Das Reich Gottes ist in Euch - Leo N. Tolstoi - E-Book

Das Reich Gottes ist in Euch E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Mit seinen religiösen und sozialkritischen Schriften erreichte der Dichter Leo N. Tolstoi (1828-1910) schon zu Lebzeiten eine Leserschaft auf dem ganzen Globus. Die aus Russland kommende Botschaft der Gewaltfreiheit inspirierte viele Menschen zu einem neuen Weg der Befreiung. Sie hat zeitweilig sogar die "Weltgeschichte" mit verändert. Über das hier neu edierte Werk aus dem Jahr 1893 vermerkt der Inder Mohandas Karamchand Gandhi in seiner Autobiographie: "Tolstois 'Das Reich Gottes ist inwendig in euch' überwältigte mich. Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrheitsliebe dieses Buches schienen alle mir von Mr. Coates (einem befreundeten Quäker) gegebenen Bücher zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen." Jetzt liegt nach über hundert Jahren endlich wieder eine ungekürzte Neuauflage vor. Der Übersetzer Raphael Löwenfeld berücksichtigte 1894 in der ersten deutschen Ausgabe als Zusatz einen ursprünglich vom Verfasser selbst erwogenen Titel: "Christi Lehre und die allgemeine Wehrpflicht." Es geht nicht um harmlose Erbauungsliteratur, sondern um die Wiedergewinnung eines subversiven Christentums, das keinen Pakt mit den Mächtigen eingeht und die herrschenden Besitzverhältnisse nicht segnet. Im Zentrum steht eine Fundamentalkritik von staatlicher Gewalt, Krieg und Militarismus: "Fälle der Verweigerung der Erfüllung staatlicher Forderungen, die dem Christentum widersprechen, besonders Verweigerungen des Militärdienstes, kommen in letzter Zeit nicht nur in Russland, sondern überall vor. ... Die Sozialisten, die Kommunisten, die Anarchisten mit ihren Bomben, Aufständen und Revolutionen sind den Regierungen lange nicht so gefährlich, wie diese vereinzelten Menschen ... Die revolutionären Feinde kämpfen von außen mit der Regierung. Das Christentum aber ... erschüttert von innen alle Grundlagen der Regierung." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 9 (Signatur TFb_A009) Herausgegeben von Peter Bürger

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Tolstoi-Friedensbibliothek

Reihe A | Band 9

Herausgegeben von

Peter Bürger

Inhalt

Vorwort zu dieser Neuedition der Tolstoi-Friedensbibliothek

Einführung von Raphael Löwenfeld (1903)

D

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EICH

G

OTTES IST IN

E

UCH

oder: Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre

(Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht)

I.

Die Lehre vom Nicht-Widerstreben ist seit der Begründung des Christentums von der Minderheit der Menschen bekannt worden und wird jetzt von der Minderheit der Menschen bekannt

II.

Urteile über das Nicht-Widerstreben von Gläubigen und Ungläubigen

III.

Die falsche Auffassung des Christentums durch die Gläubigen

IV.

Wie die wissenschaftlichen Menschen das Christentum mißverstehen

V.

Die Widersprüche unseres Lebens und unseres christlichen Bewußtseins

VI.

Das Verhältnis der Menschen unserer Welt zum Kriege

VII.

Die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht

VIII.

Es ist unvermeidlich, daß die Menschen unserer Welt die christliche Lehre: „Widerstrebe nicht dem Uebel mit Gewalt!“ annehmen

IX.

Die Annahme der christlichen Lebensauffassung befreit die Menschen von den Nöten unseres heidnischen Lebens

X.

Die Unnützlichkeit der staatlichen Gewalt für die Vernichtung des Uebels. Der sittliche Fortschritt der Menschen vollzieht sich nicht nur durch die Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch durch die Bildung einer öffentlichen Meinung

XI.

Die christliche öffentliche Meinung keimt schon in unserer Gesellschaft und wird unvermeidlich die gewalthaberische Ordnung unseres Lebens zerstören. Wie das sein wird

XII.

Schluß: Thut Buße, denn das Reich Gottes ist nah', vor der Thür

Ausführliches Verzeichnis zu den Buchkapiteln, mit Inhaltsangaben

VORWORTzu dieser Neuedition der Tolstoi-Friedensbibliothek

Mit seinen religiösen und sozialkritischen Schriften erreichte der russische Dichter LEO N. TOLSTOI (1828-1910) schon zu Lebzeiten eine Leserschaft auf dem ganzen Globus. Dieser Botschafter der Gewaltfreiheit inspirierte viele Menschen zu einem neuen Weg der Befreiung. Das hat zeitweilig sogar die „Weltgeschichte“ mit bewegt. Über das hier neu edierte, in den Jahren 1890-1893 entstandene Werk vermerkt der Inder MOHANDAS KARAMCHAND GANDHI in seiner Autobiographie nämlich: „Tolstois ‚Das Reich Gottes ist inwendig in euch‘ überwältigte mich. Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrheitsliebe dieses Buches schienen alle mir von Mr. Coates [einem befreundeten Quäker] gegebenen Bücher zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen.“1

Manch einer mag beim ersten Lesen des Titels „Das Reich Gottes ist in euch“ harmlose Erbauungsliteratur erwarten. Doch es geht dem Verfasser um nichts weniger als um die Wiedergewinnung eines subversiven Christentums, das keinen Pakt mit den Mächtigen eingeht und die herrschenden Besitzverhältnisse nicht segnet. Im Zentrum steht eine Fundamentalkritik von staatlicher Gewalt, Krieg und Militarismus: „Die revolutionären Feinde kämpfen von außen mit der Regierung. Das Christentum aber … erschüttert von innen alle Grundlagen der Regierung.“

Ohne den Vorwurf der Renundanz zu scheuen, hält TOLSTOI der Gewöhnung an die Alltäglichkeit der – vorgeblich rechtmäßigen – Grausamkeiten und Verbrechen in immer neuen Anläufen bzw. Variationen seine Betrachtung der wirklichen Verhältnisse entgegen. Der Lesemeister mit Kontakten nicht nur auf dem eigenen Kontinent kann Zeugen aus aller Welt – zumal aus friedenskirchlichen Kreisen Nordamerikas – zu Rate ziehen. Der ganz ‚normale Wahnsinn‘ wird, soweit es den nahen Lebenskreis betrifft, jedoch vorzugsweise auf der Grundlage eigener Anschauung erzählt und rekapituliert.

