Das rätselhafte Gewebe unserer Wirklichkeit und die Grenzen der Physik - Gerd Ganteför - E-Book

Das rätselhafte Gewebe unserer Wirklichkeit und die Grenzen der Physik E-Book

Gerd Ganteför

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Beschreibung

Der Siegeszug der klassischen Physik hat die Welt entzaubert. Die Realität, so die gängige Auffassung, wird von Naturgesetzen geregelt, die letztlich alles erklären können. Doch dieses Bild ist falsch. Viele grundlegende Fragen sind noch immer unbeantwortet. Und die neuesten Erkenntnisse der Quantentheorie weisen sogar darauf hin, dass es eine Realität jenseits von unserer Vorstellung von Raum und Zeit gibt. Professor Gerd Ganteför zeigt, dass sich moderne Physik und Religion keineswegs ausschließen. Im Gegenteil: Aus ihrem Spannungsfeld kann womöglich ein neues Verständnis der Wirklichkeit entstehen. Virtuos und verständlich eröffnet Gerd Ganteför neue Einblicke in Unstimmigkeiten, Unerklärliches, Zauberhaftes und manchmal Unheimliches im Weltbild der Physik. Ein Buch, das erklärt, was die Physik (noch) nicht erklären kann.

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Seitenzahl: 272

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-86489-881-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt / Main 2023

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Gestaltung und Satz: quintessense, Berlin

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Die Zivilisation in der Dunkelwolke

Kapitel 2 Das Weltbild der Physik: Was ist ein Universum und wie ist unseres entstanden?

Die Raumzeit

Die Elementarteilchen

Die Naturkräfte

Die Naturgesetze

Die Naturkonstanten

Wie ist das Universum entstanden?

Kapitel 3 Offene Fragen der Physik

Gravitationswellen

Gammablitze

Das Higgs-Teilchen

Die 18 freien Parameter des Standardmodells

Schwarze Minilöcher

Hawking-Strahlung

Antimaterie

Dunkle Materie

Dunkle Energie

Die Inflation, das Horizontproblem und die Flachheit

Eine Quantentheorie der Gravitation

Kapitel 4 Vorstoß ins Unbekannte

Das maßgeschneiderte Universum

Vier Antworten auf die „Warum-Frage“

Was war vor dem Urknall?

Kapitel 5 Unerklärliches, Unfassbares und Unheimliches

Quantenphysik

Information

Schlusswort: Was bedeutet das alles?

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Dieses Buch ist die Essenz der letzten zehn Jahre an Vorlesungen, die ich im Masterprogramm Physik an der Universität Konstanz gehalten habe. Unser kleiner Fachbereich hat sich in der Forschung zwar auf Nanowissenschaften spezialisiert, aber in der Lehre ist es notwendig, alle Teilgebiete der Physik abzudecken. So kam es, dass ich als Fachmann im Bereich der Nanopartikel unverhofft Veranstaltungen mit Themen außerhalb meines eigentlichen Gebietes halten durfte. Dazu gehörten die Vorlesungen „Astrophysik“ und „Grenzen des Wissens“, in der ich die Studierenden an den Rand unseres Verständnisses der Physik und der Biologie führte. Meine ursprüngliche Ausbildung ist die eines Kernphysikers, weshalb ich auch häufiger „Kern – und Teilchenphysik“ lehrte. Zu meinen Kernkompetenzen gehören außerdem die „Nano-Vorlesung“ und der „Grundkurs zur Quantenmechanik“. Bei all diesen Veranstaltungen handelt es sich nicht um einzelne Vorträge, sondern um Vorlesungen über ein ganzes Semester, die pro Thema 20 bis 40 Stunden Redezeit umfassen. Ein Teil davon, vor allem aus der Zeit der Pandemie, sind auf meinem Youtube-Kanal „Grenzen des Wissens“ sowie auf meiner Website „www.grenzen-des-wissens.com“ frei zugänglich. Ich möchte jedoch gleich vorwegnehmen, dass wir in diesem Buch deutlich sanfter an die Materie herangehen, wo es möglich ist mit Beispielen arbeiten und komplizierte Punkte gelegentlich wiederholen werden, um unnötiges Blättern zu vermeiden.

Zu Beginn meiner Karriere war ich wie viele andere der Meinung, dass die Wissenschaft im 21. Jahrhundert die Welt weitestgehend erkundet hat und die noch offenen Fragen vermutlich in absehbarer Zukunft geklärt sein würden. Aber als ich tiefer in die Denkgebäude der Physik, deren Einsichten man zu den fundamentalsten zählt, eindrang und mein Blick sich immer mehr ausweitete, bekam ich Zweifel an der Vollständigkeit ihres Weltbildes. Die Physik hat eine Modellvorstellung von der Wirklichkeit entwickelt, die zwar zunächst überzeugend aussieht, aber bei genauerem Hinsehen Löcher und Unklarheiten aufweist. Auch gibt es „Flicken“, die auf unbeweisbaren Annahmen beruhen und mit denen man Unstimmigkeiten in den großen Modellen einfach ad hoc „repariert“. Ein Beispiel ist die Inflationstheorie. Das Universum soll sich unmittelbar nach dem Urknall kurzeitig, nur für einen minimalen Augenblick mit Überlichtgeschwindigkeit ausgedehnt haben. Bezüglich der Hintergründe für diese Behauptung gibt es zwar Hypothesen, aber keine experimentellen Beweise. Bei der Annahme handelt es sich lediglich um einen Flicken des Urknallmodells, der notwendig ist, um das sogenannte Horizontproblem zu lösen. Ich erkläre das im Buch genauer. Ohne sie gäbe es jedenfalls ernste Zweifel an der Gültigkeit der Theorie. Aber das Urknallmodell hat ohnehin das Problem, dass es den Urknall nicht erklären kann. Ist eine Theorie noch angemessen, wenn sie an der Erklärung des Objekts, nach dem sie benannt wurde, scheitert?

