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Räder und Wagen sind erstaunlich junge Errungenschaften. Der Kulturwissenschaftler Harald Haarmann erklärt anhand neuerer Funde und Forschungen, warum die bahnbrechende Erfindung eher in Alteuropa und der Eurasischen Steppe – nicht im Zweistromland – zu verorten ist und wie sie sich von hier aus in der Alten Welt verbreitet hat. Als religiöse Symbole zeugen Räder und Wagen bis heute davon, wie tiefgreifend sie die frühen Hochkulturen geprägt haben. Als man in Alteuropa, Ägypten und Mesopotamien längst Städte baute, Hochöfen betrieb und schreiben konnte, wurden Lasten noch von Eseln, Kamelen und Menschen geschleppt oder – als Gipfel der Technik – auf Schlitten durch den Sand und über rollende Stämme gezogen. In den südamerikanischen Hochkulturen gab es überhaupt keine Räder. Harald Haarmann zeigt zunächst, wie um 5000 v. Chr. in der Donauzivilisation das Töpferrad erfunden wurde. Es sollte noch einmal rund tausend Jahre dauern, bis in der Eurasischen Steppe – in einer hochmobilen Gesellschaft und einem geeigneten Gelände – erstmals Wagen aufkamen. Von hier aus verbreitete sich die Innovation schnell in alle Himmelsrichtungen: nach Europa, Mesopotamien, Indien und China. Um 2000 v. Chr. begann die Ära der Streitwagen, mit denen sich weite Räume beherrschen ließen. Es war die Blütezeit der altorientalischen Großreiche. Die Verdrängung der Streitwagen durch hochmobile Reitereien konnte den Siegeszug des Rades nicht aufhalten: Transportwagen, Schöpfräder, Spinnräder und Zahnradgetriebe haben die Welt verändert und tun das bis heute.
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Harald Haarmann
Die Erfindung des Rades
Als die Weltgeschichte ins Rollen kam
Von der Eurasischen Steppezu den frühen Hochkulturen
C.H.Beck
Räder und Wagen sind erstaunlich junge Errungenschaften. Als man in Alteuropa, Ägypten und Mesopotamien längst Städte baute, Hochöfen betrieb und schreiben konnte, wurden Lasten noch von Eseln, Kamelen und Menschen geschleppt oder – als Gipfel der Technik – auf Schlitten durch den Sand und über rollende Stämme gezogen. In den südamerikanischen Hochkulturen gab es überhaupt keine Räder. Harald Haarmann zeigt zunächst, wie um 5000 v. Chr. in der Donauzivilisation das Töpferrad erfunden wurde. Es sollte noch einmal rund tausend Jahre dauern, bis in der Eurasischen Steppe – in einer hochmobilen Gesellschaft und einem geeigneten Gelände – erstmals Wagen aufkamen. Von hier aus verbreitete sich die Innovation schnell in alle Himmelsrichtungen: nach Europa, Mesopotamien, Indien und China. Um 2000 v. Chr. begann die Ära der Streitwagen, mit denen sich weite Räume beherrschen ließen. Es war die Blütezeit der altorientalischen Großreiche. Die Verdrängung der Streitwagen durch hochmobile Reitereien konnte den Siegeszug des Rades nicht aufhalten: Transportwagen, Straßen, Schöpfräder, Spinnräder und Zahnradgetriebe haben die Welt verändert und tun das bis heute.
Harald Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprach- und Kulturwissenschaftlern. Er wurde u.a. mit dem Prix Logos der Association européenne des linguistes, Paris, sowie dem Premio Jean Monnet ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck erschienen u.a. «Geschichte der Schrift» (5. Aufl. 2017), «Vergessene Kulturen der Weltgeschichte» (2. Aufl. 2019) sowie zuletzt «Die seltsamsten Sprachen der Welt» (2. Aufl. 2021).