Zur Editionsgeschichte teilt Daniel Riniker mit: „Noch bevor Buchausgaben des Traktats erscheinen konnten, druckten Zeitungen in Frankreich Auszüge ab, in denen die Auspeitschungen von Bauern in den Gouvernements Tula und Orel geschildert werden. 1893 erschienen französische und italienische Buchausgaben, 1894 eine englische und im selben Jahr in Deutschland eine deutsche und eine russische Ausgabe, letztere allerdings in einer stark gekürzten Fassung. Die französische Ausgabe von Gottes Reich ist in euch wurde von der russischen Zensur als ‚hochgradig schädlich‘ eingestuft und die Einfuhr nach Rußland verboten. Die erste vollständige russische Ausgabe erschien 1896 in Genf, 1898 eine weitere in England. In Russland konnte Tolstojs Traktat erstmals 1906 veröffentlicht werden.“2

Über die von uns ermittelten Übersetzungen für eine deutschsprachige Leserschaft orientiert die diesem Nachwort angefügte „Bibliographische Übersicht“. Seit über hundertzehn Jahren sind keine Neuauflagen des deutschen Gesamttextes mehr erschienen. Das Werk ist auch nicht in Form von fotomechanischen Nachdrucken oder teuren Antiquariatsexemplaren erhältlich. Im Internetarchiv konnte man bislang nur den ersten von zwei Bänden der Diederichs-Ausgabe des Jahres 1911 abrufen.

Die vorliegende Neuedition enthält ohne Kürzungen – in einem Band vereinigt – alle Teile der Übersetzung von RAPHAEL LÖWENFELD3. Die Darbietung des eigentlichen Haupttextes folgt aus rein pragmatischen Gründen der ersten Auflage aus dem Jahr 1894.4 R. LÖWENFELD, der verdienstvollste und gründlichste Vermittler der Schriften TOLSTOIS für eine deutschsprachige Leserschaft, hat seine editorische Arbeit mitnichten nur aus purer ‚Sprachliebhaberschaft‘ vollbracht.5 Seine auf →S. 11-15 dokumentierte Einführung zu den Neuauflagen 1903 und 1911 (postum) zeugt vielmehr von großer Sympathie für TOLSTOIS Botschaft. Dass er den – ursprünglich von TOLSTOI selbst vorgesehenen, dann wieder verworfenen – Titel „Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht“ in der ersten Auflage seiner Übersetzung dem inneren ‚Schmutztitel‘ (Antiporta) und der Einleitung des Traktates hinzugefügt hat, spricht ebenfalls eher für eine Identifikation mit der Schrift, deren allererste Drucklegung in russischer Sprache (Berlin 1894) er übrigens auch besorgt hat.

In der Reihe A der Tolstoi-Friedensbibliothek liegt neben diesem Buch (Band 9) bislang nur das Werk „Meine Beichte“ (Band 1) vor. Die Vorarbeiten zu den Bänden 2 – 8 sind aber schon so weit gediehen, dass wir – der Herausgeber, Ingrid von Heiseler, Katrin Warnatzsch, Bodo Bischof sowie weitere Mitarbeitende – mit gutem Gewissen ein Erscheinen im weiteren Jahreslauf in Aussicht stellen dürfen.

Düsseldorf, 12. März 2023 Peter Bürger

BIBLIOGRAPHISCHE ÜBERSICHT

Sowjetische Werkausgabe

Leo N. TOLSTOJ: Carstvo Božie vnutri vas, ili christianstvo ne kak mističeskoe učenie, a kak novoe žizneponimanie | Царство Божие внутри вас (Das Reich Gottes ist in euch, entstanden 1890-1893). In: PSS [Russische Gesamtausgabe in 90 Bänden, Moskau 1928-1957ff: Polnoe sobranije sočinenij] – Band 28, S. 1-306. [Auch hier: https://tolstoy.ru/creativity/90-volume-collection-of-the-works/]

1894a: Erste Drucklegung des russischen Textes

Leo N. TOLSTOJ: Carstvo Božie vnutri vas ili christianstvo ne kak mističeskoe učenie, a kak novoe žizneponimanie. 1/2. Berlin: Bibliogr. Bjuro 1894; Leo N. TOLSTOJ: Carstvo Božie vnutri vas ili christianstvo ne kak mističeskoe učenie… Berlin: A. Dejbner [1894]. [Beide nicht eingesehen.]

1894b (1903/1911): Übersetzung von Raphael Löwenfeld

Leo N. TOLSTOJ: Das Reich Gottes ist in Euch – oder Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. (Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht). Vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Raphael Löwenfeld. Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien: Deutsche Verlags-Anstalt 1894. [XX und 526 Seiten.] | Inhaltsgleiche, z. T. verbesserte Folgeauflage 1903. Leo TOLSTOI: Das Reich Gottes ist (inwendig) in Euch oder das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. Erster Band. [= Leo N. Tolstoj – Gesammelte Werke, Serie I, Band 6]. Jena: Verlag Eugen Diederichs 1903. [273 Seiten - Beteiligung Johann Vincenz Cissarz?]; Zweiter Band. [= Leo N. Tolstoj – Gesammelte Werke, Serie I, Band 7]. Jena: Verlag Eugen Diederichs 1911. [350 Seiten]. [Beide Bände nicht eingesehen] | Folgeauflage 1911. Leo TOLSTOI: Das Reich Gottes ist inwendig in Euch oder das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. Erster Band. [= Leo N. Tolstoj – Gesammelte Werke, Serie II: Religiös-ethische Schriften, Band 8]. Jena: Verlag Eugen Diederichs 1911. [273 Seiten]; Zweiter Band. [= Leo N. Tolstoj – Gesammelte Werke, Serie II: Religiös-ethische Schriften, Band 9]. Jena: Verlag Eugen Diederichs 1911. [350 Seiten]

1894c: Übersetzung von L. Albert Hauff (Teilübersetzung?)

Leo TOLSTOI: Gottes Reich ist in Euch, oder Das Christentum nicht als eine mystische Lehre, sondern als neue Lebensanschauung. Übersetzt von L. A[lbert]. Hauff. Berlin: Janke 1894. [XII und 294 Seiten] [Nicht eingesehen; vermutlich nur eine Teilübersetzung.]

1894d: Irreführende Teilübersetzung von Wilhelm Henckel

Leo TOLSTOJ: Das Reich Gottes in uns (I.) / Eine russische Rekrutenaushebung / Das Nichtsthun. Aus dem Russischen übersetzt von W[ilhelm]. Henckel. Nebst einer Rede von Emile Zola und einem Brief von Alex. Dumas. München: Verlag von Dr. E. Albert & Co. 1894. [96 Seiten] [Darin als kurze Teilübersetzungen aus dem Werk nur auf S. 1-42: Das Reich Gottes in uns (I.); S. 43-50 ohne Quellenhinweis, nach französischer Übersetzung: Eine russische Rekrutenaushebung.]

1894e (1934): Teilübersetzung von Erich Pott

Leo TOLSTOI: Das Reich Gottes ist inwendig in euch, oder das Christentum eine neue Lebensauffassung, nicht eine mystische Lehre. Übersetzt von Erich Pott. Lorch (Württemberg): Renatus-Verlag 1894 / Neuauflage 1934. [160 Seiten] [Nicht eingesehen, der Umfang lässt auf Buchauszüge schließen.]