Es gibt zahlreiche weitere Unklarheiten und Rätsel dieser Art. In den letzten beiden Kapiteln des Buches behandeln wir wissenschaftliche Erkenntnisse jenseits des menschlichen Verstehens. Möglicherweise kann unser Bewusstsein die Realität dieser Zonen, die sich weit außerhalb unserer Lebenswirklichkeit befinden, nicht vollständig erfassen. Dazu gehört zum Beispiel die Auffassung einiger Physikerinnen und Physiker, die Grundlage allen Seins sei nicht Materie, sondern „Information“. Was soll das sein? Im übertragenen Sinn könnte man Information mit „Geist“ gleichsetzen. „Wie bitte?“, höre ich schon rufen: „Geist als Grundlage allen Seins? Das hört sich äußerst unwissenschaftlich an!“ – und doch gibt es seriöse Leute in der akademischen Physik, die genau diese These vertreten. Ihre Parole lautet „It from Bit“. Das soll heißen, dass alles Sein der Information entspringt. Auch ich fand das zunächst ziemlich exotisch. Aber je mehr ich über die Physik lernte, desto nachdenklicher wurde ich. Diese Nachdenklichkeit manifestiert sich im vorliegenden Buch. Als Nebeneffekt bringe ich den Zauber zurück in unsere Welt.

1 Die Zivilisation in der Dunkelwolke

Das vorliegende Buch handelt von der Wirklichkeit – von dem, was wir wissen, dem, was wir nur glauben zu wissen, und dem, was wir nicht wissen. Es ist ein Buch, das den Anspruch der Physik, alles erklären zu können, in Zweifel zieht. Dabei beruht es streng auf den Erkenntnissen wissenschaftlicher Experimente. Gemeint sind die Ergebnisse von Messungen, also Befragungen der Wirklichkeit, die in etablierten Fachzeitschriften der Naturwissenschaften veröffentlicht wurden. Es wird sich zeigen, dass einige dieser Experimente mit den Modellvorstellungen der Physik kaum in Einklang zu bringen sind. Und das bedeutet wiederum, dass unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit Lücken aufweisen. Es gibt mehr, als wir uns vorstellen können.

Aktuell ist das Weltbild der Physik streng materialistisch aufgebaut. Demzufolge gleicht das Universum einer gigantischen Maschine, deren Zahnräder in Form von Naturgesetzen den Ablauf bestimmter Prozesse kontrollieren. In der Physik existieren weder Geist noch Sinn noch Bewusstsein – und noch nicht einmal Leben. Dieses Weltbild repräsentiert einen Zeitgeist, der sich vom Gedanken an das „Übernatürliche“ abgewandt hat und alles aus einer Maschinenperspektive heraus analysieren will. In seinen Grundzügen ist das Phänomen nicht neu: Auch in der Vergangenheit bestand stets die Gefahr, dass die aktuell vorherrschende Weltanschauung die Modellvorstellungen der Naturwissenschaft verzerrt, wie zu jenen Zeiten, als die Menschen noch davon überzeugt waren, dass die Erde flach und der Mittelpunkt des Universums sei. Ironischerweise haben die jüngeren Erkenntnisse der Naturwissenschaften seitdem erneut ihre Verabsolutierung zur Folge gehabt. Leben und Bewusstsein sind in der aktuellen Vorstellung nur äußerst unwahrscheinliche Zufälle, sozusagen Fehler im automatischen Ablauf eines Maschinenuniversums. Die Welt hat ihren Zauber verloren.

Wenn eine physikalische Modellvorstellung so stark mit dem aktuellen Zeitgeist übereinstimmt, besteht die Möglichkeit, dass sie Beobachtungen, die nicht zu ihr passen, einfach außer Acht lässt. Doch die Wirklichkeit ist fremdartig. Vielleicht verfügt der menschliche Geist auch schlichtweg nicht über die Kapazitäten, sie nur annähernd vollständig zu erfassen. Dann wäre lediglich ein kleiner Teil der Realität unserem Denken überhaupt zugänglich. Wir können hoffen, dass er sich im Laufe der Jahrhunderte langsam vergrößert.

Es stimmt also keinesfalls, dass wir alles Grundlegende bereits herausgefunden haben und nur noch an Verfeinerungen der bisherigen Erkenntnisse arbeiten. Im Gegenteil gibt es sogar Indizien, dass uns in Zukunft große Entdeckungen weit außerhalb der etablierten Physik bevorstehen. Von ihnen handelt dieses Buch. Es entführt den Leser in Räume und Zeiten weit jenseits der vierdimensionalen Raumkugel, auf die wir meinen beschränkt zu sein, und hinein in gedankliche Sphären, in denen die Welt nicht bloß aus Kügelchen und Federn besteht, deren Schwingungen langsam abklingen und dem Kältetod entgegendriften. Stattdessen zeigt es zum Beispiel die Möglichkeit eines informationsbasierten, „geistreichen“ Universums auf, dessen Elementarteilchen Bits eines ungeheuren Computers sind.

