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Strafverteidiger Max Faber ist ein Supertyp – findet zumindest er selbst. Er leitet eine gut gehende Kanzlei in Berlin, kommt bei Frauen an und die Presse liebt den smarten Juristen. Dass er vor allem finanzkräftige Klienten verteidigt, die in fragwürdige Aktivitäten verwickelt sind, stört ihn nicht. Jeder Mensch hat ein Recht auf Verteidigung, und wenn die Kanzlei dabei mediale Aufmerksamkeit bekommt, umso besser. Deswegen nimmt Faber ohne Zögern das Mandat des Hauptverdächtigen im Fall der sogenannten Philosophenmorde an. Die Presse berichtet in Dauerschleife über jenen Serienmörder, der seit Wochen sein Unwesen in der Stadt treibt und sich an den Toden berühmter Philosophen orientiert. Faber wittert kostenlose Werbung. Dass ausgerechnet die ehrgeizige Anna Sánchez-Amann den Fall verantwortet, die eine Klatschgazette jüngst zur ›heißesten Staatsanwältin Berlins‹ gekürt hat, kommt dem Juristen sehr zupass. Doch als er und Anna sich auch außerhalb des Gerichtssaals näherkommen, bricht ein medialer Shitstorm über Faber herein. Während er feststellen muss, dass keineswegs jede Presse gute Presse ist, plant der Serienmörder bereits den nächsten spektakulären ›Philosophenmord‹ …
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Seitenzahl: 538
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Ingo Bott
Das Recht zu strafen
© 2017 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagbild: atomazul / shutterstock.com
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
Über das Buch
Strafverteidiger Max Faber ist ein Supertyp – findet zumindest er selbst. Er leitet eine erfolgreiche Kanzlei, kommt bei Frauen an und die Presse liebt den smarten Juristen. Dass er vor allem finanzkräftige Klienten mit fragwürdigem Background verteidigt, stört ihn nicht. Schließlich hat jeder Mensch ein Recht auf Verteidigung.
Als ihm das Mandat für den sogenannten ›Philosophenmörder‹ angeboten wird, zögert Faber keine Sekunde. Die Medien berichten in Dauerschleife und die »heißeste Staatsanwältin Berlins«, Anna Sánchez-Amann, verantwortet den Fall – es läuft, findet Faber. Doch als sein One-Night-Stand mit Anna öffentlich wird, bricht ein medialer Shitstorm über ihn herein. Währenddessen plant der Serienkiller bereits den nächsten spektakulären Mord …
Der Autor
Ingo Bott, Jahrgang 1983, ist Strafverteidiger. Er ist Partner in einer Kanzlei, die sehr anders ist als die in diesem Buch beschriebene. Bott ist in der ganzen Bundesrepublik sowie im englisch- und spanischsprachigen Ausland tätig. Er hat einen Lehrauftrag für Strafrecht und berät in diesem Bereich den Europarat. Das Recht zu strafen
ERSTER TEIL
Jeder Mensch trägt einen Dämon in sich, der ihn reizt und ihn zu seinen Handlungen treibt.
I.
1.
Anna flucht.
Sie keucht im Halbdunkel die Stufen hoch. Ihre Wohnung liegt ganz oben, im sechsten Stock. Auf Höhe des vierten Stocks stolpert sie über den Treppenabsatz. Sie flucht erneut. Zu Recht, wie sie findet. Es hat etwas Befreiendes. Es tut gut! Es hilft gegen die Wirkung des kalten Biers. Und gegen die Angst.
Sie streicht die Locken aus dem Gesicht und rappelt sich auf. Stolpert weiter. Sie flucht schon wieder.
Was für eine bescheuerte Idee!
Andererseits weiß sie, dass sie keine Wahl hatte. Sie wusste es sofort, als der Gedanke aufkam, gerade eben, am Ufer des Landwehrkanals.
Dieser Gedanke: Das ist es!
Sie muss nach Hause an den Computer, in das Netzwerk der Staatsanwaltschaft. Dort muss die Lösung stehen. Dort stand sie die ganze Zeit.
Anna atmet durch. Sie ist gleich da. Oben.
Beruhige dich. Jetzt!
Es muss einfach richtig sein. Die Lösung. Diesmal.
Sie hat nur noch diesen einen Schuss.
Sie weiß es. Alle anderen wissen es auch.
Deshalb bringt es nichts, jetzt schon die Soko anzurufen. Außerdem ist es dann nicht mehr ihr Verdacht. Wenn ihr überhaupt noch jemand zuhört.
Dann bleibt sie stehen. Auf der Treppe vor ihrer Wohnung sitzt jemand.
Anna hat das Licht ausgelassen. Draußen tobt der Sommer. Das dunkle Treppenhaus ist angenehm kühl. Nur durch ein kleines Deckenfenster dringt milchiges Licht.
Ein Schatten liegt auf dem Gesicht, das auf sie wartet. Es spielt keine Rolle.
Ich weiß auch so, wer das ist.
Trotzdem sagt Anna nichts. Atmet schwer. Noch ist der Vorhang nicht gefallen. Noch kann alles ganz anders sein. Dann hört sie die Stimme, die jetzt seltsam klingt. Es ist nur ein Flüstern.
»Die Strafe, die züchtigt, ohne zu verhüten, heißt Rache.«
Anna erstarrt. Zwei Dinge werden ihr klar: Sie hatte recht. Und sie weiß, wer die Nächste ist.
Ich bin es.
*
Die Bedienung aus dem Café denkt sich nichts. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schleift eine Gestalt eine andere zu einem Auto. Sie schwankt unter dem Gewicht.
Na und? Das ist Berlin. Kreuzberg bei Nacht. Die beiden dort drüben hatten einfach ein, zwei Kurze zu viel. Wer nicht?
2.
Faber hat die Zeit verloren. Er weiß nicht mehr, wie lange er schon auf den nackten Arsch starrt. Er weiß nur, dass das Leben genau so lange gut ist. Genau so lange, wie die Welt nur aus diesem schönen, schlanken, nackten Arsch besteht. Er weiß, dass er das genießen sollte. Und dass es enden wird. Er gähnt. Er hat eine anstrengende Nacht hinter sich. Mal wieder.
Der Wecker ihres Handys klingelt und sie wacht auf. Schlafmützig tastet ihr Arm auf der Decke herum. »Wo bist du, Faber?«, brummt sie in das Kissen.
»Hinter dir«, sagt er.
»Was machst du?«
»Ich hadere mit dem Dasein.«
»Warum?«
»Es war viel schöner, als es nur aus deinem kleinen Hintern bestand.«
Sie gibt ein ersticktes Geräusch von sich, das er als Lachen einstuft. Dann geht sie ins Bad und es ist vorbei. Die ganze Herrlichkeit. Das gute Leben. Der Rest sowieso.
Faber lässt sich in das zerwühlte Bett zurückfallen. Immerhin ist sie so aufmerksam, die Tür offen zu lassen, sodass er durch das beschlagene Glas der Duschzelle ihre Silhouette sehen kann. Wie bei einem Gehege. Nur dass nicht klar ist, wer eingesperrt ist und wer nicht. Er fährt sich mit den Fingern über die Augen. Solche Gedanken um diese Uhrzeit! Es ist schlimm genug, dass er wach ist. Dass sein Kopf nicht den Rand hält, macht es geradezu unerträglich.
Als sie sich vor dem Spiegel aufbaut, um die kurzen blonden Haare zu föhnen, ist auch der Hintern wieder da.
»Warum tust du dir das an?«, fragt Faber in ihre Richtung.
Sie föhnt ihre Haare zu Ende und kommt zurück ins Schlafzimmer. Als sie die Jalousien hochzieht, dringt goldenes Morgenlicht in den Raum.
Es ist widerlich.
»Draußen ist heller Tag, Faber. Also beklag dich nicht. Erfolgreiche Frauen mögen keine Jammerlappen!«
»Es ist kurz nach sieben! An einem Samstag!«, protestiert er. Schwerfällig angelt er nach dem Wecker. 6:55Uhr. Er wedelt verschlafen damit herum. »Siehst du? In Wahrheit ist es sogar noch viel schlimmer!«
Sie antwortet nicht. Stattdessen öffnet sie einen kleinen Koffer und nimmt eine frische Bluse heraus.
»Fang in meinem Laden an«, sagt er, während er seine Augen mit einer Hand gegen die Sonnenstrahlen schützt. »Du wirst Partner, wir gewinnen einen Haufen Fälle, arbeiten am Abend, vögeln in der Nacht und schlafen am Morgen. Wie klingt das?«
Ella lacht. »Auf gar keinen Fall, mein Lieber«, sagt sie, während sie die Bluse zuknöpft.
Immerhin macht sie es langsam.
»Warum nicht?«
»Ich habe einfach viel zu viel Freude an einem geregelten Leben und geistiger Gesundheit. Selbst wenn man dafür samstags arbeiten muss. Es genügt völlig, wenn Fischer mit dir zusammen ist. Einer muss schließlich auf dich aufpassen. Wobei ich mich oft genug frage, wie er das aushält.«
»Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich so unglaublich charmant bin.« Faber grinst.
»Bist du, Faber«, sagt sie. »Aber eben nicht nur.« Ella hält kurz inne und sieht ihn an. »In Wahrheit bist du nicht besser als alle anderen. Ein komischer Typ. Charmant, klar. Du siehst gut aus, machst Sport, pflegst dich. Dann eure Kanzlei. Keine Frage, du hast es raus.«
Faber grinst breiter.