Einleitung – Der lange Weg zu einem einfachen Prinzip
1. Die Erfindung des Töpferrads in Europa und im Mittleren Osten
Rad, Schlitten, Wagen: Primäre und sekundäre Technologien
Die Anfänge des Töpferrads in Alteuropa
Die Einführung des Töpferrads in Mesopotamien
2. Rad und Wagen in der Kontaktzone von Ackerbauern und Steppennomaden
Frühe Kontakte im Grenzland der Donauzivilisation
Älteste Experimente mit Rad und Achse (4. Jahrtausend v.u.Z.)
Vom Scheibenrad zum Speichenrad
Die frühesten Wagen
Kurze Chronologie des Wagenbaus:
Zugtiere für Wagen und Karren (ab ca. 3500 v.u.Z.)
Der älteste Spezialwortschatz für Räder und Wagen
Die Weiterentwicklung in der Trypillja-Region
3. Von der Steppe in die frühen Hochkulturen: Die Verbreitung von Rad und Wagen
Der vierrädrige Kastenwagen im westlichen Steppengebiet und im Kaukasusvorland
Mesopotamien: Vom Lastschlitten zum Wagen
Mögliche Transferrouten nach Indien
Transfer im Rahmen der Kurgan-Migrationen: Von Mitteleuropa bis Zentralasien
Die Verbreitung in Mitteleuropa
Die Verbreitung nach Zentralasien
Das Tarimbecken als Drehscheibe
Prunkwagen als Grabbeigaben in Altchina
Die späte Einführung von Rad und Wagen in Ägypten
4. Die Ära der Streitwagen
Streitwagen im südlichen Ural
Bauweisen und Wagentypen (2000–1150v.u.Z.)
Chronologie der Streitwagenbauformen (nach Chondros u.a. 2016)
Arische Streitwagenleute in Nordindien
Der Streitwagen erobert den Mittleren Osten
Austausch zwischen dem Reich von Mitanni und Ägypten
Die Schlacht auf Rädern: Kadesch (um 1274 v.u.Z.)
Das hethitische Heer
Das ägyptische Heer
Der Verlauf der Schlacht
Der lange Weg zum Frieden
Kriegstechnik in der Antike
Die Ablösung der Streitwagen durch die Reiterei zur Zeit Alexanders des Großen
Prunk- und Paradefahrzeuge
5. Der Streitwagen als Symbol in der griechischen Welt
Wagenrennen und Olympische Spiele
Die lenkende Göttin Athene
Helios mit den Feuerrossen
Dionysos und der Wagen im Sternbild
Streitwagenmetaphorik in der Philosophie
Die Quadriga als politische Ikone
6. Räder, Riten, Religionen
Radsymbolik in Hinduismus und Buddhismus
Ratha: Prozessionen und steinerne Tempelwagen
Mobile Zeremonialplattformen in der mongolischen Steppe
Radkreuz und Sonnenwagen bei den Germanen und Kelten
Votivgaben auf Rädern und Kalenderzahnräder bei den Maya
Die Radlosigkeit in den präkolumbischen Andenkulturen
7. Wege und Straßen
Straßenbau in den frühen Hochkulturen
Die Etrusker als Fahrzeug- und Straßenbauer
Das Verkehrsnetz in den römischen Kolonien
8. Räderwerke: Auf dem Weg ins Maschinenzeitalter
Rammböcke und Belagerungstürme auf Rädern
Die Hängenden Gärten der Semiramis und die Archimedische Schraube
Göpel und Getriebe: Das Zahnrad
Schöpfräder und Wassermühlen
Die Windmühle
Die späte Erfindung des Spinnrads
Epilog
Literatur
Bildnachweis
Register
Für Pirkko-Liisa (1938–2021)In Erinnerung an die ereignisreiche Zeitunseres gemeinsamen Lebens
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Der lange Weg zu einem einfachen Prinzip
Das Rad – in elementarer Ausführung eine runde Scheibe mit Achse – zählt neben dem Gebrauch des Feuers, der Metallverarbeitung und der Schrift zu den wichtigsten Erfindungen der Menschheit. In konventionellen Handbüchern zur Kulturgeschichte findet man bis heute die veraltete Ansicht, Rad und Wagen seien in Mesopotamien erfunden worden (so noch der Tenor in dem Sammelband von Fansa/Burmeister 2004). Damit folgte man der seit Langem vorherrschenden Ansicht, dass in Mesopotamien der Ursprung aller frühen zivilisatorischen Errungenschaften zu suchen sei. Die ältesten Wagenfunde dort werden ins frühe 3. Jahrtausend v.u.Z. datiert.