2014/15: Teilübersetzung von Dorothea Trottenberg

Leo N. TOLSTOJ: Das Reich Gottes ist in euch (kurze Auszüge), übersetzt von Dorothea Trottenberg. In: Martin George / Jens Herth / Christian Münch / Ulrich Schmid (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 182-187.

1 Mohandas Karamchand GANDHI: Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Würzburg: Hinder + Deelmann 72001, S. 125 (vgl. ebd., S. 122-125 den ganzen Abschnitt „Religiöse Gärung“).

2 Martin GEORGE / Jens HERTH / Christian MÜNCH / Ulrich SCHMID (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. (Übersetzung der Tolstoj-Texte von Olga Radetzkaja und Dorothea Trottenberg, Kommentierung von Daniel Riniker). Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 182.

3 Vgl. zu ihm Helmut SCHALLER: Raphael Löwenfeld (1854-1910) – sein Weg von der slawischen Philologie in Breslau zum Theater in Berlin. In: K. Harer /H. Schaller (Hg.): Festschrift für Hans-Bernd Harder zum 60. Geburtstag. (= Marburger Studien, Band 36). München / Berlin: Verlag Otto Sagner, S. 489-499.

4 Im Archiv des Versöhnungsbundes gab es bereits eine digitale Vorlage.

5 Vgl. zu ihm dagegen Edith HANKE: Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende. Tübingen: Max Niemeyer 1993, S. 43: „Fast zwanzig Jahre verbrachte er mit der Publikation des Tolstoischen Werks. Trotzdem: er war kein Tolstoianer. […] Löwenfeld war vor allem Sprachliebhaber. […] Trotz seiner distanzierten Haltung gegenüber dem späten Tolstoi gebot sein Berufsethos, die gleiche Sorgfalt auch bei der Herausgabe des Spätwerks walten zu lassen.“

EINFÜHRUNG(1903)

Von Raphael Löwenfeld6

Obgleich die sozial-ethischen Schriften Tolstojs, die die schärfste Kritik aller herrschenden religiösen Ideen und Formen und aller staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bedeuten, in Rußland nicht gedruckt werden konnten, waren sie allen Gebildeten durch mechanische Vervielfältigungen in der Originalsprache und durch die im Auslande erschienenen Uebersetzungen bekannt geworden. Der Eindruck der drei gewichtigen Schriften, die unter dem Titel: „Meine Beichte“, „Mein Glaube“, und „Was sollen wir denn thun?“ innerhalb weniger Jahre in die Welt hinausgegangen waren, hatten einen lebhaften Meinungsstreit angeregt und eine ungeheure Erregung der Gemüter hervorgerufen. Gedruckt durften die genannten Schriften nicht werden, bekämpft aber wurden sie in Büchern weltlicher Gegner und in Kanzelreden orthodoxer Geistlicher. Man sprach von den ,,verbotenen Schriften“ Leo Tolstojs und setzte voraus, daß Jedermann wußte, wovon die Rede war, und daß Jedermann sie gelesen hatte.

Diese Art der Behandlung tief eingreifender Werke eines allgemein bekannten Schriftstellers hätten allein schon genügt, um über ihren Inhalt arge Irrtümer zu verbreiten. Böse Absicht that ein weiteres zur Fälschung dessen, was man seine Lehre nannte; Mißverständnisse über Mißverständnisse traten hinzu, und vage Gerüchte über die Lebensweise des Verfassers der viel bewunderten Erzählungen ,,Krieg und Frieden“ und ,,Anna Karenina“ – teils gutgläubig verbreitet, teils absichtsvoll erfunden – thaten das Letzte, um von dem Ideengehalte der Bücher die falschesten Vorstellungen zu geben und das Charakterbild des Menschen auf's häßlichste zu entstellen.

Die Kirche setzte geflissentlich in Umlauf, der Verfasser der ,,Beichte“ lasse seine kirchenfeindlichen Schriften, die in Rußland natürlich verboten seien, auch im Auslande nicht drucken, weil er selbst schon eingesehen habe, auf wie schwankender Grundlage seine Betrachtungen stünden. Man unterschlug bei dieser Behauptung, was man wissen mußte: daß er alle seine Arbeiten der Zeitschrift „Der russische Gedanke“ (Russkaja Myslj) zur Veröffentlichung übergeben hatte, und daß er jetzt, nachdem die Censur sie unterdrückt hatte, auf ihre Herausgabe in russischer Sprache durch ausländische Verleger keinen Wert zu legen brauchte, weil sie trotz des Verbots der Drucklegung im russischen Inlande überall verbreitet waren und längst in fremden Sprachen den Weg zu gebildeten Lesern aller Zungen gefunden hatten.

Und als Tolstoi eines Tages dem Gerichtsvorsitzenden, der ihn als Geschworenen vorgeladen hatte, erklärte, seine religiöse Ueberzeugung erlaube ihm nicht, an einem Gericht teilzunehmen, nützte man diese einfache Thatsache auf das infamste aus, um der Masse zu erzählen, der curiose Graf, der im Bauernkittel einhergeht und seinen Acker bestellt, sei nicht im vollen Besitze seiner geistigen Kräfte.

Ein Kampf der Ideen, mit so schmählichen Mitteln geführt, mußte zu starker Parteinahme führen. Das geistige Rußland zerfiel in zwei Lager: die einen, beseelt von der Empfindung, daß hier ein starker Geist an das Werk der Läuterung einer durch Herrschsucht und Unwissenheit tief gesunkenen Gemeinschaft herangehe, nahmen leidenschaftlich für den Verkünder der neuen Lehre Partei, die Vertreter des Alten nicht minder leidenschaftlich gegen den Mann, der das morsche Gebäude zerstören wollte, das ihnen so behaglich Unterkunft gewährte. Aus allen Teilen des Reiches erhielt Tolstoi Zuschriften. Er beantwortete sie in unzähligen Episteln, von denen ja einzelne auch in die Oeffentlichkeit gedrungen sind, Hunderte und Tausende in geheimer Vervielfältigung nur auf engere Kreise weiter und weiter wirkten.

Auch außerhalb Rußlands, besonders in Amerika, wo der Meinungsstreit über religiöse Fragen nie ruht, fanden Tolstojs kritische Gedanken über das Urchristentum als eine Lehre glückbringenden Zusammenlebens Tausende von Anhängern, und viele Männer von Bedeutung und Vereinigungen von Einfluß suchten die Verbindung mit dem Denker von Jasnaja Poljana.

Die öffentliche Kritik und die tausendfältigen nichtöffentlichen Beweise seines weitreichenden Einwirkens auf die Gemüter führte Tolstoi immer wieder zu der Durchforschung der Fragen zurück, denen er seit einem Jahrzehnt seine schriftstellerische Arbeit nahezu ganz gewidmet hatte.

