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Ingo Bott

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Beschreibung

Zeugen gelten zu Recht als das unsicherste aller Beweismittel. Manchmal sagen sie die Wahrheit. "Pirlo - Falsche Zeugen" ist der zweite Fall für Strafverteidiger Anton Pirlo und seine Partnerin Sophie Mahler von Strafverteidiger Dr. Ingo Bott Rainer Waßmer ist tot. Er war der Anführer einer Nazi-Rocker-Bande, mit denen die Clan-Familien in Düsseldorf eigentlich bisher in friedlicher Ko-Existenz lebten. Bis jetzt. In der Nacht hatten sich Clans und Rocker ein kleines Gefecht geliefert. Nichts Ernstes. Nur mal klarstellen, wo jeder steht. Doch nun ist Waßmer tot, und Faruk Maliki, Thronfolger einer bedeutenden Clan-Familie, wird des Mordes beschuldigt. Er braucht dringend einen Anwalt. Oder eine Anwältin. Oder am besten gleich beide. Pirlo und Sophie suchen fieberhaft nach Beweisen, die ihren Mandanten entlasten könnten. Dabei geraten sie selbst in Lebensgefahr und zwischen alle Fronten. »Lesen mit Spaßfaktor und guter Spannung bis zum Abschlussplädoyer.« Marion Hübinger/Buchpalast

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Ingo Bott

Pirlo - Falsche Zeugen

Der zweite Fall für die Strafverteidiger Pirlo und Mahler

Kriminalroman

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Zeugen gelten zu Recht als das unsicherste aller Beweismittel. Manchmal sagen sie die Wahrheit.

Der zweite Fall für Strafverteidiger Pirlo und seine Partnerin Sophie Mahler.

Rainer Waßmer ist tot. Er war der Anführer einer Nazi-Rocker-Bande, mit denen die Clan-Familien in Düsseldorf bisher in friedlicher Ko-Existenz lebten. Bis jetzt. In der Nacht hatten sich Clans und Rocker ein kleines Gefecht geliefert. Nichts Ernstes. Nur mal klarstellen, wo jeder steht. Doch nun ist Waßmer tot, und Faruk Maliki, Thronfolger einer bedeutenden Clan-Familie, wird des Mordes beschuldigt. Er braucht dringend einen Anwalt. Oder eine Anwältin. Oder am besten gleich beide. Pirlo und Sophie suchen fieberhaft nach Beweisen, die ihren Mandanten entlasten könnten. Dabei geraten sie selbst zwischen die Fronten.

Biografie

 

 

DR. INGO BOTT ist nicht Dr. Anton Pirlo. Es ist aber davon auszugehen, dass er ihn gut kennt. Beide leben in Düsseldorf. Beide haben eine Wohnzimmerkanzlei gegründet. Über Ingo Bott ist einiges bekannt. Er war erst Partner in einer Wirtschaftskanzlei. Danach hat sich seine Wohnzimmergründung zu einer renommierten Kanzlei mit einem großen Team entwickelt. Man kennt ihn als Verteidiger von Unternehmen und Privatpersonen in vielen namhaften Fällen. Die WirtschaftsWoche listet Ingo Bott als einen der renommiertesten Anwälte im Wirtschaftsstrafrecht und die von ihm gegründete Einheit als Top Kanzlei in den Bereichen Wirtschaftsstrafrecht und Compliance. Ingo Bott hat den Europarat in Strafrechtsfragen vertreten und hält Vorträge im In- und Ausland. Er liebt Sprache und schreibt Romane.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Zeugen gelten zu Recht als das unsicherste aller Beweismittel. Manchmal sagen sie die Wahrheit.

»Übrigens, Doktor, brauche ich Ihre Mitarbeit.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Es macht Ihnen nichts aus, das Gesetz zu brechen?«

»Nicht im mindesten.«

»Oder Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden?«

»Nicht, wenn es um eine gute Sache geht.«

»Oh, die Sache ist hervorragend!«

»Dann bin ich Ihr Mann.«

»Ich war sicher, dass ich mich auf Sie verlassen kann.«

»Aber was soll ich tun?«

 

Sir Arthur Conan Doyle – Die Fälle des Sherlock Holmes (»Ein Skandal in Bohemia«)

Das Strafverfahren unterteilt sich in drei große Phasen: Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren und Hauptverfahren. In jedem davon steht es um den Betroffenen ein kleines bisschen schlimmer. Es ist daher die Aufgabe der Verteidigung, in jeder Phase für den Mandanten zu kämpfen. Wenn ihr das denn gelingt.

 

Werner Arland, Philosophie der Strafverteidigung, 1992

Ermittlungsverfahren

1.Casino

20.11.

Pirlo dreht an seinen Haaren. Der Kerl geht ihm auf die Nerven. Und zwar gewaltig. Die Gefahr, dass das jemandem auffällt, ist allerdings gering. Holst starrt auf den Pokertisch. Frege hält sich an einer Säule fest. Meurer haben sie in einem Sessel abgelegt. Besonders stilvoll ist das alles nicht. Im Dortmunder Casino kommt es darauf aber auch nicht wirklich an. Zu seiner Zeit bei Ohmsen hatte Pirlo mal mit einem Bankier einen Abend in der Spielbank Baden-Baden verbracht. Dort gab es eine Krawattenpflicht. Hier gilt auch der Ballonseidenzweiteiler als Anzug.

Der Kerl lärmt und holt Pirlo aus seinen Suffgedanken zurück. Ob er will oder nicht: Er schaut hin. Genau wie alle anderen. Wozu auch Holst gehört. Der sich Fragen stellt. »Faszinierend, oder?«

»Klar«, sagt Pirlo. Er hat keine Ahnung, was Holst meint. Das spielt aber auch keine Rolle. Holst heiratet. Frege hat den Junggesellenabschied organisiert. In Dortmund. Es hätte naheliegendere Orte gegeben. Jedenfalls, wenn man Pirlo gefragt hätte. Hat aber keiner. Wahrscheinlich waren die anderen überrascht genug, dass er überhaupt aufgetaucht ist. Eigentlich war der Tag auch ganz in Ordnung. Fußballmuseum. Kreuzviertel. Stadion. Allmählich taumelt die Sache aus. Wenn Holst da noch etwas faszinierend finden will, soll es Pirlo recht sein. Dazu veranstalten sie das hier ja überhaupt nur.

»Was für ein spannendes kleines Arschloch«, murmelt Holst. Woraufhin Pirlo dann doch lachen muss. Das Studium ist zwar lange her. Holst und er sind sich in den wesentlichen Fragen aber immer noch einig. »Warum lassen sie überhaupt zu, dass er sich hier so aufführt?«

Pirlo zuckt mit den Schultern. Er hat keinen Bock auf eine Antwort. Klar, der Dreikäsehoch führt sich hier auf wie die Axt im Wald. Er grölt. Er säuft. Er nervt. Aber er sieht eben auch aus wie einer von den Malikis. Mit denen man keinen Stress haben will. Nicht als Casino Dortmund. Und auch sonst nicht. Dann fällt Pirlo doch noch eine Erklärung ein. »Ist wahrscheinlich gut fürs Geschäft.«

Tatsächlich versenkt der Kerl in jeder Runde ein paar hundert Euro. Was ihm ebenso egal zu sein scheint wie der blonden Mitdreißigerin, die entrückt in die Hände klatscht, wenn sie ihm eine neue Rum-Cola holen darf. Holst nickt. Er kann es trotzdem nicht gut sein lassen. Hinter den Augen rumoren ein paar Liter Herrengedeck. Und die wollen ermitteln. Offensichtlich. »Siehst du, was der da auf der Hand hat? Da ist doch auch eine Tätowierung!«, flüsterschreit Holst durch den Raum. Pirlos Blick tastet die Umgebung ab. Bisher hat keiner Notiz von ihnen genommen. Holst ist allerdings auch noch nicht fertig. Leider. »Was meinst du«, rabuliert er, »gehört der kleine Sack zu einem Clan?«

Pirlo spart sich eine Antwort. Im Hintergrund schälen sich zwei massige Gestalten aus dem Halbdunkel. Das genügt als Motivationsspritze, dem Abend hier ein flockiges Ende zu bereiten. Pirlo schnappt Holst am Kragen. Auf dem Weg nach draußen tippt er Frege und Meurer an. Kurz darauf atmen sie dampfend kalte Winterluft. Bei Holst befeuert das die Rauschkanone. »Habt ihr das gesehen? Der Junge geht da drin allen auf die Nerven und kann trotzdem machen, was er will!« Er hakt seine Freunde unter. »Leute, in einem Clan müsste man sein. Machen, was du willst, und alle kuschen. Dein ganzes Leben ein einziger Spaziergang.«

»Meinst du wirklich, dass das so funktioniert?«, fragt Frege. Der Skeptiker. Immer schon.

»Klar!« Holst nickt. Er dreht sich zu Pirlo. »Was denkst du, Toni?«

»Manche sagen so, manche sagen so.« Pirlo schaut in fragende Gesichter. Er setzt sein breitestes Lächeln auf. »Wer hat noch Bock auf einen Stripclub?«

Alle Blicke gehen zu Holst. Der nickt. Grinst. Und kotzt ins Gebüsch. Womit das Thema mit den Clans durch ist. Wenigstens für diesen Abend. Zumindest denkt Pirlo das.

2.Doppeladler

Ein paar Stunden später. Immer noch im Dunkeln

Als Pirlo aufwacht, ist er überrascht, dass er überhaupt eingeschlafen ist. Wirklich mitbekommen hat er das nicht. So oder so: Lange kann es nicht gedauert haben. Draußen ist es immer noch dunkel. Außerdem hat er nach wie vor sein Hemd an. Immerhin ist er zu Hause. In Düsseldorf. Allein. In der Wohnung. An deren Tür jemand klingelt. Mühsam quält er sich zur Sprechanlage.

