Das Raumschiff, das vom Himmel fiel - Grace Curtis - E-Book

Das Raumschiff, das vom Himmel fiel E-Book

Grace Curtis

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Beschreibung

Die ferne Zukunft: Die Menschen treten die Reise zu den Sternen an und besiedeln fremde Planeten. Die von Katastrophen und Kriegen zerstörte Erde gehört nun den Zurückgelassenen, den Außenseitern und Gesetzlosen. In diese Welt fällt dreihundert Jahre später eine junge Frau in ihrer Rettungskapsel vom Himmel. Ihr Mutterschiff und die Frau, die sie liebt, sind Hunderte von Kilometern von ihr entfernt. Auf ihrer Reise quer durchs ganze Land muss die Fremde mehr als ein gefährliches Abenteuer überstehen, denn die Menschen auf der Erde sind skrupellos und gierig – und sie hassen die Sternengeborenen …

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Das Buch

Die ferne Zukunft: Die Menschen treten die Reise zu den Sternen an und besiedeln fremde Planeten. Die von Katastrophen und Kriegen zerstörte Erde gehört nun den Zurückgelassenen, den Außenseitern und Gesetzlosen. Auf diese Welt fällt dreihundert Jahre später eine junge Frau in ihrer Rettungskapsel vom Himmel. Ihr Mutterschiff und die Frau, die sie liebt, sind Hunderte von Kilometern von ihr entfernt. Auf ihrer Reise quer durchs ganze Land muss die Fremde mehr als ein gefährliches Abenteuer überstehen, denn die Menschen auf der Erde sind skrupellos und gierig – und sie hassen die Sternengeborenen …

Die Autorin

Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet Grace Curtis in der Game-Industrie. Sie veröffentlichte Artikel in Magazinen wie Eurogamer und Edge und arbeitet bei einer Indie-Game-Firma namens »Future Friends«. Das Raumschiff, das vom Himmel fiel ist ihr Debütroman. In ihrer Freizeit findet man Grace Curtis in den Bergen, beim Klettern und Wandern oder beim Faulenzen im Gras. Die Autorin lebt im englischen Bristol.

GRACE CURTIS

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

FRONTIER

Deutsche Übersetzung von Maike Hallmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2023

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2023 by Grace Curtis

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-29352-9V001

www.diezukunft.de

Für Katie

Die Jagd nach dem gefallenen Stern

Es war eine gewöhnliche Nacht auf dem Planeten Erde. Stille lag über dem Land, und still war auch der Himmel, in dem Sterne glitzerten wie eingesunkene Juwelen. Von unten beäugten menschliche Augen diese Sterne mit einem Blick, als wäre einer von ihnen womöglich ein gutartiger Tumor.

Ein Zittern. Aus dem riesigen schwarzen Baldachin löste sich ein silbriger, glühend heißer Splitter und raste Rauch speiend in weitem Bogen abwärts. Er landete in einem Fleck aus Sand und Schutt, der in einer Fontäne aufstieg und dann seufzend wieder zu Boden sank.

Viele Kilometer entfernt kauerte Bolton Strid in einem wackligen Nest ganz oben auf einer Säule aus gekreuzten Metallträgern. Er schob sein Fernrohr wieder zusammen. »Crawley«, zischte er, ging aber nicht das Wagnis ein, den Blick abzuwenden. »Crawley, wach auf!«

Das Lumpenbündel hinter ihm ächzte und sackte auf die Seite. »Bin noch nich dran.«

»Wach schon auf, alter Mistkerl.« Mit der Ferse versetzte er ihm einen Tritt gegen die Schulter, und der ältere Mann setzte sich blinzelnd auf. »Bei den Titten der Göttin, was is’ denn los?«

»Pack dein Zeug zusammen«, antwortete Bolton und stopfte das Fernrohr unter seine Jacke. »Wir sind reich.«

Marie Marakova, Fahrerin, Allround-Reparateurin und Gelegenheitsmechanikerin, lehnte mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen an den Verandastützen und beobachtete, wie dieser Aasfresser Bolton ihren Van begutachtete. Gerade stand er vor einer der Hintertüren, beide Hände tief in den Taschen vergraben, und zog die Nase hoch.

»Bisschen klein.«

Marakova zog eine Braue hoch. »Haben Sie was Besseres im Angebot?«

»Miss Marakova, bitte hören Sie gar nicht hin, was mein guter Freund Mr. Bolton da redet«, sagte Crawley und legte die Hände zusammen. »Ich versichere Ihnen, der Wagen wird seinem Zweck Genüge tun. Was allerdings den Umstand betrifft, dass Sie ihn fahren wollen …«

»Den Wagen gibt es nicht ohne mich.« Sie verlagerte das Gewicht, und ihr Schatten fiel auf Crawley. »Sonst kommen wir nicht ins Geschäft.«

»Selbstverständlich.« Crawley nickte eilfertig. »Das ist fair. Das ist wirklich fair.«

»Wissen Sie, wo es gelandet ist?«, fragte sie Bolton.

Er zuckte mit den Schultern. »So in etwa.«

»Und Sie glauben wirklich …« Marakova hielt inne und musterte Bolton. Seine Körperhaltung war schlaff, aber in den stumpfen Augen glomm Erregung. Seit die beiden bei ihr aufgetaucht waren, flitzte der kleinere von ihnen, dieser Crawley mit seiner Schauspielerstimme, hin und her wie eine Schwebfliege, betupfte sich unablässig mit einem alten Lumpen die Stirn und gab einen stetigen Strom nervösen Geplappers von sich. Aber Bolton war ganz ruhig. Behielt den Horizont im Auge.

Optimismus war eine Krankheit, von der Marakova sich schon vor langer Zeit selbst kuriert hatte. Sie heftete die Scheine mit einer Klammer zusammen und steckte sie in ihre Gesäßtasche.

»Fahren wir«, sagte sie.

Buckette war eine Schrotthändlerstadt, die sich in tiefster Abgeschiedenheit am Rand der Zivilisation versteckte. Die meisten Schaufenster, an denen sie vorüberfuhren, waren leer. In den wenigen verbliebenen Läden stapelten sich Kartons mit Gegenständen von zweifelhaft legaler Herkunft: Lithiumbatterien, Konserven, Benzinkanister. Um den Fuß eines Wasserturms schlenderten Wachen und ließen ein trauriges Rinnsal von Menschen mit Kanistern passieren. Ein ähnliches Rinnsal tröpfelte in die Kapelle und wieder heraus, die Leute zupften an ihren Gebetsperlen herum, lockerten ihre Kragen und murmelten Entschuldigungen vor sich hin wegen irgendwelcher Vergehen gegen die Heilige Erde. Ein runder Hügel mit einem verwitterten Marmorsockel und verrottendem Gras darauf bildete die Grenze zum Ödland. Auf dem Sockel hatte wohl mal eine Statue gestanden, das bezeugten die schlanken Hinterbeine eines sich aufbäumenden Pferdes, das einst dort festgeschweißt gewesen war, doch alles oberhalb der Beine war einer Kreissäge zum Opfer gefallen.

Bolton wies die Richtung, und Marakova fuhr weiter und weiter, bis Buckette nur noch ein ausgeblichener Schemen im Rückspiegel war. Crawley rappelte sich von seinem Sitz auf; entlang seines Rückgrats war das Hemd schweißnass.