So entstand als ein letzter Abschluß seiner inneren Kämpfe die umfangreichste seiner sozial-ethischen Schriften: ,,Das Reich Gottes ist inwendig in Euch“ oder „Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als eine mystische Lehre“.

Der lange Untertitel giebt treffend den Grundgedanken des Werkes wieder.

Was die Kirche als Christi Lehren predigt, ist nicht Christi Lehre. Christus hat nie an eine Organisation gedacht, wie es die Kirche ist, und nie mystischer Behelfe bedurft. Was er lehrt, ist dazu bestimmt, ein Zusammenleben der Menschen herzustellen, in dem die Gesamtheit wie der Einzelne das höchste Maß von Glückseligkeit genießt. Von diesem Ziel ist das von Fürsten und Priestern aus Herrschsucht geschaffene Christentum ganz und gar abgewichen. Christi Lehre ist in ihr Gegenteil verkehrt. Ueberall herrscht die Gewalt, während Christi erste und höchste Lehre die Verleugnung aller Gewalt ist.

Noch einmal werden im „Reich Gottes“ all die Gedanken vorgetragen, die·in der „Beichte“ und den zwei folgenden Schriften nach allen Seiten erörtert worden sind. Es wird ausführlich nachgewiesen, daß die Lehre des Evangeliums von den Vertretern des Christentums auf's schlimmste mißdeutet worden ist. Wo sich irgend einmal das wahre Verständnis für die reine Lehre Christi regte, wurde es niedergehalten und bekämpft, und das aus Eigennutz; denn die herrschenden Klassen, an ihrer Spitze Fürsten und Priester, haben den Vorteil von der falschen Lehre Christi. Wer diesen Gedanken recht erfaßt hat, der müßte, gehört er zu den Herrschenden, auf alles, was ihm unser gegenwärtiges Leben an ungerechten Vorrechten bietet, verzichten, gehört er zu den Beherrschten, alle Furcht vor der Autorität von sich werfen und das natürliche Recht zurückfordern, das keine Herrscher und keine Beherrschten kennt.

Kein Christ dürfte einen Eid leisten, denn die reine Lehre des Evangeliums verbietet jeden Eid. Vor allem aber dürfte niemand, der die Lehre des Evangeliums im rechten Geiste auffaßt und von ihr durchdrungen ist, einem Herrscher den Eid der Treue leisten und sich unter das Joch der allgemeinen Wehrpflicht beugen. Denn was bedeutet die allgemeine Wehrpflicht? Sie bedeutet nichts anderes, als daß der Mensch durch den einmal geleisteten Eid sich zum Gehorsam gegen jedes Wort des Befehlshabers verpflichtet, und forderte es von ihm auch das Schlimmste. Das aber darf kein Christ thun. Die allgemeine Wehrpflicht und das Christentum sind unvereinbare Dinge.

Wenn alle, die sich heute mit Unrecht Christen nennen, von dem Geiste des reinen Evangeliums erfüllt sein werden, wenn sie die Worte Christi nicht auslegen werden, wie es ihr Vorteil lehrt, werden alle Ungerechtigkeiten unseres gegenwärtigen Zusammenlebens von selbst, ohne gewaltsamen Umsturz, schwinden. Der Haß des Einzelnen gegen den Einzelnen wird keine Nahrung mehr finden, die Völker werden sich nicht wie Feinde gegenüberstehen, und der ewige Friede wird da sein, ohne Beratungen und Kongresse, ohne völkerrechtliche Betrachtungen und ohne Friedensgerichte. Denn das Reich Gottes, das Christus gelehrt hat, ist inwendig in den Menschen. Es ist erfüllt, wenn sie aufhören, die Worte Christi als eine mystische Lehre zu betrachten, wenn sie erkennen, daß sie nichts anderes sind, als eine neue Lebensauffassung.

Solcher Lebensauffassungen giebt es, entsprechend dem Lebensalter der Menschen drei: die tierische der Gewalt, die Lebensauffassung der Heiden; dieser folgte die gesellschaftliche Lebensauffassung, die unser Dasein. bestimmt, und die abgelöst werden muß von der Lebensauffassung der Liebe, wie sie Christus gelehrt hat.

Das sind die wesentlichen Gedanken des Werkes, das reich ist an alten, von Tolstoi schon früher gelehrten Ideen, und reicher noch an neuen, die sich mit strengster Folgerichtigkeit aus einer Grundauffassung ergeben.

Mit außerordentlicher Beredsamkeit, wenn auch nicht immer gleichmäßig klar und schön im Vortrag, wird der völkerumfassende Gedanke des Friedens von allen Seiten als ein erreichbares Glück der Menschheit beleuchtet und mit außerordentlicher Kraft die Einzelnen aufgerufen zum Widerstand gegen die verkehrten Handlungen der bestehenden Gesellschaft der Herrschenden und der Beherrschten, die aus einem Wahn, einer allgemeinen Betäubung hervorgehen. Diese Betäubung will Tolstoi von dem Geiste der Menschen nehmen. Gelingt dies, dann ist es nicht mehr fern, daß der Einzelne und die Gesamtheit die Lehre Christi als den besten Wegweiser für das Glück der Menschen erkennen und durch Befolgung seiner Lehre das Reich Gottes selber erschaffen.

„Das Reich Gottes“ ist im Jahre 1893 entstanden. Es konnte natürlich in Rußland nicht gedruckt werden. Die erste Ausgabe des Originals erschien in Berlin im Jahre 1894.7 Leo Tolstoi hatte mir das Manuskript in seiner letzten Redaktion geschickt, und ich besorgte hier (unterstützt von einem jungen Russen, der die Korrekturen las) die russische Ausgabe. Gleichzeitig erschien meine Uebersetzung des Werks (bei der Deutschen Verlags-Anstalt) in Stuttgart.

Die hier folgende Uebersetzung8 ist ein Neudruck der damals erschienenen. Aenderungen im Text waren nicht nötig, in der Uebertragung habe ich an manchen Stellen Verbesserungen vorgenommen.

Leo N. Tolstoi (1828-1910), im Jahr 1896 (Шерер, Набгольц и Ко | http://vm1.culture.ru)

6 Textquelle für Löwenfelds Einführung von 1903 | Leo N. TOLSTOJ: Das Reich Gottes ist inwendig in Euch – oder Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als eine mystische Lehre. Erster Band. (= Leo N. Tolstoi: Gesammelte Werke II. Serie, Band 8). Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. Jena: Eugen Diederichs Verlag 1911, S. 1-6. [Fehlt in der Auflage 1894]

7 [In Bibliothekskatalogen werden folgende zwei frühe Berliner Ausgaben ausgewiesen (pb): Leo N. TOLSTOJ: Carstvo Božie vnutri vas ili christianstvo ne kak mističeskoe učenie, a kak novoe žizneponimanie. 1-2. Berlin: Bibliogr. Bjuro 1894; Leo N. TOLSTOJ: Carstvo Božie vnutri vas ili christianstvo ne kak mističeskoe učenie … Berlin: A. Dejbner (1894).]

