Pirlo - Doppeltes Spiel - Ingo Bott - E-Book

Pirlo - Doppeltes Spiel E-Book

Ingo Bott

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Beschreibung

Vor Gericht und im Fußball geht es ums Gewinnen. Aber gilt das wirklich um jeden Preis? – Der vierte Fall für die Strafverteidiger Dr. Anton Pirlo und Sophie Mahler  Die Kanzlei von Anton Pirlo und Sophie Mahler steckt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Um das Geschäft wieder in Schwung zu bringen, lassen sich die beiden Strafverteidiger auf einen Vorschlag von Pirlos Bruder Ahmid ein: Sie setzen zusätzlich auf Sportrecht und versuchen sich in der Fußballbranche als Spielerberater. Als allerdings der Vereinsmanager ihres Toptalents nach einer Auseinandersetzung mit Pirlo tot aufgefunden wird, steht dieser auf einmal unter Mordverdacht. Pirlo und Sophie verteidigen plötzlich in eigener Sache. Dabei geraten sie immer tiefer in den Strudel des Geschäfts mit Fußballtalenten, ihren Hoffnungen, Träumen – und ihrem Leben … »Blut fließt im Fußball, und Strafverteidiger Anton Pirlo ermittelt wieder. Spannend, amüsant und flott geschrieben – 3:0 für Ingo Bott.« Manni Breuckmann »Nervenkitzel bis zum Schlusspfiff! Krimispannung aus der Champions League.« Andreas Luthe »Spannend. Intensiv. Hintergründig. Man merkt, dass Ingo Bott weiß, wovon er schreibt. True Crime im Sport!« Benni Hofmann »Verbrechen im Fußball, erzählt von einem echten Kenner! Ingo Bott kennt die Branche als Journalist und als Anwalt. In seinem Krimi zeigt er uns die Schattenseiten des strahlenden Sportgeschäfts. Absolut lesenswert!« Henning Behrens

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Seitenzahl: 480

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Ingo Bott

Pirlo - Doppeltes Spiel

Der vierte Fall für die Strafverteidiger Pirlo und Mahler

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Kanzlei von Anton Pirlo und Sophie Mahler steckt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Um das Geschäft wieder in Schwung zu bringen, lassen sich die beiden Strafverteidiger auf einen Vorschlag von Pirlos Bruder Ahmid ein: Sie setzen zusätzlich auf Sportrecht und versuchen sich in der Fußballbranche als Spielerberater. Als allerdings der Vereinsmanager ihres Toptalents nach einer Auseinandersetzung mit Pirlo tot aufgefunden wird, steht dieser auf einmal unter Mordverdacht. Pirlo und Sophie verteidigen plötzlich in eigener Sache. Dabei geraten sie immer tiefer in den Strudel des Geschäfts mit Fußballtalenten, ihren Hoffnungen, Träumen – und ihrem Leben …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ingo Bott (Jg. 1983) leitet eine Kanzlei für Strafrecht, Compliance und Sport. Zu seinen bekanntesten Fällen gehören »Loveparade«, »CumEx« und das Lösen von internationalen Kindesentführungen. Er ist bei mehreren Bundesligavereinen als Vertrauensanwalt tätig. Für seine Mandate ist er viel unterwegs. Dabei schreibt er mit großer Leidenschaft unkonventionelle Krimis.

Inhalt

[Zitat]

[Motto]

[Prolog]

1. Los.

2. Lachsfarben.

Die Gefahr

1. Stirnbegegnungen.

2. Wippend.

3. Ungern.

4. Warum? Warum? Warum?

5. Wir!

6. Kopfkartoffeligkeit.

7. Henne/Ei.

8. Umm.

9. Von der Ontologie einer Schale.

10. Tanzschritte. Kanzleiedition.

11. Mittelbare Habibi-Dringlichkeit.

12. Wie sich Hamza in die Scheiße geritten hat.

13. Haifischfragen.

14. Kann sein.

15. Zigaretten und Bratwurst.

16. Le club, c’est lui.

17. Eigentor.

18. Als ob.

19. Ehrensache.

20. Postmoderndes Akronym des Grauens.

21. Clan-Compliance. Sozusagen.

22. Türdistanz.

23. So richtig-richtig.

24. Entlauberoffenbarung.

25. Übermotiviert.

26. Unfallfrei.

27. Nur wegen Geld?

28. Obiter dictum. Und so weiter.

29. Die Gesamtbeschissenheit der Dinge.

30. Positive Negation. Ausnahmsweise mal.

31. Am-Arsch-Ataraxie.

32. JLM-Dilemma-Zone.

33. Sophieartig.

34. Die nächste Katastrophe.

35. Unbedacht.

36. Ohne Rollkommando?

37. Show.

38. Warum auch nicht?

39. Was. Und wie.

40. Rührend.

41. Unterdrückt.

Die rechtswidrige Tat

1. Schritte.

2. Bloody Hell.

3. Sportplatzkodex für Anfänger.

4. Ein Grundsatzgespräch. Oder so.

5. Margarinenwerbungsmodus.

6. Erythrophobie. Fortgeschrittenenausgabe.

7. Lichtblick.

8. Bubatz-Bengel.

9. Grundwut.

10. Fubar.

11. Lappengefahr. Metaphorisch.

12. Sun Tzu Kung Fu.

13. Floskeligst.

14. King.

15. Bamm. Bamm. Bamm!

16. Abendlandaufrechte.

17. Wenn’s läuft.

18. Kein Glück.

19. Effenberganalogie.

20. So viel dazu.

21. Nagelsmann.

22. Anders.

Das Abwendungsinteresse

1. Stimme.

2. Dampfschwaden.

3. Gemisch.

4. Anscheinspräteritum.

5. Atem.

6. Black Parade.

7. Ausgerechnet.

Die Zumutbarkeitsprüfung

1. Blick.

2. Legalitätsprinzip. Anklage. Snafu.

3. Fluch.

4 Mord. Macht. Fußball. Sex. Und ein Vermerk.

5. Camus-Chaos.

6. Mörderfinderin.

7. Gesetzesmathematik. Realitätsversion.

8. Manchmal ist das so.

9. Ansatzlos.

10. Angespannt.

11. Instinktiv.

Die Frage nach der Schuld

1. Schicksal.

2. Bewusst.

3. Nach bestem Wissen.

4. Cantona-Contenance.

Mein Brief an Dich

Grundzüge des Strafrechts

Dank

Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.

 

Albert Camus

Norm:Entschuldigender Notstand, § 35 Abs. 1S. 1 StGB

Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld.

 

Prüfschema:

Die Gefahr

Die rechtswidrige Tat

Das Abwendungsinteresse

Die Zumutbarkeitsprüfung

Die Frage nach der Schuld

 

Erklärung:Der entschuldigende Notstand ist ein sehr eigentümliches Rechtsinstitut. Er sieht eine Abwägung vor, die es eigentlich gar nicht geben darf. Auf der einen Seite steht die Rechtsordnung, auf der anderen ein Mensch, der auf die absoluten Grundlagen seiner selbst zurückgeworfen ist. Es ist etwas so Wichtiges in so großer Gefahr, dass er sehenden Auges das Recht verletzt – und wir ihm trotzdem keinen Vorwurf machen, nicht aber etwa, weil wir gutheißen, was er tut. Vielleicht noch nicht einmal, weil wir es verstehen. Sondern weil wir auch keine Antworten haben. Vor allem keine, die besser sind als die desjenigen, über den wir richten sollen.

 

Werner Arland – Grundlagen der Strafverteidigung, Verlag t.m. Zimmermann, 2024, S. 211 Rn. 17

[Prolog]

1.Los.

Vor dem Spiegel

Er atmet. Langsam ein. Noch langsamer aus.

Dabei muss er nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, in welchem schlechten Zustand er ist. Ein Blick auf seine Hand genügt. Sie zittert, als er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzt.

Dann schließt er die Augen und geht, so ruhig er kann, noch einmal alles durch. Das Ergebnis ist dasselbe wie vorhin. Es ist dasselbe wie immer. Was er vorhat, ist alternativlos. Er muss es tun.

Am Ende wird er ein Leben zerstört haben. Nichts wird mehr so sein, wie es war. Nie wieder.

Er atmet langsam ein. Und langsam aus.

Was er machen wird, ist falsch. Darauf kommt es aber gar nicht an. Es spielt keine Rolle, was er tun will. Sondern was er tun muss.

Er dreht das Wasser ab. Trocknet seine Hände.

Atmet ein. Atmet aus.

Und geht los.

2.Lachsfarben.

Zwei Monate zuvor

Als Pirlo öffnet, steht vor der Tür die Polizei.

»Ja?«

»Herr Dr. Anton Pirlo?«

»Das bin ich.« Jedenfalls auch. Aber gut, immerhin steht der Name im Ausweis.

Der sportliche Mann direkt vor ihm verstaut umständlich seine Dienstmarke in der Jacke, sammelt sich kurz und sagt dann mit fester Stimme: »Wir haben einen Haftbefehl.«

»Die Kanzlei ist am Carlsplatz. Hier ist meine Wohnung. Ganz gleich, welchen unserer Mandanten er betrifft, sind Sie hier falsch gelandet.«

»Das glauben wir nicht.« Einer der fünf Beamten hält Pirlo ein lachsfarbenes Papier entgegen. »Der Haftbefehl richtet sich gegen Sie.«

 

Kurz darauf lacht Arland am Telefon. Pirlo nicht. Irgendwann fällt das auch seinem alten Mentor auf.