»Ja?«

»Bitte machen Sie auf!«

»Was wollen Sie?«

»Ich muss mit einem Anwalt sprechen.«

Pirlo zögert. Der Klingler klingt gestresst. »Ich bin gerade nicht auf der Höhe meiner Form«, brummt Pirlo.

»Das ist mir egal. Lassen Sie mich rein!« Es dauert einen Moment. »Bitte!«

Pirlo seufzt. Anwälte haben nicht so etwas wie einen hippokratischen Eid geleistet. Er muss hier nicht helfen. Trotzdem drückt er auf den Öffner. Wenn schon Anwalt, dann wenigstens richtig. Selbst wenn er es bereut. Jedenfalls jetzt gerade. Und eine Minute später erst recht. Vor ihm steht der Kerl. Der Kerl. Der Halbstarke aus dem Casino. Nur dass er jetzt nicht mehr großkotzig und selbstgefällig aussieht. Sondern richtig beschissen. Zumindest so lange, bis er schnallt, woher er Pirlo kennt. »Alter, du warst doch auch im Casino!«, krakeelt er durch den nachtschlafenden Hausflur.

Pirlo verdreht die Augen. Dann zieht er den Kerl in die Wohnung und setzt ihn dort aufs Sofa. Er streicht die verpennten Haare aus dem Gesicht, zieht einen Stuhl in die Raummitte und setzt sich verkehrt herum darauf. Die Lehne gibt den Armen Halt. Das sieht nicht nur cool aus. Es ist auch überlebenswichtig. Der letzte Kurze ist keine drei Stunden her. Im mit Frege geteilten Taxi nach Düsseldorf gab es noch ein Absackerbier. In Pirlos Kopf metamorphost das alles langsam zu einem gewaltigen Kater. Pirlo fährt sich über die Augen und erarbeitet sich durch den Nebel einen halbwegs klaren Blick auf seinen Besucher.

»Also?«

Der Kerl hat sich immer noch nicht im Griff. Panik und Aufregung tanzen Tango. »Du warst auch im Casino! Und jetzt sehen wir uns hier. Weird, Alter!« Der Blick flackert. Was am Koks liegen dürfte. Zumindest vermutet Pirlo das. Er lässt die Finger davon. Seine Brüder haben in Sachen Kokain eine kleine Meisterleistung hingelegt. Das reicht ihm als schlechte Erfahrung. Und dazu mussten sie es noch nicht einmal selbst nehmen.

Pirlo atmet durch. »Pass auf. Du hast eine Minute. Entweder kommst du klar und sagst, was Sache ist, oder du stehst wieder auf der Straße. Und dann kannst du klingeln, so viel du willst.«

Der Kerl drückt den Rücken durch. »Hey, ich bin Faruk Maliki.«

»Und?«

»Faruk Maliki, Mann! Sag nicht, du weißt nicht, wer ich bin!«

Pirlo sieht auf die Uhr. »Eine Minute ist rum, Faruk Maliki. Raus mit dir!«

»Das kannst du so nicht machen!«

Pirlo steht auf. Er stemmt mehr Gläser als Hanteln. Wenn er will, ist trotzdem Ruhe im Karton. Man kann von dieser Sache mit den Genen halten, was man will. Sie hat nicht nur Nachteile. Maliki ist klar, dass es Zeit ist, das Gekaspere zu beenden. »Ich bin hier, weil ich einen Verteidiger brauche.« Plötzlich wirkt er so unsicher, wie er ist. »Ich brauche einen Verteidiger, weil die sagen werden, dass ich einen umgebracht habe. Aber ich war das nicht. Ich schwör.«

Pirlo legt die Stirn in Falten. Er schleppt sich in die Küche und setzt Wasser für einen Mokka auf. Als er zurückkommt, drückt er Maliki ein Glas mit dunkler Flüssigkeit in die Hand.

»Keinen Alkohol«, sagt Maliki kleinlaut. »Bitte.«

»Das ist Cola. Trink das. Es hilft, dass du den Kopf freibekommst. Der Kaffee braucht noch.« Maliki trinkt. Die Hand mit der Tätowierung zittert. Das Motiv ist ein Doppeladler. Pirlo deutet darauf. »Faruk Maliki von der Maliki-Familie? Tirana në zemër?«

Maliki nickt. Pirlo nimmt es zur Kenntnis. Er kann nicht besonders viel Albanisch. Für den Satz reicht es trotzdem. Tirana im Herzen. Das kennt man. Zumindest als Strafverteidiger.

»Also, was ist los?«

Maliki leert das Glas. »Vorhin war ich im Casino. Aber das weißt du, du warst ja auch da.«

»Sie«, sagt Pirlo.

»Was?«

»Sie. Du sagst nicht, Du warst da, sondern Sie waren da.«

»Sie waren da?«

»Genau. Sie, Herr Dr. Pirlo.«

»Im Ernst?«

»Reiß dich zusammen. Konzentrier dich. Stell keine Fragen, deren Antwort du kennst. Erzähl weiter.«

Maliki nickt. »Sie wissen ja, dass ich da war. Ich glaube, Sie sind aber gegangen, bevor die Nazis gekommen sind.«

»Die Nazis?«

»Wir nennen die so.«

»Warum?«

»Weil sie Nazis sind.«

Pirlo grinst und seufzt gleichzeitig. Manchmal geht das. »Und was macht sie zu Nazis?«

»Immer wütend. Hass auf Ausländer. Bock auf Hitler. Nazis halt.«

Pirlo nickt. Für den Moment kann er das mal so stehen lassen. »Und dann?«

»Dann gab es Stress.«

»Warum?«

»Die haben sich auch an den Pokertisch gesetzt.«

Pirlo ahnt, was kommt. »Und dich fanden sie nicht so gut.«

Maliki sieht auf seine Hände. »Eher nicht.«

Pirlo holt den Kaffee. Vor dem Küchenfenster wird es langsam hell. Als er zurückkommt, wirkt Maliki grau. Was immer vorher drin war, findet langsam seinen Weg hinaus.

»Gab es Theater?«

Maliki nickt. »Eigentlich nicht viel. Sie haben aber keine Ruhe gegeben. Dann haben wir gesagt, dass wir uns auf dem Parkplatz treffen.«

»War das auch so gemeint?«

»Natürlich nicht«, antwortet Maliki so spontan wie ehrlich. »Aber es kam trotzdem so. Wir sind gegangen, die sind gegangen. Dann waren wir da. Fünf von uns. Ein paar von denen.«

»Ein paar?«

»Ja, auch so fünf. Vielleicht auch vier. Was weiß denn ich?«

»Weiter.«

»Die haben uns dann halt so provoziert. Sprüche gedrückt und so.«

»Und weiter?«

»Nichts und weiter! Ich schwör. Die so: scheiß Albaner. Wir so: scheiß Nazis. Die: alle ins Gas. Wir: Alter, wir ficken deine Mutter. Nichts Schlimmes.«

»Was ist dann das Problem?«

»Rainer Waßmer ist tot.«

Pirlo runzelt wieder die Stirn. Diesmal sogar ganz ohne Gefahr. Waßmer ist tot. Pirlo kennt den Namen. Dass der Anführer nicht mehr lebt, dürfte für sie ein harter Schlag sein. Dass Maliki hier sitzt, weil er fürchtet, dass man ihn dafür für verantwortlich hält, ist auch nicht gut. Sogar ganz und gar nicht. »Und du glaubst, dass man dir die Schuld gibt?«

»Ja, Mann.«

»Warum?«

»So was weiß man eben.« Pirlo wartet. Maliki seufzt. »Einer von den Nazis hat es uns gesteckt. Auf Telegram. Sie wissen schon. Wir haben unsere Kontakte. Ist ja normal. Der hat uns das jedenfalls gesagt. Aber nicht im Guten. Eher so: Rainer ist tot! Ihr habt ihn getötet! Es war der Junge! Wir machen euch fertig! Auf die Art eben.«

»Wie kommen sie darauf, dass du etwas damit zu tun hast?«

Maliki starrt auf seine Hände. Der Doppeladler zittert. »Auf dem Parkplatz hab ich halt gerufen, dass ich den umbringe und so. Dass ich den absteche. Aber das hab ich natürlich nicht so gemeint!«

»Nein?«

»Nein! Das sagt man eben so. Mann, Dr. Pirlo, das müssen Sie mir glauben.«

Pirlo trinkt seinen Kaffee aus. Dann steht er auf.

»Wo gehen Sie hin?«

»Ich muss jemanden anrufen.«

»Und was mach ich?«

»Kaffee trinken. Klarkommen. Ich bin gleich wieder da.«

3.Interview

Auch im Dunkeln, aber woanders

Sophie ist schon wach. Sie hat schlecht geschlafen. Was am Internet liegt. Mal wieder. Auch wenn es sich anders anfühlt. Es ist erst ein halbes Jahr her, dass Pirlo sie allein vor dem Düsseldorfer Schwurgericht hat stehen lassen, gleich am ersten Verhandlungstag im Mordprozess gegen Marlene von Späth. Später hatte er ihr die Berichterstattung dazu gezeigt. Die Medien hatten sie als junge, blonde Poweranwältin gefeiert. An diesem Abend hatte sie das erste Mal ihren eigenen Namen gegoogelt. Ein paar Wochen später, nach dem spektakulären Freispruch, wieder. Und seitdem fast jeden Tag. Sie kann selbst nicht sagen, warum sie das macht. Aber es ist so. Dabei gibt es für ihr Eigengestalke noch nicht einmal einen Grund. Klar, kurz nachdem der spektakuläre Freispruch erreicht war, hatte sich das Internet noch ein paar Tage überschlagen. Auch am Wochenende danach gab es von ihr noch einmal ein großes Porträt in der POST. Danach aber: nichts mehr.

»Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.« Das war eine der größeren Weisheiten ihrer Mutter. Richtiger war wohl: Nichts ist so alt wie das Internet von vor drei Minuten. Weswegen es eigentlich keinen Grund gibt, sich selbst zu googeln. Sophie weiß das. Und macht es trotzdem. Wobei: Allzu viel anderes gibt es auch nicht zu tun. Manu arbeitet nach wie vor als Arzt in Mali. Pirlo sieht sie den ganzen Tag in der Kanzlei. Viel mehr ist nicht los. Sie wacht auf, macht Sport, duscht, radelt in die Kanzlei, setzt sich an den Schreibtisch und steht von dort auf, wenn sie die Augen nicht mehr aufhalten kann. Dann fährt sie nach Hause und fällt ins Bett. Sich selbst im Internet zu suchen ist im Vergleich dazu fast eine Art Freizeiteskalation. Zumal es sonst keine gibt. Jedenfalls dann, wenn sie das sonntägliche Mittagessen bei ihren Eltern weglässt. Und die Samstage, an denen sie überlegt, ob sie sich das überhaupt antun will. Der aktuelle macht da keine Ausnahme. Erst recht nicht nach dem, was sie gerade gelesen hat. Es ist aber auch zu gemein. Da hat Google mal einen neuen Treffer. Und dann ist es so was. Ein Interview ihres Vaters. Das für sich genommen ist noch keine Seltenheit. Das Thema allerdings schon. Es geht um sie. Sophie. Was nicht gut ist.

Schon die pompöse Ankündigung findet sie schwierig. Ein Interview der Freien Wirtschaft mit ihrem Vater. Ernst Mahler. Dem Ernst Mahler. Gründungspartner von Müller & Mahler, einer der größten Anwaltssozietäten Europas. Filialen überall auf dem Kontinent, dazu noch die ein oder andere auf der sonstigen Welt verstreut. Ernst Mahler, der Vater von Patrick und Sophie Mahler. Patrick, Kronprinz und designierter Erbe der Kanzlei, der vor vier Jahren bei einem Segelunfall ums Leben gekommen ist. Sophie, die sich weigert, in die berühmten Fußstapfen zu treten, und stattdessen mit Pirlo eine Strafverteidigerkanzlei betreibt.

»Wobei ich das nicht schlecht finde«, erklärt Ernst Mahler. »Aber natürlich auch nicht gut. Ich habe meine Tochter immer als erfolgreiche Anwältin gesehen. Nur eben als eine in meiner eigenen Kanzlei.« Sophie kann das darauffolgende, vornehm hüstelnde Lachen des Interviewenden geradezu hören.

»Wie haben Sie den Erfolg Ihrer Tochter im Prozess gegen Marlene von Späth gesehen?«

»Ich war natürlich stolz auf sie. Sie hat alles genau so gemacht, wie ich es erwartet habe.«

»Also haben Sie sie in dieser schweren Zeit beraten?«

»Sie wissen, wie das mit Eltern und Mentoren ist: Es ist gut, sie zu haben, auch wenn man nicht gern über sie spricht.«

Sophie kann ihren Vater lachen hören. Hat er also doch mal wieder allen ein Schnippchen geschlagen. Seine Tochter gewinnt das große Verfahren, und er räumt die Lorbeeren ab. Grundlos natürlich. Aber wahrscheinlich genau darum umso lieber. Sophie beschließt, die aufkommende Wut mit Kaffee zu ertränken. Schlaf gibt es jetzt für sie sowieso nicht mehr. Kaffee allerdings auch nicht. Als sie sich aufsetzt, um aus dem Bett zu steigen, brummt das Telefon.

»Schon wach?«, fragt Pirlo.

»Ich hatte das Handy zumindest schon in der Hand. Was gibt’s?«

»Kannst du vorbeikommen?«

»Wann? Jetzt?«

»Ja.«

»In die Kanzlei?«

»Zu mir nach Hause. Hier sitzt ein möglicher neuer Fall.«

Sophie gähnt. Die Ablenkung ist mehr als willkommen. Auch wenn Pirlo das nicht unbedingt wissen muss. »Was hat er denn zu bieten?«

»Überraschendes.«

»Ist das nicht immer so?«

Pirlo lacht. Dann legt er auf.

 

Während sie schnell duscht, kreisen Sophies Gedanken um Pirlo und dessen Überraschungen. Eine davon trägt sie schon seit Monaten mit sich herum. Kurz nach dem Freispruch im Von-Späth-Verfahren hat sie einen anonymen Brief erhalten, dem ein Foto beilag. Die am unteren Rand abgedruckten Daten zeigten, dass es wenige Stunden vor dem letzten Verhandlungstermin aufgenommen worden war, unmittelbar vor der Vernehmung des Hauptbelastungszeugen Danzinger. Unmittelbar nach einem Einbruch bei ihm. In der Verhandlung hatte Pirlo Unterlagen präsentiert, die Danzinger in Schwierigkeiten brachten, zuvor allerdings nirgendwo zu finden gewesen waren. Außer möglicherweise bei Danzinger selbst.

Das Foto zeigt drei Männer. Einer sieht aus wie Ahmid Khatib. Ein Clan-Gangster. Ein anderer ist Pirlo. Seitdem weiß Sophie nicht, wie sie ihn darauf ansprechen soll. Immer wieder hat sie sich fest vorgenommen, ihn einfach rundheraus zu fragen, was er mit Khatib zu tun hat. Was sie dann aber nicht macht. Wobei sie selbst rätselt, warum eigentlich nicht. Schließlich ist er auf dem Foto, nicht sie. Es gibt also keinen Grund für sie, sich damit schwerzutun. Trotzdem ist es so. Dazu kommt, dass viele Fragen offen sind. Denn irgendjemand hat das Foto geschossen, und irgendjemand hat es ihr auch geschickt. Aber warum? Und warum ganz offensichtlich sonst niemandem? Wochenlang hat sie damit gerechnet, dass die Polizei vor der Tür der Kanzlei stehen werde. Wochenlang ist trotzdem nichts passiert. Und irgendwann, irgendwie, hat sie sich währenddessen daran gewöhnt, im Dunkeln zu tappen. Es war schließlich auch genug anderes los. Erst der Medienrummel, dann die Suche nach Räumen, weg von Pirlos Wohnzimmer, hin zu einer richtigen Kanzlei in der Altstadt, die Einrichtung dort, die Arbeit mit neuen Mandaten, all das eben. Der richtige Zeitpunkt dafür, Pirlo nach der Khatib-Sache zu fragen, hatte sich dadurch einfach nicht ergeben. So jedenfalls erklärt sich Sophie das selbst. Es klingt auf diese Art auch besser, als wenn sie darüber nachdenkt, ob sie bisher nicht einfach ein kleines bisschen feige war.

Als sie aus der Dusche kommt, schüttelt sie mit dem Wasser auch ihre Gedanken ab. Nichts ist gegenwärtiger als der aktuelle Fall. Insofern ist es gut, dass es davon ständig neue gibt.

4.Ganz schön gefickt

Eine halbe Stunde später

»Hallöchen«, sagt Faruk Maliki, als Sophie die Wohnung betritt. Das ist kein Scherz. Er sagt das wirklich.

Pirlo verdreht die Augen. Er hat den dritten Kaffee im System. Langsam fühlt er sich wieder nüchtern. Und genervt. Je mehr er von Faruk Maliki mitbekommt, desto stärker sinkt die Laune.

»Hallöchen wie in: Hallöchen, schöne Frau.« Maliki grinst.

Sophie starrt ihn entgeistert an. »Mein Name ist Sophie Mahler. Ich arbeite mit Herrn Dr. Pirlo zusammen. Ich bin Rechtsanwältin für Strafrecht.«

»Das mit dem Strafrecht liegt bei dir sicher in der Familie.«

»Warum?«, fragt Sophie so instinktiv wie irritiert.

»Na, weil dein Vater ein Dieb sein muss.« Maliki strahlt. »Immerhin hat er die Sterne vom Himmel gestohlen und dir in die Augen gesetzt, babe.«

»Ich heiße nicht babe«, antwortet Sophie ruhig, »sondern Sophie Mahler. Für einen Schluck Wasser in der Kurve wie dich auch gern Frau Mahler. Noch besser: Frau Rechtsanwältin Mahler. Die übrigens langsam mal wissen will, was hier los ist.«

Pirlo schaltet sich ein. »Das ist Faruk Maliki, ein Sprössling der Maliki-Familie. Gestern Nacht gab es Streit mit einer rechten Rockergang. Etwas später wurde deren Anführer erstochen. Faruk hat von einem Spitzel bei den Rockern erfahren, dass sie ihn verdächtigen und ihm die Polizei auf den Hals hetzen wollen. Deshalb ist er hier. Er braucht einen Verteidiger.«

»Und warum kommt er zu uns?«

»Er kennt uns aus dem Fernsehen«, sagt Pirlo. Glücklich sieht er dabei nicht aus. Er ist es auch nicht. »Er sagt, er brauche Hilfe. Und er geht nicht mehr weg.«

»Jetzt erst recht nicht mehr«, nuschelt Maliki und zwinkert Sophie zu.

Pirlo beschließt, dass er noch mehr Kaffee braucht. Aus der Küche hört er, wie Sophie die weiteren Fragen stellt.

»Hast du ein Alibi?«

»Warum dürfen Sie mich duzen, und ich muss Sie siezen?«, fragt Maliki.

»Weil wir erwachsen sind und uns auch so verhalten. Wohingegen es bei dir wirkt, als seist du ungefähr zwölf.«

»Ich bin zweiundzwanzig«, protestiert Maliki.

»Und damit voll strafmündig«, ergänzt Sophie. »Herzlichen Glückwunsch«. Maliki verstummt sofort. Sie nutzt die Gelegenheit. »Also, was ist jetzt mit dem Alibi? Wo warst du gestern Nacht?«

»Im Casino«, murmelt Maliki. »Genau wie Pirlo.«

»Dr. Pirlo.«

Maliki zieht die Schultern hoch. »Genau wie Dr. Pirlo.«

»Gut. Und danach?«

»Danach gab es Stress auf dem Parkplatz des Casinos. Gegenseitige Provokationen.« So wie Maliki das ausspricht, klingt es wie eine Regierungserklärung. Er ist auch sichtlich stolz auf seine Formulierungskünste.