8 [Dies bezieht sich auf die Neuedition von 1903/1911; wir erschließen in diesem Band jedoch den Text nach der Erstausgabe von Löwenfelds Übersetzung aus dem Jahre 1894. pb]

Leo N. Tolstoj

Das Reich Gottes ist in Euch

oder Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre

(Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht)

Vom Verfasser autorisirte Uebersetzung

von Raphael Löwenfeld9

(1894)

Und werdet die Wahrheit erkennen,

und die Wahrheit wird euch freimachen.

Joh. VIII. 32.

Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten,

und die Seele nicht mögen töten.

Fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib

und Seele verderben mag in die Hölle.

Matth. X. 28.

Ihr seid teuer erkauft,

werdet nicht der Menschen Knechte.

1. Korinther VII. 23.

9 Textquelle | Leo N. TOLSTOJ: Das Reich Gottes ist in Euch – oder Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. Vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Raphael Löwenfeld. Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien: Deutsche Verlags-Anstalt 1894. [XX und 526 Seiten]

CHRISTI LEHRE UND DIE ALLGEMEINE WEHRPFLICHT

Das Reich Gottes ist inwendig in euch. (Luk. 17,21.)

Im Jahre 1884 habe ich ein Buch verfaßt unter dem Titel: „Worin besteht mein Glaube?“ In diesem Buche habe ich der Wahrheit gemäß dargelegt, was ich glaube.

Bei der Darlegung meines Glaubens an die Lehre Christi konnte ich nicht unausgesprochen lassen, warum ich den Kirchenglauben, der gemeinhin Christentum genannt wird, nicht glaube und ihn für eine Verirrung halte.

Unter den vielen Abweichungen dieser Lehre von der Lehre Christi habe ich auf die wesentlichste hingewiesen und zwar darauf, daß sie das Gebot: „Widerstrebet nicht dem Uebel mit Gewalt,“ nicht anerkennt, das deutlicher als alle anderen Abweichungen die Verdrehung der Lehre Christi durch die Kirchenlehre zeigt.

Ich wußte, wie wir alle, sehr wenig davon, was in der Frage des Nicht-Widerstrebens in früheren Zeiten geschehen war, und was darüber gepredigt und geschrieben war. Ich wußte, was über diesen Gegenstand bei den Kirchenvätern gesagt war – bei Origines, Tertullian und anderen – ich wußte auch, daß es einige sogenannte Sekten: Mennoniten, Herrnhuter, Quäker gegeben hat und gab, die den Christen den Gebrauch der Waffen verbieten und Kriegsdienste verweigern; was aber von diesen sogenannten Sekten für die Klärung dieser Frage geschehen war, war mir wenig bekannt.

Mein Buch wurde, wie ich auch erwartet hatte, von der russischen Censur unterdrückt, verbreitete sich aber teils infolge meines Rufes als Schriftsteller, teils, weil es die Menschen interessirte, in Handschriften und Lithographien über Rußland und in Uebersetzungen im Ausland, und rief einerseits eine Reihe von Mitteilungen von Werken über denselben Gegenstand hervor, die mir von Männern zugingen, die meine Ansichten teilten, andererseits eine Reihe von Kritiken der im Buche selbst ausgesprochenen Ideen.

Das eine wie das andere in Gemeinschaft mit den geschichtlichen Erscheinungen der jüngsten Zeit machten mir sehr vieles klar und führten mich zu neuen Ergebnissen und Schlüssen, die ich nun darlegen will.

Ich will zunächst von den Mitteilungen sprechen, die ich über die Geschichte der Frage des Nicht-Widerstrebens empfangen habe; dann von den Urteilen über diese Frage, wie sie sowohl geistliche Kritiker, das heißt Menschen, die die christliche Religion bekennen, als auch weltliche, das heißt solche, die die christliche Religion nicht bekennen, ausgesprochen haben, und endlich die Ergebnisse, zu welchen ich durch die einen wie durch die anderen und durch die geschichtlichen Ereignisse der jüngsten Zeit gelangt bin.

I. DIE LEHRE VOM NICHT-WIDERSTREBEN IST SEIT DER BEGRÜNDUNG DES CHRISTENTUMS VON DER MINDERHEIT DER MENSCHEN BEKANNT WORDEN UND WIRD JETZT VON DER MINDERHEIT DER MENSCHEN BEKANNT

Eine der ersten Echostimmen auf mein Buch waren Briefe von amerikanischen Quäkern. In diesen Briefen drückten mir die Quäker ihre Zustimmung zu meinen Anschauungen über die Ungesetzlichkeit jeglicher Gewalt und jeglichen Kriegs für den Christen aus und teilten mir Einzelheiten über ihre sogenannte Sekte mit, die seit mehr als 200 Jahren durch die That die Lehre Christi vom Nicht-Widerstreben bekennen, und die seit länger als 200 Jahren zur Verteidigung ihrer Person keine Waffe gebraucht haben und auch jetzt nicht brauchen. Zugleich mit diesen Briefen schickten mir die Quäker ihre Flugschriften, Zeitschriften und Bücher. Aus diesen mir zugesandten Zeitschriften, Flugschriften und Büchern erfuhr ich, in welchem Grade sie schon seit vielen Jahren unwiderleglich die Pflicht der Erfüllung des Gebots vom Nicht-Widerstreben für den Christen bewiesen, und die Unrichtigkeit der kirchlichen Lehre, die Strafen und Kriege zuläßt, aufgedeckt haben.

Indem die Quäker durch eine Reihe von Abhandlungen und Texten beweisen, daß mit der Religion, die auf der Friedensliebe und dem Wohlwollen für alle Menschen begründet ist, der Krieg, das heißt die Verstümmelung und Tötung von Menschen, unvereinbar ist, behaupten sie und beweisen, daß nichts zu der Verdunkelung der christlichen Wahrheit in den Augen der Heiden so viel beigetragen und nichts der Verbreitung des Christentums in der Welt so sehr geschadet hat, als die Nichtanerkennung dieses Gebots durch Menschen, die sich Christen nennen – als die Duldung des Krieges und der Gewalt für die Christen.