Inzwischen sind aber ältere Funde außerhalb des kulturellen Einzugsgebiets von Mesopotamien gemacht worden, und die weisen auf die Kontaktzone von Ackerbauern und Viehnomaden im Grenzland der Eurasischen Steppenlandschaft. Was die Revolution in der Transporttechnologie (Rad und Wagen) betrifft, so zeichnet sich heute ein differenzierteres Bild ab, in dem die Bedeutung Südosteuropas und des eurasischen Raumes sichtbar wird. Damit wird aber auch eine neue Perspektive für die Geschichte der frühen Hochkulturen eröffnet. Sie lässt sich anhand einer Geschichte des Rades in Umrissen darstellen.
Wenn man von der Erfindung des Rades spricht, ist dies eine sehr pauschale Vorstellung. Es war ein vielschichtiger Prozess: Die Umsetzung der Idee des sich drehenden Rades machte vielerlei spezielle Erfindungen erforderlich, bis schließlich die angestrebte praktische Nutzung realisiert werden konnte.
Immer wenn es gelungen war, Radtechnologie in einem bestimmten Bereich konkret umzusetzen, und sich damit die Erfahrungen über ein Erfolgserlebnis akkumulierten, war dies ein Ansporn für weitere Anstrengungen zum Zweck praktischer Anwendungen. Vor diesem Erfahrungshintergrund konnten Inspirationsquellen für zahllose spezialisierte Erfindungen mobilisiert werden, die sich rasant in die verschiedensten Bereiche der Technik ausfächerten.
Das Rad ist nicht nur einmal erfunden worden. Zumindest lassen sich zwei Ursprungszentren identifizieren, in denen – unabhängig voneinander – Radtechnologie praktisch umgesetzt wurde. Dies ist zum einen die alteuropäische Donauzivilisation, zum anderen die mesopotamische Zivilisation im Mittleren Orient. In beiden Regionen beginnt die angewandte Radtechnologie aber nicht mit einer Revolution der Transporttechnologie, also nicht mit Rad und Wagen, sondern mit dem Töpferrad. Das heißt, die Anwendung des Rades in der Töpferei ist deutlich älter als die Experimente mit Rad und Wagen.
Es gibt Forscher, die die verfügbaren archäologischen Erkenntnisse dahingehend interpretieren, dass es sogar mehr als zwei Zentren gegeben hat, von denen aus sich die Radtechnologie in andere Regionen verbreitete: aus der Kontaktzone von Ackerbauern und Steppennomaden in der westlichen Ukraine nach Mitteleuropa, aus dem Kaukasusvorland nach Mesopotamien, von dort nach Indien. Im vorliegenden Buch kommen die verschiedenen Hypothesen zur Sprache. Zieht man das Fazit aus den neueren Forschungen, dann gelangt man zu der Erkenntnis, dass zwar das Töpferrad an zwei verschiedenen Orten der Alten Welt erfunden wurde, dass aber die Innovation im Transportwesen, die Erfindung von Rad und Wagen, nur einmal erfolgte, und zwar am Rand der Eurasischen Steppe (siehe Kapitel 2).
Die praktische Umsetzung von Funktionen für das Rad erfolgte in mehreren Innovationsschüben, die – so der kulturgeschichtliche Gesamteindruck – auf das Konto günstiger Zufälle zu verbuchen sind. Entscheidend war jeweils das Zusammenspiel produktiver Wirkungsfaktoren, also die Inspiration für eine Problemlösung und die Mobilisierung von technischem Know-how zur rechten Zeit am rechten Ort.