»Du machst Witze, oder?«

»Nein.«

»Haha?«

»Wie gesagt: Nein. Was ich dir berichtet habe, stimmt.«

Am anderen Ende der Leitung wird es kurz still. Dann klingt Arlands Stimme deutlich ruhiger. »Du willst mir also ernsthaft erzählen, dass du verhaftet worden bist, Junge?«

Pirlo seufzt. »Ich will nicht. Ich muss.«

»Warum rufst du dann mich an?« Die Frage ist berechtigt. Arlands Strafverteidigertage sind schließlich seit langem vorbei. Seit gut drei Jahrzehnten ist er nur noch als Hochschullehrer unterwegs, hat dabei aber immerhin solche Talente wie Sophie und Pirlo entdeckt. Wobei die Qualitätsauslese einigermaßen fragwürdig wirkt, wenn man sich vor Augen führt, wo Pirlo gerade warum steckt.

»Sophie war nicht erreichbar.«

»Habt ihr Streit?«

»Nein.« Trotzdem ist Pirlo kurz irritiert, dass Arland überhaupt danach fragt. »Ich glaube, sie ist beim Sport.«

»Willst du nicht warten, bis du mit ihr sprechen kannst?«

»Nicht wirklich. Sie haben mich zu Hause abgeholt – und zwar mit solider Mannschaftsstärke.«

»Um Himmels willen …« Dann hat sich Arland aber auch schon wieder gesammelt. »Wo bist du jetzt?«

»Im Polizeiwagen. Sie haben mir meinen Vertrauensanruf direkt von hier aus zugestanden. Wenn du mich fragst, fühlt sich hier keiner richtig wohl. Immerhin haben sie sogar geklingelt und nicht direkt die Tür aufgebrochen.«

»Vielleicht, weil sie wissen, dass du Rechtsanwalt bist?«

Pirlo schnaubt. »Vielleicht, weil sie wissen, dass diese ganze Aktion ein Witz ist!«

»Dein Aufenthaltsort spricht nicht gerade dafür, oder?«

Pirlo lässt das unkommentiert. Erst recht verschweigt er, dass auch die das Telefonat erheblich erschwerenden Handschellen nicht unbedingt zu seiner Witz-These passen. Damit muss er Arland jetzt wirklich nicht behelligen. Der Alte ist aufgeregt genug. Möglicherweise trifft das sogar auf Pirlo selbst zu.

»Lass es uns kurz machen. Immerhin findet das hier direkt vor dem Haus statt, in dem ich wohne. Um den Wagen, in dem ich sitze, stehen drei Polizisten herum.«

»Aber ja wohl in Zivil!«

»Du weißt doch, wie das ist. Wenn sie im Rudel kommen, verströmen sie diesen ganz besonderen Charme. Selbst mit Neonschildern, auf denen ›Polizei‹ steht, würden sie nicht stärker auffallen.«

»In Ordnung.« Arland atmet durch. Langsam scheint er in der aktuellen Lage anzukommen. »Was soll ich tun?«

»Hier kannst du nicht mehr viel machen. Alle, die gleich nicht mitfahren, durchsuchen wahrscheinlich gerade meine Wohnung. Dafür brauchen sie dich aber nicht.«

»Sicher?«

Pirlo nickt in den Hörer. »Ja. Mach dir keine Sorgen.« Er ringt sich ein Lächeln ab. »Vielleicht ist das sogar die Chance, dass endlich mal ein paar von den verlorenen Socken auftauchen.«

Arland ignoriert Pirlos müden Auflockerungsversuch. Etwas anderes ist tatsächlich auch viel wichtiger. Pirlo weiß das. Arland weiß es natürlich erst recht. Er räuspert sich. »Weswegen sind sie denn gekommen?«

»Du meinst wegen welchem Verdacht?«

»Ja.«

»Mord.«

»Was?«

»Ja. Und ehe du fragst: Es ist wirklich kein Witz. Und ich bin auch nicht in besonders heiterer Stimmung.«

Bei Arland knackt es in der Leitung. Als Pirlo ihn wieder klar versteht, hört er im Hintergrund Straßengeräusche. Der alte Mann ist offensichtlich unterwegs.

»Wer soll denn getötet worden sein?«, ruft Arland über die Hintergrundgeräusche hinweg.

»Ein Herr Merkert.«

»Wer?«

»Joachim Merkert.«

Pirlo hält den Haftbefehl immer noch in der Hand. Es war alles geradezu unspektakulär verlaufen. Sie hatten Pirlo eine Tasche packen lassen und waren mit ihm in ihrer Mitte zum Auto spaziert. Eine ganz normale Verhaftung eines ganz normalen Bürgers eben, genau so, wie Pirlo das in- und auswendig kennt. Wenn auch nicht aus dieser Perspektive.

»Nie gehört«, kommt es von Arland zurück. »Wer soll das sein?«

»Gewesen sein. Er ist tot.«

Arland schnaubt. »Geh mir nicht auf die Nerven, Junge. Also, wer ist das?«

Pirlo zwingt sich dazu, ruhig durchzuatmen. »Jemand, den wir vom Fußball kennen.«

»Wir?«

»Ich.«

»Vom Fußball?«

»Ja.«

»Was, zur Hölle, soll das alles bedeuten?«

Pirlo verdreht die Augen. »Bist du schon unterwegs?«

»Natürlich bin ich das!«

»Dann erkläre ich dir alles gleich.«

Und zwar in der Haftzelle. So unfassbar beschissen das klingt. Und ist.

 

Die Gefahr

1.Stirnbegegnungen.

Zwei Wochen vor Pirlos Verhaftung

Als Pirlo aufwacht, hält Sophie seine Hand. Er genießt die Berührung. Riecht ihr Parfum. Spürt ihre Nähe. All das tut gut – und hat lange gefehlt. Umso mehr ist er entschlossen, seine Augen noch eine Weile geschlossen zu halten.

»Ich weiß, dass du wach bist.«

So viel also dazu. Immerhin schwingt in ihrem Flüstern ein Lächeln mit.

Als Pirlo die Augen öffnet, braucht er einen Moment, um sich mit dem Neonlicht seines Krankenhauszimmers anzufreunden. Sophies Lachen lässt ihn erahnen, dass das weder mit dem frischesten noch dem schlausten aller Gesichtsausdrücke einhergeht.

»Wie lange habe ich diesmal geschlafen?«

»Die Schwestern meinten, dass es fast vier Stunden am Stück gewesen sind.«

»Immerhin.«

Sophie drückt seine Hand. Erst dadurch fällt ihm auf, dass sie ihn immer noch nicht losgelassen hat. »Lass uns zuversichtlich bleiben. Es wird langsam besser. Nur das zählt.«

»Na klar.«

Pirlo bemüht sich um ein tapfer-schiefes Grinsen, das allerdings gar nicht mal so leichtfällt, wenn so gut wie alles schmerzt.

Als könnte sie ihn auch hier durchschauen, fragt Sophie: »Wie geht es dir heute?« Noch ehe er darauf irgendwas Pseudocooles antworten kann, kommt sie ihm zuvor. »Ich meine, wie geht es dir wirklich?«

»Gut genug«, brummt er zurück. Um das zu untermauern, stützt er sich mühsam auf. Kurz explodieren vor seinen Augen Schmerzenssterne. Auch sonst hat sich die Aktion nicht gelohnt. Als er sich wieder gefangen hat, sieht er Sophie an, dass sie ihm ohnehin nicht glaubt.

Warum sollte sie auch? Erst vor drei Wochen hat Pirlo eine Kugel in die Schulter kassiert. Die Wunde ist immer noch nicht verheilt, was nach Ansicht der Ärzte vor allem daran liegt, dass Pirlo zuvor einen radikalen Raubbau an seinem Körper betrieben hatte und daher zu dem Zeitpunkt, als auf ihn geschossen wurde, sowieso schon nicht in einer Premiumverfassung gewesen war. An Schlaf und Ruhe war allerdings auch nicht zu denken gewesen. Sophies Vater hatte wegen des Verdachts, seine beiden Partner in der von ihm gegründeten Kanzlei Müller & Mahler getötet zu haben, in Untersuchungshaft gesessen. Nur ein gemeinsamer Kraftakt von Sophie, Pirlo und ihrem in dieser Sache Verbündeten, dem Privatermittler Max Bischoff, hatte es möglich gemacht, aufzuklären, was hinter diesem Albtraum steckte – Niedergeschossenwerden inklusive. Die Schmerzen und die Gefahr waren es trotzdem wert gewesen. Selbst wenn er sich mit Sophies Vater nie gut verstanden hatte, würde Pirlo für sie immer alles tun. Zwar bekommt er es nicht hin, ihr das zu sagen. Nach dem, was nun war, ist das aber vielleicht auch gar nicht mehr nötig. So oder so wäre der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch über das, was war und irgendwie zwischen den beiden auch ist, ein anderer. Zum Beispiel einer mit mehr Rotwein als Tropfkanülen im Körper.

Die Lage wird nicht leichter dadurch, dass Pirlo nie genau weiß, wie lange Sophie bei ihm bleibt. Immerhin liegt Ernst Mahler, der bei dem dramatischen Showdown mit Max Bischoff nicht weniger eingesteckt hat als Pirlo selbst, ein paar Zimmer weiter auf dem gleichen Flur des Marienhospitals. Sophie wird auch ihn besuchen oder besucht haben. Je, nachdem.

»Geht es deinem Vater einigermaßen gut?«, fragt Pirlo.

»Ich gehe gleich zu ihm.« Sie schmunzelt. Wahrscheinlich ahnt sie, was Pirlo eigentlich wissen will. Ob er ihr leidender Held Nummer eins bleibt. Wie wichtig er ihr ist. Im Vergleich zu ihrem Vater. Und überhaupt.

Sie streicht ihm vorsichtig ein paar verschwitzte schwarze Haare aus der Stirn. Er nimmt die Geste hin und versucht verbissen, gar nicht erst zu überlegen, ob das etwas bedeuten könnte. Was nicht klappt. Wie auch?