Christi Lehre darf nicht in das Bewußtsein der Menschen eintreten durch das Schwert und die Gewalt, sagen sie, sondern durch das Nicht-Widerstreben, durch Milde, durch Demut und Friedensliebe – nur durch das Beispiel des Friedens, der Eintracht und der Liebe unter seinen Anhängern kann sie sich in der Welt verbreiten. „Der Christ kann, nach der Lehre Gottes selbst, in seinen Beziehungen zu den Menschen nur durch die Friedensliebe geleitet werden, daher kann es keine Autorität geben, die den Christen veranlassen könnte, gegen die Lehre Gottes und die wesentliche Eigenschaft des Christen in seinen Beziehungen zu dem Nächsten zu handeln.“

„Das Gesetz der staatlichen Notwendigkeit,“ sagen sie, „kann diejenigen veranlassen, das Gebot Gottes zu verraten, die um weltlicher Vorteile willen sich bemühen, Nichtvereinbares vereinbar zu machen – für den Christen aber, der in Wahrheit glaubt, daß ihm die Befolgung der Lehre Christi das Heil bringt, kann dieser Grundsatz keinerlei Bedeutung haben.“

Die Bekanntschaft mit der Wirksamkeit der Quäker und ihren Werken: mit Fox, Paine und besonders mit dem Buche Dymonds vom Jahre 1827 – hat mir gezeigt, daß nicht nur schon in uralter Zeit die Unmöglichkeit der Vereinbarkeit des Christentums mit Gewalt und Krieg anerkannt worden ist, sondern daß diese Unvereinbarkeit seit uralter Zeit so klar und so unzweifelhaft bewiesen ist, daß man sich nur wundern muß, wie es möglich ist, daß diese unmögliche Vereinigung der christlichen Lehre mit der Gewalt fortdauern kann, die von den Kirchen gepredigt worden ist und noch gepredigt wird.

Außer den Mitteilungen, die ich von den Quäkern erhielt, bekam ich um dieselbe Zeit auch aus Amerika Mitteilungen über denselben Gegenstand aus einer völlig andern, mir bis dahin gänzlich unbekannten Quelle.

Der Sohn William Lloyd Garrisons, des berühmten Vorkämpfers für die Freiheit der Neger, schrieb mir, er habe mein Buch gelesen und habe darin Ideen gefunden, die mit denen übereinstimmen, die sein Vater im Jahre 1838 ausgesprochen habe, und da er voraussetzte, es würde mich interessiren, sie kennen zu lernen, schickte er mir die von seinem Vater vor beinahe fünfzig Jahren abgefaßte Erklärung oder Proklamation des Nicht-Widerstrebens – „Non-resistance“.

Diese Proklamation ist unter folgenden Umständen entstanden: William Lloyd Garrison erörterte in der im Jahre 1838 in Amerika thätigen Gesellschaft zur Begründung des Friedens unter den Menschen die Mittel, den Krieg abzuschaffen, und kam zu dem Schluß, daß die Befestigung des allgemeinen Friedens nur begründet werden könne auf der offenkundigen Anerkennung des Gebots: „Widerstrebet nicht dem Uebel“ (Math. 5,39) in seiner ganzen Bedeutung, so wie die Quäker es auffassen, mit denen Garrison in freundschaftlichen Beziehungen stand. Nachdem Garrison zu diesem Schlusse gelangt war, verfaßte er folgenden Aufruf, den er der Gesellschaft vorlegte, und der auch damals, im Jahre 1838, von vielen Mitgliedern unterzeichnet wurde:

„Verkündigung der Grundsätze, welche die Mitglieder

der Gesellschaft zur Begründung des allgemeinen Friedens

unter den Menschen angenommen haben.

Boston 1838.

Wir, die Unterzeichneten, halten es für unsere Pflicht gegen uns selbst, gegen eine Sache, die uns am Herzen liegt, gegen das Land, in dem wir wohnen, und gegen die ganze übrige Welt, dieses unser Bekenntnis zu veröffentlichen, indem wir die Grundsätze aussprechen, an denen wir festhalten, die Ziele, denen wir nachstreben, und die Mittel, die wir anwenden wollen, um eine allgemeine, segensreiche und friedliche Umwälzung herbeizuführen. Unser Bekenntnis aber ist folgendes:

‚Wir erkennen keinerlei menschliche Regierung an. Wir erkennen nur einen König und Gesetzgeber, nur einen Richter und Leiter über der Menschheit an. Als unser Vaterland erkennen wir die ganze Welt an, als unsere Mitbürger die ganze Menschheit. Wir lieben unser Heimatland so, wie wir die anderen Länder lieben. Die Angelegenheiten und Rechte unserer Mitbürger sind uns nicht teurer, als die Angelegenheiten und Rechte der gesamten Menschheit, daher gestehen wir nicht zu, daß das Gefühl der Vaterlandsliebe Rache für Kränkung oder für Schaden, der unserem Volke zugefügt wird, rechtfertigen könnte …

Wir erkennen an, daß ein Volk weder das Recht hat, sich gegen äußere Feinde zu verteidigen, noch sie zu überfallen. Wir erkennen auch an, daß einzelne Personen in ihren persönlichen Beziehungen dieses Recht nicht haben können. Das Einzelwesen kann keine größere Bedeutung haben, als die Gesamtheit solcher. Wenn die Regierung fremdländischen Eroberern keinen Widerstand leisten darf, die unser Vaterland verwüsten und unsere Mitbürger ausrotten wollen, so darf ebensowenig einzelnen Persönlichkeiten mit Gewalt Widerstand geleistet werden, die den Frieden der Gesellschaft antasten und die persönliche Sicherheit bedrohen. Der von den Kirchen gepredigte Satz, daß alle Reiche auf Erden von Gott gegründet und anerkannt sind, und daß alle Gewalten, die in den Vereinigten Staaten, in Rußland, in der Türkei, vorhanden sind, dem Willen Gottes entsprechen, ist ebenso thöricht, wie lästerlich. Diese Behauptung sieht in unserem Schöpfer ein parteiisches Wesen, welches das Böse einsetzt und begünstigt. Niemand wird zu behaupten wagen, daß die in irgend einem Lande bestehenden Gewalten in Bezug auf ihre Feinde im Geiste der Lehre und nach dem Beispiele Christi handeln. Daher kann die Wirksamkeit dieser Gewalten nicht gottgefällig sein, und darum können auch diese Gewalten nicht von Gott eingesetzt sein und müssen vernichtet werden, nicht durch Gewalt, sondern durch eine geistige Wiedergeburt der Menschen.

Wir erkennen als nichtchristlich und als nichtgesetzlich an: nicht nur die Kriege selbst – Angriffskriege, wie Verteidigungskriege – sondern auch alle Vorbereitungen zu dem Kriege: den Bau von Waffenhäusern, Befestigungen, Kriegsschiffen; wir erkennen als nicht christlich und nicht gesetzlich an: die Existenz irgend welcher stehenden Heere, militärischer Obrigkeiten, Denkmäler zu Ehren von Siegen oder gefallenen Feinden, Trophäen, die auf dem Schlachtfeld erbeutet sind, jeglicher Feier kriegerischer Großthaten, jeglicher Eigentumsverletzung durch militärische Kräfte. Wir erkennen als unchristlich und ungesetzlich an: jede obrigkeitliche Bestimmung, die von ihren Untergebenen Kriegsdienste fordert.