»Und dann?«

»Danach ging jeder seiner Wege. Normal.«

»Wohin führte deiner?«

»Nach Düsseldorf.«

»Wohin genau?« Maliki zögert. »Wohin genau?«, wiederholt Sophie. Sie wirkt geduldig, ist es aber nicht. Pirlo weiß das.

Maliki kann es spüren. Er drückt die Lippen aufeinander und schmatzt dann genervt. »Ich bin halt noch nach Eller gefahren.«

Pirlo sieht, wie Sophie den Blick Malikis einfängt. »Du erwartest jetzt nicht ernsthaft von mir, dass ich dich noch einmal frage, wohin genau?«

Maliki überlegt kurz. Dann blickt er auf seine Hände und murmelt. »Zu Aphrodite.«

»Was bedeutet das? Ist das ein Mensch? Eine Frau?«

»Es ist ein Club.«

Pirlo bekommt mit, dass Sophie mit den Schultern zuckt. Ein bisschen ist er erleichtert. Auch wenn er das natürlich nicht zugeben würde. Der Altersunterschied ist zwar nicht allzu groß. Bei der Frage, wer welche Clubs kennt, aber eben doch. Zumindest manchmal. Hier jetzt gerade zum Beispiel nicht. Wobei Aphrodite auch nicht nach einem konventionellen Tanztempel klingt. Um das mal so auszudrücken. Sophie muss allerdings auch nicht mehr nachhaken. Malikis Widerstand ist erlahmt. Er ergänzt seinen Satz von ganz allein. »Es ist ein Saunaclub, wenn ihr es unbedingt wissen müsst.«

»Natürlich müssen wir das unbedingt wissen«, brummt Pirlo. »Zumindest, wenn wir dich verteidigen sollen. Also, komm in die Gänge und erzähl uns, was los ist.«

Maliki sieht ihn entgeistert an. »Was soll ich denn da noch erzählen?«

»Warum jemand denken könnte, dass du Waßmer auf dem Gewissen hast, zum Beispiel.«

Maliki zuckt mit den Schultern. »Ja was weiß denn ich, Mann?« Er fängt Pirlos Blick. Das genügt. Maliki fasst sich kurz. »Ich weiß es wirklich nicht, Herr Dr. Pirlo. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich nach dem Casino zu Aphrodite gefahren bin. Wenn Sie es genau wissen müssen: Ich war noch nicht mal lang dort.« »Warum?«

»Warum ich nur kurz geblieben bin?«

»Ja.«

Maliki zuckt wieder mit den Schultern. Diesmal sogar noch heftiger. »Keine Ahnung. Irgendwie hat es dann doch nicht richtig gepasst.«

Pirlo dreht an seinen Haaren. »Lass uns mal langsam konkret werden: Wie lang warst du tatsächlich dort?«

»Keine halbe Stunde, denke ich.«

»Denkst du?«

»Was weiß ich, Mann. Ich hab mir da jetzt keinen Wecker gestellt oder so.«

»Keine Stoppuhr«, murmelt Pirlo. Einfach so. Er ist müde. Außerdem ist es auch nur so richtig.

»Was?«

»Vergiss es.«

Sophie übernimmt. Sie scheint zu bemerken, dass Pirlo nur halb am Denken ist. Oder am Schlafen. Beides bringt die Sache hier zu wenig voran. »Was ist dann passiert?«

Maliki starrt wieder auf seine Hände, diesmal aber anders als vorhin. Nicht genervt, sondern bedrückt. Sophie wiederholt die Frage. Ihr Ton hat sich allerdings verändert. Sie spricht weicher. Vorsichtiger. »Was ist dann passiert, Faruk?«

Malikis Kinn zittert kurz. Dann hat er sich gefangen. Er antwortet zwar leise. Verständlich ist es aber trotzdem. »Als ich rauskam, lag jemand auf dem Parkplatz. Ein Mann. Er lag da einfach so auf dem Rücken.«

»Wie hast du darauf reagiert? Was hast du gemacht?«

»Keine Ahnung.« Maliki fährt sich über die Nase. So wie wenn jemand schniefen will. Oder trockenkoksen. Bei Maliki trifft wahrscheinlich beides zu. Pirlo und Sophie warten einen Moment. Schließlich fährt Maliki fort. Noch bedrückter. Noch leiser. »Ich bin ganz langsam hin.« Er zögert.

»Und dann?«

»Ich hab geschaut, was los ist. Erst in dem Moment hab ich gesehen, dass es Waßmer ist.«

»Und?«

»Er hat überall geblutet. In seiner Brust …« Er unterbricht sich. Räuspert sich. Fängt sich. Was alles seine Zeit braucht. Die sie ihm allerdings auch lassen. »In seiner Brust steckte ein Messer. Auch da war alles voller Blut. Und ich, na ja, ich dachte, er sei tot.« Wieder zögert er. »Ich war mir aber irgendwie nicht sicher.«

Pirlo ahnt, was kommt. »Was hast du dann gemacht?« Maliki antwortet nicht. Jetzt ist es Pirlo, der vorsichtig spricht. Wenn auch nicht so sanft wie Sophie. »Was hast du dann gemacht, Faruk?«

Maliki zittert jetzt nicht mehr. Er schwankt. Was immer er sich reingepfiffen hat, verdichtet sich mit der Anspannung zu einem deftigen Crescendo. Allerdings keinem besonders guten. »Ich wusste einfach nicht, was los war. Wirklich nicht. Mir war das voll nicht klar.«

»Und dann?«

»Dann wollte ich schauen, ob er wirklich tot ist.«

Pirlo hat sich vor Maliki gesetzt. Beide, Sophie und er, sind ihm jetzt nahe. Beide achten auf alles. Gestik. Mimik. Körperhaltung. Und alles andere, was es eben sonst noch so gibt. »Was hast du getan?«

Maliki bäumt sich noch einmal kurz auf. Mehr als ein Flackern ist es allerdings nicht. Mehr ist einfach nicht mehr drin. Einen Wimpernschlag später sinkt er erschlafft zurück auf das Sofa. »Ich habe getastet, ob er noch lebt. Und ich habe das Messer rausgezogen.«

»Scheiße«, murmelt Pirlo. Aus den Augenwinkeln kann er sehen, dass Sophie dasselbe denkt. Wobei er dafür genau genommen gar nicht erst hinsehen muss. Er weiß, dass es so ist. Weil das, was Maliki da erzählt, einfach auch wirklich scheiße ist.

»Wo ist das Messer jetzt?«, fragt Sophie.

Maliki schnieft. Diesmal kommt er sogar ganz ohne Koksfinger aus. »Dort.«

»Was meinst du damit?«

»Als ich das Messer rausgezogen habe, da …« Bei Maliki brechen die Dämme. Er atmet tief durch. Schnieft. Heult. Dann nimmt er Tempo auf. Auch die aufgesetzte Coolness ist weg. Vorhin hat sie schon niemand gebrauchen können. Jetzt erst recht nicht mehr. »Da war alles voller Blut. Alter, ich hab damit nicht gerechnet. Ich war im Club. Dann komm ich raus. Da liegt ein Mann.« Maliki sammelt sich kurz. »Jedenfalls, er hat ein Messer in der Brust, verdammt. Ich schau so, ob er noch lebt. Dann sprudelt das richtig raus, Alter. Das ganze Zeug. So viel Blut. Ich bin einfach verdammt erschrocken, okay? Ich wollte dem sogar helfen, Mann! Ich wusste ja vorher nicht, dass das der Nazi ist. Woher hätte ich das denn wissen sollen, Mann? Woher?«

Pirlo begreift, dass in dem, was da auf seinem Wohnzimmersofa sitzt, nicht mehr viel Kraft steckt. Und dass der Rest, der noch da ist, für das Drama draufzugehen droht. Also macht er es kurz. »Dann bist du also einfach abgehauen?«

Maliki nickt. »Ja, Mann. Herr Anwalt. Doktor.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Stunden oder so.«

»Und in der Zwischenzeit?«

»Ich bin rumgefahren.«

»Hast du jemanden angerufen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Wen soll ich denn anrufen, Mann?«

Pirlo hebt die Hände. »Was weiß denn ich? Deine Familie?«

Maliki sieht ihn fest an. »Hätten Sie das gemacht?«

Die Antwort liegt Pirlo schon auf der Zunge. Er verkneift sie sich trotzdem. Darum geht es hier nicht. Weder um ihn noch um seine Familie. Das darf auch ruhig noch lange so bleiben. Inshallah.

Maliki legt den Kopf schief. »Ich weiß, dass ich in Schwierigkeiten bin, Mann. Wenn ich meine Familie wegen sowas anrufe, bringe ich denen den Ärger. Das kann ich nicht machen. Ich will es auch nicht, verstehen Sie?«

Pirlo nickt. Er versteht. Es steht ein Mord im Raum. Sagt Maliki seiner Familie Bescheid und bekommt das jemand mit, kann das für einen Durchsuchungsbeschluss reichen. Wer weiß, was man dann dort noch so findet. So viel hat auch Faruk Maliki geschnallt. Die Regeln für den Stressfall sind so überschaubar wie wichtig. Distanz schaffen. Vereinzeln. Klarkommen. Es heißt ja auch »Organisierte Kriminalität«. Und nicht: Jeder macht einfach mal und denkt erst danach darüber nach. Panik hat hier im Zweifel nichts verloren. Jedenfalls für den Augenblick funktioniert das tatsächlich auch noch ganz gut.