Natürlich erinnert er sich daran, dass Sophie ihn vor ein paar Monaten geküsst hat. Es gibt kaum einen Tag, an dem, möglicherweise sogar kaum eine Stunde, in der er nicht daran denkt. Trotzdem haben sie auch darüber nie gesprochen. Pirlo tröstet sich damit, dass sich die Gelegenheit nicht ergeben hatte, ehe in der Kanzlei ihres Vaters das Morden losging. Danach standen sowieso ganz andere Probleme im Raum. Außerdem ist das Thema heikel, weil Sophie und er in der Kanzlei Recht.Schaffen zusammenarbeiten und der Alltag allein aufgrund der unterschiedlichen Naturelle schon herausfordernd genug ist. Diese Sichtweise ist jedenfalls deutlich einfacher, als sich einzugestehen, dass er sich vielleicht nicht traut zu fragen, ob sie ebenfalls noch daran denkt, wie nah sie sich gekommen sind. Und falls ja, was sie dann davon hält.

Sophie unterbricht Pirlos Gedanken, indem sie seine Hand noch einmal drückt. »Ich lasse dich mal weiter ausruhen.«

Er nickt. Auch wenn er das natürlich nicht zeigen will, spürt er doch, wie müde er ist. Es ist auch eigentlich kein Wunder, dass er ständig wegdämmert. Seit Tagen verabreichen ihm die Ärzte zu diesem Zweck schließlich alle möglichen Medikamentencocktails. Trotzdem gelingt es ihm kaum einmal, mehrere Stunden am Stück zu schlafen. Nach allem, was in den letzten eineinhalb Jahren war, kommt das zwar nicht überraschend. Besonders erfreulich ist es aber auch nicht, zumal Pirlo weiß, dass in der Kanzlei die ganze Arbeit liegen bleibt und Sophie sich damit allein herumschlagen muss.

»Danke, dass du vorbeigekommen bist«, murmelt er.

»Selbstverständlich«, antwortet sie. »Immer.«

Ehe sie den Raum verlässt und das Licht ausschaltet, beugt sie sich über ihn, streicht noch einmal seine zurückgerutschten langen Haare aus der Stirn und küsst ihn dorthin. Pirlo schließt die Augen und versucht, das ausnahmsweise einfach mal nur zu genießen. Darüber, was die Berührung bedeutet, kann er schließlich bis zu ihrem nächsten Besuch noch genug nachdenken.

2.Wippend.

Nach fünf Minuten. Oder einer Stunde.

Umso überraschter ist er, als sich kurz darauf doch noch einmal die Tür zu seinem Krankenzimmer öffnet und sich ein Lichtspalt aus dem Flur in seinen Augenwinkel schleicht. Wie lange er weggenickt ist, kann er nicht sagen. Fünf Minuten vielleicht, möglicherweise aber auch eine Stunde. Dem Gefühl nach ist es für den Routinebesuch der Stationskrankenpflegerinnen oder eine der im Krankenhaus kredenzten Speiseklebrigkeiten jedenfalls noch zu früh. Eventuell hat Sophie etwas bei ihm vergessen. Ihre Handtasche, zum Beispiel. Oder noch einen Kuss auf die Stirn.

Die Tür knallt zu. Gleichzeitig flackert das Licht im Zimmer auf. Die letzte Hoffnung darauf, dass der Besuch doch von Sophie kommen könnte, zerstören kurze, schnelle Schritte, denen es gelingt, sich selbst in der aseptischen Abgeschlossenheit des Krankenhauses noch bedrohlich anzuhören.

Diesmal entscheidet sich Pirlo nicht einfach, seine Lider noch nicht zu öffnen. Er presst sie vielmehr mit aller Kraft zusammen. Es bringt nur nichts. Natürlich nicht.

Dann erlebt Pirlos Stirn innerhalb kürzester Zeit ein starkes Kontrastprogramm. Immerhin ist der sie treffende Schlag mit der flachen Hand nicht besonders heftig.

»Mach die Augen auf, Bruder!«, summt dazu eine Stimme, die Pirlo leider nur allzu vertraut ist. »Ich weiß sowieso, dass du wach bist!«

Es bringt nichts, hier noch anderes vorzugeben. Spätestens jetzt ist Pirlo tatsächlich wach. Als er, mit mehr Mühe als erwartet, seinen Blick auf den nur langsam an Kontur gewinnenden, hin und her wippenden Schatten an seinem Bettrand fokussiert, weiß er schon, dass dort am Ende Ahmid stehen wird. Das sich langsam zusammensetzende Gesamtbild ist dennoch überraschend. Sein Bruder scheint einen Anzug zu tragen. Dieser hier ist allerdings nicht aus Ballonseide oder grauer Baumwolle mit einem Nike-Symbol, sondern aus echtem Stoff. Aus dem Bett kann Pirlo nur das Sakko vollständig erkennen. Es ist hellgrau und zu eng. Darunter trägt Ahmid über einem rosafarbenen Hemd eine hellblaue Krawatte. Kurz ist sich Pirlo nicht sicher, ob seine Augen wegen der drastischen Helligkeit im Raum schmerzen oder ob dafür schon Ahmids Kleidungsauswahl genügt. Auch nachdem sich sein Blick scharf gestellt hat, gelingt es ihm noch nicht, diesen seltsamen Auftritt einzuordnen. Die letzten vierzig Jahre haben ihn schließlich so gut wie gar nicht darauf vorbereitet. Außer bei der Beerdigung ihres Vaters hat Pirlo seine Brüder wahrscheinlich überhaupt noch nie in einem Anzug gesehen.

»Die Filmcrew von Scarface hat angerufen. Sie wollen Ihre Kostüme zurück«, murmelt Pirlo.

Ahmid verdreht die Augen. »Sehr lustig.« Dann klatscht er hektisch zweimal in die Hände. »Also bist du jetzt wach, oder was?«

»Geht so.« Pirlo fährt sich über die Augen. »Macht es denn einen Unterschied?«

Macht es natürlich nicht. Pirlo weiß das, und Ahmid weiß, dass Pirlo das weiß. Immerhin hat er den Anstand gehabt, überhaupt zu fragen. Pirlo nimmt es als geradezu rührende Geste zur Kenntnis.

Nachdem Ahmid für seine Verhältnisse also geduldig gewartet hat, bis Pirlo einigermaßen frisch ist, scheint er umso entschlossener, die ganze mitgebrachte Aufregung in einem Rutsch abzulassen. Mit unglücklich koordiniertem Schwung katapultiert er seinen drahtigen Oberkörper über die Brüstung des Betts und starrt Pirlo an.

»Du musst mir helfen, Bruder!«

Pirlo seufzt. War ja klar. Dann setzt er sich auf, und es geht los.

3.Ungern.

Direkt danach. Leider.

»Ich habe eine Idee, Bruder!« Ahmid strahlt.

Pirlo bekämpft den Drang, mit den Augen zu rollen. Mit Grauen erinnert er sich an Ahmids glorreiche Einfälle der jüngeren Vergangenheit: Ein gescheiterter Überfall auf eine Kokainübergabe, ein gescheitertes Mitmischenwollen bei einem Bandenkrieg und, als letzter Tiefpunkt, der gescheiterte Plan, ganz groß bei Corona-Subventionsbetrügereien mit dabei zu sein. Letzteres war nicht nur komplett in die Hose gegangen, sondern hatte um ein Haar dazu geführt, dass Pirlos bisher vor Sophie geheim gehaltene Verwandtschaft mit Ahmid aufflog und, ganz nebenbei, auch Emre Ben Hamid, der Kopf eines Clans, der deutlich angesehener war als Pirlos eigener, eine Verurteilung für etwas kassiert hätte, was eigentlich auf Ahmids Mist gewachsen war. So viel also zu dessen Ideen.

»Dir ist schon klar, was alle deine letzten Vorhaben gemeinsam haben?«

Ahmid kratzt sich am Hinterkopf. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Bisher hat es einfach immer an einer entscheidenden Zutat gefehlt.«

»Was meinst du? Sinn? Verstand? Perspektive?«

Ahmid scheint fest entschlossen, Pirlos Spitzen zu ignorieren. »Nein. An dir.«

»An was?«

»An dir!« Ahmid hebt die Hände. Die klassische Was-soll-man-machen-Geste. »Bei allem, was ich versucht habe, warst du nicht dabei. Vielleicht war das ein Fehler.«

Pirlo fühlt sich müde. Im Sinne von: richtig müde. Im Vergleich zu dem, was Ahmid mit solchen Erkenntnissen in ihm auslöst, ist der Tranquilizermix der Ärzte ein Kindergeburtstag. Und es wird nicht besser.

»Die Lösung heißt: Hello új barátom.« Ahmid strahlt ihn an.

»Wie bitte?«

»Hello új barátom!«

»Was soll das denn heißen?«

»Hallo, mein neuer Freund!«

»In einer gerade neu erfundenen Ahmid-Sprache, oder was?«

Sein Bruder legt die Stirn in Falten. Dann schüttelt er langsam den Kopf. »Von anderen hätte ich so einen so billigen Kommentar vielleicht erwartet, aber von dir, meinem großartigen ›Ich bin ein ach so toller Anwalt und habe die ganze Welt gesehen‹-Bruder nicht.«

»Was?«

Ahmids Kopfschütteln verliert an Tempo. Und gewinnt an Dramatik. »Du weißt genau, was ich meine. Diversitätsmäßig war das ein Tiefschlag.«

Pirlo seufzt nach außen wie nach innen. Er weiß nicht, was wann den Ausschlag dafür gegeben hat, Ahmids Straßenköterschläue mit Feuilletonschlagworten zu kombinieren. Vielleicht war es der gemeinsame Besuch einer Uni-Vorlesung im Zusammenhang mit den Ermittlungen von Max Bischoff, vielleicht Ahmids wilde Leidenschaft für Sophie, die mit der Erkenntnis einherging, dass es bei Gesprächen mit ihr nicht ausreichte, sich auf das Kampfvokabular des letzten Kollegah-Albums zu beschränken. Ganz eventuell ist Ahmid auch einfach nur halb so bescheuert, wie Pirlo immer gedacht hat. Was dann allerdings seine Erfolgsbilanz in einem umso fragwürdigeren Licht erscheinen lassen würde.