Nach alledem halten wir es nicht nur für unmöglich für uns, Kriegsdienste zu leisten, sondern auch irgend ein Amt anzunehmen, das uns verpflichtet, die Menschen durch die Furcht vor dem Gefängnis oder der Todesstrafe zu gutem Handeln zu zwingen. Wir schließen uns daher freiwillig von allen Regierungsinstitutionen aus und verzichten auf jede Politik, alle weltlichen Ehren und Aemter.

Ebenso halten wir uns nicht für berechtigt, Stellungen einzunehmen in Regierungsinstituten; wir halten uns auch nicht für berechtigt, andere Personen für diese Stellungen zu wählen. Wir halten uns auch nicht für berechtigt, mit Menschen vor Gericht zu gehen, um sie zur Rückgabe des uns Genommenen zu veranlassen. Wir glauben vielmehr, daß wir verpflichtet sind, dem, der uns den Rock genommen hat, auch den Mantel zu geben, keineswegs aber gegen ihn Gewalt anzuwenden. Math. 5,40.

Wir glauben daran, daß das Strafgesetz des Alten Testaments: Auge um Auge, Zahn um Zahn, von Jesus Christus aufgehoben ist, und daß, nach dem Neuen Testament, allen seinen Anhängern in allen Fällen ohne Ausnahme Vergebung für die Feinde anstatt der Rache gepredigt wird. Mit Gewalt aber Geld erpressen, in das Gefängnis sperren, in die Verbannung schicken oder zum Tode verurteilen, ist offenbar nicht Vergebung der Kränkung, sondern Rache.

Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beweisen dafür, daß körperliche Gewalt der sittlichen Wiedergeburt widerstrebt, und daß die sündhaften Neigungen des Menschen nur durch die Liebe unterdrückt werden können, daß das Uebel nur durch das Gute vernichtet werden kann, daß man nicht vertrauen darf auf die Kraft des Armes, um sich gegen das Uebel zu wehren, daß die wahre Sicherheit für den Menschen in der Güte, in der Langmut und im Erbarmen liegt, daß nur die Demütigen die Erde besitzen, und die das Schwert ergreifen, vom Schwerte zu Grunde gehen werden. Aus diesem Grunde und damit Leben, Eigentum, Freiheit, die gesellschaftliche Eintracht und das Wohl der Menschen zuverlässiger gesichert seien, wie auch, um den Willen dessen zu erfüllen, der der König der Könige, der Herr der Herren ist, nehmen wir von ganzem Herzen die Grundlehre des Nicht-Widerstrebens an und glauben innig, daß diese Lehre allen möglichen Fällen entspricht und den Willen Gottes ausdrückt und schließlich über alle bösen Mächte triumphiren muß. Wir predigen keine revolutionäre Lehre. Der Geist der revolutionären Lehre ist der Geist der Rache, der Gewaltthat und des Mordes. Er fürchtet Gott nicht und achtet die menschliche Persönlichkeit nicht. Wir aber streben darnach, von dem Geiste Christi erfüllt zu sein. Indem wir unserem Hauptgrundsatz des Nicht-Widerstrebens folgen, können wir keine Verschwörungen, Empörungen oder Gewaltthaten anzetteln. Wir fügen uns allen gesetzlichen Bestimmungen und allen Forderungen der Regierung, außer denen, die den Forderungen des Evangeliums widersprechen. Unser Widerstand beschränkt sich auf eine demütige Fügsamkeit unter die Strafen, die man uns für den Ungehorsam auflegen sollte. Wir haben die Absicht, ohne Widerstand alle gegen uns gerichteten Angriffe zu erdulden, haben indessen unsererseits aber die Absicht, unaufhörlich das Uebel der Welt anzugreifen, wo wir es finden, oben oder unten, auf dem Gebiete der Politik, der Verwaltung oder der Religion, und streben mit allen uns erreichbaren Mitteln nach der Verwirklichung dessen, daß die weltlichen Reiche sich zu einem Reiche unseres Herrn Jesus Christus vereinigen. Wir halten für unzweifelhafte Wahrheit, daß alles, was dem Evangelium und seinem Geiste widerspricht und daher der Vernichtung unterliegt, sofort vernichtet werden muß. Und wenn wir daher der Prophezeiung glauben, daß dereinst eine Zeit kommen wird, wo die Schwerter umgeschmiedet werden in Pflüge und die Speere in Sicheln, so ist es unsere Pflicht, sofort, ohne es auf eine spätere Zukunft zu verschieben, dies nach dem Maße unserer Kräfte zu thun. Und daher machen sich alle, die Waffen herstellen, verkaufen, führen, zu Mitwirkern an allen kriegerischen Vorbereitungen und waffnen sich dadurch schon gegen das Friedensreich des Gottessohns auf Erden.

Nachdem wir so unsere Grundsätze ausgesprochen haben, wollen wir sagen, durch welche Mittel wir unsere Ziele zu erreichen hoffen.

Wir hoffen zu siegen durch die ‚Unvernunft der Predigt.‘ Wir werden uns bemühen, unsere Anschauungen unter allen Menschen zu verbreiten, zu welchen Völkern, Bekenntnissen und Gesellschaftsklassen sie immer gehören mögen. Zu diesem Zwecke werden wir öffentliche Vorlesungen veranstalten, gedruckte Kundgebungen und Flugschriften verbreiten, Gesellschaften bilden und Gesuche an alle Behörden einreichen. Ueberhaupt werden wir mit allen uns erreichbaren Mitteln darnach streben, eine tiefgehende Umwälzung in den Anschauungen, Empfindungen und Handlungen unserer Gesellschaft in Bezug auf die Sündhaftigkeit der Gewalt gegen äußere und innere Feinde hervorzurufen.

Indem wir an dieses große Werk herantreten, wissen wir sehr gut, daß unser Eifer harten Prüfungen ausgesetzt werden kann. Unsere Aufgabe kann uns Kränkungen, Beleidigungen, Leiden, ja den Tod zuziehen. Wir sind gewärtig, mißverstanden zu werden, falsch gedeutet und verleumdet zu werden. Sicher wird sich ein Sturm gegen uns erheben. Hochmut und Pharisäertum, Ehrgeiz und Grausamkeit, Staatslenker und Behörden, alles kann sich vereinigen, um uns zu vernichten. So erging es auch dem Messias, dem wir nach dem Maße unserer Kräfte nachzueifern suchen. Uns aber schrecken diese Drohungen nicht. Wir setzen unsere Hoffnung nicht auf Menschen, sondern auf Gott den Allmächtigen. Wenn wir auf menschlichen Beistand verzichten, was anders kann unsere Stütze sein als der Glaube, der die Welt besiegt? Wir werden uns nicht wundern über Prüfungen, die über uns kommen, und werden uns freuen, daß wir würdig sind, die Leiden Christi zu teilen.

Und so empfehlen wir Gott unsere Seelen und glauben, was geschrieben steht, daß dem, der sein Haus und seine Brüder und seine Schwester oder seinen Vater oder seine Mutter oder sein Weib oder seine Kinder oder seine Felder um Christi willen verläßt, hundertfach vergolten werde, und daß er das ewige Leben erben wird.