»Und sonst? Hast du dich sonst bei jemandem gemeldet?«

»Nein.«

»Freunde, Kumpels, Kollegen?«

»Nein.«

»Jemand anderem?«

»Nein, Mann.«

»Es kann also keiner sagen, wie du auf deinen Fund reagiert hast?«

»Nein.«

Was ebenso gut wie schlecht ist. Pirlo denkt nach. Sophie übernimmt wieder. »Hat dich dort jemand gesehen?«

»Wo, dort?«

»Bei dem Saunaclub?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Ja. Man parkt um die Ecke. Die Leute wollen da nicht gesehen werden.«

Was Sinn ergibt. Pirlo nimmt einen Schluck von seinem Kaffee, den wegen der darin enthaltenen Höllenportion an Koffein nie jemand trinken will. Jedenfalls niemand, der nicht mit ihm verwandt ist. »Was fällt dir sonst noch ein?«

»Wie meinen Sie das?«

»Was sollten wir sonst noch wissen?«

Maliki überlegt. Er sieht sie angestrengt an. Dann kommt das Schwanken wieder. »Nichts. Zumindest im Moment. Mein Kopf ist leer. Das macht mich ganz schön fertig, Mann. Ehrlich.«

Pirlo nickt. Zeit für eine Zusammenfassung. »Du triffst also Waßmer am Casino. Es gibt ein paar Drohungen und so weiter. Das Übliche.«

»Ja.«

»Dann fahrt ihr jeweils weg, und du siehst ihn wieder, als du aus dem Saunaclub kommst.«

»Richtig.«

»Er liegt auf dem Parkplatz und blutet. Ein Messer steckt in seiner Brust. Du fasst ihn an, um zu sehen, ob er noch lebt. Aus demselben Grund ziehst du das Messer heraus. Weil du helfen willst. Richtig?«

»Genau. Hätte ja sein können, dass man da noch was machen kann, oder so.«

»Tatsächlich quillt aber aus der Messerwunde noch mehr Blut.«

»Genau. Jede Menge und alles auf einmal.«

»Du erschrickst und rennst weg.« Pirlo sieht, dass Maliki keine Freude an der Formulierung hat. Er nickt aber. »Das Messer bleibt dort.«

»Ja.«

»Du lässt es einfach fallen.«

»Ja.«

»Dann haust du ab und sagst niemandem Bescheid.«

»Genau.«

»Das Nächste, was dir einfällt, ist hierherzukommen.«

»Richtig.«

Pirlo sieht Maliki nachdenklich an. »Dir muss klar sein, dass ich manchmal für meine herbe Sprache kritisiert werde, Faruk.« Maliki nickt. Mit dem, was Pirlo gesagt hat, kann er offensichtlich nichts anfangen. Es ist ihm aber auch egal. Wichtiger ist, worauf Pirlo hinauswill. Was direkt danach kommt. Pirlo legt die Stirn in Falten. »Lass es mich sagen, wie es ist: Du bist ganz schön gefickt.«

Maliki drückt eine Hand auf seine Augen. Als er wieder aufschaut, ist der Blick unsicher. Ängstlich. Und echt. »Aber Sie helfen mir doch, oder?«

Pirlo sieht Sophie an. Sie nickt. Dann antwortet er: »Klar. Unter der Voraussetzung, dass wir uns komplett auf dich verlassen können, Faruk. Ohne deine Dummheiten säßen wir erst gar nicht hier. Darum: ab jetzt absolute Disziplin und Transparenz. Ist das klar?«

Maliki nickt. »Klar.«

»Gut«, sagt Pirlo. Ob er das auch wirklich so meint, weiß er gerade nicht. Was er aber weiß: Er braucht noch einen Kaffee. Und zwar dringend.

5.Vierzig. Zumindest beinahe

Nach einem weiteren, dringend benötigten Kaffee

Als Pirlo ein paar Minuten später mit dem dampfenden Kaffee aus der Küche zurückkommt, hat sich Sophie ihren Gast für weitere Fragen vorgeknöpft.

»Wie oft warst du schon drin?«

»Wo soll ich drin gewesen sein?« Pirlo sieht, wie Maliki einen schlechten Spruch vorbereitet. Der dann aber doch nicht kommt. Das ist nicht diese Art von Gespräch. Und erst recht nicht diese Art des Umgangs.

»Im Knast«, antwortet Sophie trocken.

Maliki senkt den Kopf. Jede Coolness ist jetzt verweht. Auch jeder Ansatz dazu. So schnell kann das gehen. »Dreimal. Nie länger als ein halbes Jahr.«

»Wie viele Vorstrafen wegen Gewaltdelikten?«

»Keine Ahnung.«

»Erzähl keinen Scheiß.«

Pirlo sieht Sophie von der Seite an. Ist es wirklich erst ein halbes Jahr her, dass sie hier, in seinem Wohnzimmer, ihr Bewerbungsgespräch hatten? Es kommt ihm vor, als liege das länger zurück. Ewigkeiten länger. Damals kam Sophie frisch aus dem Referendariat. Sie war motiviert. Ehrgeizig. Und naiv. Heute kocht sie um sieben Uhr morgens einfach so den Thronfolger des Maliki-Clans ab. Was beachtlich ist. Und Pirlo auch irgendwie stolz macht.

Er kapiert erst, dass er, Kaffee hin oder her, ein wenig den Faden verloren hat, als Sophie plötzlich sagt: »Gut. Unter diesen Voraussetzungen übernehmen wir die Verteidigung.«

»Danke«, sagt Maliki. Pirlos Eindruck, dass er hier etwas Wesentliches verpasst hat, erhärtet sich, als Maliki aufsteht und Sophie die Hand reicht. »Ich freue mich, dass Sie sich für mich einsetzen, Frau Rechtsanwältin Mahler.« Dann bekommt auch Pirlo noch die Hand. Schon der guten Form halber. Sie vereinbaren ein weiteres Gespräch am Nachmittag. Maliki wird sich sammeln. Ausschwitzen, was immer noch in seinem schmalen Knabenkörper steckt. Dann wollen sie wieder zur Sache sprechen. Ausgeschlafen. Nüchtern. Fokussiert. Maliki ist einverstanden und bedankt sich. Auf Pirlo wirkt es, als meine er es ernst.

Dann fragt Maliki, ob er jetzt eigentlich einfach so gehen könne.

Pirlo fixiert ihn. Sein Blick ist fest, aber Maliki hält ihm stand. »Wenn du uns alles genau so gesagt hast, wie es wirklich war, hast du mit dem Mord an Rainer Waßmer nichts zu tun, Faruk.« Er beendet den Satz ohne Fragezeichen. Es steht trotzdem im Raum.

»Genau so war es«, antwortet Maliki. »Sie können sich da auf mich verlassen. Da und bei allem anderen. Ehrlich. Ich schwör.«

»Dann sehe ich keinen Grund, warum du dich nicht frei bewegen können solltest. Zumindest grundsätzlich. Dir muss allerdings klar sein, dass die Behörden ein anderes Bild haben dürften. Erst recht, wenn jemand das Messer findet und die Spuren daran auswertet.«

»Was ist dann?«

»Dann dürfte es einen dringenden Tatverdacht geben.«

»Und was heißt das?«

»Das heißt, dass es für einen Haftbefehl reicht.«

Maliki wird käsig um die Nase.

»Was bedeutet das? Soll ich jetzt weg, oder was? Nach Albanien, oder? Jetzt sagen Sie doch was, Mann!«

»Wir werden dir dazu gar nichts sagen. Zum einen, weil wir das nicht können, und zum anderen, weil wir das nicht wollen. Klar ist: Wenn die Faktenlage so ist, wie du sie beschrieben hast, kommt früher oder später ein dringender Tatverdacht gegen dich auf. Dann wird man dich suchen und in Untersuchungshaft stecken wollen. Wenn du dich irgendwo im Ausland aufhalten solltest, kannst du auch da erwischt werden. Man kann und wird dich im Zweifel ausliefern. Es ist dann nicht nur unwahrscheinlich, dass du vor Prozessbeginn überhaupt noch mal rauskommst. Auch insgesamt sieht eine Flucht selten besonders gut aus. Das sollte bedacht werden, gerade wenn die sonstige Indizienlage schon so beschissen ist.«

»Aber man muss mich ja nicht finden«, sagt Maliki vorsichtig.

»Wenn man dich nicht findet, kann man dich auch nicht in den Knast stecken«, antwortet Pirlo, der jetzt genauso langsam spricht. »Auch nicht vorübergehend.« Ein Nicken verstärkt den Punkt am Ende des Satzes. Mehr wird Pirlo dazu nicht sagen. Er muss es auch nicht.

»Danke«, sagt Maliki. Dann ist er weg.

»Lief ja eigentlich ganz gut«, murmelt Pirlo.

»Kann man so sagen«, antwortet Sophie. Sie grinst. »Wie viel hast du noch mitbekommen?«

»Wovon?«

Sophie lacht. »Geh mal pennen.«

»Und du?«

Sophie sieht aus dem Fenster. Es regnet. »Ich gehe eine Runde laufen und danach schwimmen.«

»War bei dir gestern nicht auch Samstagabend?«

»Doch.«

»Warst du nicht aus?«

»Klar.«

»Warum bist du nicht müde?«

»Weil ich nicht auf die vierzig zugehe.« Sophie tänzelt zur Tür. »Ich schreib dir nachher eine E-Mail über das, was wir besprochen haben. Er wird sich erst mal bedeckt halten. Wenn wir mehr Informationen haben, sehen wir, wo wir stehen. Und jetzt schlaf gut, alter Mann.«

Fünf Minuten später hat Pirlo das Gefühl, dass ihm doch noch eine geistreiche Antwort darauf einfallen könnte. Sicher ist er sich aber nicht. Also geht er wirklich pennen. Kann man nach zwanzig Stunden Programm ja auch mal machen.

6.Dünnes Eis

Am Abend

Am Abend ist Pirlo wieder weitestgehend hergestellt. Das muss er auch sein. Sonja gibt eine Vernissage zur Eröffnung einer Ausstellung mit ihren Töpfereien, und er hat Arland und ihr fest versprochen, dort zu erscheinen.

»Lange Nacht gestern?«, fragt Arland und deutet auf das Wasserglas in Pirlos Hand.

»Und dazu ein wilder Morgen«, antwortet Pirlo.