Pirlo seufzt. »Worauf willst du raus?«

»Auf Ungarn.«

»Ungarn?«

»Klar. Schnitzel. Paprika. Komm schon, du kennst das.«

»Und was soll damit sein?«

Ahmid legt einen dramatischen Blick auf. »Die Leute dort haben nicht dieselben Mittel zur Verfügung wie wir hier. Und das, obwohl das Land in der EU ist.«

»Inwiefern hat das etwas mit dir zu tun? Und, nach meiner bescheidenen Meinung noch viel wesentlicher, mit mir?«

»Ich finde, wir sollten das ändern.«

Pirlo streicht sich die Haare aus der Stirn. Er hat keine Ahnung, worauf das hier hinausläuft, und ist trotzdem schon genervt. »Das hast du also für dich beschlossen, oder was? Einfach so, als Ahmid der Große, Menschenfreund der Ungarn?«

Sein Bruder geht gar nicht erst darauf ein. »Weißt du, wem es allerdings noch schlechter geht?«

»Will ich das wissen?«

Ahmid verzieht das Gesicht. »Wie herzlos bist du eigentlich?« Ein trauriges Kopfschütteln findet noch Platz. Dann fährt er ungefragt fort. »Den Ukrainern.«

»Da gibt es ja auch einen verdammten Krieg!«

»Ganz genau.«

»Was?« Pirlo fühlt sich schwindelig.

»Meinst du, wir sollten das eine Land schlechter behandeln als das andere? Was ist denn mit Proletarier aller Länder vereinigt euch und so? Das verbindet die beiden doch auch, also ich meine, irgendwie, oder?«

Kurz kämpft Pirlo noch mit seiner Verwirrung. Dann fällt der Groschen. »Du hast diese Ansprache geübt, oder?«

»Kann sein.«

»Über Ungarn, die Ukraine, Karl Marx und all das?«

»Vielleicht.«

»Und jetzt den Faden verloren.«

Ahmid antwortet nicht. Pirlo nickt. Dachte er es sich doch. »Du hast das geübt, weil du verschleiern willst, dass das, was du im Sinn hast, eine absolut bescheuerte Idee ist.«

»Ey!«

»Also gut: Einfach nur eine Idee.«

»Schon besser.«

»Die von dir kommt. Und wahrscheinlich schon allein deswegen absolut bescheuert ist.«

Ahmids Schlag erfolgt zwar nur mit der flachen Hand. Er trifft allerdings den Eingang des Tropfs an Pirlos Ellbogeninnenseite. Der Effekt ist beachtlich. Ganz gleich aber, wie sehr Pirlo den Mund verzieht, eine Entschuldigung steht ganz bestimmt nicht im Raum. Im Gegenteil, wenn hier jemand eingeschnappt ist, dann ist es Ahmid.

»Die Idee ist gut, Mann!«

»Sagt wer?«

»Die hier.« Ahmid kramt aus einer quer über die Brust gespannten schwarzen Umhängetasche eine Ausgabe des SPIEGEL. Vorn drauf Putin. Was eine zeitliche Einordnung quasi unmöglich macht. Ahmid scheint Pirlos nächste Frage daher schon zu ahnen. »Das ist das aktuelle Heft.«

»Das du dir gekauft hast?«

»Wartezimmer«, antwortet Ahmid nur, ganz so, als sei das Antwort genug. Genau genommen stimmt das ja auch. »Zahnweh. Frag nicht.« Dann schlägt Ahmid eine Seite auf, in die er ein Eselsohr geknickt hat. »Lies einfach.«

Pirlo seufzt. Dann fügt er sich. Und ist sofort alarmiert.

»Und was soll ich jetzt damit anfangen?« Pirlo fragt eher aus Prinzip. Er weiß ganz genau, worauf Ahmid hinauswill. Leider.

»Wallah, ich dachte, sie haben dir in die Schulter geschossen und nicht in den Kopf.« Ahmid reißt ihm das Magazin aus der Hand. Dann verkündet er laut: »Die Bundesregierung lässt die Staatsangehörigkeit von mehr als fünftausend vermeintlich ukrainischen Flüchtlingen prüfen. Sie könnten unberechtigterweise Sozialleistungen bezogen haben.« Er lässt das Heft sinken. »Hast du zufällig gesehen, woher diese Leute kommen?«

Das hat Pirlo zwar nicht. Man muss allerdings auch kein Raketenforscher sein, um den Gedanken seines Bruders folgen zu können. Er kennt ihn schließlich schon sein ganzes Leben lang. Und Ahmid bleibt sich treu. Immer.

»Ungarn.«

Ahmid sieht ihn bedeutungsschwer an. »Eben.«

4.Warum? Warum? Warum?

Im Park des Krankenhauses

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich weder für einen Menschenschmuggel noch für einen systematischen Asylbetrug zu haben bin. Und du solltest es auch nicht sein.«

Pirlo hat keinen Überblick darüber, wie oft er das in den letzten fünf Minuten gesagt hat. Er weiß nur, welchen Effekt es hat. Keinen.

Die weitere Entwicklung ist absehbar. Erst wird das Gespräch persönlich. Und dann fies. Verhindern kann das keiner. Sie sind schließlich Geschwister. Apropos: Ahmid ist mittlerweile bei ihrem Vater angekommen. Was für sich genommen schon nicht sehr fair ist. Und Ahmid daher nur recht.

»Unser Ab wäre enttäuscht von dir«, motzt er.

»Ganz bestimmt nicht«, entgegnet Pirlo. Er nippt an einer braunen Brühe, die sie in der Cafeteria als Kaffee verkaufen. Dann setzt er seinen schlurfenden Weg durch den kleinen Park des Marienhospitals fort. Was zwar gegen die Empfehlung der Ärzte ist. Andererseits soll er sich mit Sicherheit auch nicht aufregen oder jemanden auf den Mond schießen wollen. Trotzdem ist beides gerade ganz akut der Fall.

Als er versucht, seinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, indem er Ahmids Blick fixiert, legen sich ihm zwar noch einmal Schlieren vor die Augen. Pirlo setzt aber trotzdem tapfer nach: »Ich bin der Einzige aus der Familie, der eine Berufsausbildung hat. Alter, ich habe sogar ein Studium abgeschlossen! Du weißt, dass das unserem Vater wichtig war.«

»Trotzdem fände er deinen Lebenswandel nicht gut«, entgegnet sein Bruder trocken. Ahmid, der, wie Pirlo, immer noch unverheiratet und kinderlos ist. Ahmid, der alle naselang irgendwelchen Scheiß baut. Ahmid, der auch nach über vierzig Jahren noch ganz genau weiß, wie er bei Pirlo welche Knöpfe zu drücken hat. Und der ihm genau deswegen unfassbar auf die Nerven geht.

»Unsinn!«

Pirlo verdreht die Augen. Berufliches Streiten liegt ihm. Im Privaten ist er darin ziemlich beschissen. »Was meinst du damit überhaupt?«

»Du weißt doch, dass er gern Menschen geholfen hat.«

»Man hilft keinem, indem man den Staat fickt.«

»Doch«, entgegnet Ahmid ganz langsam, als sei Pirlo eine zarte Pflanze, mit der er besonders behutsam sprechen muss. »Menschen. Und überhaupt, was ist das denn für eine Sprache?«

»Eine angemessene«, murmelt Pirlo.

»Ich dachte, wir hätten das hinter uns.«

»Leck mich!«

Ahmid lacht. »Jedenfalls war unser Vater darin richtig gut. Helfen. Machen. Gestalten. Falsche Anmeldungen. Arbeitslosengeld für Leute, die einen Job hatten. Aufenthaltsbefugnisse für alle und so weiter. Er hat darauf sein gesamtes Geschäft aufgebaut, Bruder. Nebenbei, übrigens auch unser ganzes Leben.«

Pirlo streicht verschwitzte Haare aus der Stirn. Mittlerweile ist ihm klar, warum ihm die Ärzte diese dringende Bettruhe verschrieben haben. Weil sie wissen, was sie tun. Und er nicht. Trotzdem muss er das hier jetzt regeln. Alles andere macht es nur noch schlimmer. »Als unser Vater noch als derAraber gezaubert hat, gab es für diese ganzen Betrügereien und Sozialversicherungstricks viel weniger Kontrollen. Das war eher ein Geheimtipp. Heute stehen sie sogar im SPIEGEL.«

»Na und?«

»Hast du dich nie gefragt, warum es euch, Mahmed und dir, nicht mehr gelingt, davon sinnvoll zu leben? Warum das heute ganz andere Strukturen übernommen haben als ihr beiden Knalltüten, die in der Küche in Bilk an irgendwelchen Anträgen rumfrickeln? Mann, Ahmid, sieh es ein, die großen Zeiten sind vorbei!«

»Sie wären es nicht, wenn wir die Anträge über eine Kanzlei einreichen.«

Pirlo weiß sofort, worauf Ahmid hinauswill. Genau genommen weiß er es eigentlich schon die ganze Zeit. Umso mehr kann er seine Antwort rausreflexen: »Vergiss es!«