»Das bist du also – einerseits.«
»Können wir an der Stelle nicht einfach aufhören?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. »Auf der anderen Seite bist du aber eben auch genau das, was ich gerade gesagt habe: nicht besser als alle anderen! Besser aussehend vielleicht. Wenn überhaupt. Aber ansonsten auch nur ganz bedingt sozialfähig. Und jetzt schau nicht so betroffen. Ich geb dir ein Beispiel: gestern. Der ganze Faber in einem Abend. Erst lässt du ewig nichts von dir hören. Dann tauchst du plötzlich Freitagnacht völlig durch den Wind vor meiner Wohnung auf, erklärst lang und breit, dass du jemanden zum Reden suchst, versprichst mir ein großes Frühstück, wenn ich mitkomme, wir gehen zu dir und dann machst du doch nichts, als über mich herzufallen.«
»Und dir das Hirn rauszuvögeln«, ergänzt Faber.
»Und mir das Hirn rauszuvögeln«, sagt sie.
Sie lächelt und Faber ist zufrieden. Zumindest das scheint geklappt zu haben.
»Was dir gefallen hat«, sagt er und weiß sofort, dass er wieder den Moment verpasst hat, ab dem er die Klappe halten sollte.
»Was mir gefallen hat«, erwidert Ella nüchtern und schlüpft in einen knielangen schwarzen Rock. »Was aber nichts daran ändert, dass du ein komischer Kerl bist. Und unverschämt.«
»Unverschämt?« Faber kramt sein unschuldigstes Lächeln hervor. »Wieso das?«
»Zum einen sprichst du jedes Mal, wenn wir uns sehen, schlecht über meinen Job bei Elwood & Watson.«
»Zu Recht«, sagt Faber. »Das sind furchtbare Idioten dort. Mit einer Ausnahme natürlich. Die ist eine ganz besonders attraktive Idiotin.«
»Und zum anderen«, fährt Ella fort, ohne auf seinen Kommentar einzugehen, »wo ist das Frühstück?«
»Richtig«, sagt er. »Da war noch was. Also, lass den Reißverschluss offen.«
Sie hält inne. Schaut erst irritiert. Dann genervt.
»Lass den Reißverschluss an deinem Rock offen und komm näher«, brummt Faber.
Sie sieht ihn an.
Er hält dem Blick stand. Brummt weiter. »Komm her!«
Sie schüttelt die kurzen blonden Haare. Da sie noch nicht frisiert ist, fallen Strähnen in ihr Gesicht. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, Faber.«
»Komm näher«, sagt er. Er ist jetzt streng.
»Du hast vielleicht Nerven«, sagt sie. Dann knöpft sie die Bluse wieder auf und tritt einen Schritt auf ihn zu.
*
Das Telefon klingelt, als er im Bad ist. Es zeigt einen Anruf von Fischer an.
»Was gibt’s?«, fragt Faber so gut gelaunt wie möglich.
Fischers Stimme quält sich seltsam knarzig durch den Hörer. »Alles okay, Faber?«
»Ja, wieso?«
»Die Sánchez-Amann ist verschwunden.«
Für einen Augenblick sagt keiner etwas.
Dann fragt Fischer: »Wo warst du gestern Nacht, Faber?«
»Warum?«, fragt Faber tonlos.
Fischer seufzt. »Sie waren hier in der Kanzlei und haben sich nach dir erkundigt. Du hättest es besser wissen müssen.«
Faber sagt nichts mehr. Er legt auf und sieht in den Spiegel.
Dann klingelt es an der Tür.
3.
Sie taucht auf.
Anna weiß nicht, wo sie ist. Da ist dieser Schwindel. Das Dunkel. Sie will die Augen öffnen. Sich vortasten. Orientieren. Da ist aber auch noch etwas anderes. Etwas, was sie wieder nach unten zieht. In die Tiefe. In diesen warmen schwarzen Ozean.
Anna weiß, dass sie das nicht will.
Trotzdem versinkt sie wieder.
Und plötzlich ist sie wach. Erschöpft, verwirrt. Atemlos. Sie keucht. Hechelt. Stopft Luft in sich hinein.
Modrige Luft.
Sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken. Jetzt gilt es, erst einmal nur zu atmen. Selbst wenn es das Letzte ist, was sie tun wird.
Vielleicht ist es das Letzte, was ich tun werde.
Sie kämpft gegen die Panik. Versucht, sich zur Ruhe zu zwingen. Zu klaren Gedanken. Sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht, wie lange sie betäubt war. Sie weiß einfach gar nichts.
Doch.
Ich weiß, bei wem ich bin.
Sie will sich wehren. Sich schützen.
Vor der Realität. Vor allem. Sie weiß, dass sie nichts sieht, weil ihre Augen verbunden sind. Diese Binde soll weg, runter von ihren Augen, aber ihre Hände bewegen sich nicht. Nicht einmal ein kleines Stück.
Sie braucht einen Moment, bis sie versteht.
Ich bin gefesselt.
Langsam sickert die Erkenntnis in ihr Bewusstsein.
Ich bin gefesselt.
Ich bin geknebelt.
Und nackt.
Dann hört sie einen erstickten Schrei. Hysterisch. Wahnsinnig vor Angst.
Es klingt grauenvoll.
Noch grauenvoller ist nur eines: zu verstehen, woher der Schrei kommt.
Er kommt von mir.
Dann verliert sie wieder das Bewusstsein.
4.
Der Besitzer dieser Tasse ist über 30! Bitte sprechen Sie langsam!
Faber weiß nicht, wie oft er den Spruch und die beiden grellbunten Ausrufezeichen in der letzten Stunde angesehen hat. Es ist ihm auch egal. Er fand ihn schon beim ersten Mal nicht lustig. Trotzdem starrt er immer wieder auf die hässliche gelbe Tasse auf dem hässlichen grauen Tisch. Er hat schlichtweg keinen Nerv mehr, noch einmal in Hennings’ glasige Augen zu sehen. Den Gnom daneben erträgt er noch weniger.
Also kramt er mühsam ein falsches Lächeln hervor. »Sind wir dann fertig? Kann ich jetzt gehen?«
»Das können Sie vergessen, Faber!«, schnarrt der Gnom mit gepresster Stimme. »Das können Sie vergessen und das wissen Sie auch!«
Das Lächeln ist genauso scheißfreundlich wie das von Faber. Und genauso falsch.
Faber funkelt den Gnom genervt an. Der Gnom funkelt zurück. Faber sieht zu Hennings. Dieses Gehabe muss den alten Mann doch auch nerven. Aber der schaut nur schwerfällig zur Seite. Der Gnom lacht. Das Zeichen ist eindeutig: Er ist es, der das Gespräch führt. Hennings beobachtet nur.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagt Faber. »Wir kommen doch hier nicht weiter! Und alle wissen es!«
Der Gnom lächelt. Seit einer Stunde spielen sie jetzt schon das Spielchen, wer das größere Arschloch ist. Es steht immer noch unentschieden.
»Selbstverständlich meinen wir das ernst, Herr Dr.Faber.«
Den Titel schnarrt er besonders genüsslich heraus, ganz so, als wollte er zeigen, dass so etwas Faber hier nicht weiterhilft. Genau so ist es ja auch.
Der Gnom fährt fort: »Wir können das Ganze hier auch sehr beschleunigen. Das wissen Sie. Alles, was Sie tun müssen, ist, uns zu sagen, wo Frau Dr.Sánchez-Amann ist!«
»Ich muss Ihnen gar nichts sagen«, erwidert Faber. »Und das wissen Sie auch. Wir können unsere kleine Plauderrunde hier aber trotzdem abkürzen. Das wäre doch ganz wunderbar, oder? Wir könnten zum Beispiel mal was frühstücken. Oder wir machen was anderes, worin wir gut sind. Ich könnte zum Beispiel meinen Job machen. Und Sie könnten einfach jemand anderen nerven. Wobei, warten Sie – das ist ja Ihr Job!«
Der Gnom lacht. Geckert. Mit einiger Wahrscheinlichkeit soll das ironisch sein. Tatsächlich ist es einfach nur ein Trauerspiel.
Dann hat Hennings die Nase voll. Vielleicht hat der Hinweis auf das Frühstück geholfen. Vielleicht hat er auch einfach nur keine Lust mehr auf das Theater. Er beugt sich langsam vor und sagt: »Wenn Sie hungrig sind, Herr Dr.Faber, kommen wir Ihnen grundsätzlich gern entgegen. Ich kann Ihnen etwas vom Bäcker holen lassen. Ich weise Sie allerdings darauf hin, dass wir Ihnen bereits eine Brezel zur Verfügung gestellt haben. Außerdem haben Sie einen Kaffee und ein Mineralwasser erhalten. Auch davon stellen wir Ihnen bei einem entsprechend geäußerten Bedürfnis gern noch mehr zur Verfügung.«
Hennings sieht in Richtung Spiegelscheibe. Er nickt.
Faber weiß, dass dahinter einer sitzt, der brav mitschreibt. Wahrscheinlich irgendein Jungspund, der gerade mal seit ein paar Wochen bei der Kripo ist und jetzt den Papierkram machen muss.
Dem Beschuldigten wurden wiederholt Speisen und Getränke angeboten. Es wurde ihm verdeutlicht, dass er bei entsprechend geäußertem Bedürfnis weitere Verpflegung erhalten werde.
Dass das auch wirklich ganz klar ist.
Hennings wendet sich wieder Faber zu. Sein Gesicht ist regungslos, aber zufrieden. Die Botschaft ist deutlich. Sie fischen hier nach einem sauberen Geständnis. Selbst den losen Verdacht eines Beweiserhebungsverbots können sie nicht brauchen. Von Folter darf und wird keine Rede sein.
Das könnte Faber so passen.