Grundlage der Naturwissenschaft ist die Übereinstimmung von Theorie und Experiment. Mathematische Formeln gibt es viele, aber nur wenige stimmen mit der Wirklichkeit überein. Die Korrespondenz muss erst im Experiment überprüft werden. Und allein wenn eine Theorie diesen Test besteht, erlangt sie einen gewissen Grad an Wahrheit. Denn dann beschreibt sie zumindest Teile der Wirklichkeit korrekt. Auch in diesem Buch, das sich der Naturwissenschaft verpflichtet sieht, muss immer ein experimenteller Beweis erbracht werden, der die Behauptung, es gäbe mehr als das, was die Physik bisher erkundet hat, bestätigt. Allerdings ist es nicht möglich, das Unbekannte zu beschreiben, denn dann wäre es bekannt. Wir müssen uns daher darauf beschränken, Indizien für die Existenz solcher Bereiche der Realität aufzuzeigen. Freilich gibt es diese zuhauf, weshalb nur die wichtigsten in den folgenden Kapiteln beschrieben werden. Bei diesen Indizien handelt es sich überwiegend um offene Fragen und Unstimmigkeiten im etablierten Weltbild der Physik. Man könnte sie als unwesentliche Kleinigkeiten abtun, die im Laufe der Zeit wahrscheinlich noch geklärt werden, ohne dass wir unsere Vorstellung von der Welt grundlegend verändern müssten. Aber die folgende Fabel veranschaulicht vielleicht, dass offene Fragen und Unstimmigkeiten auf eine beschränkte Anschauung hindeuten können:

Es war einmal eine Zivilisation in einer Dunkelwolke. Diese Ansammlungen aus fein verteiltem kosmischem Staub, der zumindest auf langen Distanzen kein Licht hindurchlässt, finden sich überall in unserer Galaxis. Durch Infrarotaufnahmen weltraumgestützter Teleskope wissen wir, dass sich in ihnen auch Sonnen befinden. Ihre Winde befreien vermutlich die unmittelbare Umgebung um sie herum von Staub, sodass diese Sterne kleine Inseln in einem Meer aus Dunkelheit bilden. Um unsere imaginäre Sonne herum kreisen drei Planeten: ein extrem heißer Gesteinsplanet nahe dem Zentrum, ähnlich unserem Merkur; ein roter Gasriese außen am Rand, ähnlich unserem Jupiter; und schließlich ein blauer Wasserplanet, der im genau richtigen Abstand von der Sonne in der staubfreien Blase seine Bahnen zieht.

Nehmen wir an, auf diesem Planeten sind die Bedingungen so günstig für das Leben wie auf unserer Erde. So kommt dieses auch zustande und durchläuft vergleichbare Entwicklungsstadien, wie wir sie von hier kennen. Die Naturgesetze sind – soweit wir heute wissen – überall im Universum die gleichen, weshalb ein solcher Verlauf zumindest nicht ausgeschlossen ist. Das gilt für die uns zugängliche Raumkugel mit 13,7 Milliarden Lichtjahren Durchmesser, also auf jeden Fall auch innerhalb unserer nur wenige hunderttausend Lichtjahre großen Galaxis. Unser gedachter Planet entstand zunächst als glühende Lavakugel, die allmählich abkühlte. Dann regnete es Zigtausende von Jahren und es bildeten sich die Ozeane. In ihnen entstand einfaches, einzelliges Leben. Für zwei oder drei Milliarden Jahre blieb es dabei. Im Laufe der Zeit führte die Photosynthese der Atmosphäre des Planeten immer mehr Sauerstoff zu. Damit beschleunigte sich die Evolution gewaltig. Das Leben eroberte die Kontinente, weil es durch die aus dem Sauerstoff neu gebildete Ozonschicht vor der UV-Strahlung geschützt war. Landpflanzen und -Tiere erreichten immer höhere Entwicklungsstufen, bis schließlich intelligentes Leben die Bühne betrat. Wie dieses genau aussah, sollte für unsere Fabel nicht relevant sein. Wichtig ist nur, dass es Werkzeuge benutzte, Maschinen baute und über die Frage nachdachte, in was für einer Welt es lebte und wie seine Heimat im Kosmos entstanden sein könnte.

Abb. 1: Illustration der gedachten Zivilisation in einer kosmischen Dunkelwolke. In ihrer Mitte befindet sich das Sonnensystem mit den drei Planeten. Die intelligenten Bewohner des zweiten Gestirns haben kein Wissen von anderen Sonnen oder Galaxien, es sei denn sie entwickeln interstellare Raumfahrt und schaffen es, in den freien Raum vorzustoßen. Sicher wären sie über den Anblick sehr überrascht.

Bis zu diesem Punkt lief also alles genau so ab, wie auf unserer Erde, mit nur einem wichtigen Unterschied: Die intelligenten Lebewesen wussten nichts von anderen Sonnen, anderen Galaxien und der kosmischen Hintergrundstrahlung, dem Nachglühen des Urknalls. Ihr Kenntnisstand über das Universum war durch ihr Dasein in einer kosmischen Dunkelwolke stark eingeschränkt.