Die Erfindung von Rad und Wagen war zwar einmalig, aber die Entwicklung von verschiedenen Wagentypen und -modellen für die unterschiedlichsten Funktionen zog sich über einen langen Zeitraum hin. Vom klobigen Kastenwagen mit robusten Vollscheibenrädern bis hin zum schnittigen und wendigen Streitwagen mit Speichenrädern sind dies rund zweitausend Jahre. Wenn die Geschichte der Schubkarre miteinbezogen wird, spannt sich der Bogen für die Entwicklung von Wagentypen – des vierrädrigen und zweirädrigen Wagens und der einrädrigen Karre – sogar über drei Jahrtausende. Die erste Erwähnung einer Karre mit nur einem Rad stammt aus dem antiken Griechenland und datiert ins späte 5. Jahrhundert v.u.Z.
Der anfängliche Innovationsschub einer Anwendung der Radtechnologie zur Revolutionierung des Transportwesens hatte nachhaltige Auswirkungen auch für Innovationsschübe im kulturellen Bereich. Die Erfindung von Rad und Wagen war wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und Wellen auslöst. Die Auswirkungen für die kulturelle Entwicklung der frühen Zivilisationen manifestieren sich in wellenartigen Sequenzen von Innovationsschüben.
In einigen Kontexten lassen sich komplexe Innovationssequenzen beobachten. Eine solche ist beispielsweise für die militärtechnische, politische und kulturelle Entwicklung im Nahen Osten und in Ägypten während der Bronzezeit festzustellen. Das 2. Jahrtausend v.u.Z. brachte in dieser Großregion zahlreiche Neuerungen, die ihren Ausgang in unvorhersehbaren grundstürzenden Verschiebungen im Kräfteverhältnis der Großmächte nahmen – eine Art Big Bang, der zahlreiche Folgereaktionen auslöste.
Der Kriegerelite der Mitanni, die aus Zentralasien kommend um 1500 v.u.Z. weite Gebiete im Mittleren und Nahen Osten eroberten, gelang es, sich als neue regionale Großmacht zu etablieren. Ihre militärischen Erfolge verdankten sie dem taktischen Einsatz ihrer überlegenen Kriegsmaschine: des technisch aufgerüsteten Streitwagens.
In der Folge musste sich der Nachbar im Süden, das Pharaonenreich, mit dem neuen Machtfaktor arrangieren. Dies taten die Pharaonen der 18. Dynastie im 14. Jahrhundert v.u.Z.: Amenophis III. und sein Nachfolger, Amenophis IV. (Echnaton), unterhielten enge diplomatische Beziehungen zum Reich von Mitanni, und diese Beziehungen wurden durch den Austausch von Prinzen und Prinzessinnen zwischen den Herrscherhäusern verstärkt. Dabei gelangten zwei Prinzessinnen der Mitanni nach Ägypten, die Geschichte schrieben: Teje, die Mutter von Echnaton, und Nofretete, die als «Große Königsgemahlin» an der Seite ihres Gemahls, des Pharao Echnaton, glänzte.
Der rege soziale und kulturelle Austausch mit den Mitanni umfasste auch eine Intensivierung des Transfers von technischem Know-how. Ägyptische Techniker verwerteten das Wissen der Wagenbauer von Mitanni, und es gelang ihnen, ein ausgereiftes Streitwagenmodell zu entwickeln (siehe Kapitel 4). Als Pharao Ramses II. im 13. Jahrhundert v.u.Z. seine Feldzüge im Nahen Osten durchführte, war er auch deshalb militärisch erfolgreich, weil er die damals modernste Kriegsmaschine der Welt einsetzen konnte: den Streitwagen mit Federung der Achsenaufhängung. Auf lange Sicht bewirkte die technologische Überlegenheit eine militärische und somit eine geopolitische Stärkung des Reichs am Nil.