»Also, noch eine Brezel?« schnarrt der Gnom.
Faber starrt auf den traurigen Teigklumpen vor sich. Er schüttelt den Kopf. »Nein. Lassen Sie mich einfach nur gehen.«
Hennings sieht gelangweilt aus dem Fenster. Das Panorama besteht aus einer grauen Wand in einem Innenhof. Man erkennt, dass die Sonne scheint. Draußen ist es warm, in diesen Morgenstunden vielleicht sogar ausnahmsweise einmal angenehm. Drinnen nicht. Im Verhörraum ist es einfach nur stickig und schwül. Die Situation kotzt sie alle an.
Alle bis auf den Gnom vielleicht, denkt Faber. Nicht auszuschließen, dass der tatsächlich Spaß an der Sache hat. Womit er beim Arschlochwettbewerb dann doch in Führung geht. Was ihn wahrscheinlich noch zusätzlich freut.
Der Gnom kichert nervös. »Sie gehen lassen«, wiederholt er mit einer klebrigen Heiterkeit, schüttelt theatralisch den Kopf und setzt etwas auf, was wahrscheinlich seiner Vorstellung einer rigorosen Maigret-Gedächtnis-Miene nahekommt. »Sie wissen, dass wir das nicht tun werden.«
Faber folgt Hennings’ Blick.
Die graue Wand.
Wenigstens haben es die anderen auch nicht gemütlich.
Dann räuspert er sich. »Ich sage es Ihnen gern noch einmal«, erklärt er so ruhig wie möglich. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung!« Er klingt genervter, als er sollte, und das ärgert ihn.
Der Gnom lehnt sich auf seinem Bürostuhl zurück und verschränkt die Arme. Anders als Hennings ist er kein grober Fleischberg, sondern besteht fast ausschließlich aus Muskeln. Zu seinem Nachteil verteilen die sich auf knapp ein Meter sechzig. Das hat zur Folge, dass er immer unter Spannung zu stehen scheint.
Zu viel Strom für den Gnom, denkt Faber müde. Nicht mal sein Unterbewusstsein lacht.
Faber starrt ihn wütend an. Sein Zeigefinger wickelt sich nervös um eine Haarsträhne. Er fürchtet, dass er so verspannt wirkt, wie er ist. Was nicht gut wäre.
Dann passiert es. Er bemerkt es, registriert es bewusst. Trotzdem kann er nichts dagegen tun.
Faber verliert die Nerven. »Was soll das eigentlich?«, fragt er. »Was soll dieser Mist? Auf welcher Grundlage halten Sie mich hier fest? Bin ich hier als Zeuge, als Beschuldigter oder was? Was wollt ihr denn eigentlich?«
Die beiden sehen sich an. Hennings beugt sich vor. »Sie sind Beschuldigter, Faber.«
»Und warum?«
»Weil wir nicht wissen, wo sie ist. Dr.Sánchez-Amann. Und weil viel dafür spricht, dass Sie es wissen. Dass Sie, lassen Sie mich das so formulieren, zumindest eine Ahnung haben, wo sie steckt.«
»Und warum sollte das so sein?« Faber klingt patzig. So fühlt er sich auch.
Hennings hebt die Augenbrauen. Er seufzt. »Es spricht viel dafür, dass Sie mit Frau Dr.Sánchez-Amann zu tun hatten, Faber. Herrgott, wir wissen, dass Sie mit ihr zu tun hatten, und Sie wissen, dass wir das wissen! Jeder weiß das!« Hennings hat sich in Rage geredet. Er atmet schwer, bekommt sich aber wieder in den Griff. »Da Sie uns dazu nichts sagen, da Sie gar nichts sagen, kommen wir hier nicht voran. Also machen wir zwei Dinge: Wir nehmen an, dass Sie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben. Und wir nehmen an, dass Sie uns sagen werden, was. Die einzig offene Frage ist nur noch: Wann?«
Faber zieht die Augenbrauen hoch. »So einfach ist das für euch?«
Der Gnom zuckt mit den Schultern. »So einfach ist das für uns.« Dann belehrt er ihn über seine Rechte.
Faber schüttelt sich und fährt sich durch die Haare. Es widert ihn an. »Ich will mit meinem Anwalt sprechen«, sagt er.
Der Gnom lacht. »Das haben Sie schon mal gesagt.«
»Schon dreimal«, korrigiert ihn Faber.
»Schon dreimal«, äfft ihn der Gnom nach. Er lacht weiter.
Faber überlegt, ihm ein paar Zähne auszuschlagen. Einfach so. Aus Prinzip.
»Ein Verteidiger, der einen Verteidiger braucht! Was sind Sie eigentlich für ein Anwalt, dass Sie selbst einen Anwalt benötigen? Stellen Sie sich vor, wir erzählen das weiter. Stellen Sie sich einmal vor, das bekommt die Presse mit. Der große Dr.Faber braucht einen Anwalt, um sich nicht vor der Kripo in die Hosen zu scheißen. Das wäre doch mal eine schöne Schlagzeile, was?«
Hennings räuspert sich.
Der Gnom versteht und ruckelt unruhig auf seinem Stuhl herum. Er darf sich nicht derart mitreißen lassen. Nachlassen wird er trotzdem nicht. Keinen Millimeter.
»Ich will mit meinem Anwalt sprechen«, sagt Faber wieder.
Der Gnom streckt die Arme durch. »Von mir aus. Machen Sie das. Sprechen Sie mit Ihrem Anwalt. Aber oh, ich merke gerade: Er ist ja gar nicht da!«
Tatsächlich ist Fischer nicht da.
Faber wundert sich nicht. Es war klar, dass er seinen Partner rufen würde, wenn sie ihn zum Verhör mitnehmen. Und es war klar, dass Fischer nicht gleich kommen würde. Dass er nicht gleich kommen konnte.
So ist das eben, denkt Faber. Wie schnell gibt es Umstände, die einen Verteidiger davon abhalten, allzu rasch bei der Kripo aufzutauchen? Wie schnell gerät man in eine Verkehrskontrolle? Oder in eine anderweitig unvorhergesehene Situation? Faber nimmt den letzten Schluck kalten Kaffee aus der hässlichen Tasse. Es wird wohl bei dem Geduldspiel bleiben.
Er ist daher überrascht, als sich Hennings einmal mehr nach vorn quält und sagt: »Hören Sie, Faber, wenn es nach mir geht, ist klar, dass Sie nichts mit dem Verschwinden von Frau Dr.Sánchez-Amann zu tun haben. Wir kennen uns lange genug. Lassen Sie uns ruhig offen miteinander sein. Sie wissen genau, dass ich Sie nicht mag. Es ist auch nicht so, dass ich Ihnen nicht allen möglichen Scheiß zutraue, Faber. Regeln und so, das ist nicht wirklich Ihr Ding.«
Hennings nimmt einen Schluck Wasser. Er will das wirken lassen. In der Zwischenzeit fährt er sich mit der Hand über die paar noch verbliebenen blonden Stoppelhaare auf seinem massigen Schädel.
Dann geht es weiter. »Wie gesagt, ich glaube nicht, dass Sie mit dem Verschwinden von Dr.Sánchez-Amann etwas zu tun haben. Das Problem ist: Sie ist trotzdem weg und es ist unser Job, sie zu suchen. Dabei müssen wir jede Spur verfolgen und alle falschen Fährten ausschließen. Das ist Ihnen doch klar, Faber!« Hennings ringt sich ein Lächeln ab. »Wenn Sie uns nicht sagen können, wo Frau Dr.Sánchez-Amann ist, dann lassen Sie uns wenigstens mit dem Ausschlussverfahren vorankommen. Wenn es nach mir geht, können wir diese Befragung auch einfach schnell wieder sein lassen und uns auf erfolgversprechendere Spuren konzentrieren. Sagen Sie uns einfach, wo Sie gestern Nachmittag und vergangene Nacht waren und was Sie in dieser Zeit getan haben, Faber. Dann schließen wir Sie als Verdächtigen aus und können uns mit wichtigeren Dingen befassen.«
Faber ist überrascht. Zumindest fast. Nicht nur, dass Hennings überhaupt etwas gesagt hat. Die beiden Spinner ziehen tatsächlich das alte Spiel mit ihm ab. Good cop. Bad cop. Mitten in Berlin. Wäre er nicht so genervt, könnte er fast darüber lachen.
Hennings sieht ihn lange an. »Also, Faber?«
Faber ärgert sich im selben Moment, in dem er den Mund aufmacht. Was sagt er seinen Mandanten immer und als Allererstes? ›Sie haben viele Rechte, aber das Wichtigste ist, schweigen zu dürfen. Alles was Sie sagen, können und dürfen die Ermittler gegen Sie verwenden. Können und dürfen und werden. Also schweigen Sie! Schweigen Sie und rufen Sie Ihren Anwalt an.‹
Wie oft hat er das schon gesagt? Wie oft hat er sich das selbst sagen hören? Hundertmal? Tausendmal? Wie oft hat er sich darüber aufgeregt, wenn sich die Leute nicht daran hielten?
Dabei ist es so leicht: einfach nur nichts sagen. Nichts tun. Wie schwer kann das sein?
Zu schwer. Jedenfalls für ihn.
Jedenfalls jetzt.
