl sie das noch nie vorher gemacht haben. Und sehr viele Boote mussten gebaut werden, um Massen von Menschen sowie ihr Hab und Gut zu transportieren, selbst wenn die Bauern die Transportkapazitäten der Küstenfischer voll ausgenutzt hätten.
Einige Forscher meinen, die Ackerbauern hätten auch Flöße gebaut, um ihr Hab und Gut zu verladen. Allerdings gibt es an der Ägäisküste gar keine für den Floßbau geeigneten Hölzer, weder damals noch heute. Die Baumarten dort sind gebogen und knorrig. Für den Floßbau braucht man lange und gerade Hölzer, die auch möglichst leicht sind, damit das Floß nicht durch sein Eigengewicht zu tief im Wasser liegt; denn dann kann es kaum Ballast aufnehmen. Aber selbst wenn die Bauern ihre Boote und Flöße fertigstellen konnten, bleibt das Problem des Verladens von Saatgut, von allerlei Gerätschaften und – vor allem – des Herdenviehs. Und hier braucht es schon eine blühende Fantasie, um sich vorzustellen, wie Schafe und Rinder in die damaligen Fahrzeuge verladen worden sein sollen.
Die domestizierten Rinder Anatoliens gehören zu einer gewichtigen Spezies. Die Kühe brachten ein Lebendgewicht von über 500 kg auf die Waage, und Bullen wogen über 700 kg, vielleicht sogar bis zu 1000 kg. Es ist unmöglich, solche Tiere auf kleine Boote prähistorischer Bauart zu verladen. Hinzu kommt, dass die Bauern, die zu Seefahrern wurden, riesige Mengen an Futter für das Vieh hätten transportieren müssen, selbst wenn die Fahrt übers Meer nur wenige Tage gedauert hätte. Trotzdem fehlt es nicht an skurrilen Spekulationen über prähistorische Viehtransporte.
Eine Hypothese geht sogar noch weiter als die Migrationstheorien über die Ägäis. Demnach hätten die frühen Ackerbauern an der Mittelmeerküste Anatoliens, d.h. im Süden der heutigen Türkei, Flöße gebaut und wären anschließend – mitsamt ihrem Vieh – Hunderte von Kilometern an der Mittelmeerküste entlang ins ägäische Meer und durch die ägäische Inselwelt geradewegs bis an die Nordküste der Ägäis geschippert (Nikolov 2007 a: 18f.).
Es ergibt keinen Sinn, eine Theorie auf Absurditäten zu gründen. Die Knochenreste der Rinder und Schafe, die man an den ältesten Siedlungen von Ackerbauern in Griechenland gefunden hat, sind nun aber solche domestizierter Tiere anatolischer Herkunft. Wenn die Idee absurd ist, dass Migranten ihr Vieh über das Wasser nach Europa gebracht hätten, welche alternative Route bleibt dann für die prähistorischen Viehhalter? Es bleibt die Route über Land.
In einigen naturwissenschaftlichen Disziplinen haben sich Erkenntnisse verdichtet, wonach Europa und Asien in der Region am Bosporus ursprünglich über eine Landbrücke miteinander verbunden waren. Diese Landbrücke lag zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmara-Meer. Dort wo heute die Meerenge des Bosporus Europa von Kleinasien trennt, erstreckte sich bis ins 7. Jahrtausend v. Chr. eine hügelige Landschaft, durch die sich Menschen und Tiere ungehindert von Osten nach Westen und von Westen nach Osten bewegen konnten. Im Süden wurde die Landbrücke durch das Marmara-Meer begrenzt, eine Ausbuchtung des Mittelmeers, mit dem es über die Meerenge der Dardanellen verbunden war. Im Norden erstreckte sich ein Süßwassersee, der Euxinos-See des Altertums.
Geologen und Ozeanographen sind sich einig, dass es eine solche Landbrücke gegeben hat. Wann genau diese Landbrücke brach und ob dieser Durchbruch ein katastrophales Ereignis war oder das Ergebnis einer allmählichen Überflutung, darüber wird bis heute debattiert. Inzwischen ist eine reiche Forschungsliteratur entstanden, in der die verschiedenen Positionen dokumentiert sind (s. die Sammelbände von Marler/Haarmann 2006 und Yanko-Hombach et al. 2007).