Die Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entdeckten dort ähnlich wie auf der Erde die vielfältigen Naturgesetze und entwickelten eine ausgeklügelte Biologie, Chemie und Physik. Sie wussten, dass die Materie aus Atomen aufgebaut ist, die ihrerseits aus Elementarteilchen bestehen. Sie waren den Quarks und den vier Naturkräften auf die Spur gekommen. Doch obwohl sie die Fusionsprozesse im Innern ihrer Sonne mathematisch zu beschreiben vermochten, hatten sie keine Vorstellung davon, wie sie entstanden sein könnte. Man untersuchte den umliegenden Weltraum, sah aber nur die gewaltigen Mengen an kosmischem Staub, der sich in scheinbar endlose Weiten erstreckt. Sonden drangen viele Milliarden Kilometer weit in die Dunkelwolke ein, doch fanden stets nichts als Finsternis. Die Forschenden konnten nicht wissen, dass es nur eine Dunkelwolke – ihrerseits lediglich ein winziger Teil der größeren galaktischen Struktur – war, in der sie sich befanden. Aus ihrer Perspektive schien das ganze Universum aus Staub zu bestehen. Aber woher kam er und wieso gab es darin eine Sonne mit drei Planeten?

Ihre Physikerinnen und Physiker überlegten lange und entwickelten schließlich die „Urloch-Theorie“. Demnach entstand vor undenkbar langer Zeit – grobe Schätzungen anhand der Staubmenge gingen von mindestens 10 000 Milliarden Jahren aus – spontan ein Loch in der Raumzeit. Durch dieses drang ein konstanter Fluss von Wasserstoffatomen in das normale Raum-Zeit-Kontinuum ein. Um das Loch herum bildete sich eine stetig anschwellende Gas-Blase, die durch ihre Eigengravitation zusammengehalten wurde. Letztere stieg mit zunehmender Masse immer weiter an, bis das Gebilde schließlich kontrahierte und die Wasserstoffatome in seinem Zentrum miteinander zu verschmelzen begannen. Fiat Lux – damit war ihre Sonne geboren. Mit dem konstanten Zustrom an frischem Fusionsbrennstoff durch das Urloch brannte ihr Stern fürderhin Tausende von Milliarden Jahren. Der viele Staub im beobachtbaren Universum – so jedenfalls die Theorie – sei einfach ein Nebenprodukt der Sonne, das sich von ihren Winden getragen weit in den Raum verteilt hat. Die Zusammensetzung der gesammelten Proben passte auch gut zu den bekannten Fusionsprozessen, die unter den Bedingungen im Zentrum ihres Gestirns ablaufen sollten.

Die Befürworter untermauerten ihre Theorie mit unzähligen Beobachtungen und konnten viele vorher rätselhafte Daten erklären. Trotzdem gab es Skeptiker. Diese fragten zum Beispiel, wie es denn sein könne, dass haargenau die richtige Menge an Wasserstoff in einem über Jahrmilliarden konstanten Fluss aus dem Urloch gequollen sei. Die Befürworter hatten dafür eine Erklärung parat, die auf einer Theorie über Singularitäten im vierdimensionalen Raum-Zeit-Gefüge beruht und die außer ihnen selber niemand verstand. Jedenfalls waren sie sich sicher, dass die bekannten Naturgesetze dem Phänomen eines konstanten Zuflusses nicht widersprachen. Die Skeptiker blieben zwar misstrauisch, konnten dem aber nichts entgegenhalten, weil die Mathematik der Urloch-Theorie sie bei weitem überforderte. Außerdem gab es keine Chance einer experimentellen Überprüfung. Denn Theorien dieser Art gehören zu den Modellvorstellungen der Physik, die nicht falsifizierbar sind – es sei denn, man hätte ein künstliches Urloch im Labor erschaffen oder eine Sonde ins Zentrum der Sonne geschickt. Beides war jedoch technisch nicht möglich. Manche Skeptiker meinten sogar, dass es sich bei einer nicht-falsifizierbaren Theorie um keine echte Naturwissenschaft handle. Aber die Forschenden in der Dunkelwolke wussten sich nicht besser zu behelfen.

Es gab noch eine weitere Frage aufseiten der Skeptiker: Woher kommen die vielen chemischen Elemente – nämlich alle, die schwerer als Eisen sind –, die nicht durch Fusionsprozesse in der Sonne entstanden sein konnten? Die Urloch-Theoretiker antworteten etwas betreten, dass sie dafür zurzeit keine gesicherte Erklärung hätten, nur eine These. Dieser zufolge existiere es eine noch unbekannte Art von Materie – sie nannten sie „Helle Materie“, weil sie im Zentrum der Sonne in heller Weißglut vorliegen musste –, welche die Entstehung dieser schwereren Elemente katalysiere. Fortan wurde viel über diese rätselhafte Substanz geforscht, doch entzog sie sich beharrlich jedem Versuch eines experimentellen Nachweises.

Aber die Skeptiker hatten noch mehr Fragen und die Verteidiger der Urloch-Theorie zeigten sich allmählich genervt. Wie war das Urloch entstanden und was gab es davor? Damit trafen sie einen wunden Punkt: Die Theorie hatte nämlich die Schwäche, dass sie das Urloch selbst nicht erklären konnte. Ihre Befürworter entgegneten in gereiztem Ton, dass es vor der Entstehung des Urlochs keine Materie im Universum gegeben habe und jeder Zeitpunkt identisch zum vorherigen gewesen sei. Ihre Fragen sind deshalb in sich widersprüchlich und entsprechend nicht zulässig. Angesichts dieser Entgegnung waren die Skeptiker zunächst verblüfft und hegten später den Verdacht, dass es sich bei ihr um eine Ausrede handelte. Ihre Fragen blieben jedenfalls unbeantwortet und man stellte ihnen keine Antworten in Aussicht.