»Eine neue Eroberung?«

Pirlo schüttelt den Kopf. Er hat sich längst daran gewöhnt, dass Arland intime Fragen stellt. Das war nicht immer so. Erst vor ein paar Jahren wechselte die Rolle von der des Doktorvaters zu der des väterlichen Freundes. Und warum auch nicht? Arland und Sonja haben keine Kinder. Pirlo ist über dreißig Jahre jünger als die beiden. Es würde also hinkommen. Pirlo ist die Wahlverwandtschaft recht. Familie kann man sich schließlich nicht immer aussuchen.

Arland reißt ihn aus seinen Gedanken. »Du kannst es übrigens ruhig sagen.«

»Was?«

Arland senkt die Stimme. »Das, was du denkst.«

»Was denke ich denn?«, fragt Pirlo unschuldig.

»Dass Sonjas Kunstwerke aussehen wie hässliche Penisse.«

Pirlo zieht den Mundwinkel hoch. »Ich kann nicht folgen. Deine Frau zaubert wunderbare Zylinderskulpturen, und du kommst mit diesem schäbigen Vergleich.«

»Du hast recht«, sagt Arland. »Das ist gegenüber den Zylindern nicht richtig. Wo sie sich damit so viel Mühe gegeben hat.«

»Vor allem an den abgerundeten Enden.« Einen Augenblick sehen sie sich wortlos an. Dann brechen sie in Lachen aus.

»Amüsiert ihr euch?«, fragt Sonja, die sich aus einer Gruppe von Besuchern herauswindet. Sie strahlt. Das meint nicht nur die Augen. Sondern alles. Sonja hat dieses Leuchten. Besser kann Pirlo es nicht beschreiben. Er glaubt nicht ans Heiraten. Wenn er ehrlich ist, weiß er noch nicht einmal, ob er überhaupt an die große Liebe glaubt. Falls aber jemand einen guten Grund dafür bieten könnte, diese beiden Prämissen über den Haufen zu werfen, dann eine Frau wie diese.

»Du musst dir deine eigene Sonja suchen«, sagt Arland, der einmal mehr Pirlos Gedanken erraten hat. »Und deine Penisangelegenheiten bis dahin eben allein regeln.« Pirlo verzieht das Gesicht. Arland boxt ihm auf die Schulter. »Ach komm schon, ein bisschen platter Humor wird auch mal drin sein dürfen. Vergiss nicht, dass ich ein Kind des Ruhrgebiets bin.«

»Das ist es nicht.«

»Sondern?«

»Das Kind des Ruhrgebiets hat einen sitzen.«

»Und?«

»Und ich habe eigentlich noch eine wichtige Sache mit ihm zu besprechen.«

Arland sieht ihn einen Moment fragend an. Dann marschiert er kurzentschlossen zur Bar und bestellt einen doppelten Espresso. Eine halbe Stunde später stehen sie auf einer Freiterrasse über den Dächern von Bilk und schauen auf das Lichtermeer der winterlichen Stadt. Die Mischung aus Kaffee und Kälte zeigt bei Arland Wirkung. Der Alte kommt langsam wieder zu sich. Pirlo merkt das. Arland ebenso. Kurz lacht er über sich selbst. Dann fragt er: »Also, was ist los, Junge?«

»Hast du von dem Mord an Rainer Waßmer gehört?«

»Klar. Er steht ja sogar bei POST Online auf der Titelseite.«

»Liest du immer noch die Schundformate?«

»Niemals nicht. Weißt du doch. Das gehört schließlich zum Beruf.«

Pirlo grinst. Auch wenn Arland den Lehrbuchklassiker zum Strafprozessrecht geschrieben hat, war er selbst höchstens vor einem Vierteljahrhundert mal forensisch tätig. Seitdem glänzt er als graue Eminenz des Hörsaals und schlauer Fuchs der Branche. Die Schlagzeilen der POST liest er trotzdem. Am Lehrstuhl war das eine der ersten Lektionen für Pirlo: Wer wissen will, was im Strafrecht läuft, muss die fetten Überschriften kennen. Dort steht zwar nicht alles, und das, was da steht, ist längst nicht immer richtig. Die groben Linien sind aber meistens trotzdem da. Und aktueller ist nun mal niemand. Noch nicht einmal im Ansatz.

»Wie findest du die Schlagzeile?«

»Mord im Milieu? Griffig, würde ich sagen. Ist schließlich alles drin. Sex. Clans. Und ein Mord. Quasi das Wunschkonzert des deutschen Boulevardjournalismus. Alles, was fehlt, ist ein umstrittener Verteidiger.« Arland sieht Pirlo von der Seite an. Der geht nicht darauf ein.

Stattdessen murmelt er: »Sie haben einen Verdächtigen.«

»Ja, einen von diesen Clanburschen.« Arland sagt das ohne besondere Betonung. Zumindest glaubt Pirlo das. Oder besser: Er hofft es.

»Der Kerl heißt Faruk Maliki.«

»Und?«

»Er saß heute Morgen bei mir auf dem Sofa und wollte, dass ich seinen Fall übernehme.«

»Auf dem Sofa?«

Pirlo zuckt mit den Schultern. »Du weißt schon, die Wohnzimmerkanzlei. Das bekommst du den Leuten nicht so schnell abgewöhnt.«

Arland lacht. »Auch nach drei Monaten noch nicht?«

Pirlo lacht mit. »Wahrscheinlich sprechen mich manche Deppen noch in Jahren darauf an.«

Arland wird wieder ernst. »Der junge Mann ist doch auf der Flucht, oder?«

»Er selbst behauptet, dass er es nicht gewesen sei. Keine Tat, keine Flucht.«

»Dann versteckt er sich möglicherweise ohne Grund. Verdächtigt wird er trotzdem. Womit er auch auf der Flucht ist. Ob dir das passt oder nicht.«

Pirlo seufzt. »Du weißt, was passiert, wenn man ihn erwischt.«

»Ich ahne es.«

»Und?«

»Und was?«

»Was denkst du darüber?«

Arland atmet tief durch. »Gut klingt das alles nicht. Und zwar sogar weniger wegen der Flucht. Du bist sein Verteidiger. Verpfeifen musst du ihn nicht. Aber was, wenn weitergemordet wird? Und was, wenn man deinem Mandanten unterstellt, er habe damit zu tun? Was, wenn irgendein Bandenkrieg losbricht und die Staatsanwaltschaft auf den Gedanken kommt, das sei zu verhindern gewesen? Wenn du dann weißt, wo er steckt, und das nicht offengelegt hast, ist das dünnes Eis.«

»Wie dünn?«

Arland zieht die Augenbrauen hoch. Pirlo ahnt, dass er jetzt am liebsten eine Zigarre rauchen würde. Sonja hat ihm das zwar vor ein paar Jahren abgewöhnt, damals, nach dem ersten kleinen Herzanfall. Für angemessen hielte er es aber wahrscheinlich trotzdem. Pirlo hat sich schließlich mal wieder in die Misere geritten. Pirlo hat sich mal wieder in die Misere geritten. Immerhin sucht er trotzdem seinen Rat, wenn er auch ziemlich genau auf dem altbekannten schmalen Grat herumreitet: Lieblingsschüler und enfant terrible. Beides in einem. Arland sieht Pirlo ernst an: »Strafbar wirst du dich schon nicht machen. Neue Freunde findest du damit aber sicher auch nicht. Und es ist ja nicht gerade so, als würde es von alten nur so wimmeln.«

Pirlo nickt. Arland kratzt sich an der Nase. Dann kommt das große Aber. Leider. »Wenn du allerdings weißt, wo dein Mandant steckt, und es offenlegst, springen dir alle Mandanten ab. Womöglich zu Recht.«

»Was rätst du mir also?«, fragt Pirlo.

»Vorsichtig sein. Weißt du denn schon, was du tun wirst?«

»Noch nicht«, antwortet Pirlo. Was nicht stimmt. Pirlo weiß das. Arland auch. Aber man muss nicht immer über alles sprechen. Erst recht nicht, wenn es um dünnes Eis geht.

7.Große Freiheit

Montag, 22.11.

Die Nachricht kommt um kurz nach zehn. Schon um halb zwölf Uhr bahnen sich Sophie und Pirlo den Weg durch fünf verschiedene Zimmer. Da, wo sie das Gebäude betreten haben, ist ein Wettbüro. Sophie kommt es mittlerweile so vor, als sei das in einer ganz anderen Welt gewesen. Mindestens. Seit sie in dessen Hinterzimmer durch eine unscheinbare weiße Tür gegangen sind, reiht sich ein Raum an den anderen. In drei davon sitzen Männer. Die Grundausstattung ist bei allen gleich. Bart. Undercut. Muskeln. So wie auch der Untersetzte aussieht, der sich ihnen als Faruks Cousin vorstellt, danach wortlos vorausgeht und sie in einem überraschend altmodisch eingerichteten Wohnbereich zurücklässt. Dort fläzt der Thronfolger in einem tiefen Sessel vor einem riesigen Bildschirm und zockt mit überdimensionierten Kopfhörern auf den Ohren ein Ballerspiel. Der Untersetzte schlägt Faruk Maliki mit der flachen Hand auf den Nacken. Auch wenn es nicht wirklich schmerzhaft aussieht, ist Sophie überrascht. Die engere Verwandtschaft ist offensichtlich nicht immer ein Vergnügen. Noch nicht einmal in einem Clan.

Faruk Maliki scheint die Schelle unangenehm zu sein. Mit rotem Kopf schaltet er die PlayStation aus und deutet unverständlich murmelnd auf zwei weitere Sessel. Sophie und Pirlo setzen sich. Der kompakte Muskelberg bleibt hinter ihrem Rücken stehen. Ehe Sophie sich darüber Gedanken machen kann, merkt sie, wie tief sie plötzlich einsinkt. Und wie unglaublich bequem das ist.

»Gut, was?«, fragt Faruk Maliki strahlend. »Das sind argentinische Designerteile. Im Laden kosten die pro Stück über zehntausend.«

»Und außerhalb?«, fragt Pirlo.