Seit der Erfindung des Streitwagens wurde dieses Gefährt in zwei grundverschiedenen Funktionen eingesetzt: zum einen als Kriegsmaschine, die die militärischen Operationen revolutionierte, denn die bewegliche Kriegsführung nahm mit dem Streitwagen ihren Ausgang; zum anderen als Repräsentationsvehikel, auf dem sich Leute von Rang in der Öffentlichkeit zur Schau stellten. So fuhr der Tyrann Peisistratos auf einem Streitwagen in Begleitung einer als Athene verkleideten Hetäre in Athen ein, um die Athener zu beeindrucken, und lange vor ihm zeigte sich schon Nofretete auf einem Streitwagen der staunenden Menge.
Die Geschichte der Streitwagen als Repräsentationsvehikel ist sogar länger als die der Kriegsmaschine. Sie reicht bis in unsere Tage, beispielsweise in enger Verbindung mit der vielleicht bekanntesten politischen Ikone der neueren deutschen Geschichte, dem Brandenburger Tor: Auf diesem Bauwerk – und nicht nur auf diesem – prangt eine Quadriga, ein vierspänniger Streitwagen, hier mit der Figur der römischen Siegesgöttin Victoria als Wagenlenkerin (siehe Kapitel 5).
Die praktische Umsetzung von Radtechnologie in Form des Töpferrads und des Wagens auf Rädern markiert den Anfang einer unendlichen Kette von speziellen Radfunktionen, deren Nutzung das technologische Niveau der frühen Zivilisationen beständig angehoben hat. Die Verwendung von Wagen bedeutete eine neue Herausforderung für die verkehrstechnische Infrastruktur, nämlich die Erschließung eines Verkehrsnetzes mit befestigten Wegen und Straßen. Die Römer sind bekannt als versierte Straßenbauer. Doch sie haben vom Know-how der Etrusker profitiert, und bereits vor ihnen wurde Straßenbau im imperialen Stil betrieben, so im Persischen Reich während des 5. Jahrhunderts v.u.Z. (Kapitel 7).
Parallel zu den praktischen Radfunktionen tritt uns insbesondere in den Kulturen, in denen Rad und Wagen seit jeher eine wichtige Rolle gespielt haben, eine variantenreiche Symbolik entgegen, die sich um Rad und/oder Wagen rankt. Manifestationen für das eine wie das andere findet man im Mythenschatz, in den religiösen Vorstellungen und in kulturell überformten metaphorischen Konzepten in den Wissenschaften (etwa der «Große Wagen» als Sternbild). Breit ausgefächert sind praktische wie symbolische Radfunktionen, die mit der Kulturgeschichte der griechischen Antike assoziiert sind. Die Radsymbolik hat einen festen Platz in der Mythologie, man denke an Helios mit dem Sonnenwagen, und in der Philosophie, etwa in der Streitwagenmetaphorik bei Platon (siehe Kapitel 5).
Beide Elemente spielen auch eine zentrale Rolle im Hinduismus und Buddhismus (siehe Kapitel 6). Das wichtigste Attribut des hinduistischen Hochgottes Vishnu ist das Sonnenrad (sudarsanacakra), das als Waffe gebraucht wird. In der mythischen Überlieferung öffnet Vishnu damit den Streitwagenkriegern aus Zentralasien die Tore nach Indien. Anlässlich des großen Hindu-Festes, des rathajatra, finden Prozessionen mit Tempelwagen statt.
Aufgabe einer Kulturgeschichte des Rades ist es auch, auf Leerstellen hinzuweisen. Es gibt eine Kulturregion der Welt, wo sich frühe, blühende Zivilisationen entfaltet haben, die aber keine praktische Funktion von Radtechnologie kannten. Dies ist das präkolumbische Amerika. Sowohl in Mittelamerika, bei den Maya und Azteken, als auch in Südamerika, bei den Moche und Inka, gab es bis zur Ankunft der Europäer keine Wagen mit Rädern, und auch andere praktische Radfunktionen wie das Töpferrad waren unbekannt.