»Verzeihung, Miss Marakova«, sagte er. »Falls es eine Klimaanlage gibt, würden Sie die bitte einschalten?«

Sie kurbelte ihr Fenster einen Spaltbreit auf. Heiße Luft und Staub knallten Crawley ins Gesicht.

»Augen aufhalten«, sagte Bolton, der die bestiefelten Füße aufs Armaturenbrett gelegt hatte, am Stummel einer längst abgebrannten Zigarette herumnuckelte und sich mit der Krempe eines alten Rangerhuts gemächlich Luft zufächelte. Seine blutunterlaufenen Augen schienen nie zu blinzeln. »Müssten gleich da sein.«

»Hoffentlich.« Marakova warf einen Blick auf die Tankanzeige.

Endlich erreichten sie eine Art Grat, hinter dem das Gelände zu einem ausgetrockneten Flussbett hin abfiel. Bolton hob eine Hand, und Marakova hielt den Wagen an. »Da.«

»Wo?« Crawley beugte sich gespannt vor.

Auf der anderen Talseite kräuselte sich eine dünne Rauchsäule gen Himmel, darunter glühte es feurig. Marakova zog die Lippen zurück und entblößte scharfe silbrige Schneidezähne. »Verdammt soll ich sein«, stellte sie fest, »Sie hatten tatsächlich recht.«

Bei seiner Landung hatte der Stern eine Furche aus schwarz verbranntem Gras in den Erdboden gerissen, einen guten halben Kilometer lang. Bolton kurbelte sein Fenster runter und blickte auf die verkohlte Spur. »Ganz schön groß«, sagte er.

»Ist das gut?«, wollte Marakova wissen.

»Allerdings, Ma’am.« Crawley hatte sich zu ihnen vorgebeugt und sich mit den Schultern zwischen den Vordersitzen verkeilt. »Im Schrotthandel ist Größe alles. Unser täglich Brot.«

Marakova beachtete ihn nicht. Sie fuhr weiter und beobachtete das Objekt, dem sie sich näherten. »Was ist das eigentlich?«

»Vermutlich ein alter Satellit«, sagte Bolton. »Die Hedonisten haben so was benutzt, um ihre, äh …« Seine Geste war zugleich vage und abfällig. »… Geräte zu betreiben.«

Marakova nickte. Alle Relikte der alten Welt waren von Sünde befleckt. Aber zum Glück drückte Sünde nicht den Marktwert.

Sie trat ein bisschen kräftiger aufs Gas.

Es war etwa so groß wie ein Auto. Das war der einzige Vergleich, der Marakova einfiel, allerdings endete die Ähnlichkeit da auch schon wieder. Das vom Himmel gestürzte Objekt war so rund wie eine riesige Tablette und mit chromglänzender roter Farbe überzogen, an einer Seite befanden sich mehrere kleine Schubdüsen, aus denen immer noch Rauch aufstieg. Ganz unten entdeckte sie einen eingravierten Schriftzug:

RETTUNGSKAPSEL – 01.

Keine Sonnenkollektoren, keine Funkantenne. Kein empfindliches Goldgehäuse. Und auch keinerlei Abnutzungsspuren – nagelneu war es zwar nicht, aber ganz sicher auch nicht mehrere Jahrhunderte alt.

Langsam dämmerte es ihr: Das war kein Satellit. Dieses Ding hatte mal zu einem Schiff gehört.

Mit einiger Mühe gewann Marakova die Fassung wieder. »Sagen Sie mal«, rief sie Bolton zu, »wie hoch ist die Prämie für Weltraumtechnik im Moment?«

»Weiß ich nicht auswendig«, antwortete er leichthin. »Ziemlich hoch, wenn ich mich nicht irre.«

»Ein Geschenk Gaias!«, johlte Crawley. »Danke, oh Mutter unter uns. Ich danke dir!« Er fiel auf die Knie und küsste den Boden.

»Warum dankst du der Göttin?«, fragte Bolton. »Das Teil kam vom Himmel.«

Mit finsterem Blick erhob sich Crawley, Asche und Staub hatten sich in seinen Runzeln festgesetzt. »Du musst echt immer auf den Details rumreiten, Bolton, was?«

Sie starrten einander an.

»Da ist eine Tür!«, rief Marakova, auch wenn es sich bei ihrer Entdeckung eher um eine Luke handelte: Sie war oval und gebogen und verschmolz passgenau mit dem restlichen Gebilde. Marakova stemmte einen Fuß gegen das Gehäuse, packte den Griff der Luke und riss mit aller Kraft daran. »Klemmt«, ächzte sie und schüttelte die schmerzende Hand aus. »Scheiße.«

»Hier ist ein Fenster.« Crawley kniete vor einer dicken, mit Staub bedeckten runden Scheibe aus gehärtetem Plastik. »Hm, ich sehe nichts. Vielleicht können wir es aufbrechen?« Er sah sich nach einem Stein um.

»Halt«, sagte Bolton. »Alle beide. Aufhören.«

Sie wandten sich um und sahen zu, wie Bolton sich der Kapsel näherte. Er blieb davor stehen und betrachtete sie genau wie zuvor Marakovas Lieferwagen: gleichgültig und ein wenig skeptisch, als würde er abwägen, ob der Gegenstand seiner Betrachtungen den Kauf wohl wert war. Er zog ein Streichholz aus der Tasche, riss es an der Kapsel an und entzündete eine weitere Zigarette.

»So, passt auf«, sagte er. »Crawley, du nimmst den Wagen und suchst dir irgendeinen Sheriff. Dem sagst du, was wir gefunden haben und wo wir sind. Danach kommst du sofort wieder zurück. Sprich mit niemand anderem.«

»Natürlich n…«

Bolton hakte ihm einen Finger in den Kragen und zog ihn ganz dicht zu sich heran. »Mit niemandem.«

»Für wen hältst du mich?«, brummte Crawley, ohne ihn anzusehen.

Bolton ließ ihn los. »Ich und sie bleiben hier und bewachen die Beute. Ist das okay für Sie?« Letzteres war an Marakova gerichtet.

Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum und dachte einen Moment darüber nach. Es gefiel ihr nicht, den Wagen außer Sicht zu lassen, andererseits war er nichts wert im Vergleich zu dem, was da vor ihnen lag. Gegen ihre Gewohnheit blühten Fantasien in Marakova auf: eine Autowerkstatt mit einem ganzen Truck-Fuhrpark, dazu Dutzende Angestellte in Overalls, die auf ihre Anweisungen warteten. Irgendwo im Süden, vielleicht sogar mit Bürositz in New Destiny. Es wäre schon ein Traum, die Stadt überhaupt nur mal zu sehen. Aber dort zu leben?

Beim bloßen Gedanken lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

»In Ordnung. Betrachten Sie den Wagen als Pfand.«

»So machen wir es.«

Sie spuckten sich in die Hände und schlugen ein. Crawley klopfte ihnen beiden auf den Rücken, und sein Grinsen kehrte zurück. »Ach, meine Freunde.« Er gluckste vor Freude. »Überlegt nur, was wir dafür bekommen werden, selbst wenn wir durch drei teilen. Oh, das ist einfach großartig. Die Göttin beschütze euch, meine Freunde. Möge sie euch sicher am Boden halten.«

Er stieg in den Wagen, der sich nach einigen stotternden Fehlstarts in Bewegung setzte und Richtung Stadt losrollte.