»Für euch die Hälfte.«

»Ich nehme an, das ist für dich trotzdem noch ein gutes Geschäft.«

»Kann schon sein«, nölt Maliki. »Es ist aber auch ein Haufen Arbeit, das ganze Zeug aufzulesen, wenn es vom Lastwagen fällt.« Er lacht schmierig. Von hinten kommen erstickte Laute. Sophie braucht einen Moment, bis ihr klarwird, dass auch ihr Aufpasser lacht. Wahrscheinlich haben einfach nur die Steroide die Luftröhre verklebt.

Pirlo ignoriert das Gehabe. »Lass uns offen sprechen, Faruk.« Der nickt und bewegt den Kopf. Der Türstehercousin verschwindet. »Wer weiß, dass du hier bist?«

»Keiner«, antwortet Maliki.

Sophie seufzt. »Wir sind allein auf dem Weg hier rein an mindestens zehn Leuten vorbeigekommen.«

Maliki reckt das Kinn vor. »Die sind Familie.«

»Und wer weiß außer deiner Familie noch, dass du hier bist?«

»Keiner. Nur ihr.«

»Du hast uns eine Nachricht geschrieben.«

»Richtig. Aber mit dem Einmalhandy.«

»Einmalhandy?«

»Einmal nutzen und dann ab in die Tonne«, belehrt Maliki. Dann kommt der Kennerblick. »Früher haben wir diese Krypto-Dinger genutzt, aber da hat uns die Rechtsprechung dann sauber gefickt und die Gespräche irgendwie doch ausgewertet. Es war eine Schande. Und für so was zahlt man Steuern.«

»Man?«

Maliki grinst. »Ihr.«

Sophie streicht sich genervt über einzelne Härchen auf der Stirn. Vorhin musste es schnell gehen. Die langen blonden Haare stecken daher in einem Zopf. Stirnhärchen inklusive. Neben ihr spielt auch Pirlo mit seinen Haaren. Sie muss gar nicht erst richtig hinsehen, um zu wissen, dass er jetzt schon keinen Bock mehr hat. Erfreulicherweise lenkt ein Klopfen an der Tür ab. Kurz darauf steht ein schöner Mann im Raum. Jede andere Formulierung wäre fehl am Platz. Jedenfalls wenn es nach Sophie geht. Er wirkt anders als die anderen hier. Weniger schrankwandig, eher drahtig. Die Augen sind dunkel, fast schwarz, und dabei klar. Freundlich. Wach. Der Bart ist gepflegt, die Kleidung schlicht, aber elegant. Außerdem strahlt der Neuankömmling eine gewisse Ruhe aus. Und er riecht gut. Zu dem warmen Duft passt die dunkle, sanfte Stimme. »Mein Name ist Fathi Maliki. Ich bin Faruks Cousin. Sein Vater bittet mich, an diesem Gespräch teilzunehmen, vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen.«

Sophie sieht, dass Pirlo kurz nickt. Trotzdem dreht sich der Drahtige zu ihr und fragt: »Und Sie stört es auch nicht?«

»Nein«, sagt Sophie. Faruk Maliki fragt keiner. Er hat hier nichts mehr zu melden. Die Art, wie er plötzlich sitzt, zeigt, dass ihm das auch selbst klar ist.

»Zunächst bedanken wir uns dafür, dass Sie gestern so spontan zur Verfügung standen«, sagt Fathi Maliki. »Wir wissen natürlich, wer Sie sind. Das Verfahren wegen des Mordes an diesem Stararchitekten haben wir, wie alle, in den Medien verfolgt. Eine spannende Sache. Sie haben dabei eine gute Figur abgegeben. Mit der Entscheidung von Faruk, sich von Ihnen vertreten zu lassen, sind wir daher sehr einverstanden. Es braucht hier eine Verteidigung aus der Champions League.« Er macht eine Pause. »Schließlich ist der Fall möglicherweise doch etwas komplizierter.« Sein Blick geht zu Faruk.

Der senkt die Augen. »Ich war das nicht, Cousin. Das mit Waßmer. Versprochen.«

Fathi Maliki sieht Faruk lange an. Dann nickt er. »Gut. Dann müssen das nur noch die Nazis glauben. Und die Polizei.«

Sophie schaltet sich ein. Ein bisschen Klarheit täte der Angelegenheit hier gut. Normalerweise ist das ihr Zuständigkeitsbereich. »Worum geht es bei diesem Konflikt zwischen Ihrer …« Sie überlegt kurz, was das richtige Wort ist. Organisation? Unternehmung? Clanstruktur? Dann entscheidet sie sich für die neutralste aller Varianten: »Worum geht es bei diesem Konflikt zwischen Ihnen und der anderen Seite?«

»Den Nazis?«

»Nennen Sie sie, wie Sie mögen. Nazis. Rocker. Nicht-Familien-Organisation. Sie wissen, was ich meine.«

Fathi Maliki lächelt. Nicht-Familien-Organisation. Die Formulierung scheint ihm zu gefallen. Er reibt sich den Nasenrücken. »Sie wissen, wie das bei diesen Sachen ist, Frau Rechtsanwältin Mahler.« Er kennt nicht nur Pirlos Namen, sondern auch ihren. Sie tut so, als würde sie es einfach zur Kenntnis nehmen. Auch wenn sie sich ein bisschen darüber freut. Und ihr genau das auch ein bisschen unangenehm ist. Fathi Maliki scheint ihre Unruhe nicht mitbekommen zu haben. Vielleicht ist er auch einfach stilvoll genug, sie sich nicht anmerken zu lassen. Er fährt fort. »Wo das Ganze herkommt, kann wahrscheinlich gar niemand mehr sagen.« Er verzieht den Mund zu einem bedauernden Lächeln. »Angefangen hat es mit schlichten Machtansprüchen. In einem solchen Fall kommen schnell auch Empfindlichkeiten dazu. Am Ende ging es sicher auch um Territorien. Jedenfalls heute ist das so.« Er seufzt. »Heute dreht sich alles um das Gelände.«

»Welches Gelände?«

»Die Große Freiheit. Oder wie es ein Werbeprospekt sagt: ›Das neue Herz für Reisholz.‹ Nur dass dieses Prospekt von 1990 ist.« Er lacht. Wieder sieht das attraktiv aus. Und wieder alles andere als gut gelaunt. »Düsseldorf ist heute nicht gerade für Industriegebiete bekannt. Trotzdem gibt es sie. Tatsächlich war die Stadt sogar noch bis in die siebziger Jahre stark industriell geprägt. Das ganze Bling-Bling kam erst später, selbst wenn sich daran heute fast keiner mehr erinnern will. Die entsprechenden Gelände sind aber teilweise immer noch da. Eines der interessantesten dürfte die Große Freiheit sein.«

»Das sagt mir nichts«, räumt Sophie ein.

Fathi Maliki nickt. »Das glaube ich gern. Sie sind aber auch noch sehr jung.« Sophie spürt, dass sie kurz rot wird. Normalerweise hätte sie gegen einen solchen Kommentar protestiert. Und sei es aus Prinzip. Bei Fathi Malikis weicher Stimme lässt sie es allerdings durchgehen. Ausnahmsweise. Maliki nickt derweil in Richtung Pirlo. »Sie kennen das Gelände aber bestimmt.« Pirlo reagiert wie fast immer: gar nicht. Maliki fährt fort. »Das Unternehmen Rheinstahl hatte ursprünglich eine Fertigungsstelle für Kurbelwellen geplant. Entsprechend gewaltig fielen die Hallen aus. Dann kam die Stahlkrise, und die großen Produktionen gingen nach Osteuropa. Für die Anlage in Reisholz hatte keiner mehr Verwendung. Dazu begann der Niedergang des Ruhrgebiets. Düsseldorf hatte ja immer nur damit kokettiert, an dessen Rand zu liegen. Jetzt fielen dort ganze Städte in sich zusammen. Duisburg. Bochum. Gelsenkirchen. Und so weiter. So zynisch das klingt: Für die produzierende Branche war das ein Glücksfall. Dort bekam man plötzlich noch größere Produktionsanlagen für wenig Geld hinterhergeworfen. Außerdem standen billige Arbeitskräfte im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße. An Düsseldorf braucht seitdem niemand mehr zu denken, der günstige freie Flächen sucht. Steuervergünstigungen. Oder Behörden, die froh sind, dass überhaupt jemand für Entlastung sorgt.«

Sophie nickt unwillkürlich. Was Fathi Maliki sagt, ergibt Sinn. Beeindruckt ist sie aber vor allem davon, wie er das macht. Die Stimme klingt voll. Die Worte sind gewählt. Mag ja sein, dass er genau genommen nicht viel mehr ist als der Außenminister seines Clans. Viel besser hätte man diese Position dann aber auch nicht besetzen können. Fathi Maliki schenkt ihr ein Lächeln. Unmöglich zu sagen, ob er ihre Gedanken erraten hat. So oder so fährt er im ernsten Plauderton fort: »Mit anderen Worten: Das Gelände der Großen Freiheit am Düsseldorfer Stadtrand konnte niemand mehr gebrauchen. Für die meisten geriet es in Vergessenheit.«

»Aber für manche nicht, nehme ich an«, brummt Pirlo. Kurz ist Sophie überrascht, dass er überhaupt noch da ist. Der sanfte Ton Malikis hat sie kräftig in Beschlag genommen. Und gehalten.

»Richtig.« Maliki nickt. »Wir haben das Gelände natürlich im Auge behalten. Die anderen Organisationen aber auch.«

»Und wie hat sich das entwickelt?«, fragt Sophie. Klar, er erklärt das wahrscheinlich sowieso gleich. Es tut aber auch einfach gut, selbst mal was zu sagen. Schon allein, um sich nicht vollends im wohlformulierten Singsang Malikis zu verlieren.