Nach der Theorie von Ryan und Pitman, die ihre spektakuläre Entdeckung von «Noahs Flut» im Jahre 1998 der Weltöffentlichkeit vorstellten, war der Durchbruch der Wassermassen vom Mittelmeer über das Marmara-Meer ins Schwarze Meer die größte Naturkatastrophe, die die Region je erlebt hat (s.u.). Dass der Landriegel ausgerechnet am Bosporus aufbrach, ist kaum verwunderlich. Die Region gehört zu den seismisch aktivsten der Welt, und unzählige kleinere oder größere Erdstöße erschüttern die aufgefalteten Sandsteinformationen in unregelmäßigen und nicht vorausberechenbaren Intervallen (Yilmaz 2005, Yilmaz et al. 2010). Vielleicht löste ein Erdbeben die Flutkatastrophe aus. Wie heftig solche Beben sein können, haben die Bewohner in der Küstenlandschaft des Marmara-Meeres im Herbst 1999 erlebt, als ihre Dörfer von Erdstößen verwüstet wurden.
Ursprünglich hatten Ryan und Pitman die Große Flut auf ca. 5600 v. Chr. angesetzt. Diese Datierung ist aber, wie sich herausstellte, viel zu spät. Aufgrund neuerer Abmessungen von Sedimentschichten hat Ryan das Datum auf ca. 6700 v. Chr. vorverlegt. Die neue Datierung hat Ryan erstmals auf einer Konferenz in Italien im Juni 2002 ins Gespräch gebracht. Seither ist diese Zeitvorgabe durch Untersuchungen von Sedimenten im Marmara-Meer und in der Bosporus-Region untermauert worden (Ryan et al. 2003). Derzeit wird ein Zeitraum zwischen ca. 6700 und 6400 v. Chr. als wahrscheinliche Periode für den Durchbruch der Wassermassen aus dem Mittelmeer und für die Entstehung des Schwarzen Meeres diskutiert.
Ob man die untere (6700 v. Chr.) oder die obere Zeitgrenze (6400 v. Chr.) für das Flutereignis ansetzt, spielt für die Annahme einer prähistorischen Migration von Ackerbauern über die Landroute keine nennenswerte Rolle. Es gab in jedem Fall ausreichend Zeit für die frühen Migranten aus Anatolien, mit ihrem Vieh über die Landenge nach Europa zu gelangen. Die Rinder und Schafe konnten während der Wanderung grasen, und es gab keine Engpässe mit der Verpflegung. Die Wanderung über die Landenge war sicher keine geplante Migration mit einem bestimmten Ziel. Viel sinnvoller ist es, sich vorzustellen, dass die Ackerbauern von der östlichen Seite Erkundungen nach Westen unternahmen – möglicherweise unterstützt durch Informationen, die die Fischer an der Küste über Landstriche vermittelten – die sich für Ackerbau eigneten. Die nach Westen gerichtete Migration anatolischer Bauern war höchstwahrscheinlich kein einmaliges Ereignis, sondern es sind kleinere Gruppen zu verschiedenen Zeiten, d.h. in Intervallen hinübergewandert.
Wenn die Technologie des Ackerbaus von Anatolien nach Europa gelangte und an diesem Transfer bestimmte Gruppen von Menschen beteiligt waren, die ihr Know-how den Europäern vermittelten, dann drängt sich leicht die Vorstellung auf, dass Migrationen über die Landbrücke ausschließlich von Ost nach West erfolgten. Humangenetiker haben allerdings festgestellt, dass es auch Bevölkerungsbewegungen in die andere Richtung gegeben haben muss, also von Europa nach Anatolien, und dieser Gentransfer wird auf ca. 7100 v. Chr. datiert (Cinnioglu et al. 2004: 131 ff.). Dies würde bedeuten, dass sowohl Ackerbauern von Anatolien nach Europa migrierten als auch Wildbeuter auf ihren Streifzügen von Europa aus nach Anatolien gelangten.
Auf der europäischen Seite der Landbrücke bestand für Migranten aus Anatolien die Möglichkeit, an der Westküste des Schwarzen Meeres in Richtung Norden zu ziehen. Das hätte sie in die Landschaften des heutigen Bulgarien gebracht. Diese Route schlugen die Neuankömmlinge allerdings nicht ein, und es gab einen triftigen Grund dafür. Die bewaldete Region des östlichen Balkan gehörte zu einer anderen Klimazone als das Ackerbaugebiet in Anatolien. Dort zu siedeln hätte bedeutet, dass sich die Neusiedler einer anderen Umgebung mit anderen klimatischen Bedingungen hätten anpassen müssen, als sie ihnen von Anatolien her vertraut waren. In Bulgarien liegen die Anfänge des Ackerbaus in der Tat später als weiter im Süden. Die Bauern aus Anatolien zogen an der Nordküste der Ägäis entlang und wandten sich dann nach Süden. Es gibt einige Spuren ihrer Wanderung, nämlich alte Siedlungen in der Nähe der Landbrücke (im europäischen Teil der modernen Türkei) (Çilingiroglu 2005: 2).