Bolton und Marakova sahen ihm stumm hinterher.

Bolton umrundete noch einmal die Kapsel und versuchte durchs Fenster zu spähen. Marakova kratzte mit dem Daumennagel an der roten Farbe, aber sie ging nicht ab.

Beide dachten dasselbe, aber keiner wollte es laut aussprechen und damit die Schuld auf sich laden. Sie mussten sich dem heißen Brei auf Umwegen nähern.

»Kennen Sie den Burschen schon lange?«, erkundigte sich Marakova und kratzte an einem Stück Schorf an ihrem Kinn.

»Länger, als mir lieb ist.«

Sie ging zur Luke und zupfte pro forma am Griff. »Er war es nicht, der das Wrack entdeckt hat, richtig?«

»Nein.« Bolton nickte langsam. »Diese Ehre gebührt mir.«

»Er hat also nicht wirklich irgendwas dazu beigetragen?«

»Eigentlich nicht.«

»Trotzdem hat er davon geredet, durch drei zu teilen.«

»Ja. Schon lustig.«

»Lustig, ja.«

Wieder entstand eine Pause.

»Ich war noch nie besonders gut so von Angesicht zu Angesicht.«

»Ich kenne ihn am längsten.«

Und damit war es entschieden.

Ein Tag auf der Erde war lang. Crawley blieb mehrere Stunden lang weg, aber als er zurückkehrte, stand die Sonne noch immer hoch am Himmel und brannte voller Ingrimm auf den kranken Planeten herab. Marakova und Bolton saßen in ein paar Metern Abstand da und starrten ins Leere. Als er näher kam, standen sie auf. Crawley wirkte ganz eigenartig, als er aus dem Wagen stieg – das Kinn hing herab, der Rücken war gebeugt.

»Und?« Voll nervöser Anspannung ging Bolton auf ihn zu.

»Ich hab einen Sheriff gefunden.« Bolton stocherte mit dem Fuß in einem Erdhaufen herum. »Ich musste ganz bis nach Springwell runterfahren, aber ich hab einen gefunden.«

»Und?«

»Hab ihm beschrieben, was wir gefunden haben: Größe, Form und so. Er war erst skeptisch, aber ich konnte ihn überzeugen. Hat mir eine Schätzung genannt, was wir als Entschädigung erwarten können.«

Marakova stemmte die Hände in die Hüften. »Und?«

Crawley winkte die beiden näher und nannte ihnen leise die Summe.

Marakova holte tief Luft. Sie beugte sich vor, stützte sich mit einer Hand auf ihrem Knie ab und starrte zu Boden. Dann richtete sie sich urplötzlich wieder auf. »WOOOOOOOOOOOOW!«, brüllte sie und schlug ihm kräftig zwischen die Schulterblätter. »Willst du mich verarschen?«

Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht. »Nein, Miss Marakova.«

Bolton schüttelte den Kopf, so ruckartig wie eine Schallplatte mit Sprung, und schlug sich mit dem Hut gegen das Bein. »Verdammt will ich sein. Scheiße noch mal. Wow. Die Göttin vergebe mir. Verdammt will ich sein.«

Marakova fuhr sich mit der Zunge über die Metallzähne, die sie seit fast einem Jahrzehnt bei jedem Atemzug schmeckte. Diese Silberzähne waren ihre Absicherung, falls mal alles vor die Hunde gehen sollte. Sie fragte sich, wie wohl Platin schmecken mochte.

»In ein paar Stunden kommt ein Konvoi und schafft das Ding hier weg«, sagte Crawley. »Ich hab ihnen die Koordinaten gegeben. Ich hoffe, das ist okay, Bolton.«

»Na klar. Hast du gut gemacht, Crawley.«

Crawley bemühte sich um eine bescheidene Miene, aber sein Gesicht verzog sich wie von selbst zu einem Grinsen. »Dachte mir …« Er eilte zum Wagen und holte eine Papiertüte vom Beifahrersitz, in der es klirrte. »Dachte mir, das ist ein Anlass zum Feiern.«

»Das kann man wohl sagen!« Marakova riss ihm die Flasche aus der Hand und schnippte den Korken lässig mit dem Daumen weg, ehe sie die Flasche an den Mund hob und ein Drittel des Inhalts hinunterstürzte. »Gaia!« Sie rülpste. »Das Zeug schmeckt wie gewürztes Benzin.«

»Was für eine Verschwendung von gutem Benzin«, sagte Bolton und nahm ebenfalls einen großen Schluck.

»Beschwert ihr euch nur, meine Freunde«, sagte Crawley, »aber für mich schmeckt’s nach Freiheit.«

»Auf die Freiheit also.«

Sie stießen miteinander an. Ein kurzer Moment aufrichtiger Freude erfasste sie, dank Alkohol, Hoffnung und einem leichten Hitzschlag. Dann sah Marakova Boltons Blick.

»Hey, Crawley.« Er drehte sich zu seinem Kumpel um, der den Drink so hastig hinunterstürzte, als hätte er Angst, jemand wollte ihm das Gesöff wegnehmen. »Weißt du was? Während du weg warst, hat Marakova rausgefunden, wie man die Luke öffnet.«

Crawley warf seine Flasche auf den Boden. Klirrend rollte sie davon. »Hat sie das, mein guter alter Freund?«

Marakova verschränkte die Arme vor der Brust. »Mhm. Wir dachten, wir sollten warten, bis Sie wieder da sind. Genau genommen …« Sie brach ab und sah Bolton an.

»Genau genommen«, ergriff er wieder das Wort, »dachten wir, die Ehre überlassen wir dir.«

Mit glasigen Augen blickte Crawley von einem zum anderen. »Ihr zwei – ihr glaubt wohl wirklich, ich wüsste nicht, was hier gespielt wird?«

Bolton versteifte sich. »Äh …«

»Als ob du mir freiwillig irgendeine Ehre überlassen würdest.« Crawley spuckte auf den Boden. »Du hast doch nur Schiss, dass da drin irgendwas lauert, das dich dann anspringt, oder? Du räudiger alter Hund.« Er boxte Bolton so fest auf den Arm, dass dessen Zähne aufeinanderschlugen.

Bolton lachte kurz auf und zuckte mit den Schultern.

»Sie haben uns durchschaut«, sagte Marakova und ließ ein silbernes Grinsen aufblitzen.

»Du bist ein offenes Buch für mich, mein Freund.« Crawley tippte sich an die Schläfe. »Ein offenes Buch. Aber ins All geschissen, was soll’s.« Er ging zur Luke hinüber und legte beide Hände um den Griff. »Mal sehen, was uns die Heiden da Nettes geschickt haben, was?«

Crawley riss an der Luke, aber nichts bewegte sich. Er versuchte es erneut, sein Gesicht lief rot an. Er drehte sich um und erschrak, als er Bolton dicht hinter sich stehen sah. Der Plünderer trat einen Schritt zurück, eine Hand hinter dem Rücken. »Du, äh – du musst es drehen.«

»Ach so?« Crawley wandte sich wieder der Luke zu.

Es war ein nasses Geräusch – oder besser gesagt, zuerst ein dumpfer Laut, dann erst kam die Nässe. Crawley sackte in sich zusammen wie eine Marionette, der die Fäden durchtrennt worden waren. Seine Finger glitten schlaff über die Luke nach unten, er fiel erst auf die Knie, dann aufs Gesicht. Er gab keinen Laut von sich.