Faber will nämlich nicht mehr. Er kann auch nicht mehr. Er will seine Ruhe. Er will hier weg. Raus. In die Kanzlei, den Werlein-Termin vorbereiten. Einfach fort von diesem Unsinn. Von allem. Also sagt er: »Ich war zu Hause.«
Sofort ist der Gnom hellwach. »Was haben Sie dort gemacht?«
Faber überlegt. »Ich habe gearbeitet.«
»Woran?«
»An einem Fall.«
»Von zu Hause?«
»Ich habe auch dort einen Schreibtisch.«
Das stimmt. Obwohl er sich bei der Gründung der Kanzlei fest vorgenommen hat, niemals, unter keinen Umständen Arbeit mit nach Hause zu nehmen, hat er in den Erker der Maisonette einen alten Sekretär gestellt, an dem er manchmal auch abends noch in einer Akte blättert. Mittlerweile stapeln sich ein gutes Dutzend davon im Kleiderschrank. Genau deswegen hat er Hennings und den Gnom auch nicht hereingebeten, als sie vor ein paar Stunden bei ihm vor der Wohnungstür auftauchten. Um wenigstens nicht dabei sein zu müssen, wenn sie zwischen den Aktenblättern seiner Mandate nachspähten, ob er die Sánchez-Amann nicht vielleicht dort versteckt hatte.
Faber war nach einer kurzen telefonischen Abstimmung mit Fischer brav Hennings und dem Gnom hinterhergelaufen. Darum sitzt er jetzt nicht mit den beiden an seinem Küchentisch, sondern hier, im verspiegelten Verhörzimmer I, das er kennt wie seine Westentasche. Nur eben als derjenige, der auf dem linken Stuhl sitzt. Als Verteidiger. Nicht als der Depp, dem man blöde Fragen stellt. Und der auch noch antwortet.
»Sie haben also gearbeitet«, wiederholt der Gnom.
»Ja«, sagt Faber und merkt, wie seine Stimme zittert. Verdammt noch mal! Er überzeugt nicht einmal sich selbst.
»Und gibt es dafür Zeugen?« fragt der Gnom mit leiernder Stimme, ganz so, als komme es auf die Frage ohnehin nicht an. Wieso auch, wenn man die Antwort sowieso schon kennt?
»Nein«, sagt Faber.
»Sie waren also die ganze Nacht allein«, stellt der Gnom mit schwer unterdrückter Zufriedenheit fest und kritzelt auf seinem Block herum.
»Nein«, sagt Faber.
Der Gnom sieht auf.
»Gegen zehn bin ich zu einer Kollegin von Elwood & Watson gefahren«, sagt Faber.
Der Gnom streckt den Rücken durch. Fixiert ihn. »Warum?«
»Ich habe sie abgeholt.«
»Und dann?«
»Wir sind zu mir gefahren.«
»Und dann?«
Faber seufzt. »Dann habe ich ihr meine Briefmarkensammlung gezeigt.«
Der Gnom runzelt die Stirn. »Wollen Sie uns verarschen?«
Faber sieht ihm in die Augen. »Ich dachte, das machen Sie hier ganz alleine.«
Die angeschwollene Halsschlagader des Gnoms verheißt große Gefühle. Er kommt aber nicht mehr dazu, sie herauszulassen.
Die Tür öffnet sich und Fischer tritt ein.
»Dr.Ulrich Fischer, Strafverteidiger«, sagt er und drückt den Ermittlern jeweils eine Visitenkarte in die Hand. Was eigentlich nicht nötig ist. Sie kennen ihn. Alle hier kennen sich. Fischer stippt sich an den schwarzen Rahmen seiner Brille und setzt einen mahnenden Blick auf. Klares Zeichen: Jungs, die Party ist vorbei. Als sich trotzdem keiner bewegt, wird er deutlicher. »Ich denke, ich sollte mich mit meinem Mandanten allein besprechen!«
Hennings und der Gnom geben nach. Dazu sind die Spielregeln zu klar, dazu ist die Spiegelscheibe zu präsent. Die Sache hier ist vorbei.
Vorerst.
Faber steht auf, um Fischer in ein abhörsicheres Besprechungszimmer zu begleiten. Er zwinkert dem Good-cop-bad-cop-Pärchen zu. »Schade, Jungs. Hat Spaß gemacht!«
Der Gnom zwinkert schief zurück. »Sie sind ein schlimmer Finger, Faber. Ich weiß es, Sie wissen es und es wird nicht lange dauern, dann wissen es alle anderen auch. Ein schlimmer Finger. Das ist es, was Sie sind.«
Faber grinst. »So, so, hat Ihnen das Ihre Mutter verraten?«
Dann zieht ihn Fischer durch die Tür.
5.
»Wo warst du?«, fragt Faber.
»Verkehrskontrolle. Zehn Meter vor der Haustür«, erwidert Fischer grimmig. »Angeblich war ich zu schnell.«
»Mit Führerschein, Fahrzeugpapieren, Reifendruckkontrolle und so weiter?«
»Das volle Programm.«
Faber seufzt. Das bedeutet zugleich, dass die Kripo seine Wohnung ohne anwaltliche Begleitung durchsucht hat. Er versucht, nicht weiter daran zu denken.
Außerdem ist das nicht das größte Problem an der Sache. Das liegt woanders.
Fischer macht erst gar keine Anstalten, darum herumzureden. »Warum hast du mit denen gesprochen?«
Faber windet sich. »Ich habe doch fast gar nichts gesagt.«
Fischers Augen weiten sich. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Was macht man, wenn die Polizei einen befragt? Man schweigt, verdammt! Wie oft haben wir das den Leuten schon erklärt? Wie oft, Max, wie oft?«
Faber senkt den Kopf. Fischer ist ernsthaft erschüttert. Das merkt man schon daran, dass er Fabers Vornamen benutzt. Am schlimmsten ist, dass Fischer recht hat. Faber hat sich verhalten wie ein absoluter Vollidiot. Ein Vollidiot, der es hätte besser wissen müssen.
Faber nimmt einen Schluck Kaffee aus der witzlosen Über-30-Tasse, die er in den Nebenraum mitgenommen hat. »Der Kaffee schmeckt furchtbar«, sagt er. »Zeit, dass wir das hier gegen etwas Vernünftiges eintauschen. Wie wäre es mit einem Cappuccino im Woanders?«
Fischer nimmt die Brille ab und fährt sich über die Augen. »Was haben sie, Faber?«
Faber seufzt. »Das weißt du doch. Ich hab dir das gesamte Gespräch erzählt. Mehr war nicht!«
Fischer schüttelt den Kopf. Fährt sich durch die Haare. Kurz, blond, gegelt. Jetzt ein bisschen durcheinander. Fischer ist es egal. Faber sowieso. »Das meine ich nicht. Was haben sie ansonsten? Was haben sie, was sie interessiert? Was dir schaden könnte? Dir ist klar, dass du nicht nur hier auf dem Präsidium bist. Sie waren auch bei dir!«
Faber nickt. Natürlich weiß er das. Selbstverständlich waren sie bei ihm. Da spielt es auch keine Rolle, dass er Anwalt ist. Jetzt ist er vor allem Beschuldigter. Ein Bürger, den man eines Verbrechens beschuldigt. Bei dem man daher die Wohnung durchsuchen kann und alle Unterlagen, die sich darin befinden. Jedenfalls alle, die möglicherweise zielführend sind. Was man aber erst weiß, nachdem man hineingesehen hat.
Wenigstens waren es nicht der Gnom und Hennings, die mit ihren Fingern darin herumgewühlt haben, denkt Faber. Es ist ein kleiner Sieg. Wirkungslos. Und bitter.
»Da ist nichts«, sagt er.
Fischer wischt mit einem Tuch auf seinen Brillengläsern herum. Er bemüht sich, ruhig zu klingen. »Wir brauchen dringend eine Strategie, Faber. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Stress jetzt erst richtig losgeht. Zumindest solange die Staatsanwältin verschwunden ist. Und zwar genau die Staatsanwältin, die an dem Fall arbeitet, mit dem du ständig in der Presse bist! Die Staatsanwältin, mit der du selbst in der Presse warst! Und die vor drei Tagen abends bei dir im Büro war!«
Faber sieht erstaunt auf. »Das weißt du?«
Fischer setzt die Brille wieder auf und lehnt sich nach vorn. Er sieht Faber streng an. »Max, glaubst du, ich bin ein Idiot? Mann, die Situation ist ernst genug, also bitte, beleidige nicht auch noch den einzigen Freund, den du vielleicht gerade hast! Das ist genauso meine Kanzlei wie deine. Also um Himmels willen, was denkst du denn? Natürlich weiß ich, dass sie bei dir im Büro war!«
Faber hebt beschwichtigend die Hand. »In Ordnung. Sie war da. Wir hatten viel miteinander zu tun in letzter Zeit. Du weißt das.«
»Sie werden rausfinden, dass sie da war, Faber. In deinem Büro. In unserer Kanzlei.«
»Okay, von mir aus«, sagt Faber. »Aber was soll’s? Du weißt doch: Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist. Und es ist nicht verboten, mit einer Staatsanwältin zu sprechen. Auch nicht bei einem Verteidiger im Büro. Ungewöhnlich vielleicht. Aber nicht verboten.«
Fischer starrt auf seine Hände. Langsam schüttelt er den Kopf.