Diese kleine Geschichte soll veranschaulichen, dass offene Fragen und Ungereimtheiten ein Zeichen dafür sind, dass dem Menschen bisher nur ein Teil der Realität bekannt ist. Sie schlagen sich in den Modellvorstellungen, die auf der Basis eines unvollständigen Wissens entwickelt werden, nieder. Tatsächlich könnten solche Theorien sogar schlichtweg falsch sein. Da wäre zum Beispiel die Frage aus der Fabel, warum genau die richtige Menge an Gas aus dem Urloch quillt, um die Sonne so lange konstant brennen zu lassen. Wir mit unserem weitaus umfassenderen Wissen über das Universum wissen natürlich, dass Urlöcher nicht existieren und deshalb der ganze Ansatz falsch ist. Aber auch in unserem Weltbild sind wir mit Fragen konfrontiert, die nicht beantwortet werden können. Hätten beispielsweise bestimmte Naturkonstanten nur einen leicht anderen Wert, lägen die Eigenschaften unseres Universums so verschoben, dass kein Leben in unserem Sinn möglich wäre. Weshalb also ist unser Universum auf so merkwürdige Art und Weise für uns „maßgeschneidert“? Weiterhin gibt es im Märchen die „Helle Materie“, eine Anspielung auf die Dunkle Materie und die Dunkle Energie in unserer realen Welt. Auch diese muss unsere Physik ohne experimentellen Beweis quasi als Fiktion annehmen, um bestimmte Phänomene erklären zu können. Schließlich war da noch die Frage nach der Entstehung des Urlochs selber, für welche die Theoretiker aus der Fabel keine Erklärung hatten. Ihre Argumentation, dass es vorher keine Zeit gegeben habe und die Frage daher nicht zulässig sei, gleicht der einiger tatsächlicher Physikerinnen und Physiker, wenn sie nach dem Universum vor dem Urknall gefragt werden.

Das soll nicht heißen, dass es in unserer Realität keinen Urknall gegeben hat. Im Gegenteil werden wir im nächsten Kapitel sehen, dass uns zahlreiche experimentelle Belege für die Richtigkeit der zugrundeliegenden Theorie vorliegen. Aber trotzdem bleibt ein gewisser Zweifel, dass damit vielleicht noch nicht das letzte Wort zur Frage der Entstehung unserer Welt gesprochen wurde.

Wir beginnen also in Kapitel 2 mit dem aktuellen Weltbild der Physik. Dabei handelt es sich um die Repräsentation der Wirklichkeit, welche die Disziplin so sorgfältig bis heute entwickelt hat und an deren Richtigkeit eigentlich niemand mehr zweifelt. Doch auch in der Dunkelwolke war man sich weitestgehend einig, dass die Urloch-Theorie zahlreiche Beobachtungen erfolgreich erklären kann. Zweifel hätte man dort ebenfalls zurückgewiesen. Das Kapitel fällt relativ lang aus, weil wir darin die komplette Geschichte der Physik abhandeln, zumindest in groben Zügen. Denn wenn man fundierte Zweifel an der Gültigkeit ihres Weltbildes hegen möchte, sollte man mit ihren wichtigsten Aussagen und Theorien vertraut sein.

In Kapitel 3 wagen wir dann erste Schritte in einen Grenzbereich der Physik, sozusagen an die Grenze unseres Wissens und noch ein kleines Stück darüber hinaus. Die Reise führt uns in Kontakt mit Phänomenen, welche die Wissenschaft zwar bisher nicht erklären kann, aber, wie sie selber meint, auf mittlere Sicht recht wahrscheinlich im Rahmen der bekannten Theorien wird erklären können.

Danach, in Kapitel 4, tauchen wir endgültig in die Welt des Unbekannten ein. Über diese Sphäre können wir nur spekulieren. Zwar bauen unsere Mutmaßungen auf den Ergebnissen nachprüfbarer Experimente auf, doch ihre Daten und Befunde entziehen sich dem menschlichen Verstehen. Es geht um die mögliche Existenz höherer Dimensionen und anderer Universen. Über lange Zeit war die Menschheit der Überzeugung, es gäbe nur einen Planeten, nämlich die Erde. Nachdem sich das als falsch herausgestellt hatte, glaubte man fortan, es gäbe nur eine Sonne. Mit der Entdeckung, dass es sich bei den vielen hellen Punkten am Himmel ebenfalls um Sonnen handelt, korrigierte man das Weltbild wieder und dachte nun, es gäbe nur eine Galaxis, die einsam im Zentrum des Universums rotiert. Aber auch das war falsch, denn jetzt wissen wir, dass es unzählige Galaxien gibt. Aktuell sind wir der Auffassung, dass der Urknall nur ein Universum hervorgebracht habe – unseres. Man könnte meinen, der Mensch lerne es nie.

Nachdem wir in Kapitel 4 die Grenzen des Wissens hinter uns gelassen haben und schon tief in der Zone des Unbekannten sind, schließen wir mit Kapitel 5 ab. Darin geht es um die Rolle der Information in der belebten und unbelebten Natur. Was ist „Information“ überhaupt? Hat sie physikalische Realität oder existiert sie nur im menschlichen Verstand? Was kann sie erklären? Es gibt Theorien, die nicht etwa Materie als Basis allen Seins ansehen, sondern Information. Ihr Credo lautet „It from Bit“. Unsere Welt wird darin zum gigantischen Computer. Es hört sich an wie eine Hollywood-Fantasie, und doch existieren experimentelle Befunde, die auf die fundamentale Bedeutung der Information in der unbelebten Natur hinweisen. Schließlich kann sie auch als „Geist“ paraphrasiert werden. Und an dieser Stelle wird es etwas unheimlich.