Marakova ging in die Hocke und betrachtete seine Augen. Sie wirkten wie Murmeln. Der Mann war tot. Sie nickte. »Wenn der Sheriff ihn sieht, gibt es Ärger. Wir sollten ihn verstecken, bevor …« Ihr wurde bewusst, dass Bolton ihr nicht zuhörte. »Hey.«

Bolton stand vornübergebeugt vor der Rettungskapsel, eine Hand gegen die Chromhülle gestützt, der tief ins Gesicht gezogene Hut verbarg seine Augen. Er umklammerte immer noch den Stein.

»Alles in Ordnung?« Marakova legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schüttelte sie ab.

»Ich fühl mich nicht besonders.«

»Hör mal, wir waren uns doch einig …«

»Gütige Mutter Erde, würdest du mir nur eine verdammte Minute geben?« Beim letzten Wort brach seine Stimme.

Glühender Zorn zuckte über Marakovas Gesicht. Lautlos formte sie ein paar unflätige Ausdrücke mit den Lippen und sagte dann übertrieben liebenswürdig: »Nimm dir so viel Zeit, wie du willst, mein Süßer. Ich zieh die Leiche mal da drüben ins Gebüsch, okay? Und dann reden wir über Zahlen.«

Bolton nickte.

Marakova packte Crawleys Leiche an den Knöcheln und zog ihn ohne erkennbare Mühe zu einem weitläufigen Gestrüpp aus hohem, vergilbtem Gras. Zehn, zwölf Meter weit schleifte sie ihn hinein, dann blieb sie stehen. »Hey!«, rief sie. »Reicht das?«

Der Aasfresser antwortete nicht.

Sie blinzelte. »Was machst du …?«

Er stand breitbeinig da und zeigte auf sie.

Nein. Er zeigte nicht auf sie. Er zielte.

Der erste Schuss traf sie in die Schulter, der zweite mitten in die Brust. Marie Marakova fiel rückwärts und verschwand im Gras.

Bolton schob die Pistole zurück in seine Jeans. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Aber jetzt war er allein, endlich, jetzt gab es nur noch ihn und seinen Schatz.

Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Hülle – das fremdartige, glatte Metall war kühl trotz der Sonnenhitze, vollkommen unversehrt selbst nach dem unglaublich tiefen Sturz. Sein ganzes Leben lang hatte sich Bolton mit dem begnügt, was alt, verrottet und irgendwie zusammengeschustert war. Kleidung, die nicht richtig passte. Schlecht funktionierendes Werkzeug. Der Hut eines anderen. Reste. Das war alles, was er kannte, alles, was die Erde ihm gegeben hatte: die Reste und Abfälle jener Menschen, die man hier unten Sünder nannte, nur weil sie den Verstand gehabt hatten, fortzugehen. Aber jetzt hatte er etwas von ihnen bekommen. Etwas Neues. Etwas Eigenes. Das ihm, scheiß auf die Missbilligung der Göttin, endlich ein richtiges Leben ermöglichen würde.

Er spähte durchs Fenster, konnte aber nur vage, reglose Umrisse ausmachen. Er nahm sein Fernrohr heraus und richtete es nach Süden.

Plötzlich drang ein leises Geräusch aus seiner Kehle. Ein Wimmern, das zu einem Gurgeln wurde, als sich die Muskeln unwillkürlich immer fester zusammenzogen. Es war, als würde ihn eine unsichtbare Faust erdrosseln. Er ließ das Fernrohr fallen und griff sich mit beiden Händen an den Hals, krallte die Finger hinein, die Sehnen sprangen vor wie straff gespannte Seile. Er taumelte auf die drei Flaschen zu, die leer im Dreck lagen, aber ein Krampf in den Beinen ließ ihn zu Boden gehen, noch ehe er sie erreichte. Er streckte die Hände nach den Flaschen aus und zog sie zu sich heran. In die Ecke des ersten Etiketts hatte jemand ein kleines Kreuz geritzt. Ins nächste ebenfalls. Die dritte Flasche hingegen – die, aus der Crawley getrunken hatte – war mit einem Kreis gekennzeichnet.

Der bittere Geschmack. Er hätte es wissen müssen.

»Crawl…« Er wollte ihn verfluchen, bekam aber nicht einmal seinen Namen über die Lippen. »Crawl…«

Er zuckte noch einmal, dann lag er still.

Nach einer Weile kam eine Brise auf. Boltons Hemdkragen flatterte schwach und schlug gegen sein Kinn, und der breitkrempige Hut hob und senkte sich ein paarmal, bevor er sich ganz vom Kopf löste und falsch herum neben seinem Besitzer auf dem Boden landete. Eine halbe Stunde verging.

Die Kapsel erbebte sachte. Kaum mehr als ein Zittern, gefolgt von einem schwachen Geräusch aus dem Inneren. Dann erbebte sie erneut, diesmal heftiger. Noch einmal, und dann flog die Lukentür auf, knallte gegen die Außenhülle, prallte wieder zurück und schwang in den Angeln hin und her.

Aus dem Inneren der Kapsel ragte ein Stiefel in die trockene Luft der ausgedörrten Erde.

Es ist allgemeiner Grundsatz eines jeden Imperiums, keinen Landstrich unberührt zu lassen, es sei denn, das Land ist so unfruchtbar und lebensfeindlich, dass es sich nicht lohnt, es überhaupt zu betreten. Und nach dieser Maxime verhielt sich das Zentralgalaktische Imperium (auch Zentralistisches Imperium genannt oder Imperium der nie untergehenden Sonne) in Bezug auf die Erde. Seit über drei Jahrhunderten verlassen (…) [wurde der Planet] wenige Jahrzehnte nach Gründung des Imperiums offiziell evakuiert.

Die wenigen, die sich zum Bleiben entschieden, gehörten fast sämtlich einer Gruppe an, die offiziell als »Gaias Letzte Gemeinde« bekannt ist, eine kleine, unbedeutende Religionsgemeinschaft, die auf das späte 20. Jahrhundert zurückgeht und (…) in einer radikaleren Form wiederauferstanden ist. Zentraler Glaubensgrundsatz war die Vergöttlichung der Erde.

Obwohl ihre Anwesenheit auf dem Planeten im Grunde illegal war, verbot die Doktrin der Kirche den Einsatz jeglicher modernen Technologien und lehnte alles ab, was mit der sogenannten »Sünde der Raumfahrt« im Zusammenhang stand. Sie betrachteten den Klimawandel als göttliche Strafe, die duldsam hinzunehmen ist, nicht als Naturkatastrophe, der man um jeden Preis entkommen muss. In Anbetracht dessen und angesichts des Zustands der Erdatmosphäre sagten imperiale Experten voraus, dass die verbleibende Bevölkerung höchstens eine Handvoll Generationen überdauern würde (…). Um es offen zu sagen: Sie war der Mühe nicht wert, sie zu vernichten.