Viel besser aber ist das Zielgebiet der Migration bekannt. Ideale Bedingungen für Neusiedlungen fanden die Migranten offensichtlich in der fruchtbaren Ebene von Thessalien und auch weiter südlich, in Arkadien und auf der Peloponnes. Dort sind die ältesten Siedlungsreste agrarischer Gemeinschaften auf europäischem Boden gefunden worden. Die frühen neolithischen Siedlungen in Griechenland datieren in die Zeit zwischen 7500 und 6500 v. Chr. (Cunliffe 2008: 96f.). Die Pioniere aus Anatolien ließen sich in Thessalien nieder, d.h. sie fingen an, Siedlungen zu bauen und Ländereien für den Feldbau zu erschließen (Abb. 3).
Neuere genetische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen männlichen Y-Chromosomen und weiblichen X-Chromosomen in dieser Region haben ergeben, dass die Migranten von jenseits der Ägäis überwiegend Männer waren, die sich einheimische (d.h. europäische) Frauen nahmen (Budja 2005: 58f.).
Die Siedlungen in Thessalien sind eine Nische, und diese Nische wird später integriert werden in den Wirtschaftsraum und die Kulturlandschaft Alteuropas, zu einer Zeit, als sich die einheimischen Alteuropäer an die neue Lebensweise gewöhnt hatten. «Der Austausch von Gütern, bestimmten Tierarten der Viehhaltung und von Technologien mag die neolithische Umwälzung in einigen ökologischen Nischen beschleunigt haben, aber es gibt keine archäologischen Beweise für umfassende Bewegungen von Ackerbauern» (Yakar 1997: 66f.).
Die Besiedlung Thessaliens durch sesshafte Ackerbauern markiert den Beginn einer Ära, die man als Inkubationszeit der Donauzivilisation bezeichnen kann. Hier manifestieren sich die Kontakte zwischen mesolithischen Jägern und Sammlern und neolithischen Ackerbauern in Familienbindungen und Kohabitaten. Als einige Generationen später Nachkommen der Erstsiedler die Region weiter nördlich (bis an die mittlere Donau) erkundeten, waren dies keine reinen Anatolier mehr, ihre Gene waren gemischt. In Bulgarien nimmt der Anteil anatolischer Gene rapide ab, was darauf hindeutet, dass es seit Ende des 7. Jahrtausends v. Chr. die sich akkulturierenden Alteuropäer waren, die die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung und der Verbreitung des Ackerbaus im Balkanraum bestimmen.
Diese Periode des frühen Neolithikums wird als vorkeramisch bezeichnet, d.h. die Technologie der Töpferei war noch nicht eingeführt. In den Siedlungen jener Zeit sind keine Tonscherben gefunden worden. Dies gilt für Anatolien ebenso wie für Südosteuropa. Das Töpferhandwerk entwickelte sich erst ab ca. 6500 v. Chr. Wann die ersten Siedlungen in Thessalien entstanden, wird man vielleicht nie erfahren, denn einige Forscher halten es für möglich, dass auch die Ebene von Thessalien von der Großen Flut betroffen wurde, sozusagen in einem Nebenschauplatz des Durchbruchs am Bosporus. Die Vorstellung ist nicht abwegig, dass der Wasserspiegel des Mittelmeeres durch den ständigen Zufluss von Schmelzwasser der Eiszeitgletscher im Norden einen so hohen Stand erreichte, dass die Küste dort überflutet wurde, wo sie am niedrigsten ist, in Thessalien, und dass in der Folge die gesamte Ebene unter Wasser stand. Diese Überflutung ebbte ab, nachdem die Wassermassen am Bosporus durchgebrochen waren. Die frühen Siedler in Thessalien, deren Heimstätten und Äcker von der lokalen Flut betroffen waren, haben wahrscheinlich neue Siedlungen an anderen Stellen errichtet, die sicherer waren.