2 Das Weltbild der Physik: Was ist ein Universum und wie ist unseres entstanden?

Der klassische Physikunterricht beginnt mit der Mechanik, weil sie gemeinhin als das einfachste Teilgebiet gilt. Ab der sechsten Klasse lernt man deshalb zunächst die Newtonschen Axiome und die Kraftgesetze. Für gewöhnlich fährt man dann mit der schiefen Ebene und dem Pendel fort. Aber spätestens dort haben die meisten Schülerinnen und Schüler bereits entschieden, dass sie in der Oberstufe doch lieber Biologie wählen, weil das Studium der unbelebten Natur allem Anschein nach gähnend langweilig ist. Diese klassische Art der Einführung in die Physik könnte man also getrost als didaktisch ungeschickt bezeichnen. Deshalb gehen wir hier einen anderen Weg. Folgendes Gedankenexperiment: Nehmen wir einmal an, wir hätten absolute Macht über die Wirklichkeit und würden uns entscheiden, ein neues Universum zu erschaffen. Was bräuchten wir dazu? Anders gefragt: Was sind – laut unserem heutigen Wissensstand – die Bestandteile eines Universums? Tatsächlich benötigt man nur fünf Komponenten: die Raumzeit, die Elementarteilchen, die Naturkräfte, die Naturgesetze und die Naturkonstanten. Wir werden jeder von ihnen einen eigenen Anschnitt widmen.

In der Vorstellung der klassischen Physik ist der Raum eine leere Bühne, auf der sich Kügelchen in Form von Elementarteilchen bewegen, die ihrerseits über Federn, die Naturkräfte, miteinander verbunden sind. Die Zeit besteht aus Momentaufnahmen, die rasch aufeinander folgen. In jedem Standbild haben sich die Kügelchen etwas weiterbewegt – ganz wie in einem klassischen Zelluloidstreifen. Jede dieser Momentaufnahmen ist mit der nächsten über die Naturgesetze verbunden. Sie bestimmen, wie das nächste Bild auszusehen hat. Der Unterschied zum Film ist lediglich, dass die „Bilder“ in der Realität im Gegensatz zu Fotos drei- anstatt nur zweidimensional sind. Diese Vorstellung bildet die Grundlage der klassischen Physik und herrschte etwa bis zum Jahr 1900 vor. Der Raum ist die Bühne, die Kügelchen rollen verbunden durch die Federn der Naturkräfte darin herum und Zeit ist ein Film aus einzelnen aufeinanderfolgenden Standbildern. Wenn das richtig wäre, hätten wir allerdings keinen freien Willen, da sich die Zukunft exakt bestimmen ließe, würde man nur die Koordinaten und Geschwindigkeiten aller Atome zu einem beliebigen Zeitpunkt kennen. Dann verliefe die komplette Geschichte des Universums seit Anbeginn der Zeit praktisch auf Schienen. Das entspricht aber nicht unserer Wahrnehmung und ist, wie wir heute wissen, auch nicht der Fall.

Es fehlen nun noch zwei Komponenten in unserem künstlichen Universum, um dessen Eigenschaften endgültig festzulegen: die Naturgesetze und Naturkonstanten. Im Gegensatz zu den Beschlüssen der Legislative in den Parlamenten oder der Materie, mit der sich die Juristerei beschäftigt, folgen die Abläufe im Universum Regeln, die ihrer Wesensart nach unmöglich zu verletzen sind. Die Naturgesetze diktieren den Gebilden auf der Bühne der Raumzeit auf, wie sie sich zu verhalten haben. In unserer Analogie kämen sie einer Art Drehbuch gleich. Schließlich könnten die Kügelchen leichter oder schwerer sein, die Federn härter oder weicher und der Film schneller oder langsamer laufen. Diese Details werden von den Naturkonstanten bestimmt. Haben wir diese fünf Komponenten also beisammen, brauchen wir nur noch eine Anleitung, wie man daraus ein Universum baut. Dazu werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Denn auch unser Universum ist natürlich entstanden und wie das genau kam, erklärt die Urknalltheorie. Sie verdient daher eine eigene Station auf unserer Reise durch die moderne Physik.