– Eine kleine Geschichte der Peripherie, Band 1

Eine Handvoll Romane

Eines wird sich niemals ändern: Die beste Anlaufstelle, um sich zu informieren, ist eine Bibliothek. Selbst wenn man unendlich weit weg ist von zu Hause, verdreckt und voller Sorge, selbst wenn Kupfergeschmack den Mund füllt, weil man sich bei der Landung auf die Zunge gebissen hat, selbst wenn man nur noch schreien oder mit den Fäusten auf den Boden hämmern oder eine Wand einreißen oder auf etwas eintreten will aus lauter Angst und Frustration, und selbst wenn man eigentlich nicht gern liest: Der Weg in die nächste Bibliothek ist der richtige. Dort findet man heraus, was man wissen muss.

Eine Fremde betrat die Stadt – und beschloss, sie so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Die Blicke, die sie erntete, feindselig zu nennen, wäre eine lupenreine Untertreibung gewesen. Die Einheimischen beobachteten sie mit unverhohlenem Hass, also ging sie weiter, ohne auch nur jemandem zuzunicken, denn sie befürchtete, jede noch so zaghafte Kontaktaufnahme könne als Aufforderung zum Kampf aufgefasst werden. Zwar würde sie diesen Kampf vermutlich gewinnen, aber darum ging es nicht. Sie brauchte Hilfe.

Genauer gesagt: Sie musste ganz dringend eine Nachricht senden.

Eine Nachricht an jemanden, der vielleicht tot war.

Sie wusste es nicht genau. Es gab eine Menge, was sie nicht wusste.

Also ging sie in die Bibliothek.

Die Bibliothek befand sich in einem Anhänger, der auf verrosteten Achsen einen guten Kilometer vom Stadtzentrum entfernt parkte. Ein an der hinteren Stoßstange befestigter Karren war mit einem leuchtend bunten Schild versehen, auf dem stand: Gute Bücher zu vermieten! Günstige Preise!

Als Türstopper diente ein Ziegelstein.

Nachdem sie sich einen Moment Zeit genommen hatte, um andere Möglichkeiten abzuwägen – sie kam auf die schöne Zahl null –, duckte sich die Fremde unter der Tür hindurch und betete darum, drinnen ein freundliches Gesicht vorzufinden.

Der Innenraum war eng, düster und so niedrig, dass ihr Ranger-Hut fast an die Decke stieß. Sämtliche Wände verschwanden hinter den zerrissenen Einbänden von Taschenbüchern, und auch auf dem Boden lagen sie stapelweise. Im hinteren Teil der Bibliothek standen zwei Leute an einer behelfsmäßigen Theke und ruinierten die gemütliche Atmosphäre durch einen heftigen Streit.

Die Bibliothekarin war klein, wohlwollend geschätzt vielleicht eins siebenundfünfzig, aber optisch ein wenig vergrößert durch ihre Dreadlocks, die sie mit einem leuchtend orangen Tuch auf dem Kopf zusammengebunden hatte. Um die Taille trug sie eine Art Gürtel, an dem neben anderem Krimskrams fünf Stifte, ein kleines Messer, eine Rolle Klebeband, ein Inhalator, ein Taschenbuch und ein handbetriebener Quittungsapparat befestigt waren. Das rechte Bein steckte in einer steifen Schiene. Sie stritt sich, fast Nase an Nase, mit einem ihrer Kunden. Seine Stimme klang sanft, aber der Fremden entging nicht, dass er mit beiden Händen so fest die Thekenkante umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Miss Keeper«, sagte er, »seien Sie nicht albern. Ich gebe nichts zurück, was ich gekauft habe.«

»Sie haben überhaupt nichts gekauft, Sheriff«, blaffte ihn die Bibliothekarin an. »Sie haben es geliehen. Ich verleihe Bücher, ich verkaufe sie nicht.«

»Ich glaube nicht, dass das stimmt.«

»Ach ja? Sie haben es eigenhändig unterschrieben.« Sie knallte etwas auf den Tresen – einen Plastikordner mit vergilbten Blättern, so dick wie ihr Oberarm. »Hier steht es.« Sie zeigte ihm die Stelle auf der Seite. »Genau hier. Sehen Sie?«

Der Mann beugte sich vor und zupfte nachdenklich an einem Büschel weißer Haare an seinem Kinn. »Genau hier?«, fragte er und zeigte auf dieselbe Stelle wie sie.

»Mhm!«

Immer noch scheinbar unaufgeregt packte er die Seite und riss sie aus der Mappe. Die Bibliothekarin kreischte vor Empörung auf und riss den Ordner zurück, aber das half natürlich auch nichts mehr.

»Ich wiederhole«, sagte er und zerknüllte das Blatt, »seien Sie nicht albern. Sie wissen, was ich will.«

»Sie …« Die Bibliothekarin atmete tief durch und stieß dann hervor: »Sie können Ihr heidnisches Scheißgeld behalten, bis zum letzten kleinen heidnischen Scheißpenny. Lieber werfe ich meine gesamte Sammlung in einen Minenschacht und überlasse es der Göttin selbst, herauszufinden, wer Mr. Darcy heiratet, als eine einzige Seite an Sie zu verkaufen. Stecken Sie doch Ihr Gesicht in den nächstbesten Scheißhaufen!«

Der Kunde ballte die Fäuste, und jetzt waren nicht mehr nur die Knöchel weiß, sondern die ganzen Hände. Die Fremde war sicher, dass er gleich zuschlagen würde – sie trat näher, um ihn festzuhalten. Aber da kicherte er auf einmal und ließ die Fäuste sinken. »Das werden Sie bereuen.«

»Zum Weltraum noch mal, das werde ich ganz sicher nicht«, knurrte sie. »Raus hier.«

Der Kunde ging Richtung Ausgang und nickte der Fremden, die sich halbherzig hinter einem Bücherregal zu verstecken versuchte, knapp zu. »Ma’am.« Im Rausgehen trat er gegen den Ziegelstein, und die Tür fiel hinter ihm mit einem Knall zu.

Die Bibliothekarin murmelte vor sich hin, riss hängen gebliebene Papierfetzen aus den Metallklammern des Ordners und schnippte sie an die Wand. Es schien ein schlechter Zeitpunkt zu sein, um mit ihr zu sprechen, also spazierte die Fremde stattdessen durch den Trailer und inspizierte die Sammlung. So abgenutzt die Bücher auch waren, überall entdeckte sie Spuren sorgfältiger Reparaturen: sauber gesetzte Nähte, mit Bedacht platzierter Kleber.

»Tut mir leid, dass Sie das mitansehen mussten, meine Liebe«, sagte die Bibliothekarin und schloss seufzend den Ordner. »Ich bin Amber. Also, was kann ich … bei den Titten der Göttin!« Sie zeigte auf die Hüfte der Fremden. »Was ist das?«

Die Fremde zuckte zusammen und sah nach, was die Bibliothekarin meinte. Es war ein schlankes, gebogenes Gerät aus Chrom und schwarzem Glas, ohne Magazin oder Zielfernrohr. Das glatte Stück Metall steckte in einem verblichenen Lederholster.

»Woher kommen Sie?«, fragte Amber. »Gehören Sie zum Sheriff?«

»Nein …«

»Haben Sie einen Sheriff getötet? Woher im Namen der Göttin haben Sie das?«

»Ich, äh …«, stammelte sie. »I-ich habe es gefunden.«

»Oh.« Die Bibliothekarin beruhigte sich. »Sie sind wohl Schrottsammlerin, was? Ist das Weltraumschrott?«

Sie nickte.