Dennoch haben sich dort, so verwirrend dies erscheinen mag, verschiedene symbolische Radfunktionen entwickelt. So haben Archäologen Miniaturskulpturen mit Rädern gefunden, die vorschnell als «Spielzeuge auf Rädern» (toys on wheels) deklariert wurden, weil sie bei modernen Betrachtern eine Assoziation mit Kinderspielzeugen auslösten. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Objekten aber um Votivgaben, die an Ritualplätzen deponiert wurden. Stellt man die Bindung der Radfunktion an die religiöse Sphäre in Rechnung, so wird offenbar, dass die solchermaßen sakralisierte Radfunktion wohl eine Art Blockierung bewirkte, eine kulturell motivierte Sperre, diese Funktion für praktische Anwendungen zu profanisieren.
Auch das Prinzip des Zahnrads war im präkolumbischen Amerika bekannt, allerdings ebenfalls ausschließlich in sakral-symbolischer Funktion. Im Kalenderwesen wurde zwischen den Tagesbezeichnungen eines profanen und eines sakralen Kalenders unterschieden. In der Visualisierung als Kalenderrunde griffen Räder nach dem Zahnradprinzip ineinander und ermöglichten damit eine Synchronisierung der Tagesrechnung für beide separaten Kalender (siehe Kapitel 6). Auch hier dürfte die religiöse Bindung den Ausschlag gegeben haben für eine symbolische, nicht durch reale Anwendung profanisierte Isolation des Radprinzips.
In der Synopsis der vielfältigen praktischen Umsetzungen der Radtechnologie wird deutlich, dass sich Innovationsschübe nicht in regelmäßigen Intervallen manifestierten. Vielmehr war es jeweils das Zusammenwirken von vielerlei Einzelfaktoren, das einen Durchbruch für eine bestimmte Erfindung brachte. Man könnte annehmen, dass der einrädrige Wagen, die Schubkarre, wegen seiner einfachen Bauart das erste Wagenmodell in der Geschichte der Technik gewesen wäre. Es verhält sich jedoch genau umgekehrt: der Wagen mit vier Rädern stand am Anfang, und die Schubkarre war ein «Spätentwickler». Die Drehbewegung einer Spindel lädt scheinbar unmittelbar zur assoziativen Erfindung des Spinnrads ein. Doch die Kulturgeschichte zeigt, dass es viele Jahrtausende dauern sollte, bis die Radtechnologie im Bereich des Spinnens praktisch umgesetzt wurde (siehe Kapitel 8). Bei der Rückblende in die Geschichte des Rades erweist sich ein an Selbstverständlichkeiten orientiertes modernes Denken als wenig hilfreich, ja eher als Hindernis.
Die menschliche Kreativität lässt sich nicht gängeln oder kommandieren. Der geistige Funke für eine Erfindung springt über, wenn dafür der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Den Menschen in der Donauzivilisation war ein Begriff bekannt, der als frühes Lehnwort in den Wortschatz des Altgriechischen übernommen wurde. Dies ist kairos, ein eindeutig vorgriechischer Ausdruck aus der Spezialterminologie des Bogenschießens, die sich bei den Alteuropäern ausgebildet hatte. Der Schütze peilt das Ziel an, er kalkuliert die Flugbahn in Relation zur Dynamik des abgeschossenen Pfeils und berücksichtigt die Windströmung. Dann kommt der Moment, in dem alle Impulse eingeschätzt sind, die über den Erfolg der Aktion entscheiden, der Augenblick, der maximale Wirkung verspricht: kairos. Genau dann lässt der Schütze die Sehne los, der Pfeil schnellt heraus und auf sein Ziel zu.