Faber wird nervös. »Was hast du?«
Fischer sieht nicht auf. »Es ist weniger, was ich habe. Die Frage ist eher: Was hast du? Was ist los mit dir, Faber? Seit knapp vier Wochen sehe ich dich kaum noch, höre fast nichts von dir und bekomme sonst auch nicht viel von dir mit. Zumindest dann nicht, wenn ich nicht gerade die Zeitung aufschlage. Oder den Fernseher anmache. Oder das Radio. Aber du selbst? Bis auf den einen Abend im Risotto bist du kaum noch greifbar. Teilweise tauchst du tagelang nicht im Büro auf, teilweise sitzt du dort bis in die Nacht, und wenn ich am nächsten Morgen wiederkomme, hängst du immer noch da rum.«
Faber zupft nervös an einer Strähne. Dann schiebt er sie wieder in Richtung Ohr. »Na und? Jeder hat mal solche Phasen.«
»Klar, die hat man. Aber man sollte meinen, dass Leute aus dem direkten Umfeld mitbekommen, warum. Dass sie eine Ahnung davon haben, was eigentlich los ist. Erst recht, wenn es sich um den Sozius handelt. Den Kollegen, Mann. Den besten Freund!«
Faber lässt die Strähne los. Er weiß nicht, ob es den richtigen Ort für solche Gespräche gibt. Das hier ist er nicht. »Bring mich hier raus, Uli.«
Fischer setzt seine Brille auf. »Du hast ihnen wirklich nicht mehr erzählt?«
»Wirklich nicht.«
»Dir ist klar, dass sie das bisher Gesagte als Teilschweigen verwerten dürfen, wenn du dich von jetzt an auf dein Recht, die Aussage zu verweigern, berufst? Und dass sie das auch verwerten werden?«
Faber grinst müde. »Was sollte ich machen?«, fragt er. »Der Gnom ist einfach so wahnsinnig charmant.«
Fischer geht nicht darauf ein. Er setzt sich auf. Streckt den Rücken durch. Fährt sich über das Hemd, unter dem auf Bauchhöhe immer ein paar Kilo zu viel gebändigt werden. »Zieh es nicht ins Lächerliche, Faber. Noch ist das hier nicht vorbei. Sie haben deine Wohnung durchsucht! Möglicherweise kommen sie sogar noch bei uns in die Kanzlei.«
Faber nimmt die Frage vorweg, ehe Fischer sie stellen kann. »Sie werden nichts finden.«
»Nichts?«
»Nichts.«
Fischer ist noch nicht zufrieden. »Dir muss klar sein, dass sie ein paar Zimmer weiter daran basteln, wie sie einen Haftbefehl gegen dich begründen können.«
Faber lässt die Haare in die Stirn fallen. Als er den Kopf wieder hebt, liegt trotzdem alles da, wo es hinsoll. Zumindest mehr oder weniger. Er sieht Fischer an. »Und dir muss klar sein, dass sie das nicht schaffen werden.« Er grinst schief. »Sie haben ihr Konto außerdem schon genügend strapaziert: So schnell sollte es keinen weiteren Haftbefehl geben.«
Fischer nickt. Dann lächelt er schmal. »Im Wesentlichen sehe ich es genauso. Es ist nur gut, das auch von dir zu hören. Von dem Faber, den ich kenne.«
Faber drückt sich aus dem Plastikstuhl. »Also lass uns mal artig für die Gastfreundschaft Danke sagen. Und dann nichts wie raus hier.«
*
Hennings nimmt es nach außen mit Fassung. Der Gnom sieht aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.
Wobei: Etwas stört Faber. Eigentlich hätte er ihn sogar noch grollender erwartet. Schäumend vor Wut, zumindest ab dem Zeitpunkt, als Fischer herunterleiert, dass sein Mandant keine Angaben mehr machen werde, dass ihm klar sei, dass es keine Handhabe dafür gebe, ihn noch weiter auf dem Revier zu behalten, dass er im Übrigen bei dem Dienstvorgesetzten eine Beschwerde einreichen werde, weil sie ihn in Abwesenheit seines Anwaltes vernommen haben, und dass es zudem Beschwerden gegen die ganze Abteilung hageln werde, wenn er mitbekommen sollte, dass bei der Wohnungsdurchsuchung auch nur ein Millimeter von den Vorgaben der Strafprozessordnung abgewichen wurde. Die beiden Beamten von der Kripo blieben trotzdem erstaunlich ruhig.
Irgendwas ist da noch. Aber was?
»Gute Fahrt, Faber«, flötet der Gnom. »Ich habe das Gefühl, wir sehen uns wieder.«
»Vielleicht wenn man Ihre Mutter mal wieder mit Crack erwischt. Oder ihren Zuhälter«, raunt Faber so, dass nur der Gnom ihn hören kann.
Dann sind sie draußen.
Nachdenklich tritt Faber in die Vormittagssonne. Unmittelbar darauf klickt es.
Hinter einer fetten Kamera tauchen der brünette Pagenkopf und das grinsende Gesicht von Claudia Janko auf. »Immer schön lächeln, der Herr Staranwalt!«
Faber sieht sie fassungslos an.
Sie nutzt das für den nächsten Schnappschuss, ehe sich Fischer zwischen die beiden schiebt. »Was soll das, Claudia?«
»Ich mache ein Foto vom Herrn Staranwalt«, sagt sie und legt kokett den Kopf zur Seite. »Direkt nach seiner Verhaftung.«
»Mein Mandant wurde nicht verhaftet«, erklärt Fischer, der sich nur mit Mühe zusammenreißt.
Sie rollt mit den Augen. »Details. Wichtig ist: Er kommt aus dem Revier.«
»Aber er wurde nicht verhaftet!«
Sie zuckt mit den Schultern. »Erklärt das den Lesern der POST. Die dürften dazu ein, zwei Fragen haben. Oder auch nicht.« Dann lacht sie und verschwindet in Richtung Parkplatz.
Faber und Fischer sehen sich ungläubig an. Fast kann man den Gnom lachen hören. Aber nur fast.
6.
Anna weint. Ihr Kopf schmerzt, ihre Gelenke schmerzen. Sie weiß, dass es keine Hoffnung gibt. Trotzdem will sie nicht aufgeben. Kann es nicht.
Noch nicht.
Dann spürt sie es. Den anderen Menschen. Er steht neben ihr. Sie hat keine Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. An einem Bein lösen sich ihre Fesseln. Sie will es frei bewegen, treten, angreifen. Es ist aussichtslos. Von der Fixierung auf dem harten Untergrund ist das Bein wie gelähmt.
Anna versteht, dass sie nackt auf einer Art Tisch liegt, einer groben Platte. Sie begreift, dass jemand um sie herumgeht. Sie kann es hören.
Spüren.
Dann explodieren Lichtblitze vor ihren verbundenen Augen. Eine Welle von stechendem Schmerz durchzuckt ihren festgebundenen Körper, als mit einem groben Ruck ihr freies Bein zur Seite gezogen wird. Unter dem Knebel beißt sie in ihre Unterlippe. Sie weiß, was passieren wird.
Ich weiß es nur zu genau.
Sie beißt zu. Spürt, wie Blut in ihren Mund läuft. Und doch hilft es nicht gegen den Schmerz. Nicht einmal ein bisschen.
Die Stöße sind tief und heftig. Es fühlt sich an, als würde sie zerrissen. Ihr Unterleib brennt. Sie beißt noch fester auf ihre Lippe.
Dann gibt sie auf.
7.
Faber mag Zeitungen. Das Rascheln des dünnen Papiers. Das umständliche Aufschlagen. Er mag sogar den Geruch. Er beobachtet es immer mit einer gewissen Skepsis, wenn Fischer mit einem neuen Telefon, Tablet oder sonstigem Schnickschnack ankommt. Da diese Dinge praktisch sind, hat Faber zwar seinen Frieden damit gemacht. Aber der Geruch einer Zeitung fehlt. Und ihre Permanenz. Eine Zeitung kauft man nicht einfach nur und liest sie durch. Man nimmt sie mit nach Hause und lässt sie rumliegen. Und alle, die darin abgebildet sind, liegen mit rum. Oft genug Faber selbst.
Zeitungen liegen meistens auch nicht einfach nur irgendwo, sondern genau dort, wo Werbung für ein Strafverteidigerbüro gesehen werden soll: in Wohnzimmern, in Hotels, beim Friseur, im Knast. Dort, wo die Leute Zeit haben, eine Zeitung auf sich wirken zu lassen. Vor allem die Bilder. Faber weiß, dass er darauf meistens gut aussieht. Er ist groß, hat breite Schultern, einen dunklen Dreitagebart, dunkle Augen und volle dunkelbraune Haare, die immer wieder in Strähnen in sein Gesicht hängen. Außerdem hat er ein ansteckendes Lächeln. Er sieht aus wie jemand, den Männer als Kumpel haben wollen und in den Frauen sich verlieben. Findet jedenfalls Faber.
Die Fotos ähneln sich regelmäßig: Faber mit Robe im Gericht, im Anzug vor dem Gericht, vor dem Altbau mit der Kanzlei unter dem Dach, daneben der etwas kleinere, stämmigere, blonde Fischer. Einer lacht, einer schaut ernst. Der, der lacht, ist Faber. So mag er das. Die Presse. Die Öffentlichkeit. Den Platz in den Wohnzimmern der Mandanten von morgen.
Jede Presse ist gute Presse. Fischer ist zwar anderer Meinung. Faber aber sieht das so. Zumindest solange es um Zeitungen geht.
Anders sieht es mit dem Internet aus. Zeitungen können oberflächlich sein. Online-Meldungen müssen es fast sogar. Was hier zählt, ist etwas anderes: schnell sein. Der Erste sein, der eine Neuigkeit raushaut. Im Prinzip kann das fast jeder. Aber niemand ist darin so gut wie Claudia Janko.
Faber sitzt vor dem Laptop und starrt in sein erschrockenes Gesicht. Das Foto ist meisterhaft. Im Hintergrund kann man sogar das Wappen an der Außenwand des Polizeipräsidiums erkennen. Die Überschrift spricht für sich:
Fabers Fall! Starverteidiger im Fadenkreuz der Philosophenmord-Soko!