Ahmid spricht allerdings einfach weiter. »Das Prinzip ist ganz einfach: Du schickst die Anträge auf deinem Briefbogen raus. Falls etwas nicht passt, kannst du erklären, dass das an einer Falschinformation des Mandanten oder sonst irgendwas in dieser Richtung lag. Bei einem Anwalt wird das schon niemand in Zweifel ziehen. Die Leute sind doch froh, wenn man die Ukraine unterstützt.«

»Du meinst, die Ungarn.«

Ahmid grinst. »Für mich sind das alles Menschen.« Dann nimmt er Pirlo mit einer geradezu fürsorglichen Geste den leeren Kaffeebecher ab, der zwischenzeitlich in dessen zittriger Hand gefährlich ins Wackeln gekommen ist. Da das auch Pirlo selbst aufgefallen ist, bleibt er stehen und sieht Ahmid lange an. Der Moment ist dabei so ernst, so wichtig, dass sich sogar problemlos sein Blick klarstellt. »Nein, Ahmid, ich werde da nicht mitmachen.«

»Auch dann nicht, wenn ich eigentlich nur deine Kanzlei für den Außenauftritt brauche und alles andere selbst übernehme?«

Pirlo schüttelt vorsichtig den Kopf. »Nein. Auch dann nicht.« Ehe Ahmid einen Kommentar dazu loswerden kann, hebt Pirlo bedächtig die rechte Hand. Die vertraute Geste aus seinen Gerichtsverhandlungen zieht selbst hier. Jetzt spricht er. Und sonst niemand. »Ich sage dir auch, warum, Bruder. Weil es einfach Grenzen gibt. Mag ja sein, dass der Trick mit den Ungarnukrainern aus deiner Sicht eine gute Idee ist. Er ist aber auch schlicht und ergreifend illegal. Und da bin ich dann raus.«

»Das verstehe ich.«

»Wirklich?«

»Nein.«

Pirlo seufzt.

Ahmid verengt die Augen. »Wenn wir aber irgendwo einsteigen sollen, um Beweismittel für dich zu beschaffen, bist du aber schon dabei?«

Pirlo beißt die Zähne zusammen. »Das war etwas ganz anderes. Außerdem ist das am Ende zu euren Gunsten geschehen.«

»Als ob!« Ahmid lacht auf. »Die Wahrheit ist doch: Wenn du Mahmed und mich als Handlanger gebrauchen kannst, sind wir dir recht. Aber wenn ich deine ach-so-tolle Kanzlei dann mal brauche, bist du einfach nicht für mich da.«

»Nicht, wenn es um etwas Illegales geht.«

»Jetzt erzähl mir nicht, dass du mich unterstützen würdest, wenn ich eine vollkommen legale Idee hätte.«

Pirlo seufzt. Er gehört ins Bett. Und zwar nicht irgendwann. Sondern jetzt. Sofort. »Können wir wieder rein?«

»Sicher. Beantworte mir aber trotzdem noch diese eine Frage, Bruder.«

»Welche?«

»Würdest du mir mit der Kanzlei helfen, wenn ich eine legale Idee hätte?«

»Zumindest dann, wenn sie legal bleibt und du tatsächlich weniger Scheiß baust.«

»Du meinst, keine Gesetze mehr verletzen und so.«

»Schön zusammengefasst.«

»Aber dann schon?«

»Dann schon was?«

Ahmid seufzt. Einmal mit Profis arbeiten. Mehr will er doch gar nicht. »Aber dann würdest du mich unterstützen. Also, wenn alles legal ist und ich nicht mehr gegen Gesetze verstoße und so weiter?«

Pirlo nickt. Er ist müde. Und zwar sehr. Umso mehr ist er bereit, sich der Erkenntnis zu beugen, dass Ahmid nicht nachlässt, bis er hört, was er hören will. Was, auch das gehört zur Wahrheit dazu, für Ahmids Verhältnisse inhaltlich erstaunlich akzeptabel ist. Pirlo gibt sich daher einen Ruck: »Also gut, ja, ich würde dich unterstützen, wenn du dich einfach insgesamt weniger beschissen verhältst.«

»Mehr müsste ich nicht tun? Nur was Legales anfangen?«

»Himmel, gehst du mir auf die Nerven! Nein, mehr müsstest du nicht tun. Du musst jetzt nicht am Vormittag die Ungarnukrainer sein lassen und am Nachmittag gleich Jesus finden oder so. Lass einfach nur solche bescheuerten Ideen weg und sei einfach ein bisschen …«

»Ja?«

»Einfach ein bisschen weniger du.«

Ahmid lacht und boxt Pirlo auf die Schulter, als habe der einen großartigen Witz gerissen. Neben der grundsätzlichen Aufgabe, trotz seines fragwürdigen Zustands das Gleichgewicht zu halten, beschäftigt Pirlo angesichts dieses plötzlichen Stimmungswandels eine nicht ganz unwesentliche Frage: Was ist hier eigentlich los?

Als sich sein Blick wieder auf Ahmid scharf stellt, wirkt sein Bruder ernst. »Danke, dass du mir das zusagst. Das bedeutet mir sehr viel.«

»Klar.« Was soll Pirlo auch sonst antworten?

»Wenn mir etwas Gutes – und Legales – einfällt, kann ich mich also auf deine Unterstützung verlassen?«

»Ja.«

»Sicher?«

»Absolut.«

»Auch mit deiner Kanzlei?«

»Ganz bestimmt.«

»Das sagst du auch nicht nur so?«

»Auf keinen Fall.«

»Gut.« Ahmid nickt. Dann hakt er Pirlo unter. »Lass uns reingehen, Bruder. Du musst dich ausruhen. Danach haben wir viel zu besprechen.«

Pirlo nickt. Dann fällt ihm auf, dass sich das komisch anfühlt. »Moment mal.«

»Was ist?«

»Inwiefern haben wir viel zu besprechen?«

Ahmid drückt seinen Rücken durch und damit auch den zwischenzeitlich solide durchhängenden Pirlo in die Höhe. »Du weißt schon, über die legale Idee und so.«

Pirlo schließt die Augen. An der Schulter seines Bruders vor sich hintrotten gelingt ihm auch so. Außerdem kann er sich auf diese Weise besser auf die wenigen Gedanken konzentrieren, die es durch seinen Schwindelfilter schaffen. Hat Ahmid es gerade wirklich geschafft, ihm eine Unterstützungszusage abzuschwatzen? War das mit den Ukraineungarn/Ungarnukrainern etwa nur ein Vorwand? Und falls ja: Wie konnte Pirlo nur so blöd sein, sich darauf einzulassen? Warum passiert ihm das ausgerechnet bei seinen Brüdern immer und immer wieder? Warum? Warum?

Warum?

5.Wir!

Im Anschluss

»Diesmal ist es wirklich was Gutes!«

Als Pirlo aufwacht, strahlt Ahmid ihn an. Pirlo hat keine Ahnung, wie lange er geschlafen hat. Genau genommen weiß er noch nicht einmal, wie er überhaupt zurück in sein Krankenzimmer gekommen ist. Oder dort ins Bett. Alles, woran er sich vage erinnert, ist, dass er das letzte Mal mit seiner Hand in der von Sophie zu sich gekommen ist. Und dass das besser war. Sehr sogar.

»Du bist ja immer noch da«, murmelt er in die Richtung seines Bruders.

»Natürlich. Schließlich haben wir gerade erst angefangen, uns über unsere neue Geschäftsidee zu unterhalten.« Ahmid hebt beschwichtigend die Hand. »Ehe du gleich wieder in die Schnappatmung kommst: Du musst wirklich nicht viel mehr beisteuern als deine Kanzlei. Und das Ganze ist tatsächlich legal. Fest versprochen. Unabhängig davon ist die Idee aber auch einfach vollkommen genial.«

Natürlich ist sie das. Pirlo gibt sich erst gar keine Mühe, ein tiefes Seufzen zu unterdrücken. Warum auch? Wer weiß schon, wann er mal wieder dazu kommt, wenn hier gleich der übliche Stress losgeht?

Ahmid lässt sich dadurch ohnehin nicht in seinem Schwung bremsen. Er holt tief Luft. Dann folgt in einem Rutsch der Pitch für sein aktuelles Projekt. Erfreulicherweise braucht er dafür nur knappe sechs Wörter. »Ich starte jetzt im Fußball durch!« Seine Augen leuchten. »Na, was sagst du dazu?«

»Wo ist das Wir hin?«

Ahmid sieht ihn irritiert an. »Was?«

»Das Wir. Gerade war es noch da. Jetzt nicht mehr. Also: Wo ist es hin?«

Ahmid rollt mit den Augen. »Alter, gehst du mir auf die Nerven! Du hilfst mir natürlich. Mit deiner Kanzlei. Wallah, wie kann man nur so schwer von Begriff sein? Das haben wir jetzt ja wohl auch genug besprochen!«

Kurz muss Pirlo schmunzeln. »Und das, wobei ich dir da helfen darf, ist also dein großes Durchstarten.«

»Ganz genau.«

»Im Fußball?«

»Exakt.« Ahmid strahlt. Es ist fast rührend. »Also, was sagst du dazu?«

Pirlo beschränkt sich auf das Offensichtliche. Ahmid ist zwar deutlich drahtiger als ihr älterer Bruder Mahmed, der schon seit Jahren eine Gemütlichkeitskugel pflegt, und als Pirlo, bei dessen Gewicht nur die Schwankungen konstant sind. Allerdings ist Ahmid zwei Jahre älter als er. Dazu kommt, dass sich seine sportlichen Talente nach Pirlos Erinnerung seit der Jugend auf eine Kombination der ganz persönlichen Spezialtalente Boxen und Sprint reduziert hatten. Ahmid hatte jemanden geschlagen. Danach war er davongelaufen.