Der Ausdruck kairos wird in den altgriechischen Texten mit vielerlei Sonderbedeutungen verwendet, die sich alle von der begrifflichen Basis des «rechten Augenblicks» ableiten. Und wie die Kulturgeschichte zeigt, waren alle Innovationen der Radtechnologie dem Konzept des kairos verpflichtet.
1.
Es liegt die Vermutung nahe, dass die natürliche Umwelt in Gestalt rollender Baumstämme oder Steine die Menschen zur Erfindung des Rades inspiriert haben mag. Dies trifft aber nicht zu. Verbreitet ist auch die Ansicht, das Wagenrad sei eine grundlegende, eine primäre Technologie, doch letztlich ist es eine Weiterentwicklung von älteren technischen Lösungen. Die Pyramidenbauer im Alten Ägypten etwa transportierten die riesigen Steinquader auf Schlitten, deren Kufen eingefettet waren, und die über eigens dafür angelegte Rollbahnen rutschten. Sie wurden mit der Muskelkraft von Tausenden von Arbeitern bewegt. Der Transportschlitten war eine primäre Technologie, der Wagen auf Rädern jedoch eine Spezialisierung und daher sekundär.
Die Assoziation des Rades mit einem Transportmittel (Wagen) war nicht der Ausgangspunkt für seine Verwendung. Vielmehr kam der entscheidende Impuls dafür erst zu einer Zeit, als die Radtechnologie bereits in einer anderen Domäne erfolgreich zur Anwendung gekommen war, nämlich in der Töpferei.
Die Abfolge von primärer und sekundärer Technologie ist auch für andere Bereiche charakteristisch, beispielsweise bei Jagdwaffen. So gehören Speere zu den primären Technologien und sind bereits vom Frühmenschen verwendet worden (Homo heidelbergensis, Neandertaler, anatomisch moderner Mensch). Die Geschichte einer Verwendung von Speeren reicht mindestens eine halbe Million Jahre zurück. Pfeil und Bogen dagegen wurden erst relativ «spät» erfunden, und zwar gegen Ende der letzten Eiszeit. Diese Waffe ist seit rund 24.000 Jahren in Gebrauch und ein Produkt sekundärer Technologie: die Idee der primären Stoßwaffe, des Speers, wird in Kleinformat mit einem Zug- und Spannmechanismus, dem Bogen, zu einer effektiven Waffe mit Fernwirkung.
Die Erkenntnisse der Kulturgeschichte sprechen dafür, dass die Erfindung des Rades für praktische Funktionen nur in solchen Kontexten zu erwarten ist, wo bereits primäre – und möglicherweise andere sekundäre – Technologien realisiert sind.
Der früheste Nachweis von Entwicklungsphasen primärer und sekundärer Radtechnologie ist mit der Donauzivilisation assoziiert, die in der jüngeren Zivilisationsforschung als die älteste der frühen Hochkulturen der Welt identifiziert wird (Anthony 2009b; Haarmann 2020).
Der Übergang vom Mesolithikum zum Neolithikum, von der Wirtschaftsform des Jagens und Sammelns zum Pflanzenanbau, setzte in Südosteuropa im 8. Jahrtausend v.u.Z. ein und erreichte um die Mitte des 7. Jahrtausends v.u.Z. einen ersten Höhepunkt. Damals entstanden im Küstengebiet der Ägäis (in Thessalien) die ersten Dorfgemeinschaften, und deren Bewohner waren sesshafte Ackerbauern (Weninger u.a. 2014). Das «Agrarpaket» (Pflanzenanbau in Verbindung mit sesshaft-agrarischer Lebensweise) verbreitete sich von Thessalien aus ins Inland, nach Norden und Nordwesten.
Die Anfänge der Donauzivilisation liegen um 6500 v.u.Z. Die Donau entwickelte sich zum Transportweg für den aufblühenden Handel. Mit zahlreichen Nebenrouten über die Nebenflüsse entstand ein weit ausgedehntes Netz für den Warenverkehr sowie für den Austausch von Ideen und Kulturgütern. Das Einzugsgebiet der Donauzivilisation erstreckte sich während der Blütezeit (5. und 4. Jahrtausend v.u.Z.) von der Region um Wien im Westen bis in die Gegend von Kiew im Osten und bis weit in den Süden in die Inselwelt des Ägäischen Meeres.