Faber flucht. Nie wieder wird er mit dieser falschen Schlange ins Bett gehen.
Wahrscheinlich.
*
Als er den Schlüssel in der Tür hört, klappt Faber den Laptop zu und hilft Fischer, die Tüten von Wa-Wa-Wang ins Besprechungszimmer zu tragen. Faber mag den Take-away-Service für asiatisches Essen, den Youssef neben seinem Späti am Kollwitzplatz eingerichtet hat. Zwar ist Youssef Syrer, aber der Späti ist vom Imbiss unabhängig und dort kochen nur Chinesen. Außerdem, sagt Youssef, ist der Name witzig. Das ist nicht ganz falsch.
Am besten schmeckt es, wenn Fischer und er in ihrem Besprechungsraum um den großen runden Tisch sitzen und aus allen kleinen Kartons gleichzeitig essen. Die beiden sind sehr unterschiedlich und wissen es auch. Trotzdem gibt es genug, was sie verbindet: der Job. Der Glaube an die Kanzlei. Fußball (auch wenn die Lieblingsvereine nicht dieselben sind). Die schon seit dem dritten Semester bestehende Freundschaft. Arbeit oder Geplauder bei Frühlingsrollen von Wa-Wa-Wang. Eigentlich sind beide immer dafür zu haben.
Heute nicht.
Sie haben Sandra gebeten, an diesem Samstag ausnahmsweise in die Kanzlei zu kommen. Als sie um eins in ihre Mittagspause stöckelt, sieht sie zweimal nach, ob wirklich jemand im Besprechungszimmer sitzt. Tatsächlich hocken sie nebeneinander, Fischer und Faber. Beide essen auch. Es liegt aber keine Akte auf dem Tisch. Es wird nicht gelacht. Es wird nicht einmal geredet.
Kurz darauf kommen die ersten SMS. Erst die von befreundeten Anwälten. Dann die von denen, die so tun, als ob sie befreundet wären. Der Inhalt ist gleich: Alle sind entsetzt. Selbstverständlich. Die Medien! Ein Skandal! Und überhaupt.
Faber klappt das Handy zu. Er versucht, sich nicht darüber zu ärgern, dass die Medien zuschlagen. Dazu hat er selbst mehr als genug beigetragen.
Eine Stunde nach dem Essen klopft Fischer an Fabers Büro, bleibt aber in der Tür stehen. Er ist auf dem Weg zum Sport, braucht das jetzt. Er will nicht groß reden. Nur etwas fragen.
Faber nickt und versucht, Fischers Aufzug zu ignorieren. In der blauen Schlabberhose von Schalke 04 und dem eine halbe Nummer zu kleinen Trikot von Yves Eigenrauch um den stämmigen Oberkörper sieht er witziger aus, als es die Situation gerade verträgt. »Frag«, sagt Faber.
Fischer ziert sich. Stippt sich an die Brille. Dann hat er genug Anlauf genommen. »Ich frage noch mal, Max. Das Verschwinden von der Sánchez-Amann. Hast du damit was zu tun?«
»Nein«, sagt Faber.
»Gut«, sagt Fischer. Dann geht er joggen.
Faber bleibt an seinem Schreibtisch und fühlt sich leer. Zum ersten Mal seit Jahren weiß er nicht, ob Fischer ihm vertraut.
Dann klingelt Sandra bei ihm durch. Faber nimmt genervt ab. Seit dem Online-Bericht der POST rufen immer wieder Reporter an. Faber hat Sandra aufgetragen, keinen Anruf durchzustellen und auch nicht deswegen anzufragen.
»Was soll das, Sandra?«, motzt er in den Hörer. Er erschrickt. Er klingt fast genauso gereizt, wie er sich fühlt. Er atmet durch. Bemüht sich um einen freundlichen Ton. »Was soll das, Sandra? Wir hatten doch klar gesagt, dass keine Anrufe durchkommen. Gar keine! Ich muss mich auf die Sache Werlein vorbereiten, und zwar dringend!«
»Darum geht es ja«, sagt Sandra. »Werlein ist in der Leitung. Er sagt, dass er mit dir sprechen muss.«
»Hat er auch gesagt, warum?«
Sandras Stimme klingt grau. »Er sagt, er will das Mandat kündigen.«
Faber schließt die Augen. Das ist nicht gut. Dann nimmt er den Anruf an.
Es bleibt an diesem Tag nicht der letzte.
8.
Der Schmerz.
Anna schlägt die Augen auf. Es ist immer noch dunkel. Aber anders.
Die Augenbinde ist fort.
Langsam bewegt sie sich. Merkt, dass sie das kann.
Sie ist nicht mehr festgebunden. Trotzdem tut jede Bewegung weh. Immer wieder schlägt der brennende Schmerz aus ihrer Vagina zu. Immer wieder durchzuckt er sie wie Feuer.
Mühsam quält sie sich in die Höhe. Sie liegt auf einem groben Tisch, einer Art langer Werkbank. Der Raum, in dem sie sich befindet, ist klein und fensterlos. Er ist leer bis auf den Tisch und einen Stuhl. Unter dem Stuhl steht ein Plastikeimer. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu verstehen, wozu er nutzen soll. Über dem Stuhl hängen Annas Kleider und eine Decke. Darauf steht ein Tablett mit einer Holzkaraffe. Darin ist Wasser. Daneben liegt ein Holzteller mit Obst und Brot.
Anna versucht, sich zu konzentrieren. Es ist warm, aber nicht heiß. Wahrscheinlich ist es Nacht. Eine warme Berliner Sommernacht. So wie die, in der sie entführt wurde.
Die wie vielte Nacht ist es?
Sie trinkt von dem Wasser. Langsam, um es sich einzuteilen. Sie hat ihren Durst noch im Griff. Es kann demnach höchstens die zweite Nacht seit der Entführung sein. Sonntagnacht.
Sie hat also noch fünf Tage.
Anna isst eine Banane. Versucht, den Schmerz zwischen ihren Beinen zu ignorieren. Die Angst. Sie fürchtet sich nicht vor Gift. Auch nicht davor, dass sie noch einmal vergewaltigt wird. Beides wird es nicht geben.
So funktioniert das hier nicht.
Sie legt sich auf den Tisch zurück. Zittert, obwohl es nicht kalt ist. Fünf Tage noch. Fünf Tage Angst.
Und fünf Tage Hoffnung.
Das Wasser tut gut. Dasselbe gilt für den Versuch klarer Gedanken. Vor allem eines treibt sie um.
Hätte ich es früher erkennen können? Hätte ich es müssen?
II.
1.
Die Frau war noch nicht lange tot. Trotzdem sah man den beiden Mitarbeitern der Spurensicherung an, dass der Geruch in dem Gewölbe schon jetzt kaum noch auszuhalten war. Julia Minge und Sven Becker waren zwar wie üblich professionell distanziert. Ihre Gesichtsfarbe verriet jedoch, was sie in der Ruine erwartet hatte.
In ein paar Stunden würde die Berliner Sommersonne in Hochform sein. Dann würde es vollends unerträglich. Viel Zeit blieb also nicht.
Anna nahm einen tiefen Atemzug. In dem eng bestandenen Waldabschnitt war es zwei Stunden nach Sonnenaufgang noch kühl, fast frisch im Vergleich zu den Backofentemperaturen, die seit einer knappen Woche über der Hauptstadt lagen.
Anna betrachtete die Ruine näher. Das Gebäude war klein und unscheinbar. Es schien sich um eine Art mittelalterliche Kapelle zu handeln, aus der schon vor Ewigkeiten alle Heiligtümer entfernt worden waren und die jetzt nur noch auf ihren eigenen Verfall wartete. Vielleicht übernachtete darin im Winter mal ein Penner. Sonst hatte sie nicht viel zu bieten.
Außer einem Mord.
Anna pustete die Backen auf und band ihre langen Locken mit einem Gummi zu einem Zopf. Sie stülpte Plastikhandschuhe über und betrat das Gewölbe.
Es war ein überschaubarer Raum mit einer leicht gebogenen Decke. Die Grundfläche war weniger als drei Meter lang und zwei Meter breit. Abgesehen von einem groben quaderartigen Steinklotz am Ende des Raums und dem Müll seltener Nachtgäste gab es nichts, was im grellen Neonlicht der beiden Tatortscheinwerfer den Blick hätte fesseln können.
Bis auf die Leiche der jungen Frau.
Anna schloss die Augen. Dachte an Kampmanns Credo: Nicht annehmen. Nur aufnehmen. Keine Mutmaßungen anstellen. Nicht spekulieren. Nur beobachten. Sonst nichts.
Sie ließ den Raum in den Hintergrund treten. Das Geräusch des Tatortfotografen neben sich. Den Gestank von Müll, beginnender Verwesung und Hundepisse, die von dem Terrier stammte, der seinem joggenden Herrchen vorausgerannt und in der Ruine verschwunden war. Als sein Herrchen ihn suchte, fand er die Tote.
Anna ließ das zurück. Alle Gedanken. Alles.
Als sie die Augen wieder öffnete, war sie bereit.
Ich sehe eine Frau. Sie ist nackt, jung und schön. Sie hat schwarze, lockige Haare. Ihre Augen sind geschlossen. Ihre Haut ist fast weiß. Die Totenblässe hat schon eingesetzt. Die Frau hat volle Lippen. Sie sind kraftlos und haben keine Farbe. Hier sieht man den Tod schon am deutlichsten. Sie hat schmale Schultern. Große Brüste. Über ihrem Schoß liegt ein weißes Tuch. In der Mitte des Tuchs ist ein roter Fleck. Es sieht aus wie Blut. Die Frau sitzt schräg auf einer Art Altar am Ende des Raumes. Mit dem Rücken lehnt sie an der Gewölbewand. In der Hand hält sie einen Kelch, der abgestumpft wirkt. Die Szenerie ist seltsam. Unnatürlich. Wie ein sonderbares Gemälde.