»Sie sind wohl zum ersten Mal so weit oben im Norden?«

»Ja.«

Amber schüttelte den Kopf. »Immer dasselbe.« Dann wurde ihre Stimme schärfer. »Hören Sie mal zu, meine Gute. Sie sind hier nicht im Süden. Dies ist ein gottesfürchtiges Land, und unsere Heilige Mutter unter uns missbilligt solche unnatürlichen Maschinen. Kapiert?«

»Es tut mir leid«, sagte die Fremde aufrichtig. »Das wusste ich nicht.«

»Nun, jetzt wissen Sie es.«

Es entstand eine unangenehme Pause – zumindest unangenehm für die Fremde –, dann fragte die Bibliothekarin: »Was ist mit Ihren Haaren passiert?«

»Ich habe sie abrasiert.«

»Und Ihr Gesicht?«

»So sehe ich nun mal aus.«

»Sie sehen aus, als hätten Sie schon den einen oder anderen Kampf hinter sich.«

»Ja.« Unwillkürlich griff sie sich an die Nase und betastete die schief zusammengewachsene Stelle. »Den einen oder anderen.«

»Hmmm. Und was für ein Buch suchen Sie?«

»Kein Buch. Ich brauche einen Kommunikator.«

Amber legte den Kopf schief. »Einen was?«

Die Fremde verzog das Gesicht und überlegte. »Ein, äh, Radio.«

»Ein Radio? Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass wir so was in dieser Gegend nicht haben.«

»Oh.« Die Fremde ließ die Schultern hängen. »Richtig. Ja.«

Amber beobachtete sie noch einen Moment, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Was ist denn Ihr Problem? Haben Sie sich verirrt?«

»Ja«, gab sie zu. »Völlig verirrt.«

Die Bibliothekarin stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und sah sie an wie ein freundlicher Barkeeper. »Wollen Sie drüber reden?«

»Ich sollte nicht, äh …« Die Fremde zog den Hut tiefer ins Gesicht und räusperte sich. »Nein, schon gut.«

»Na kommen Sie schon, ist doch kein Problem. Und außerdem«, die Bibliothekarin deutete auf die Taschenbücher ringsum, »freue ich mich immer über gute Geschichten.«

»Es ist nicht besonders spannend.« In den Schläfen der Fremden pochte es schmerzhaft. »Ich suche jemanden, der vermisst wird. Möglicherweise bin in Wirklichkeit allerdings ich diejenige, die vermisst wird. Wie auch immer, es ist dringend.«

»Klingt schlimm. Es geht wohl um jemand Besonderen.«

»Ja, also …« Sie spürte, wie sie errötete. »Ja.«

Beide grübelten einen Moment lang. Dann schlug Amber mit der Faust in ihre Handfläche. »Ich sage Ihnen jetzt mal, wer so was hat wie das, was Sie suchen. Das Wiesel nämlich, das gerade gegangen ist. Der Sheriff.«

Das Gesicht der Fremden hellte sich auf. »Wirklich?«

»Mhm! Ich habe gesehen, wie er es benutzt hat. Kackdreist.« Die Miene der Bibliothekarin verdüsterte sich. »Aber seien Sie besser auf der Hut. Er ist eine schleimige, stiefelleckende, staubschluckende kleine Kakerlake von einem Mann. Der denkt, weil ihm der Brunnen gehört, gehört ihm die ganze Stadt.« Sie packte mit beiden Händen in die Luft, als wollte sie jemanden erdrosseln. »Er hat immer noch meine einzige Ausgabe von Der Graf von Monte Cristo. Versucht immer wieder, mich dafür zu bezahlen. Als ob man so was mit Geld bezahlen könnte. Bah!« Sie sah auf. »Grinsen Sie etwa?«

»Auf keinen Fall.« Die Fremde schüttelte leise lächelnd den Kopf.

»Das ist nicht lustig. Sie haben keine Ahnung, wie schwer es ist, ein gutes Buch aufzutreiben. Oder überhaupt irgendein Buch.«

»Wissen Sie was? Ich hole Ihnen dieses Buch zurück.«

»Ach was.« Amber winkte ab. »Das ist nicht nötig – ich meine, ich kann Sie ja wohl schlecht darum bitten …«

»Ich würde das sehr gern für Sie tun. Sie sind der erste freundliche Mensch, den ich getroffen habe, seit – seit ich mich verirrt habe.« Sie sahen einander in die Augen, und die Fremde beugte sich vor, um etwa auf gleicher Augenhöhe zu sein. »Dafür würde ich mich gern revanchieren.«

»Na dann.« Jetzt wurde Amber rot. »Sie sind mir ja wirklich eine Süße.«

»Also, dieser Sheriff. Wie ist sein Name?«

»Er nennt sich Emollient.« Peinlich berührt verzog die Bibliothekarin das Gesicht. »Emollient Du Cream.«

Zum Zeitpunkt seiner Erbauung war das Du-Cream-Anwesen wohl absichtlich auf alt getrimmt worden, aber das war schon so lange her, dass es inzwischen wirklich uralt war. Es stand etwas abseits von Springwell mit seinen niedrigen Blechdächern und dem weiß getünchten Kirchturm auf einem Hügel, der so hoch war, dass die meisten Besucher wahrscheinlich hochrot im Gesicht waren, wenn sie hier angeschnauft kamen. Es war mehrstöckig mit hohen Fenstern und spitz zulaufendem Schieferdach. Von der hübschen Veranda mit den vier weißen Säulen aus blickte man in die Ferne jenseits der Stadt.

Die Fremde stand auf der rissigen Auffahrt, schob mit einem Finger die Hutkrempe hoch und betrachtete das Haus. Bitte, dachte sie. Bitte lass es funktionieren.

Wenn man Angst, Verwirrung, Schmerz, einen Spritzer Limette und eine halbe Tasse zerstoßenes Eis in einen Shaker gab und kräftig mixte, würde das Ergebnis wohl dem ähneln, was sich in diesem Moment in der Fremden abspielte. Sie kämpfte darum, ruhig zu bleiben – oder zumindest ruhig auszusehen. Wie es unter der Oberfläche aussah, stand auf einem anderen Blatt.

Als sie die Verandastufen hinaufstieg, entdeckte sie einen Mann. Er lehnte an der Tür des Herrenhauses, das Gewehr bequem in der Ellenbeuge aufgestützt, dunkle Schweißflecken unter den Achselhöhlen.

»Hey«, sagte sie und nickte.

Der Mann grüßte nicht zurück, sondern schnüffelte nur, sog rasselnd die Luft durch zwei wulstige Nasenlöcher. »Was verdammt noch mal wird das denn?«

»Ich bin hier, um den Sheriff zu sehen.«

Er starrte sie stumm an.

»Ist er da?«

Der Mann grunzte.

»Also ja?«

Ein weiteres Grunzen.

Ruhig, mahnte sich die Fremde, ganz ruhig. »Es ist dringend«, sagte sie. »Darf ich rein oder nicht?«

»Dies ist ein freier Planet«, brummte er und machte ihr Platz.