Das Kernland Alteuropas und die Vernetzung der Wirtschaftsräume: Routen des alteuropäischen Binnenhandels und der Kontakte über das Kerngebiet hinaus (Haarmann/LaBGC 2021: 11)
Das Verkehrsnetz erweiterte sich über die Flussläufe in die küstennahen Gewässer des Mittelmeers, in die ägäische Inselwelt bis Kreta, über die Meerenge des Bosporus ins Schwarze Meer, über das Ionische Meer in die Adria und ins westliche Mittelmeer. Der Seehandel machte die Entwicklung seetüchtiger Schiffe erforderlich. Die Schiffbauer Alteuropas konnten sich nicht am technologischen Wissensstand im Nahen Osten orientieren, denn es sollte noch Jahrtausende dauern, bis sich dort die Schifffahrt entwickelte. Die Schiffe der alteuropäischen Kaufleute waren somit originale Konstrukte, und dementsprechend ist auch die frühe Terminologie des Schiffbaus in dieser Weltregion gekennzeichnet durch Ausdrücke vorgriechischer (= nicht-indoeuropäischer) Prägung. Das frühe Know-how der Schiffbauer an den Küsten Alteuropas hat langfristig Spuren hinterlassen, nämlich in vorgriechischen Lehnwörtern im Altgriechischen (Haarmann 2018).
Im Milieu der Donauzivilisation sind noch eine Reihe weiterer technologischer Errungenschaften entwickelt worden – Ersterfindungen, die es damals noch nirgendwo sonst auf der Welt gab. Findige Alteuropäer waren es, die einen Brennofen mit zwei Kammern entwickelten, der das Brennen von Tonware und Keramik bei hohen kontrollierbaren Temperaturen erlaubte. Eine untere Kammer wurde mit Brennmaterial gefüllt und angeheizt. Die heiße Luft stieg durch einen durchlöcherten Zwischenboden in die Brennkammer, wo Tonbehälter hart gebrannt wurden. In den Brennkammern konnte eine Temperatur von über 1000° erreicht und gehalten werden, und zwar durch Anblasen der Glut in der unteren Kammer.
Dass im Brennofen hohe Temperaturen kontrolliert werden konnten, machte es möglich, den Ofen in einer sekundären funktionellen Erweiterung zu verwenden, nämlich um Metall zu schmelzen. Der Durchbruch zur Schmelztechnik wurde für Kupfer zuerst im Süden des heutigen Serbien erreicht, wo sich die frühesten Spuren in die Zeit um 5400 v.u.Z. datieren lassen. Es sollte noch einige Jahrhunderte dauern, bevor auch Gold eingeschmolzen und zu kunstvollen Objekten verarbeitet wurde. Von der Fertigkeit der frühen Goldschmiede legt der älteste Goldschatz der Welt mit Objekten aus der neolithischen Nekropole von Varna um 4500 v.u.Z. ein beredtes Zeugnis ab.
Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung in den Regionalkulturen der Donauzivilisation ist es kaum verwunderlich, dass sich in Alteuropa das Tor der Kulturgeschichte in die Welt der Schriftlichkeit geöffnet hat. Die Datierung der ältesten beschrifteten Objekte von Fundstätten in Tartaria und Turdas (Transsilvanien, Rumänien) weist in den Zeitraum um 5300 v.u.Z. Die Anfänge eines systematischen Gebrauchs von Zeichen mit konventionsgebundener Bedeutung in der Donauzivilisation liegen um rund zwei Jahrtausende vor dem Beginn der Verwendung von Schrift im Alten Ägypten oder in Mesopotamien. Allerdings ist diese «Donauschrift» bislang noch nicht entziffert.