Der streicht nachdenklich über seinen akkurat gestutzten Bart. »Es lief so, wie das bei solchen Sachen immer läuft. Anfangs turbulent. Dann eigentlich ganz ruhig.« Er lächelt dünn. »Reisholz mag für die meisten Düsseldorfer gefühlt weit weg sein. Eines dieser Viertel, dessen Namen man auf den Autobahnschildern liest, ohne ihn wirklich mit der eigenen Stadt in Verbindung zu bringen. Irgendwie anonym. Unwichtig. Belanglos. Tatsächlich liegt es aber nicht weit von der Innenstadt entfernt. Von der Kö bis zur Großen Freiheit dauert es mit dem Auto nicht länger als zwanzig Minuten.« Er wendet sich wieder an Sophie. »Versuchen Sie, sich das vorzustellen, Frau Mahler: Von den großen Clubs, für die Leute aus ganz Europa nach Düsseldorf kommen, ist es nicht weiter als ein Katzensprung bis dorthin, wo es das gibt, was die Nachtschwärmer suchen, aber in der Altstadt und im Hafen nicht finden. Zumindest nicht wirklich zuverlässig. Und nicht in Massen.«

Er sieht Sophie erwartungsvoll an. »Drogen also. Prostitution«, murmelt sie, unsicher, ob sie überhaupt gefragt war. Ihr Kopf rattert. Viel mehr fällt ihr trotzdem nicht ein. Vielleicht weil sie eben doch behütet aufgewachsen ist. Vielleicht weil es auch einfach nicht mehr halb legale Verlockungen gibt. Jedenfalls keine, die sie kennt.

Maliki hilft ihr an dieser Stelle nicht weiter. Er lacht nur und hebt die Hände. »Was immer Menschen auf die von ihnen gesuchte Art glücklich macht. Und wofür sie bereit sind zu bezahlen.«

»Was attraktiv ist. Und die Rocker ins Spiel bringt«, ergänzt Pirlo. Er klingt, als wolle er sich einfach nur einbringen. Höflich. Interessiert. Offen. Sophie ahnt allerdings, dass es ihm schlichtweg nicht schnell genug geht.

Maliki lässt sich von Pirlos Einwurf erwartungsgemäß nicht aus der Ruhe bringen. »Richtig. Wobei es nach anfänglichen Reibereien jahrelang gut lief.«

»Bis jetzt.«

Maliki nickt. »Bis jetzt.«

»Wie ist das Gelände aufgeteilt?«, fragt Pirlo. »Drogen hier, Prostitution dort?«

Malikis Züge verhärten sich kurz. Dann kehrt er aber schnell zu ausgesuchter Freundlichkeit zurück. »Das kann schon sein.«

»Und was sorgt jetzt für den Konflikt?«

»Nichts!«, entfährt es dem immer noch tief in seinem Sessel klebenden Faruk Maliki. »Überhaupt nichts, Mann!«

»Shuj!«, zischt Fathi Maliki. Es dauert nur einen Wimpernschlag. Ganz kurz. Ganz schnell. Trotzdem ist Faruk Maliki sofort ruhig.

»Entschuldigen Sie«, sagt Fathi Maliki zu Sophie. »Faruk ist manchmal etwas ungestüm.« Er lächelt, als er das sagt. Trotzdem fühlt es sich an, als sei der Raum zehn Grad kälter. Mindestens. Im deutlichen Gegensatz dazu wird das Außenministerlächeln wieder breiter. »In der Sache hat mein Cousin aber eigentlich recht. Grundsätzlich war alles geregelt. Jeder hatte seinen Bereich. Alles kein Problem. Lange Zeit ist auch tatsächlich nichts vorgefallen. Bis jemand auf die glorreiche Idee gekommen ist, den Anführer der Nazis umzubringen.«

Sein Blick geht zu Faruk Maliki, der zwischenzeitlich wieder still im Sessel kauert. Kurz scheint es, als wolle er sich aufrichten und etwas sagen. Allerdings hebt Fathi Maliki einen Finger. Faruk lässt sich wieder zurückfallen. Dann eben nicht.

Sophie beobachtet die beiden. Mit ihrem Kopf ist sie aber woanders. Sie bemerkt es selbst. Auch Fathi Maliki fällt es auf. »Sie sehen nachdenklich aus.«

»Das bin ich auch.«

»Darf ich fragen, wie das kommt?«

Sophie fährt sich durch die Haare. Kann ja sein, dass Malikis Geschwurbel ganz charmant ist. Womöglich hatte er sie damit zwischenzeitig sogar gepackt. Zumindest ein klein bisschen. Jetzt spielt das aber keine Rolle mehr. Sophie denkt nach. Ihr Verstand arbeitet klar und präzise. Wie immer. Was zu einem klaren Ergebnis führt. Auch wie immer. »Das ergibt alles keinen Sinn.«

»Was?«

»Diese Geschichte mit dem Gelände. Kann ja sein, dass diese Industriebrache niemand in dem Zustand gebrauchen kann, in dem sie ist. In einer Stadt wie Düsseldorf ist Bauland aber rar. Das weiß jeder. Und Sie sagen ja selbst: Zwanzig Minuten von der Kö gibt es eine Fläche, die keiner nutzt. Das müsste eigentlich eine Goldgrube sein. Wenn nicht für einen Investor, dann doch zumindest für die Stadt. Warum sollte das keiner wollen?«

Sie bemerkt, wie Pirlo seine Haltung verändert. Seine Augenbrauen gehen hoch. Maliki verzieht die Mundwinkel. Was ein Lächeln sein könnte, aber nicht muss. Beide sagen nichts. Sophies Gedanken rasen. Was hat sie hier gerade verpasst?

»Eventuell ist die Lage so, wie sie ist, ja auch genau im Interesse der Stadt. Oder der Menschen, die dort arbeiten.« Da ist er wieder, der Singsang.

»Aber warum sollte das so sein?«

»Vielleicht weil diese Menschen an anderen Sachen mehr interessiert sind als an Bebauungsplänen für das Gelände.«

»Zum Beispiel?«

Jetzt schaltet sich Pirlo ein. Er hat keinen Bock mehr. Definitiv nicht. Als er spricht, versteht Sophie auch, warum. Und dass sie auf dem Schlauch stand. Sogar ziemlich. »An Geld«, brummt er. »Es könnte ja sein, dass die Menschen, die bei der Stadt arbeiten, auch einfach Interesse an Geld haben.«

Sophie spürt, dass ihre Wangen rot werden. Sie hat viel von Pirlo gelernt. Manchmal ist sie aber doch noch ein naives Herzchen. Das bemerkt sie gerade sogar selbst.

Fathi Maliki fasst die Lage auf seine Art zusammen. »Es gab eine Phase des gegenseitigen Wohlwollens. Bis jetzt. Wenn auf dem Gelände ein Krieg ausbricht, ist es mit der Ruhe natürlich vorbei. Wegschauen geht nur so lang, wie es nichts gibt, was das Hinschauen zwingend erfordert.«

Sophie nickt. Sie versteht. Mittlerweile hat aber auch sie kein Interesse mehr an den warmen Worten. Ein wenig mehr Tempo würde der Sache hier guttun. Ein wenig mehr Klarheit auch. »Meinen Sie, das kommt so?«, fragt sie. Um den Weg zu allzu wortreichen Erklärungen abzuschneiden, folgt die Präzisierung auf dem Fuß: »Glauben Sie wirklich, dass man niemanden mehr schmieren kann, wenn ein Mord im Raum steht?«

Fathi Maliki sieht sie an, als habe ihn spontaner Zahnschmerz befallen. Und zwar direkt an der Wurzel. Mit betrübtem Blick streicht er sich über den Bart. »Gestern wurde der Anführer der Nazirocker getötet. Der Boulevard schreibt, dass der Sohn meines Onkels der Täter sei.«

»Der mutmaßliche Täter«, motzt Faruk. »Und nicht mal das zu Recht!«

»Mbylle gojen!«, entfährt es Fathi Maliki. Kurz scheppern die Wände. »Halt den Mund!« Unmittelbar danach ist die besonnene Miene zurück. Hätte Sophie ihn nicht gerade gehört, hätte sie Zweifel gehabt, dass es Fathi Maliki war, der da geschrien hat.

»Um Ihre Frage zu beantworten«, sagt er. »Ja, ich glaube, das kommt so. Zumal das hier noch nicht vorbei sein dürfte. Wie könnte es auch? Sehen Sie: Würde einem von uns auch nur ein Haar gekrümmt und käme das von denen, würden wir die Sache regeln.« Er erklärt das in gewohnt ruhigem Ton, so, als gäbe es darüber nicht das Geringste nachzudenken. Wahrscheinlich ist das auch so. »Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die anderen das umgekehrt nicht genauso sehen. Im Gegenteil wäre es ja eine Katastrophe, wenn so etwas einfach passieren könnte, ohne dass es danach eine passende Reaktion gibt.« Er atmet durch. »Umso wichtiger ist die Frage, was wir mit Faruk machen.«

»Ich weiß«, antwortet Pirlo.

»Die Lage ist bedrückend«, sagt Fathi Maliki. Er lächelt entschuldigend. »Wenn ich das so sagen darf.«

Sophie nickt ihm zu. Allmählich geht ihr sein Kokettieren auf die Nerven. Da kann er noch so gut aussehen. Recht hat er aber trotzdem. Die Lage ist bedrückend. Beschissen, würde Pirlo sagen. Und dass Fathi Maliki die Reichweite des allgemeinen Beschissenseins womöglich nicht mal ganz erfasst hat. Tatsächlich umfasst sie nämlich auch Faruk Malikis Anwälte. Die haben einen Mandanten, dem andere ans Leder wollen. Der unter Mordverdacht steht. Und der sich verborgen hält. Wobei sie wissen, wo er ist. Weswegen sie ein Problem haben. Mal wieder.

8.Karneades

Auf der Rückfahrt

Die Rückfahrt verläuft ruhig. Sophie und Pirlo schweigen und grübeln. Irgendwann hat Pirlo darauf keine Lust mehr. »Also, was machen wir?«