»Meinst du nicht, dass du für eine Karriere als Sportler ein bisschen zu alt bist?«

Ahmid verzieht den Mund. »Doch nicht als Spieler, Mann!«

»Sondern?«

»Als Berater!«

»Als was?«

Ahmid übergeht die Nachfrage. Stattdessen stürzt er sich in eine flammende Ansprache. Auch sie hat er augenscheinlich geübt, wenn auch besser als das Karl-Marx-Gemisch über geflüchtete Menschen und Gleichheit. Oder was auch immer das vorhin sein sollte.

»Das ist eine Goldgrube, Bruder! Wenn man einen guten Spieler hat und ihn verkauft, kassiert man eine Provision. Wenn er bei dem Verein bleibt, bei dem er schon ist, gibt es eine Vertragsverlängerungsprämie. Dazu kommen Werbeeinnahmen, Fernsehinterviews, Sponsorenverträge, Shows, Social-Media-Sachen, und lauter so Zeug. Wichtig ist jedenfalls: Man kann damit einen Haufen Geld verdienen.«

»Aha.«

»Genau. Ernsthaft, Bruder, das System ist ein Traum. Die Berater werden fast immer von den Vereinen bezahlt.« Ahmid tippt hektisch auf seinem Telefon herum. »Um dir mal eine Zahl zu nennen: Allein 2022 sind für internationale Transfers knapp sechshundert Millionen Euro an Beratergebühren geflossen. Sechshundert Millionen, Mann! Und das auch noch komplett sauber!«

Pirlo streicht sich mühevoll eine Strähne aus der Stirn. Der Tropfzugang verträgt sich mehr schlecht als recht mit den langen Haaren.

»Hast du zufällig auch nachgesehen, wie viele Spielerberater es in Deutschland gibt?«

»Klar.« Wieder fliegen Ahmids Finger über das Telefon. »Hier ist es: Aktuell sind im deutschen Markt 1.194 Spielerberater registriert.«

»Und wie viele Spieler sind Profis?«

Ahmid zögert keine Sekunde. »In den ersten drei Ligen sind es 1.585. In den achtzehn Vereinen der Bundesliga stehen 528 unter Vertrag, in den achtzehn der Zweiten Bundesliga sind es 504 und bei den zwanzig aus der Dritten Liga 553.« Dem Herunterrattern der Zahlen schickt er ein breites Grinsen hinterher. »Ich dachte mir schon, dass du mich danach fragst. Der Wert, auf den es dir jetzt ankommt, ist übrigens 1,32.«

»Das ist die Quote von Spielern pro Berater?«

»Ganz genau.«

Für einen Moment sehen sie sich fast überrascht an. Wenn es zur Sache geht, schalten sie schnell. Und zwar beide. Warum aber auch nicht? Die Khatibs sind nicht auf den Kopf gefallen. Man vergisst das nur immer wieder. Allen voran sie selbst.

»Dir ist klar, dass der Markt damit schon für diejenigen, die dort bereits etabliert sind, eng sein dürfte?«

»Sicher«, entgegnet Ahmid. »Das ist ein Haifischbecken, in dem die meisten genug damit zu tun haben, einfach nur nicht unterzugehen.«

Seine Hände trommeln aufgeregt auf Pirlos Bettgestell. Dann scheint er sich dessen bewusst zu werden und sich zu zwingen, das zu stoppen. Kein Zweifel, Ahmid will einen guten Eindruck hinterlassen. Auf einmal. Trotzdem kann er es erkennbar nicht erwarten, dass Pirlo endlich die entscheidende Frage stellt. Die danach, wie das alles dann eigentlich funktionieren soll. Und mit wem.

Als Pirlo damit einfach nicht aus dem Knick kommt, platzt es aus Ahmid heraus: »Aber die haben auch alle keinen Vorvertrag mit Serdar Tuncay.« Sein Grinsen reicht jetzt von einem Ohr bis zum andern. »Und wir schon!«

6.Kopfkartoffeligkeit.

Nach einem unschlüssigen Moment

»Wir?«

Ahmid nickt. »Ich. Du. Deine Kanzlei. Du erinnerst dich, Bruder. Also natürlich wir! Hallo? Hast du eigentlich zugehört? Der Job ist eine Goldgrube! Denkst du etwa, ich mache das allein?«

»Was ist mit Mahmed?«

»Der darf später natürlich auch mitmischen. Wallah, das ist ja wohl klar, Bruder! Wichtig bist jetzt aber vor allem du!«

Womit Ahmid Pirlo auf die Schulter klopft. Wahrscheinlich ist das diesmal sogar freundlich gemeint. Trotzdem explodieren vor dessen Augen einmal mehr unschöne Sterne.

Schon um sich davon abzulenken, fragt Pirlo einfach weiter: »Was hast du mit Serdar Tuncay zu tun?«

Ahmid hat sich schon in Pose geworfen, um mit dem nächsten Vortrag zu starten, unterbricht das allerdings für einen skeptischen Blick. »Weißt du überhaupt, wer das ist?«

»Wir hatten das schon ein paarmal, Bruder. Ich bin weniger weltfremd, als du glaubst.«

Ahmid schüttelt langsam den Kopf. »Du bist ein akademischer Eierkopf, akin. Woher soll ich schon wissen, was du vom Leben verstehst?«

»Darf ich dich daran erinnern, dass das dann auch auf meine von dir angehimmelte Kollegin Sophie zutrifft?«

»Lass die Prinzessin da raus«, raunt Ahmid. »Außerdem ist die Rettung unterwegs.«

»Weil du sie aus dem Eierkopf-Elfenbeinturm befreist und ihr das wahre Leben zeigst?«

»Wenn du es sowieso schon weißt, warum fragst du dann? Und jetzt lenk nicht ab. Serdar Tuncay, Bruder. Sagt der dir was oder nicht?«

Pirlo zieht einen Mundwinkel nach oben. Mag sein, dass seine krankenhausgeprägte Aufmerksamkeitsspanne nicht dafür reicht, Sophie bei der Aktenarbeit zu unterstützen. Den kicker liest er aber trotzdem. Mehr noch, er hat das Fußballmagazin während seiner Kopfkartoffeligkeit geradezu inhaliert. Was hätte er auch sonst tun sollen?

Serdar Tuncay, Jahrgang 2008, in Deutschland geboren, aber grundsätzlich auch für die Türkei spielberechtigt. Sein Vater, Hamza, hat in den Neunzigern dreimal in der Bundesliga für den VfL Bochum gespielt, war dann aber in irgendeinen Skandal verstrickt. Zusammen mit seiner Frau hat er einen Gemüseladen in Unterbilk.

Weil Serdar erst sechzehn ist, gehört er eigentlich noch zur Jugend von Eintracht Düsseldorf, einem Stadtteilverein aus Bilk, der in den letzten zwei Jahren jeweils aufgestiegen ist und jetzt in der vierthöchsten Spielklasse, der Regionalliga, spielt. Aufmerksamkeit haben sie aber vor allem erregt, weil sie sich für die erste Runde des DFB-Pokals qualifiziert, dann mit der Fortuna das Traumlos gezogen und sie sensationell besiegt haben. Das entscheidende Tor hat nach einem typischen Null-Null-Gerumpel kurz vor Schluss der gerade erst eingewechselte Serdar Tuncay mit einem Schlenzer in den Winkel erzielt.

In den Tagen danach hat die POST die Standards rausgehauen: »Wer ist Düsseldorfs neuer Goldjunge?« – »Ganz ohne Nachwuchsleistungszentrum – Wie hat es Serdar Tuncay trotzdem geschafft?« Und, natürlich: »Wie konnte so einer der Fortuna in der eigenen Stadt entgehen?«

»Du siehst«, fasst Pirlo zusammen. »Ich bin im Bilde.«

Ahmid zuckt betont lässig mit den Schultern. »Danke für das Referat, Bruder. Mir ist das alles klar. Ich freue mich aber, dass du auch mal was weißt.«

»Wie auch immer. Du bist jetzt jedenfalls dran. Was hast du mit Tuncay zu tun, und was soll das mit dem Vorvertrag?«

»Welcher Vorvertrag?«

Pirlo dreht an einer Strähne. Schmerz in der Hand hin oder her, er braucht das jetzt. »Der, von dem du gerade gesprochen hast.«

»Ach, das.«

»Genau.«

»Das ist eher eine gefühlte Sache, weißt du?«

»Nein, weiß ich nicht. So, wie ich es kenne, hat man entweder einen Vertrag oder man hat keinen.« Er verlangsamt das Tempo. Ahmid soll folgen können. Ob er will oder nicht. »Also: Hast du einen?«

»Einen Vertrag?«

»Ja.«

Ahmid legt den Kopf schief. »Erinnerst du dich diese Geschichte mit Sandro Tonali?«

Pirlo seufzt. Dann fragt er aber doch nach. Vielleicht führt wenigstens das irgendwohin. »Ist das nicht ein italienischer Nationalspieler?«

»Davon gibt es einige. Aber nicht alle geraten in schlechte Gesellschaft.«

Dann erinnert sich Pirlo. »Diese Sache ist eine kleine Weile her, oder?«

»Oktober 2023.«

»Richtig. Wie war das noch?«

»Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn wegen des Verdachts auf unerlaubte Sportwetten. Am Ende legte er ein Geständnis ab und wurde für zehn Monate gesperrt.«

»Und?«

»Serdar Tuncay hatte ein ähnliches Problem.«

»Hatte?«

»Vergangenheitsform, Bruder«, hilft Ahmid ihm aus. »Was ihn gerettet hat, war, dass er deutlich weniger schlau vorgegangen ist als der Italiener. Er hat seine Wetten nicht online abgegeben, sondern einfach tausend Euro auf eine Niederlage seiner Jugendmannschaft bei einem Anbieter in Klein-Marokko platziert.«