3 Frühneolithische Siedlungen von Ackerbauern in Griechenland (nach Gimbutas 1991: 14)
4/5 Frühneolithische Figurinen aus MarmorLinks: Thessalien, Anfang des 6. Jahrtausends v. Chr. (nach Gimbutas 1982, 133)Rechts: Region von Sparta, Anfang des 6. Jahrtausends v. Chr. (nach Gimbutas 1989, Tafel 14)
Die typischen Ansiedlungen Thessaliens sind auf Hügeln angelegte Tell-Siedlungen (z.B. Sesklo). Die Vorliebe für eine erhöhte Lage bestimmte die Siedlungsgeographie der Zukunft und ist auch charakteristisch für die Siedlungen der formativen Periode Alteuropas, für Karanovo in der Tiefebene Bulgariens, für Parţa in Rumänien usw. (Chapman 2009). Die Siedlungen in Flusstälern wurden auf erhöhten Uferböschungen angelegt (z.B. Vinča an der Donau, Tărtăria am Mureş). Auch die kupferzeitlichen Großsiedlungen in der Ukraine bevorzugten hügeliges Gelände. Viele Siedlungen waren Jahrhunderte, einige wie Karanovo sogar Jahrtausende bewohnt. Neubauten wurden auf den Fundamenten älterer Gebäude errichtet. Im Laufe der Generationen wuchsen der Siedlungsboden und das Siedlungsniveau an. Der Hügel, auf dem eine Siedlung angelegt worden war, wuchs entsprechend höher mit den aufeinander folgenden Kulturschichten. «Auf dem Balkan und in den fruchtbaren Ebenen des unteren Donautals wurden die Dörfer an derselben Stelle Generation für Generation weitergebaut, und auf diese Weise entstanden Tells, die zu einer Höhe von 10–17 m anwuchsen, so dass das Dorf über das Niveau der umgebenden Felder angehoben wurde» (Anthony 2007: 162).
Erst im Übergang von der Kupfer- zur Bronzezeit (im Verlauf des 4. Jahrtausends v. Chr.) erfolgte ein Wechsel in der Siedlungsgeographie: Die Tell-Siedlungen wurden aufgegeben und neue, kleinere Ansiedlungen in der Ebene gegründet (s. Kap. 9).
Bemerkenswerterweise gibt es einen griechischen Flutmythos, der sich auf Thessalien bezieht und die Neuerschaffung der Welt nach einer großen Flut zum Thema hat. Die älteste Version wird uns von Pindar (ca. 522–nach 446 v. Chr.) in seinem Werk «Olympien» erzählt (Gantz 1993: 165f.). Es ist die Geschichte von Deucalion (Sohn des Prometheus) und Pyrrha (Tochter von Epimetheus, dem Bruder des Prometheus). Die beiden Titelhelden retten sich vor der Flut in einer Arche (griech. larnax), die später an den Hängen des Parnass herabsinkt. Zeus sorgt dafür, dass die Flut abebbt, und nach ihrer Rettung machen sich Deucalion und Pyrrha – auf Geheiß von Hermes – daran, (neue) Menschen aus Steinen zu schaffen. Sind hier vielleicht Anklänge an die ältesten Skulpturen zu erkennen, die die frühen Ackerbauern Griechenlands aus Marmor und Alabaster schnitten (Abb. 4/5)?
Für die Theorie von Ryan und Pitman sprechen verschiedene Sachverhalte, aus denen sich ein mögliches Flutszenario entwickeln lässt:
(1) Dort, wo sich die Wasserstraße des Bosporus ins Schwarze Meer öffnet, verläuft auf dem Meeresboden ein tief eingeschnittener Graben, sozusagen ein erweiterter Mündungstrichter. Solche geologischen Formationen entstehen, wenn gischtende Wassermassen unter großem Druck den Meeresboden aufwühlen.
(2) Das Oberflächenwasser des Schwarzen Meeres (bis maximal 200 m Tiefe) ist salzig. Darunter liegt der tiefe Kessel des Schwarzen Meeres mit Tiefen bis 2000 m, ein Reservoir ehemaligen Süßwassers, das durch den Zustrom schwefeliger Substanzen aus dem Meeresboden zu einer hochgiftigen Suppe angereichert worden ist. In diese Wasserschicht dringt kein Sauerstoff von oben, so dass es dort weder pflanzliches Leben noch Fische gibt. Diese Trennung der Wasserschichten deutet auf eine katastrophale Flutung eines ursprünglichen Süßwassersees durch Salzwasser, bei der sich das Süßwasser nicht mit dem Salzwasser gemischt hat, wie dies bei allmählichem Zufluss der Fall wäre.