Anna schloss die Augen wieder. So viel zum ersten Eindruck.
Wobei: Da war noch etwas. Es kam ganz plötzlich.
Von einem Augenblick auf den anderen war der Gedanke da.
Ich kenne diese Frau. Ich weiß nur nicht, woher.
2.
»Wissen Sie schon was? Zum Beispiel den Namen? Oder das Alter?« Anna zog fest an der blauen Gauloise. Eigentlich rauchte sie nicht. Die einzigen Anlässe für Ausnahmen waren Alkohol, Sex und Leichen. Wenigstens kam all das eher selten vor.
Lutz Hennings schüttelte seinen schweren, spärlich behaarten Kopf. »Bislang haben wir nichts. Keine Tasche, kein Portmonnaie, keine Ausweispapiere.«
»Das ist nicht viel«, erwiderte Anna und bereute es augenblicklich. Wie auch immer der Polizist es verstand, es konnte nur falsch rüberkommen. Dabei hatte sie nur gesagt, was sie dachte: Das war tatsächlich nicht viel. »Vielleicht klärt sich die Identität ja bei einem Abgleich mit der Vermisstenliste«, schlug sie vor, einfach so, um noch etwas Konstruktives zu sagen. Oder es wenigstens zu versuchen.
Er runzelte die Stirn. »Kommt mir nicht so vor, als hätte ich das Gesicht schon einmal gesehen.« Dann seufzte er. »Die Woche fängt mal wieder gut an.«
Anna wusste nicht, ob sie sagen sollte, was ihr durch den Kopf ging. Dann riskierte sie es einfach. »Ich habe das Gefühl, ich kenne sie«, murmelte sie.
Hennings schaute überrascht auf.
»Ich weiß aber nicht, woher.« Anna lächelte entschuldigend und zog hektisch an ihrer Zigarette.
»Sagen Sie Bescheid, wenn sich das ändert.«
»Mach ich«, sagte Anna.
Hennings nickte und stapfte zurück zu der Ruine.
Anna blieb bei dem Campingtisch, den die Leute von der Kripo mitgebracht hatten und auf dem sich alle möglichen Gerätschaften stapelten. Nur langsam vermischte sich in ihrer Nase der Verwesungsgestank aus dem Gewölbe mit dem Rauch ihrer Zigarette und wurde dadurch ein bisschen erträglicher. Während sie sich die zweite Zigarette ansteckte, klickte sie gedankenverloren durch die Fotos auf dem Laptop der Kripo. Die Spurensicherung hatte eine Menge Bilder von sämtlichen Details des Tatorts gemacht und das, was besonders auffiel, mit einer kleinen Zahlenkarte versehen. Langsam arbeitete Anna sich vor, fand aber nichts, was ihr besonders ins Auge stach. Immer wieder zeigten die Bilder dasselbe: die Leiche. Den Steinquader. Den Kelch. Das Laken. Das Blut. Und das schöne Gesicht, das sie von irgendwo kannte.
Anna merkte, dass sie noch eine Zigarette brauchte. Was gar nicht so einfach war. Schon als sie den Filter in den Mund steckte, fiel ihr auf, dass ihre Finger zitterten. Ein deutliches Zeichen, dass ihr Körper verzweifelt mit der weißen Fahne winkte. Sie rauchte viel zu selten, um das viele Nikotin einfach wegzustecken. Egal, sie brauchte das jetzt. Selbst wenn sie das Feuerzeug nicht anbekam. Immer wieder glitten ihre hektischen Finger an dem abgewetzten Rädchen des alten Plastikteils ab, das sie in ihrer viel zu großen Handtasche mit sich herumschleppte.
Plötzlich flammte vor ihren Augen etwas auf. Sven Becker hielt ihr ein Feuerzeug hin. Anschließend steckte er sich auch eine Zigarette an. Rothändle ohne Filter. Ganz das Klischee des Spurensicherers. Als Erster am Tatort, als Letzter zu Hause. Starke Nerven brauchen, starke Zigaretten rauchen.
»Danke«, sagte Anna.
»Gern«, sagte Becker. Dann drehte er sich um und ging zum Kombi von Julia Minge, um aus ihrer knallroten Thermoskanne dampfenden Kaffee in eine quietschgrüne Plastiktasse zu gießen. Anna mochte diesen bunten Stil. Die Minge erklärte immer, dass ihre Kundschaft blass genug sei. In ihrer Freizeit hielt sie es gern farbenfroh.
Anders dagegen Becker, den sie in dem knappen Jahr, seit er bei der Spurensicherung war, kaum einmal in etwas anderem gesehen hatte als in einer dunkelblauen Anzughose und einem weißen Hemd, die obersten beiden Knöpfe geöffnet. Sportlich genug, um leger, eng genug, um verheißungsvoll zu sein.
Alles in allem waren die beiden ein kurioses Duo, die gedrungene, schrill-bunte Minge und der schöne Becker mit den chic geföhnten hellbraunen Haaren. Egal, hatte Kampmann immer gesagt, was zählt, ist Qualität, und zwar im Inhalt und nicht in der Form. Anna war derselben Meinung. Der Job der Spurensicherer war hart genug. Da sie außerdem keine Vollzugspolizisten waren, sollten sie doch herumlaufen, wie sie wollten. Jedenfalls in Berlin.
Anna sah Becker nach. Als er auf die Thermoskanne drückte, zeichnete sich unter seinem Hemd ein muskulöser Rücken ab. Zumindest glaubte sie das. Besonders kommunikativ war er allerdings nicht gerade.
»Danke.« – »Gern.«
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Ein unangenehmer Gedanke schlich sich in Annas Kopf. Becker war gut zehn Jahre jünger als sie. Vielleicht war sie für ihn einfach nicht interessant genug.
Dann aber füllte er eine weitere Kaffeetasse und kam mit einem Lächeln zu ihr zurück. Mit einem Augenzwinkern hielt er ihr die Tasse hin. Sie lächelte zurück. Er sah aus, als hätte man ihn aus einer Zwiebackwerbung ausgeschnitten.
Anna nippte an ihrem Kaffee. »Weiß man schon etwas über die Todesursache?«, fragte sie.
Becker schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nichts Eindeutiges. Frau Minge glaubt, dass sie vergiftet worden sein könnte.«
Anna sah ihn an. Blaue Augen. Hohe Wangenknochen. Reiß dich zusammen. Vor allem durfte sie nicht rot werden. Sie wusste, dass sie bei Aufregung dazu neigte. Was regelmäßig alles nur noch schlimmer machte.
»Und Sie?«, fragte sie.
»Und ich was?«
»Was denken Sie?«
Becker lächelte unsicher. Was natürlich gut aussah. »Man macht sich immer übertriebene Vorstellungen von dem, was man nicht kennt. Meiner Einschätzung nach könnte sie recht haben. Es gibt keine Anzeichen für eine Gewalteinwirkung. Zwar liegt die Leiche in einer Ruine mitten im Wald und entsprechend schmutzig ist alles. Allerdings fehlt es an diesem besonderen Chaos, das den Tatort eines Gewaltdelikts ausmacht, an Spuren, die einen Kampf oder sonst eine Auseinandersetzung vermuten lassen würden. Im Gegenteil: Es wirkt alles fast unangetastet. Genauso wie die Leiche selbst.«
»Fast«, sagte Anna.
Becker nickte. »Fast. Klar, der Blutfleck stört. Er passt auch nicht zum restlichen Bild. Aber immerhin: An dem Blutverlust zwischen den Beinen dürfte sie nicht gestorben sein. Im Vergleich zu dem, was man sonst zu sehen bekommt, ist das nicht mehr als ein Kratzer.« Er bemerkte Annas skeptischen Blick und lächelte noch unsicherer als zuvor. »Das soll natürlich nicht bedeuten, dass die Wunde zwischen den Beinen eine Lappalie ist.«
»Für mich sieht es so aus, als sei die Frau vergewaltigt worden.«
Er nickte. Trank Kaffee. »Für mich auch. Was genau passiert ist, werden uns letztlich erst die Rechtsmediziner sagen können. Für den Augenblick müssen wir uns damit begnügen, dass sie zwischen den Beinen Blut verloren hat, wenn auch nicht so viel, dass es lebensbedrohlich gewesen wäre.« Er sah Anna an. »Das ist jedenfalls das, was ich eigentlich sagen wollte.«
»Schon okay«, sagte Anna.
»Entschuldigung, wenn das gerade eben nicht so rüberkam«, murmelte er. »Das sollte nicht zynisch sein, auch wenn es vielleicht so geklungen hat. Ich denke, das ist eine Art Berufsrisiko. Wenn man bei der Spurensicherung ist, stumpft man wahrscheinlich irgendwann doch ziemlich ab.«
Sie ließ das unkommentiert. Er sah gut aus. Da konnte man schon mal nachsichtig sein. Außerdem stand ihr an dieser Stelle kein Urteil zu. Vielleicht hatte er auch einfach recht.
Anna sah in Richtung der Baumwipfel, über die sich gerade die ersten Sonnenstrahlen quälten und mit einem kräftigen Ruck den letzten Rest Frische des Sommermorgens wegzogen. Es war Zeit für einen Themenwechsel.
»Fingerabdrücke?«
»Bisher negativ. Wir werden uns das Laken aber noch einmal genauer ansehen.«
»Wobei ich meine Zweifel habe, dass uns das besonders weiterhilft«, brummte Julia Minge und stapfte missmutig in Richtung der Thermoskanne.