Sie ging hinein. Er drehte sich um und beobachtete sie von der Tür aus, ließ das Gewehr auf seinem Unterarm sachte auf und ab wippen. »Überlegen Sie sich gut, was Sie tun.«

Die Eingangshalle war riesig und ganz in Blassrosa und Lindgrün gehalten. Die mit Rüschenvorhängen gesäumten Fenster reichten bis zum Boden, dahinter erstreckte sich ein Garten voller Dahlien und Geranien – und in der Ferne sah sie eine weitere Wache patrouillieren. An der gegenüberliegenden Wand tickte mürrisch eine Standuhr.

»Hallo?«

Keine Antwort.

Am anderen Ende der Halle entdeckte sie eine angelehnte Tür und steuerte darauf zu. »Hallo? Ich komme jetzt rein.«

Es war ein riesiger, gewölbter Raum, gut zwei Stockwerke hoch, unzählige Bücherregale erstreckten sich vom Boden bis zur Decke – mindestens fünfmal so viele wie in Ambers Trailer. Und während die Bibliothekarin ihre Bücher im Lauf der Jahre offenbar immer wieder sorgsam geflickt und repariert hatte, war die Sammlung von Du Cream makellos, die Buchrücken aus Leder, die Titel mit Goldprägungen versehen. Vor einem Marmorkamin standen zwei bonbonfarbene Plüschsofas, in der Mitte des Raums ein ausnehmend akkurat aufgeräumter Schreibtisch: ein säuberlich ausgerichteter Papierstapel, daneben lag präzise im rechten Winkel ein Stift, und mehrere Bücherstapel lagen am Rand des Tischs wie Burgzinnen, die Seiten mit Lesebändern markiert. Hinter einer großen Glasschiebetür erstreckte sich der Garten.

Aber sie entdeckte nichts, was wie ein Radio aussah. Nichts, was auch nur eine Batterie hatte. Alles analog, primitiv. Sie biss die Zähne zusammen, kurz davor, die Schubladen zu durchwühlen, da rief jemand von der Tür her: »Hat es wehgetan?«

Instinktiv zuckte ihre Hand zum Halfter. Sie zwang sich dazu, sie wieder sinken zu lassen. »Wehgetan?«

»Na, als Sie vom Himmel gefallen sind?«

Die Fremde verschluckte sich. »W…«

»Liebe Güte, es gibt keinen Grund, rot zu werden.« Du Cream lachte leise und hängte seinen Hut auf den Ständer neben der Tür. Der Sheriff war glatthäutig und weich und fleischig, mit sanfter Stimme, weißem Ziegenbart und nachsichtig blinzelnden Augen. »Den Spruch sag ich zu jedem. Aber man sollte es damit nicht zu weit treiben – Engel sind nicht mehr in Mode, wissen Sie«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Richtig«, brachte sie mühsam heraus.

»Setzen Sie sich.« Er deutete auf eins der hässlichen Sofas. »Rodrick sagte mir bereits, ich hätte Damenbesuch.«

»Der Mann an der Tür?«

»Genau der.«

Die Fremde erinnerte sich an Rodricks angewiderten Blick und bezweifelte, dass »Damenbesuch« der Ausdruck war, den er benutzt hatte. Du Cream schlenderte zu einem Tisch mit Klauenfüßen, auf dem ein gläserner Kelch stand, gefüllt mit bernsteinfarbener Flüssigkeit. »Möchten Sie einen Schluck trinken?«

»Nein. Ich bin hier, um …«

»Ich weiß, ich weiß, es ist noch früh. Aber ich muss meine Nerven beruhigen.« Der Sheriff stürzte einen großen Schluck runter und wischte sich mit dem Ärmel über die Lippen. »Ich komme gerade von einem furchtbaren Schauplatz zurück.«

Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

»Schauplatz?«, fragte sie.

»Ja. Der Schauplatz eines Verbrechens. Schreckliche Sache.« Er schauderte, füllte sein Glas wieder auf und ließ sich auf das andere Sofa sinken. »Und so seltsam. Drei Leichen mitten im Nirgendwo. Alle auf unterschiedliche Weise gestorben. Erschlagen. Vergiftet. Erschossen. Einem der Männer wurden Hut und Hemd entwendet, wohl post mortem. Wer macht denn so was bloß?«

Die Fremde wurde blass und drehte einen Hemdknopf zwischen den Fingern hin und her. »Tja«, sagte sie. »Wirklich schrecklich.«

»Alle drei waren Schmarotzer, lupenreines Plündererpack. Normalerweise wäre es mir egal. Aber mein Vorgesetzter im Süden, der gute Deputy Seawall …« Er machte eine Pause, als wollte er ihre Reaktion beobachten. Die Fremde zog eine ehrfürchtige Miene. Erfreut fuhr er fort: »Aus irgendeinem Grund hat er Interesse an dieser Sache. Anscheinend steckt mehr dahinter. Wir sollen nach jemandem Ausschau halten, der eine Menge heidnischer Ausrüstung mit sich führt.« Kurz senkte er den Blick zu der Pistole an ihrer Hüfte. »Ich persönlich würde die Sache ja als Streit zwischen Taugenichtsen abhaken. Aber was Seawall will, soll Seawall auch bekommen …« Seufzend lehnte sich Du Cream in die dicken Polster zurück. »Um die Wahrheit zu sagen, ich habe nicht den Mumm für solche mörderischen Angelegenheiten. Im Herzen bin ich Gelehrter, das sehen Sie ja an all den Regalen hier. Schon in jungen Jahren …«

»Haben Sie ein Radio?«, unterbrach ihn die Fremde. Sie saß auf der Sofakante, um jederzeit aufspringen zu können. »Es ist dringend.«

Du Cream blinzelte. »Ein was?«

»Einen Kommunikator. Mir wurde gesagt, dass Sie einen haben.«

»Ach, das Ding meinen Sie?« Er hatte sich wieder gefasst und kicherte. »Ja, hab ich.« Er klopfte auf seine Tasche. »Genau hier. Aber wer hat Ihnen das verraten?«

»Die Bibliothekarin draußen am Stadtrand. Sie hätte übrigens gern ihr Buch zurück.«

Du Cream hob eine Augenbraue. »Ihr Buch?«

»Ja.« In einem Anflug von Panik ging der Fremden auf, dass sie den Titel vergessen hatte. »Graf von Minte … äh …«

»Der Graf von Monte Cristo.«

»Ja.«

»Ich verstehe.« Mit beiden Händen stützte er sich auf den Knien ab, seufzte und stemmte sich hoch. »Nun gut. Ich bin sicher, es ist hier irgendwo.« Mit einem reumütigen Lächeln fügte er hinzu: »Ich fürchte, sie hat nicht viel für mich übrig.«

»Ich weiß.« Ruhig, dachte die Fremde. Ruhig, ruhig, ruhig. »Das hat sie gesagt.«

»Sie nimmt mir übel, dass ich ihre Sammlung kaufen möchte.« Er schritt an den Regalen entlang, seine hinter dem Rücken verschränkten Hände erinnerten sie an ein Paar im Schlaf dicht aneinandergeschmiegter weißer Wühlmäuse. »Ich mag dieses Hin und Her nicht, ausleihen und zurückbringen, ausleihen und zurückbringen. Wir leben nicht mehr im barbarischen Zeitalter des Tauschhandels. Als Geschäftsmann kann ich mir Bücher leisten, und als fleißiger Gesetzeshüter habe ich sie mir auch verdient.« Er sah sie an. »Sie wissen, dass ich ihr einen angemessenen Preis geboten habe?«

»Na sicher.«

»Aber sie wollte nicht verkaufen.« Mit schimmernden Augen lächelte er sie an. »Und jetzt will sie weiterziehen, und mein einziger Trost besteht in einem ausgesprochen schlichten Band von Dumas. Sehr ärgerlich.«

Die Fremde nickte unbestimmt. Sie blickte am Sheriff vorbei durch die Glastüren auf den gepflegten Garten und die dahinterliegende endlose Einöde hinaus. Der Himmel hatte einen schwarzen Kratzer – ein Bussard –, und ihre Fantasie folgte ihm über die sanften Hügel hinweg in unbekannte Gefilde. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass dieser Planet mit seinen vierzigtausend Kilometern Umfang sie viel mehr beunruhigte als die unermesslichen Weiten des Weltraums.