2.1. Die Raumzeit

Früher nahm man an, ein Vakuum bezeichne die Abwesenheit von allem, was wir kennen. Demzufolge läge ein solches vor, wenn wir aus einem Volumen alle Atome, insbesondere die Luft, entfernten. Aber diese Vorstellung musste im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehrfach revidiert werden. Es gab insgesamt vier Revolutionen hinsichtlich unserer Konzeption, worum es sich bei Raum und Zeit genau handelt. Wir waren gleich einem Fisch, der nicht weiß, was Wasser ist, weil er den Zustand „kein Wasser“ nicht kennt. Für ihn wäre die Abwesenheit von allem Bekannten, also anderen Fischen, Quallen, Plankton, Sandkörnern und Schmutzpartikeln, ein „Vakuum“ – für uns von außen aber nur sauberes, klares Wasser. Allerdings könnte einem besonders achtsamen Fisch auffallen, dass sein „Vakuum“ eine Temperatur hat und Druck ausübt. Auch bemerkt er möglicherweise am Widerstand, wenn er schnell schwimmt, dass es eine Masse haben muss. Vielleicht stellt er außerdem fest, dass sein Vakuum sich bewegt, denn es gibt Strömungen. Wenn unser Fisch also sehr nachdenklich wäre, käme er ins Grübeln, wie ein „Nichts“ Temperatur, Druck, Masse und Strömungen haben könnte. Wir wissen natürlich, dass Wasser eine Substanz mit allen diesen Eigenschaften ist und fühlen uns dem Fisch überlegen. Aber was wäre, wenn unser Vakuum – das vermeintliche „richtige Vakuum“ – auch Temperatur, Druck, Widerstand und Strömungen hätte? Nach den neueren Erkenntnissen der Physik ist dem so, jedoch fällt es uns genauso schwer wie dem Fisch im Wasser, die dahinterliegende Substanz zu erkennen. Dazu bräuchten wir die Erfahrung „kein Vakuum“, doch um sie zu erlangen, müssten wir unser Universum verlassen. Was aber anscheinend nicht geht, denn vermeintlich gibt es ja nur das eine.

Dass es sich bei unserem Vakuum um etwas anderes handelt als das Nichts, also die Abwesenheit von allem Bekannten, verstößt gegen den gesunden Menschenverstand. Er sagt uns, was in unserer vertrauten Umwelt vernünftig ist, zum Beispiel, dass die Uhren gleich schnell gehen und die Erde bis zum Horizont flach verläuft. Was dahinter liegt, hat auf unseren unmittelbaren Alltag normalerweise keine Auswirkung.

Der gesunde Menschenverstand hilft uns aber nicht viel, wenn wir bis an die Grenzen des Wissens und darüber hinaus gelangen wollen, weil unsere ureigene Denke ein Kind der klassischen Physik ist – und damit seit rund 120 Jahren veraltet. Gräbt man noch etwas tiefer, beruht unser Alltagssinn auf einem mentalen Modell der Realität, das sich evolutionär über Jahrtausende entwickelt hat. Wir können uns vorstellen, an einem Strand zu liegen, Auto zu fahren oder einen Berg zu besteigen. Wir sind sogar in der Lage, uns die kalte Luft auf einer Bergspitze zu vergegenwärtigen oder das Gefühl, einen Schneeball zu formen. In unseren Köpfen existiert eine virtuelle Realität, die genau den gleichen physikalischen Gesetzen gehorcht, die auch in unserer normalen Lebenswelt gelten. Im Alltag reicht die Annahme, dass die Erde flach sei, völlig aus, denn bei den geringen Entfernungen, mit denen wir es als Fußgänger und Radfahrer meist zu tun haben, verhält sie sich in der Tat wie eine Scheibe. Der gesunde Menschenverstand hat auf der Basis von Jahrtausenden an Erfahrung daher große Mühe zu akzeptieren, dass es sich bei ihr in Wirklichkeit um eine Kugel handelt. Das sehen wir erst so richtig ein, wenn wir unseren angestammten Lebensraum, zumindest bildlich, verlassen und die Erde von außen aus dem Weltraum betrachten.

Dass Raum und Zeit etwas anderes sind als von der klassischen Physik angenommen, offenbart sich auch erst bei Bedingungen, die in unserer täglichen Umwelt nicht auftreten. Ein Beispiel wäre die spezielle Relativitätstheorie, deren Effekte erst greifbar werden, wenn sich ein Objekt langsam der Lichtgeschwindigkeit nähert. Diese Phänomene führten zu der ersten Revolution bezüglich unserer Vorstellung von Raum und Zeit.

Nehmen wir einmal an, es gäbe eine neue Art von Gleisen, auf denen Züge extrem hohe Geschwindigkeiten erreichen könnten. Eine Lokomotive zieht darauf nun einen langen flachen Waggon, ähnlich einer Piste, auf dem sich ein Radfahrer seinerseits in Fahrtrichtung bewegt. Bei normalen Verhältnissen würde sich die Geschwindigkeit des Radlers, vom Bahnsteig aus gemessen, zu der Geschwindigkeit des Zuges hinzuaddieren. Der Radfahrer wäre also ein bisschen schneller unterwegs als die Lokomotive, zumindest bis er am vorderen Ende des Waggons angelangt ist. Nun beschleunigt unser fiktiver Zug aber immer mehr und nähert sich der Lichtgeschwindigkeit an. Gälte die obige Regel, dass sich die Geschwindigkeiten addierten, wäre der Radler dann irgendwann schneller als das Licht. Das ist jedoch nicht möglich – jedenfalls nicht in unserem Universum. Stattdessen geschieht etwas sehr Merkwürdiges: Der Radfahrer scheint – wieder vom Bahnsteig aus betrachtet – immer langsamer voranzukommen. Er bewegt sich nur noch in Zeitlupe, bis er schließlich erstarrt. In seiner eigenen Wahrnehmung bleibt er aber nicht stehen, sondern tritt munter weiter, auch dann, wenn der Zug die Lichtgeschwindigkeit bereits annähernd erreicht hat. Doch wenn er sich umschaut, wird er bemerken, dass das Universum plötzlich ganz fremdartig aussieht. Es ist in der Richtung, in die sich der Zug bewegt, zusammengeschnurrt. Bei Nacht wären die zuvor weit entfernten Sterne plötzlich ganz nah. Das Universum ist in der Bewegungsrichtung kontrahiert. Dafür steht vom Bahnsteig aus gesehen die Zeit im Zug fast still. Diese beiden merkwürdigen Phänomene heißen in der Physik Zeitdilatation und Längenkontraktion. Ihr gemeinsames Auftreten illustriert den engen Zusammenhang zwischen den Dingen, die wir jeweils „Raum“ und „Zeit“ nennen. Einstein sprach von einer „vierdimensionalen Gallerte“ – Länge, Breite und Tiefe im Raum sind die ersten drei und die Zeit schließlich die vierte Dimension –, denn beide können gestaucht und gedehnt werden.