»Wo jeder jeden kennt.«

»Und jeder mich.«

»Wer hat dich informiert?«

»Spielt das eine Rolle?«

Pirlo schmunzelt. »Mein Fehler. Warum hat man gerade dich informiert?«

»Hamza, sein Vater, weiß jedenfalls, dass ich hervorragend vernetzt bin.«

»Und ernsthaft jetzt?«

Ahmid drückt empört die Brust raus. »Das ist mein Ernst.«

»Das qualifiziert dich trotzdem noch nicht dazu, dass man dich ruft, wenn der Junge Scheiß baut.«

»Mich nicht. Aber dich.«

Pirlo lacht. Auch wenn das gleich an verschiedenen Stellen weh tut. »Mich?«

Ahmid zuckt mit den Schultern. Für ihn scheint das hier alles ganz logisch zu sein. »Ist doch klar, wie das läuft. Serdar hat ein Problem. Du bist ein Anwalt.«

»Ich dachte, das Problem sei schon weg?«

Ahmid grinst. »Ist es auch. Der Typ, bei dem Serdar aufgeschlagen ist, hat die Wette gar nicht erst platziert.«

Pirlo schwirrt der Kopf. »Und was hat das dann mit mir zu tun?«

Ahmid trommelt an dem Bettgestell herum. Wenn Pirlo es nicht besser wüsste, würde er fast annehmen, sein Bruder sei verlegen. »Serdar hat ja schließlich schon irgendwie in Schwierigkeiten gesteckt.«

»Und?«

»Da habe ich ihm eben gesagt, dass ich das anwaltlich für ihn kläre.«

»Du? Anwaltlich? Was, zur Hölle, soll das denn bedeuten?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich dich angerufen habe. Den Staranwalt und so weiter.« Ahmids Augen blitzen. Der Übergang zum Angriffsmodus lauert bei ihm immer direkt um die Ecke. »Das erzählst du schließlich sowieso die ganze Zeit über dich selbst.«

Pirlo schluckt kurz. Er weiß, dass er sich jetzt besinnen sollte. Dass es wichtig wäre, zu erfahren, was Ahmid dem Jungen erzählt hat. Dass es eigentlich nur darum geht. Trotzdem fragt er etwas anderes. Etwas, das sogar noch viel wichtiger ist. Zumindest für ihn selbst.

»Was denkt Serdar denn, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen?«

Ahmid verzieht den Mund. »Ruhig Blut, akin. Niemand will dich daran hindern, weiterhin deine Familie, deine Herkunft, deinen Stolz und deine Ehre zu verleugnen. Hamza weiß, dass du mein Bruder bist. Emre weiß es auch. Dem Rest ist es wahrscheinlich einfach egal.«

»Dem Rest?«

»Serdar.«

Pirlo reibt sich über die Nase. Das mag ja irgendwie alles sein und in Ahmids Kopf Sinn ergeben. Aber warum? Und was hat es mit ihm zu tun? »Also soll ich Serdar verteidigen? Ist es das, was du von mir willst?«

Ahmids Miene ist voller Bedauern. Wie kann man nur so schwer von Begriff sein? »Dafür müsste es etwas geben, wogegen man ihn verteidigen müsste. Das ist doch aber gar nicht so. Die Wette wurde schließlich nie eingereicht.« Er sieht Pirlo mitleidig an. »Keine Wette, kein Problem.«

»Was willst du dann von mir, Mann?« Pirlo fällt selbst auf, dass er laut geworden ist.

Ahmid lässt die Gelegenheit zur Eskalation selbstredend nicht liegen. Wie könnte er auch? »Hast du mir überhaupt nicht zugehört?«, pampt er zurück. »Du sollst Serdar beraten, Bruder! Er bringt sich in Schwierigkeiten. Du sollst das verhindern. Das kann ja wohl nicht so schwer zu verstehen sein.«

»Und wie soll ich das bitte machen? Ich bin Strafverteidiger, Ahmid. Von dem, was Spielerberater machen, habe ich nicht die geringste Ahnung.« Pirlo ahnt, was kommt, als er das ausspricht. Verhindern kann er es trotzdem nicht mehr.

Ahmid grinst. »Aber ich.«

7.Henne/Ei.

Zur gleichen Zeit woanders

Sophie kracht mit ihrer rechten Schulter gegen die Scheibe. Trotzdem lacht sie. Und warum auch nicht? Zum einen ist der Schmerz schnell vergessen. Zum anderen gab es dafür in den letzten Wochen so wenig Anlass, dass sie sich fest vorgenommen hat, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Das hier ist eine. Selbst wenn sie mit Jan zu tun hat. Als kleiner Schönheitsfehler ist das allerdings verzeihbar. Außerdem macht er das, was er machen soll, eigentlich ganz gut. Darüber hinaus ist er auch noch freundlich und aufmerksam. So wie zum Beispiel jetzt.

»Ist alles in Ordnung?«, ruft er von der anderen Seite des Feldes herüber.

»Klar«, erwidert Sophie. Sie schüttelt sich und richtet ihren blonden Zopf neu. Dann erwartet sie auch schon wieder den nächsten Aufschlag.

»Sicher, dass du weiterspielen kannst?«, fragt Jan trotzdem noch einmal und fasst damit das Dilemma von ersten Dates ganz gut zusammen. Man kennt sich eben noch nicht richtig. Andernfalls würde er nie im Leben auf die Idee kommen, dass sie hier aufgeben könnte. Nicht, wenn sie, wie jetzt, nach Punkten vorn liegt. Und sonst eigentlich auch nicht.

 

Eine halbe Stunde später steht Sophie unter der Dusche und sammelt ihre Gedanken zu Jan. Er hat sie im juristischen Seminar, der rechtswissenschaftlichen Bibliothek der Heinrich-Heine-Universität, angesprochen. Jan ist groß, blond, erkennbar sportlich. Und vollkommen chancenlos. Was die Frage aufwirft, warum sie sich überhaupt auf das Date eingelassen hat.

Während Sophie sich abtrocknet, einigt sie sich mit sich darauf, dass sie einfach ein Bedürfnis nach Ablenkung hat – und dass das absolut verständlich ist. Leider geht es dabei nicht nur darum, dass ihr Vater zuletzt als mutmaßlicher Serienmörder im Knast gelandet, ihr Patenonkel tatsächlich und ihre Mutter beinahe umgebracht worden waren, und um die Avancen von Max Bischoff oder irgendwas, das mit Pirlo zusammenhängt. Zumindest nicht unmittelbar. Was Sophie eigentlich beschäftigt, ist dennoch das, was sie ihm mitteilen sollte. Allein schon, weil es so verdammt dringend ist.

Der move von Jan kam daher genau zur richtigen Zeit. Dass er sie in der Bibliothek beobachtet hatte, war ihr natürlich aufgefallen. Mehr als einmal hatte er sich einigermaßen entschlossen in ihre Nähe manövriert, dann aber noch einmal abgedreht, womöglich, um den entscheidenden Anlauf mit den genau richtigen Worten zu versuchen. Als der dann kam, war Sophie tatsächlich hinreichend überrumpelt. Was definitiv für ihn sprach.

»Hallo, ich bin Jan. Mein Padel-Partner hat mir gerade für heute Abend abgesagt. Hast du vielleicht Lust, mich später auf dem Platz zu treffen?«

Dabei hatte er so freundlich wie aufgeregt gegrinst, weswegen Sophie beschloss, jedem Anflug von schlechtem Gewissen gegenüber Pirlo erst gar keine Chance zu geben, und einfach direkt zusagte. Ein wenig Bewegung würde ihr guttun. Ein wenig angenehme Gesellschaft, ohne dass irgendwer irgendwen wegen irgendwas umbringen wollte, wahrscheinlich auch. Mittlerweile, zwei Stunden später an der Saftbar des Fitnessstudios, in dem die Padel-Plätze liegen, kann Sophie für sich festhalten, dass das mit der Ablenkung bisher in jedem Fall geklappt hat. Nur, dass sie jetzt nicht wirklich weiß, wie sie höflich bleiben und die Lage trotzdem zügig beenden kann.

Jan unterbricht ihre Gedanken. »Das war ein gutes Spiel.«

»Allerdings.«

»Wie war der Schläger?«

Sophie hatte einen zu dem Platz dazu gemietet. »Gut.«

»Machst du das denn öfter?«

»Nein.«

Sie boxt, schwimmt und läuft lange Distanzen. Als Folge ihrer Kindheit in den besten Kreisen der Stadt weiß Sophie außerdem, wie man Golf unter Par spielt, und hat ein paar Trophäen im Springreiten gewonnen. Sport liegt ihr einfach. Von Padel hat sie bis vor zwei Stunden trotzdem noch keine Ahnung gehabt. Was Jan allerdings nicht wissen muss. Er hat das Spiel schließlich verloren und wird aus dem, was immer er hier im Sinn hat, ebenfalls nicht gerade als Gewinner hervorgehen. Sie wird ihn daher schonen, wo es eben geht.

»Das dachte ich mir schon«, sagt er. »Insofern hätte ich vorhin in der Bib besser aufpassen müssen, wen ich mir als Gegner aussuche, und nicht jemanden fragen sollen, der so fit ist wie du.«

Was kein schlechter Spruch ist. Wirklich nicht. Trotzdem hätte Pirlo das wahrscheinlich anders gemacht. Wie genau, kann Sophie zwar gerade nicht sagen. Aber das, diese anarchische Unvorhersehbarkeit, ist es schließlich auch, was das Miteinander mit ihm so sehr ausmacht. Im Guten wie im Schlechten.