»Ah, hier ist es ja!« Du Cream zog ein Buch von der Größe zweier Ziegelsteine aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch. Er packte den Einband an einer Ecke und hielt es hoch, und der Rest des Buches klappte herunter. Der Buchrücken brach mit einem hörbaren Knacken. »Einen Moment …« Er fingerte in seiner Brusttasche herum und zog ein Feuerzeug heraus.

Abrupt aus ihrem Tagtraum gerissen, sprang die Fremde auf. »Warten Sie …«

Aber es war zu spät, in Sekundenschnelle fraßen sich die Flammen durch das Papier. Du Cream lachte und zündete eine weitere Ecke an, oranger Widerschein zuckte über sein Gesicht. Die Worte schmolzen, der Einband verformte sich und löste sich in Nichts auf. Als das Feuer nach einer Weile erlosch, schlug er das Buch gegen sein Bein, um die Glut zu ersticken.

»So.« Er ließ das Buch in die Hände der Fremden fallen. Es bestand nur noch aus ein paar geschwärzten Fetzen, zusammengehalten von einem kleinen Rest Buchrücken. »Verstehen wir uns jetzt?«

»Nein.«

»Ich will nicht nur ein Buch. Ich will sie alle. Bringen Sie sie mir, dann helfe ich Ihnen, den Kontakt zu wem auch immer herzustellen.«

Sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. »Ist das Ihr Ernst?«

»Absolut.«

»Was ist mit …«

»Mit der Asthmatikerin mit ihrem lahmen Bein? Um die kümmert sich Ihre heidnische Pistole.« Du Cream wandte sich wieder den Regalen zu und strich mit den Fingern zärtlich über die Buchrücken, als wolle er sie zum Erzittern bringen. »Die Heilige Schrift sagt: Wenn das Feuer hoch lodert, so bade in der Asche. Außerdem muss ich mich ja gerade um diesen schrecklichen Fall kümmern. Nicht, dass ich mich am Ende noch gezwungen sehe, auf bloßen Verdacht hin irgendwen zu verhaften.«

Mit einem markerschütternden Ruck rumpelte die Bibliothek über einen weiteren Wüstenfels. Die Villa von Du Cream kam in Sicht, und die Fremde drückte mit aller Kraft den Schalthebel hoch. Laut klagend mühte sich der Motor mit der Steigung ab. Endlich waren sie oben, und die Fremde atmete erleichtert auf.

Sie saß auf dem durchgescheuerten Sitz, umgeben von den Besitztümern der Bibliothekarin, und blickte zum Haus hinauf. Verspürte eine ganz eigenartige Regung tief in sich und fragte sich, was für ein Mensch sie eigentlich geworden war.

»He!« Jemand klopfte kräftig gegen das Fenster. Die Fremde kurbelte es folgsam hinunter, und ein langer Gewehrlauf schob sich herein.

»Na, na.« Sie drückte ihn mit zwei Fingern nach unten. »Ich bin’s nur.«

Die Waffe wurde zurückgezogen, und sie spürte die Hitze von Rodricks loderndem Blick. »Er ist hinter dem Haus.«

»Danke.«

Sie kurbelte das Fenster wieder hoch, fuhr mit dem Trailer ums Haus, wendete und fuhr das Heck der Bibliothek dicht an die Hintertür des Anwesens. Zog die Handbremse an und hüpfte nach draußen. Du Cream klatschte in die Hände.

»Wunderbar, meine Liebe!«, rief er. »Einfach fabelhaft!«

Die Fremde lächelte und warf die Wagentür zu. Du Cream rieb sich die Hände.

»Dann wollen wir mal sehen, was wir da haben, was?« Er riss die Hintertür des Trailers auf und stieg leise lachend hinein. Die Fremde verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Es gab einen dumpfen Schlag. Der Trailer wackelte, als wäre etwas Schweres auf den Boden gefallen.

Amber steckte ihren Kopf heraus, schaute rasch nach links und rechts und kam herausgeklettert. »Das alles ist völlig verrückt«, sagte sie.

»Hast du ihn?«, fragte die Fremde. »Den Kommunikator?«

Amber nickte. »Machen wir besser schnell.«

Die Fremde stand an der Tür Wache, während Amber halb vorsichtig, halb übermütig durch Du Creams Bibliothek marschierte und hier und da ein Buch aus dem Regal nahm.

»Mist«, erklärte sie und ließ, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, ein Buch auf den Boden fallen. »Mist.« Sie ließ ein weiteres fallen. »Langweilig.« Ein Aufprall. »Nicht gut.« Ein dumpfer Schlag. »Beim Weltall, hat der Mann denn nichts Lesbares hier?«

»Amber …«

»Ja, ja, tut mir leid.« Amber legte einen Zahn zu, trat an ein abseitsstehendes Regal und zog ein Buch heraus. »›Die drei Musketiere‹. Das habe ich noch nicht gelesen.« Mit einem anerkennenden Nicken klemmte sie es unter den Arm, dann zog sie fünf weitere Bücher heraus und stapelte sie vor ihrer Brust bis unters Kinn. »In diesem Regal steht ausschließlich Belletristik. Hilf mir beim Tragen, dann können wir hier verschwinden.«

Die Fremde warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Garten, dann eilte sie ebenfalls zu dem Regal und beugte sich vor.

Ein Schuss. Amber schrie auf.

»Ich wusste es, verdammt!«, brüllte jemand.

Die Fremde drehte sich um, in jeder Hand ein Buch. Rodrick kam auf sie zugestapft und hob das Gewehr, aber bevor er abdrücken konnte, wirbelte Jane Eyre quer durch den Raum und traf ihn an den Fingerknöcheln.

»Scheiße …«

Wuthering Heights klatschte ihm gegen die Nase.

»Scheiße!« Mit rudernden Armen taumelte Rodrick rückwärts. Die Fremde klaubte die beiden Bücher vom Boden auf und knallte sie ihm fein säuberlich von beiden Seiten zugleich gegen den Kopf. In einer Wolke aus Blut und Papier ging er zu Boden.

»Hey. Hey!« Sie rannte zu Amber, die auf dem Boden lag. »Hey. Leben Sie noch?«

Ein langes, gequältes Stöhnen entrang sich Ambers Lippen. »Verdammt«, brachte sie heraus. »Kleine … Ratte.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen, fischte Die drei Musketiere aus dem Haufen verstreuter Bücher und schüttelte es energisch. Ein langes Geschoss fiel heraus und rollte über den Boden. Rodricks Attacke hatte es bis zum Epilog geschafft.