Abb. 2: Ein Radfahrer, der sich auf einem langen flachen Waggon in Richtung der Lokomotive bewegt, wäre, wenn der Zug die Lichtgeschwindigkeit erreicht, schneller als das Licht. Das ist aber in unserem Universum nicht möglich und daher vergeht die Zeit in dem sich beschleunigenden Zug von außen gesehen immer langsamer. Sie wird relativ, denn für den Radfahrer vergeht sie nach wie vor normal. Dafür ist sein Universum in Fahrtrichtung enorm gestaucht.

Es gibt also in unserem Universum, unserem „Vakuum“, eine maximale Geschwindigkeit. Nähert man sich ihr an, werden Raum und Zeit verzerrt. Damit ist klar, dass diese beiden Größen nicht etwa unterschiedliche Dinge, sondern irgendwie miteinander verbandelt sind. Auch spielt die Zeit nicht nur die Rolle eines sturen Taktgebers, denn sie vergeht, je nachdem wie schnell man sich fortbewegt, unterschiedlich rasch. Dass es eine maximale Geschwindigkeit gibt, könnte man alternativ so deuten, dass sich die Raumzeit übermäßig schnellen Bewegungen entgegenstemmt. Dies ist unser erster Hinweis, dass es sich bei ihr nicht einfach nur um eine leere Bühne handelt.

Das Ganze hat eine faszinierende Konsequenz. Wenn Raumfahrer mit einer sehr schnellen Rakete zu einem fremden Sonnensystem aufbrechen, wird die Entfernung immer kürzer, je schneller sie fliegen. Ihr Ziel kommt ihnen praktisch entgegen. Von der Erde aus gesehen schreitet dafür die Zeit in der Rakete kaum voran. Die Raumfahrer brauchen für Distanzen von vielen Lichtjahren nur wenige Wochen oder Monate. Aus der Erdenperspektive, weil die Zeit in der Rakete aufgrund der Dilation langsamer vergeht; aus der Raumfahrerperspektive, weil ihnen das Sonnensystem durch die Längenkontraktion quasi zufliegt. Kehrt die Rakete wieder zur Erde zurück, ist für ihre Insassen kaum Zeit vergangen. Für die Erdbewohner waren sie aber viele Jahre unterwegs. Die Raumfahrer sind praktisch nicht gealtert. Wir halten also fest: Raum und Zeit sind etwas Anderes, als uns unser gesunder Menschenverstand suggeriert. Doch das ist noch längst nicht alles.

Einstein hatte mit seiner Antwort auf die Frage, um was es sich bei der Schwerkraft eigentlich handelt, unsere Vorstellung von Raum und Zeit ein zweites Mal revolutioniert: Die Raumzeit wird durch Masse gekrümmt. Ein Gegenstand, den man draußen im Weltall loslässt, würde aufgrund der Schwerelosigkeit, sofern man vorsichtig genug ist, bis in alle Ewigkeit an Ort und Stelle schweben bleiben. Aber auf der Erdoberfläche fällt er bei stetig zunehmender Geschwindigkeit in Richtung Erdmittelpunkt, bis er auf ein Hindernis, zum Beispiel den Boden, trifft. Doch was „zieht“ an dem fallenden Gegenstand? Was beschleunigt ihn? Sind es winzige Teilchen, die wir noch nicht entdeckt haben? Oder geisterhafte Fäden eines unsichtbaren Kraftfeldes? Was ist überhaupt ein „Feld“? Einstein kam im Rahmen seiner Theorie der Gravitation auf die Idee, dass der Raum selbst in der Nähe einer Masse anders beschaffen sein muss als draußen im freien Weltall. Wir denken zurück an den ahnungslosen Fisch: Die Allgemeine Relativitätstheorie liefert einen weiteren Hinweis darauf, dass Raum und Zeit ein vierdimensionales „Etwas“ sind.

Ähnlich wie bei hohen Geschwindigkeiten werden in der Nähe von Massen der Raum gestaucht und die Zeit verlangsamt. In schwachen Gravitationsfeldern, so wie bei uns auf der Erde, ist die Zeitdilation der Haupteffekt der Raumkrümmung. Massen und sogar Lichtstrahlen werden in Zonen langsamer vergehender Zeit scheinbar hineingezogen. Hier hilft vielleicht ein Beispiel aus unserem Alltag: Wenn sich bei einem Fahrzeug die Räder auf einer Seite langsamer drehen als auf der anderen, beschreibt seine Fahrbahn eine Kurve. Sie ist gekrümmt, und zwar in Richtung der sich langsamer drehenden Räder. Wie die meisten Alltagsvergleiche hinkt das Beispiel natürlich, aber immerhin veranschaulicht es den relevanten Zusammenhang zwischen Raum (in Form der geänderten Bahn) und Zeit (in Form des Geschwindigkeitsunterschiedes).