»Warum?«
»Wer es schafft, eine Frau zu vergewaltigen und ihr die gesamte verdammte Muschi aufzureißen, ohne dass dabei ein Fingerabdruck entsteht, der bekommt es auch hin, dass er nach getaner Arbeit ein Laken ausbreitet, ohne dass er sich darauf verewigt.«
Umständlich kramte sie eine zusammengequetschte Schachtel Pall Mall aus der Vordertasche ihrer lilafarbenen Latzhose. Kaum hatte sie die Zigaretten in der Hand, fielen sie vor ihr auf den Waldboden. Als sie sich schimpfend hinunterbeugte, um sie aufzuheben, klapperten ihre großen Holzohrringe wild durcheinander. Wieder aufgerichtet, ließ sie sich von Becker Feuer geben, steckte ihre rot gefärbten Haare zurück hinter die Ohren und kehrte dann mit dem geübten Watschelgang eines kleinen, kompakten Menschen zu dem Gewölbe zurück.
Becker und Anna sahen ihr nach.
Dann bemerkte Anna die Stille zwischen ihnen beiden. Sofort fühlte sie sich unwohl. »Fußspuren?«, fragte sie, um das Gespräch wieder aufzunehmen.
»Nichts Brauchbares«, sagte Becker. »Der Boden ist erdig, hier und da liegt etwas Mulch. Ansonsten viel kleines Geäst und Moos. Das, was eben in einer muffigen Ruine so wächst. Aber nichts, was hilft, um Spuren eines Menschen besonders gut zu konservieren.« Becker trank seinen Kaffee aus und sah sich um. Wahrscheinlich um zu sehen, ob die Minge ihn brauchte.
Anna ahnte, dass ihr Gespräch sich dem Ende zuneigte. Eines wollte sie aber unbedingt noch fragen. Das, was ihr die ganze Zeit schon unter den Nägeln brannte. »Was meinen Sie, was soll das Ganze?«
Becker sah sie nachdenklich an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
3.
»Wir haben nicht die geringste Ahnung«, giftete Hennings in den Raum. »Die Frau ist seit zwei Tagen tot und wir haben nicht die geringste Ahnung, was das soll!« Hennings war aufgestanden und stützte seinen massigen Körper mit den Händen auf den Tisch. Er schien kurz davor, mit der Faust darauf einzuschlagen.
»Wir haben den Namen und die Todesursache. Und wir wissen, dass sie noch keine zwölf Stunden tot war, als wir sie gefunden haben«, sagte Alkan. »Das ist immerhin nicht nichts.«
Hennings nickte. Die Röte im Gesicht nahm trotzdem eher zu als ab. »Schön, dann haben wir also den Namen und die Todesursache. Nur: Das hat die Presse auch. Und zwar schon seit gestern. Also fragt sie, was wir heute haben. Und wir? Wir sollten ihr lieber etwas liefern! Aber pronto! Zum Beispiel den Täter!«
Anna vermutete, dass das die Sonderkommission motivieren sollte. Im Augenblick aber herrschte betretenes Schweigen. Der sonst eher gemächliche Fleischberg Hennings war wütend. Wenn es einmal so weit gekommen war, konnte ihn ohnehin niemand mehr bremsen. Heute erst recht nicht.
»Achtundneunzig Prozent aller Mordfälle werden in den ersten fünf Tagen nach der Tat aufgeklärt«, bellte er. »Achtundneunzig Prozent! Das ist eine verdammte offizielle Statistik. Eine Zahl, hinter der wir in drei Tagen hinterherhinken. In zweieinhalb, um genau zu sein. Ich habe aber noch eine Zahl. Eine, die uns Hausaufgaben aufgibt: In zweiundneunzig Prozent aller Fälle stammt der Täter aus dem persönlichen Nahbereich des Opfers. Also, was haben wir?«
Kriminaloberkommissar Alkan senkte den Blick. »Bislang nichts, was uns wirklich weiterhilft.«
»Wir haben alles überprüft«, quakte Spohnke beschwichtigend.
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Anna schmunzeln müssen. Wobei: Gerade dann, wenn es wichtig war, wirkte die gepresste, hohe Stimme Spohnkes eigentlich am witzigsten. Anna wusste, dass man Spohnke ›den Gnom‹ nannte. Spitznamen konnten ziemlich fies sein. Und ziemlich passend.
Spohnke rieb sich hektisch an der Stirn. »Familie, Freunde, Mitbewohner, Arbeitsumfeld, Liebhaber. Wir haben alles überprüft. Jedenfalls so weit, wie wir gekommen sind. Was im letzten Fall nicht so leicht war.« Er schielte unbeholfen in den Raum. »Wegen der vielen sexuellen Kontakte.«
Anna sah betreten auf ihre Hände, ohne bestimmen zu können, was ihr unangenehmer war. Was Spohnke sagte. Oder wie er das tat.
Hennings hatte dagegen erkennbar keinen Nerv für großes Getue. »Die Marafakis arbeitete als Prostituierte, Spohnke. Wir wissen das. Also scheißen Sie sich nicht ein, sondern berichten Sie, was Sie festgestellt haben!«
Spohnke räusperte sich und starrte auf den Block vor sich auf dem Tisch. Dann ratterte er seine Notizen herunter: »Anastasia Marafakis, vierundzwanzig Jahre, geboren in Thessaloniki. Vor drei Jahren kam sie zum Studium nach Berlin und hat sich an der Humboldt für einen Master in Deutsch, Philosophie und Politik eingeschrieben. Keine nennenswerten Fehlzeiten. Gute Noten. Sie wohnte anfangs in einem Studentenwohnheim in Neukölln, seit zwei Jahren in einer WG in Moabit zusammen mit ihrer Mitbewohnerin Marlene Friedrichsen. Gesprochen haben sie miteinander auf Deutsch. Bis auf einen kleinen Akzent war die Marafakis in der Sprache offenbar ziemlich sicher. Marlene Friedrichsen ist sechsundzwanzig Jahre alt, Deutsche, Lehramtsstudentin, wie die Marafakis ebenfalls Teilzeitprostituierte. Diese Informationen haben wir von der Mitbewohnerin, Frau Friedrichsen, persönlich. Sie war es auch, die Anastasia Marafakis heute Morgen vermisst gemeldet hat. Als die Marafakis nach dem Wochenende nicht in die Wohnung zurückgekommen ist und telefonisch nicht erreichbar war, hatte Marlene Friedrichsen angefangen, sich Sorgen zu machen. Die Befragung war konstruktiv und offen. Frau Friedrichsen schien sehr bemüht, uns alles wissen zu lassen, was aus ihrer Sicht notwendig war, um ein umfassendes Bild von Frau Marafakis zu erhalten und insbesondere einordnen zu können, wie sie die letzten Wochen vor ihrem Tod verbracht hat.« Spohnke räusperte sich. Dann fuhr er fort: »Über Frau Friedrichsen ist die Marafakis mit dem Gewerbe in Kontakt gekommen. Beide suchten nach sogenannten Sugardaddys, die ihnen ihre Alltagsnöte nahmen, Miete, Kleidung, Essengehen, Ausflüge. Als Gegenleistung gab es Sex. Die Marafakis schien das gut im Griff zu haben. Wie wir wissen, war sie eine schöne Frau und hatte auch eine entsprechende Wirkung, sodass sie sich ihre Kunden gezielt aussuchen konnte. Das erlaubte es ihr, sich auf wenige Männer zu beschränken und nebenbei noch zu studieren.«
Spohnke legte den Block zur Seite und tippte eine kurze Tastenkombination in den Laptop vor sich. Mit einem leisen Schnurren kam Leben in den Apparat. Nach ein paar Klicks lächelte von der Wand hinter dem Kriminalbeamten plötzlich die Marafakis in den Raum.
Ohne sich umzudrehen, sagte Spohnke: »Das ist sie. Wie gesagt, eine wirklich schöne Frau. Die Bilder haben wir von ihrer Mitbewohnerin bekommen und aus der Auswertung ihrer Facebook-Seite.«
Der summende Beamer warf Bilder von einer lachenden jungen Frau auf die weiße Wand. Spohnke hatte nicht übertrieben. Anastasia Marafakis war eine schöne Frau. Gewesen, korrigierte sich Anna, während sie weiter auf die Bilder starrte und sich fragte, was das eigentlich sollte. Sie schielte hinüber zu Alkan, konnte aber unmöglich ausmachen, ob er das Gleiche dachte. Der große Türke hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und kraulte sein dünnes Kinnbärtchen.
In der Zwischenzeit ging der Bilderreigen weiter. Die Marafakis lachend im T-Shirt am Küchentisch, Grimassen schneidend im Bikini, nachdenklich im engen Pulli auf dem Alexanderplatz. Auf jedem Foto sah sie gut aus. Schlank. Große Brüste. Offenes, freundliches Gesicht. Anna konnte sich vorstellen, warum die Männer auf Anastasia Marafakis standen.
Weiter half ihnen das trotzdem nicht.
Es gab in Berlin viele schöne Frauen. Ein Anhaltspunkt, warum man ausgerechnet diese getötet hatte, ließ sich jedenfalls aus ihren Bikinibildern beim besten Willen nicht erkennen. So viel Freude Spohnke bei der Zusammenstellung auch gehabt haben mochte.
Wenig später reichte es dann auch Hennings. Immerhin bemühte er sich darum, die Fassung zu wahren. »Ich ahne, dass Sie es gut meinen, Spohnke. Aber nur mit lustigen Bildern kommen wir hier nicht weiter.«