Jan holt sich ihre Aufmerksamkeit zurück. »In welchem Semester bist du denn?«

Was eine wirklich liebenswerte Frage ist. Wenn sie es richtig einschätzt, meint er sie noch nicht einmal flirtend. Wobei: Wirklich alt ist Sophie tatsächlich noch nicht. Die Dreißig war erst vor einem knappen Jahr fällig. Sie ist trotzdem schon seit zwei Jahren erfolgreich als Anwältin unterwegs. Umso schöner ist es, zu hören, dass man ihr den Stress nicht so ansieht, wie sie ihn empfindet.

»Im fünften«, antwortet sie. Einfach so, um zu sehen, was passiert.

Jan nickt. »Dann musst du dich ja bald mit dem Examen befassen.« Sophie lässt das unkommentiert. Das erste Examen ist vier Jahre her, das zweite zwei. Sie hat sich offensichtlich doch ganz gut gehalten.

Für Jan gilt bedauerlicherweise nicht dasselbe. Zumindest nicht für dieses Gespräch. Sie sieht, dass er Anlauf nimmt, und ahnt, was jetzt kommt. Wobei das wahrscheinlich absehbar war. Sie haben sich an der rechtswissenschaftlichen Fakultät kennengelernt. Er findet sie ganz augenscheinlich gut. Die beiden Gesprächsklassiker liegen damit auf der Hand. Der erste ist »Ich-weiß-gar-nicht-warum-ich-Jura-studiert-habe-und-kann-eigentlich-auch-nichts-damit-anfangen«. Er entscheidet sich für den zweiten. Die »Ich-weiß-nicht-ob-Du-es-wusstest-aber-ich-bin-der-Größte«-Variante. Leider.

Es ist die ewige Henne/Ei-Frage. Was vorher da war, lässt sich unmöglich sagen. Die Profilneurotiker oder das Fach. So oder so hat sich beides auf die unangenehmstmögliche Weise vermengt. Sophies Gegenüber dient da als lebendes Beispiel. Auch das wäre Pirlo nicht passiert. Natürlich nicht. Während Sophie auf Autopilot schaltet und ihren Aufbruch vorbereitet, wandern ihre Gedanken einmal mehr zu ihm – und zu dem, was sie dringend besprechen müssen. Ob sie wollen oder nicht.

8.Umm.

Am nächsten Tag

»Ich bin immer noch dagegen.«

Mehr fällt Pirlo nicht ein. Mehr will er eigentlich aber auch gar nicht sagen.

»Jetzt hör halt mal richtig zu«, zischt Ahmid. »Die Idee ist wirklich gut. Versprochen!«

Pirlo zwirbelt an seinen Haaren. »Das kann ja sein. Aber ganz gleich, wie brillant sie ist und was da alles drin sein könnte, am Ende hat das alles auch mit dir zu tun. Und deswegen ist meine Antwort klar.«

»Gestern klang das aber noch ganz anders. Sobald du was Legales machst, unterstütze ich dich natürlich in jeder Form, mein geliebter Bruder.«

»Das habe ich so nicht gesagt.«

»Aber gemeint.

»Als ob.« Pirlo setzt sich auf. Heute klappt das erstaunlich viel leichter. Womöglich hat Ahmids Besuch ihm neuen Schwung gegeben. Auch wenn er das ihm gegenüber ganz bestimmt nicht zugeben würde. »Außerdem war ich gestern nicht ganz Herr meiner Sinne.«

Ahmid verdreht die Augen. »Du bleibst also bei deinem Nein?«

»Ja.«

»Also doch ja?«

»Nein. Und hör auf mit diesem albernen Scheiß. Wir sind keine kleinen Kinder mehr.«

»Du verhältst dich aber wie eines.«

»Wieso das denn?«

»Das frage ich dich!«

Dann fängt sich Ahmid wieder. Er versucht es zumindest, rückt dazu seinen Stuhl näher und legt alle Dringlichkeit in die Stimme, die ihm nach einer halben Stunde Grundsatzdebatte noch zur Verfügung steht. »Komm schon, Ramzes, eigentlich ist dir doch klar, dass es funktionieren wird. Du weißt es einfach! Alles, was wir brauchen, sind meine Fähigkeiten als Menschenfänger und deine Lizenz.«

»Ha!«

Erst der bewegliche Tropf bremst den Schwung von Pirlos Hand. Was er damit vorhatte, bleibt daher unklar. Auch für ihn selbst.

Kurz sehen die Leute am Nebentisch noch indigniert rüber. Dann sind die beiden Schwarzköpfe aber auch schon wieder hinreichend uninteressant.

Gut so. Schon weil es Pirlo mehr Zeit und Raum für seinen Frust lässt. Was er beides auch dringend braucht. Während der ganzen Tage im Krankenhaus haben seine Gedanken darum gekreist, was er unternehmen wird, wenn er wieder mobil ist. Fast immer hatten sie sich um Sophie gedreht. Dass sie miteinander spazieren gehen würden. Ein Gespräch führen. Vielleicht sogar was arbeiten. So weit, die Sache mit dem Sich-Berühren wieder aufzunehmen, hatte sich Pirlo nicht mal gedanklich vorgewagt. Aber wer konnte schon wissen, was passierte, wenn man spazierte, ein Gespräch führte oder miteinander arbeitete?

Das, was stattdessen stattfindet, ist dagegen ungefähr das Letzte, was auf Pirlos Rekonvaleszenz-Wunschliste aufgetaucht wäre. Da es regnet, sitzt er in der lärmenden Krankenhauscafeteria. Mit einem sperrigen Tropf. Und einem schwerst agitierten Ahmid. Der sich übrigens gerade selbst überführt hat.

»Ha«, bekräftigt Pirlo daher seine Entrüstung, wenn auch jetzt schon mit deutlich weniger Elan.

»Was soll das denn schon wieder?«

»Das ist es, worauf es dir eigentlich ankommt!«, raunt Pirlo zornig.

»Was?«, fragt Ahmid übertrieben unschuldig.

»Du hast diesen Jungen an der Angel und brauchst jetzt jemanden, der nach außen mit einem guten Namen auftritt.«

»Darüber haben wir doch gestern schon gesprochen, Bruder. Du erinnerst dich nur nicht mehr. Die Medikamente und so.«

Pirlo geht auf Ahmids Ausweichmanöver gar nicht erst ein. In welche Richtung sie sich bewegen könnten, hat sich ohnehin abgezeichnet. Weswegen er in der Nacht seine Hausaufgaben gemacht hat. »Man benötigt als Spielerberater keine Lizenz mehr.«

»Das weiß ich.«

»Ich meine das ernst.«

Ahmid nickt. »Ja, ich auch, Bruder. Ich weiß es wirklich.« Er kramt sein Telefon hervor und scrollt mit flinken Fingern durch eine große Zahl von Screenshots. »Glaubst du etwa, ich habe mir das nicht alles angesehen, oder was? Hier: Man braucht keine Zulassung mehr. Ein Rechtsanwalt muss man auch nicht mehr sein.«

»Warum lässt du mich dann nicht einfach in Ruhe?«

Ahmid starrt ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der irgendwo zwischen gereizt und ertappt changiert. Dann sacken allerdings seine Schultern ab. Er beugt sich vor und scheint noch einen ruhigen Anlauf nehmen zu wollen. Pirlo hofft einfach, dass es auch wirklich der letzte ist.

»Hamza und seine Frau wissen natürlich, dass Serdar ein absoluter Glücksfall ist. Der Junge ist nicht nur talentiert, er sieht auch noch gut aus. Auf Instagram und TikTok folgen ihm über achthunderttausend Leute.«

»Wie viele?«

Ahmid nickt. »Genau so habe ich das erste Mal auch reagiert.« Er nimmt einen Schluck Kaffee und sieht auf die Uhr. Kurz hofft Pirlo, dass ihn ein anderer Termin seines Bruders erlöst. Dann fährt Ahmid aber doch fort: »Serdar hat ein riesiges Potenzial. Die POST hat nach seinem Tor gegen die Fortuna eine Fotostrecke über den ›neuen Poldi‹ gebracht. Ich muss dir ja wohl nicht erklären, wie viel Geld sich damit machen lässt!« Ahmid fällt offenbar selbst auf, dass er sich hat mitreißen lassen. Es geht daher etwas ruhiger weiter: »Das ist natürlich auch einer Menge anderer Leute bewusst. Wir brauchen uns nichts vorzumachen: Wer immer den Jungen unter Vertrag nimmt, kann bald sein eigenes Geld drucken.« Ahmid senkt die Stimme. »Wie immer, wenn viel Geld im Spiel ist, zieht das aber auch eine Menge fragwürdiger Gestalten an.«

Pirlo versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er kann über diesen Satz auch noch später lachen.

Ahmid bleibt sowieso weiter hoch konzentriert. »Allerdings hat Serdar mehr als deutlich erkennen lassen, dass ihm nicht klar ist, welche Verantwortung er jetzt hat, wo Grenzen liegen, was richtig und was falsch ist und so weiter. Das ist die Stelle, an der wir ins Spiel kommen.«

»Ich verstehe. Wenn jemand einem jungen Menschen erklären kann, wo Grenzen liegen und was richtig und was falsch ist, dann ja wohl du.«

»Haha. Kannst du nicht ein Mal ernst bleiben?«

Pirlo leert seine Tasse. »Keine Ahnung. Kannst du?«

Ahmid seufzt. »Ich kann Serdar jedenfalls im Alltag unterstützen, ihm bei Behördengängen helfen, mich darum kümmern, dass er Termine wahrnimmt, ihn wohin fahren und so.«

»Du meinst, du kannst Serdars Mädchen für alles sein.« Pirlo grinst.

Zu seinem Erstaunen nickt Ahmid allerdings nur. »Ich würde es anders nennen, aber klar, wenn es sein muss, dann bin ich genau das. Alles, was du