(3) Am Rande des Festlandschelfs mit Wassertiefen bis maximal 100 m, am Uferstreifen des prähistorischen Sees, liegen noch die Reste der früheren Seeufervegetation, deren Fäulnisprozesse bis heute nicht abgeschlossen sind. Ab und zu steigen große Blasen mit Methangas auf, und das Gas gelangt von der Wasseroberfläche in die Atmosphäre. Solche Gasausstöße sind vor allem bei den Ölarbeitern auf den Bohrinseln gefürchtet. Der Umstand, dass immer noch Reste von Uferpflanzen in den flachen Gewässern des Schwarzen Meeres faulen, ist ein Indiz für eine dramatische Überflutung des früheren Uferstreifens durch einbrechende Wassermassen.
Der Einbruch des Wassers kam aus der Richtung des Mittelmeeres. Das Wasser drückte ins Marmara-Meer, dessen Wasserspiegel so weit anstieg, dass es sich einen Durchlass nach Norden suchte. Die Richtung der Flut von Süden nach Norden gilt als gesichert. Am Boden des Marmara-Meeres finden sich nur Sedimente mit Einschlüssen von Salzwassermuscheln. Es müssten sich auch Süßwassermuscheln nachweisen lassen, wenn der Wassereinbruch von Norden (vom früheren Süßwassersee aus) in Richtung Süden erfolgt wäre, wie russische Forscher noch in den 1980er Jahren annahmen. Von Süßwassermuscheln gibt es aber keine Spur im Marmara-Meer. Der Süßwassersee hat auch beim Abschmelzen der Eismassen der letzten Eiszeit keinen Zufluss bekommen, durch den er übergelaufen wäre. Noch vor rund 10.000 Jahren waren die Landschaften Zentralrusslands durch das Gewicht der Eismassen heruntergedrückt, während der eisfreie Süden wie eine Barriere höher gelegen war. Das Schmelzwasser lief ins Kaspische Meer und ins Nordmeer ab, nicht nach Süden; dies trug zur Erhöhung des Wasserspiegels des Weltmeeres, d.h. vom Nordmeer über den gesamten Atlantik durch die Gibraltarenge bis ins Mittelmeer, bei, ein Prozess, an dessen Ende die Große Flut stand.
Die aus dem Mittelmeer in den Süßwassersee herüberströmenden Salzwassermassen trafen mit solcher Wucht auf das Reservoir des Sees, dass sich meterhohe Wellen (Tsunami, wie wir sie von der Katastrophe in Südostasien im Dezember 2004 und in Nordostjapan im März 2011 kennen) aufbauten, die sich wie riesige Wälle bewegten, auf die Küstensäume zurasten und dort gewaltige Zerstörungen verursachten.
Die archäologischen Fundschichten lassen einen klaren Entwicklungssprung und damit eine deutliche Phasentrennung zwischen einer Periode vor und einer Periode nach der Flut (nach 6500 v. Chr.) erkennen (Bailey 2000: 39). Die Ansiedlung von Ackerbauern in Thessalien markiert den Beginn eines Wandlungsprozesses, der langfristig die Lebensgewohnheiten der Europäer und deren Kulturentwicklung bestimmte. Eine wesentliche Veränderung im Alltag der frühen Ackerbauern war die Einführung der Töpferei. Die älteste Tonware datiert in die Zeit um 6500 v. Chr.
Selbst wenn sich die Landschaft in Thessalien durch Fluteinwirkung nicht so dramatisch veränderte wie in der Region rings um den ehemaligen Süßwassersee, den Euxinos-See, wurden die Thessalier dennoch von den ökologischen Wandlungen in der Nachfolge der Großen Flut betroffen. Die Flut von ca. 6700 v. Chr. war nicht das einzige einschneidende Naturereignis, das die Umwelt Südosteuropas dramatisch veränderte. Es folgten bald darauf Klimaschwankungen, die erhebliche Herausforderungen an die Alteuropäer stellten. Mit diesen Herausforderungen fertigzuwerden, erforderte eine besondere Bereitschaft zur Anpassung an eine sich wandelnde Umgebung. Ein solche Bereitschaft haben die Menschen, die die Flut erlebten, entwickelt. Natürlich gibt es keine Zeitzeugnisse darüber, welchen Eindruck die Naturkatastrophe im Bewusstsein der Anrainer der Ägäis und des Schwarzen Meeres hinterlassen hat. Es gibt aber ein Medium, das durch die Jahrtausende hindurch seine Aktualität bewahren konnte und in dessen Erzählstoffen traumatische Ereignisse lebendig werden: Flutmythen.
Mythen sind ein Erzählstoff, der über viele Generationen tradiert wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei unser Gedächtnis, denn das Erinnern hält sich nicht nur an Ereignissen selbst fest, sondern auch an der Art und Weise, wie darüber berichtet wird. Im individuellen Gedächtnis ist die Erinnerung an persönliche Geschehnisse gespeichert. Die Summe der Erinnerungen eines Individuums ist immer verschieden von der einer anderen Person, unabhängig davon, in welchem Umfang sich die Inhalte einzelner Erinnerungen überlappen. Auch Völker erinnern sich, nur ist dieses kollektive Erinnern weitaus komplexer als bei Individuen. Die Summe der Inhalte, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind, bezieht sich auf das Verhalten und Handeln von Individuen in verschiedenen Bezugsgruppen und Umgebungen. Dieses Bezugssystem kann man mit dem Ausdruck «Kultur» umschreiben. Das kollektive Erinnern macht das aus, was als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wird (Assmann 2000), und zwar in einer elementaren, mündlich überlieferten Form und in schriftlichen Fassungen. Die Gesamtheit aller Mythen – in unserem Fall der Flutmythen – in mündlicher und schriftlicher Überlieferung ist überaus variantenreich.
In allen Zivilisationen am Schwarzen Meer, an der Ägäis und im Vorderen Orient sind Flutmythen überliefert. Die berühmteste aller Geschichten ist zweifellos der biblische Bericht über Noahs Flut (Genesis 6: 9–9: 17). Lange Zeit war man überzeugt, dass die Erzählung von der Großen Flut ein Lehrstück der Bibel wäre, eine erfundene Geschichte, die Stoff für vordergründiges Moralisieren bietet. Denn die von Gott gewählte Bestrafung der sittenlosen Menschen in ihrer alten Welt durch eine Flut, die alles auslöscht, passte gut in die Denkschablonen der Menschen der Antike, deren Verantwortungsbewusstsein für die Einhaltung gesellschaftlicher Normen mit farbenfrohen Horrorgeschichten geweckt wurde. Ernsthaft glaubte wohl keiner daran, dass Noahs Flut tatsächlich stattgefunden haben könnte.
In den 1920er Jahren ging die Nachricht von einer archäologischen Sensation um die Welt. Der britische Archäologe Charles Leonard Woolley, der die Ausgrabungen der alten Stadt Ur leitete, war auf eine mehr als drei Meter dicke Fundschicht aus Schlamm gestoßen, die unschwer als Anschwemmung zu erkennen war. Für Woolley bestand kein Zweifel: sein Fund war der Beweis dafür, dass Noahs Flut tatsächlich stattgefunden hatte. Und die Öffentlichkeit kaufte ihm diese Story ab. Das taten auch die Wissenschaftler, denn dem Zeitgeist entsprechend war es eine besonders ehrenvolle Aufgabe, archäologische Beweise für die Richtigkeit biblischer Geschichten zu erbringen, konnte man doch damit den Wahrheitsgehalt eines der kulturellen Eckpfeiler der abendländischen Kultur untermauern.
Dann aber – und zwar lange vor der Entdeckung der Schwarzmeerkatastrophe – hatten sich bei Altertumsforschern Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Woolleys Fluttheorie angemeldet. Es wurde bald klar, dass die Schlammschicht von Ur nicht das Ergebnis einer einzigen großen Flut, sondern mehrerer kleinerer war. Man fand heraus, dass es in Mesopotamien alljährlich zu Überschwemmungen gekommen war, die fruchtbaren Schlamm über die Flussufer ins Inland trugen. Kleinfluten waren sozusagen eine saisonale Erscheinung, die wohl kaum Anlass zu einer literarischen Dramatisierung wie dem Flutmythos der Bibel gegeben hätte. Es gab noch weitere Schwachpunkte in Woolleys Auffassung. Wie kann es sein, dass Flutmythen auch in Syrien und Palästina erzählt wurden, obwohl dort solche Naturereignisse unbekannt sind? Als Erklärung gab man an, die syrischen Flutmythen seien ein Kulturimport aus Mesopotamien.