In diesem festen Glauben an den unzweifelhaften Sieg der Grundsätze, die wir in dieser Kundgebung ausgedrückt haben, fügen wir hier, allem trotzend, was sich gegen uns erheben kann, unsere Unterschriften bei und hoffen auf die Vernunft und das Gewissen der Menschen, vor allem aber auf die Macht Gottes, der wir uns anvertrauen.“

Gleich nach dieser Kundgebung gründete Garrison die Gesellschaft des Nicht-Widerstrebens und eine Zeitschrift, die den Titel führte: „Nicht-Widerstreben“ („Non-resistant“). In dieser Zeitschrift wurde die Lehre des Nicht-Widerstrebens in ihrer ganzen Bedeutung und mit allen ihren Folgen gepredigt, wie sie in der Kundgebung ausgesprochen war. Mitteilungen über die weiteren Schicksale der Gesellschaft und der Zeitschrift „Non-resistant“ habe ich aus der schönen Biographie W. L. Garrisons erlangt, die seine Söhne verfaßt haben.

Die Gesellschaft und die Zeitschrift haben nicht lange fortgelebt: die meisten Mitarbeiter Garrisons an dem Werke der Sklavenbefreiung fürchteten, ihre allzu radikalen Forderungen, wie sie in der Zeitschrift „Non-resistant“ ausgesprochen wurden, könnten die Menschen von dem praktischen Werke der Befreiung der Neger abwendig machen, und sagten sich los von der Bekennung des Grundsatzes des Nicht-Widerstrebens, wie er in der Kundgebung ausgedrückt war, so daß die Gesellschaft und die Zeitschrift zu existiren aufhörten.

Diese Kundgebung Garrisons, die so kräftig und beredt ein für die Menschen so wichtiges Glaubensbekenntnis ausspricht, hätte, wie man meinen sollte, die Menschen aufrütteln, in der ganzen Welt bekannt werden und zum Gegenstand einer allseitigen Erörterung werden müssen. Aber nichts Derartiges trat ein. Sie ist nicht nur in Europa unbekannt, auch unter den Amerikanern, die Garrisons Andenken so hoch ehren, ist diese Kundgebung fast unbekannt.

Ebenso unbekannt blieb ein zweiter Kämpfer für den Grundsatz des Nicht-Widerstrebens, der schon lange verstorben ist; er hat fünfzig Jahre hindurch diese Lehre gepredigt. Es ist der Amerikaner Adin Balu. In welchem Grade alles, was sich auf die Frage des Nichtwiderstrebens bezieht, unbekannt geblieben ist, ist daraus ersichtlich, daß Garrison, der Sohn, der eine vortreffliche Biographie seines Vaters in vier Bänden geschrieben hat, auf meine Anfrage, ob jetzt Gesellschaften des Nicht-Widerstrebens existiren, und ob es Anhänger dieser Lehre gibt, mir antwortete, so viel ihm bekannt, habe sich die Gesellschaft aufgelöst und gebe es Anhänger dieser Lehre nicht, während zu derselben Zeit, da er mir schrieb, in Massachusetts, in Hopedale, Adin Balu lebte, der an den Arbeiten Garrisons, des Vaters, teilgenommen und fünfzig Jahre seines Lebens der Verkündigung der Lehre des Nicht-Widerstrebens in Wort und Schrift gewidmet hat. Späterhin erhielt ich einen Brief von Wilson, einem Schüler und Gehilfen Balus, und trat in Beziehungen zu Balu selbst. Ich schrieb Balu und er antwortete mir und schickte mir seine Werke. Ich lasse hier einige Auszüge daraus folgen:

„Jesus Christus ist mein Herr und Meister,“ sagt Balu in einem der Aufsätze, welche die Inkonsequenz der Christen aufdecken soll, die das Recht der Verteidigung und des Krieges anerkennen. „Ich habe gelobt, ohne nach rechts und links zu schauen, ihm zu folgen in Gut und Böse bis in den Tod. Ich bin aber Bürger der demokratischen Republik der Vereinigten Staaten, der ich Treue geschworen habe, der ich geschworen habe, die Verfassung meines Landes, wenn nötig, mit dem Opfer meines Lebens zu halten. Christus fordert von mir, daß ich anderen thue, was ich wünschte, daß mir geschehe. Die Verfassung der Vereinigten Staaten fordert von mir, daß ich zwei Millionen Sklaven (damals gab es Sklaven, jetzt kann man getrost an ihre Stelle Arbeiter setzen) gerade das Entgegengesetzte von dem thue, was ich wünschte, daß mir geschehe, das heißt ich solle mitwirken, sie in der Sklaverei zu erhalten, in der sie sich befinden. Und das ist nicht alles. Ich fahre fort zu wählen oder mich wählen zu lassen, ich helfe regieren, ich bin sogar bereit, mich in ein Verwaltungsamt wählen zu lassen.

Das hindert mich nicht, ein Christ zu sein. Ich höre nicht auf zu bekennen und finde keinen Widerspruch darin, meinen Bund mit Christus und mit der Regierung zu halten.

Jesus Christus verbietet mir, denen, die übel thun, zu widerstreben, von ihnen Aug' um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut, Leben um Leben zu fordern.

Meine Regierung fordert von mir gerade das Umgekehrte und begründet die Selbstverteidigung auf den Galgen, das Gewehr, das Schwert, das sie ebenso gegen einheimische wie gegen äußere Feinde gebraucht.

Und dementsprechend füllt sich das Land mit Galgen, Gefängnissen, Waffenhäusern, Kriegsschiffen und Soldaten.

In der Unterhaltung und in dem Gebrauch dieser kostspieligen Mordeinrichtungen bringen wir es sehr gut fertig, die Tugend des Verzeihens denen, die uns beleidigen, der Liebe gegen den Feind, des Segnens derer, die uns fluchen, und des Gutthuns an denen, die uns hassen – zu verwirklichen. Zu diesem Zweck haben wir ständige christliche Priester, um für uns zu beten und Gottes Segen auf die geheiligten Morde herabzuflehen. All dies (das heißt den Widerspruch des Bekenntnisses und des Lebens) sehe ich, und höre nicht auf, zu bekennen und zu regieren, und brüste mich damit, daß ich gleichzeitig ein frommer Christ und ein ergebener Diener der Regierung bin. Ich will dieser unvernünftigen Auffassung des Nicht-Widerstrebens nicht zustimmen. Ich kann nicht verzichten auf meinen Einfluß und nur den unsittlichen Menschen ihren Platz an der Spitze der Regierung überlassen. Die Verfassung sagt: Die Regierung hat das Recht, den Krieg zu erklären, und ich stimme dem zu, ich unterstütze es, ich schwöre, daß ich es unterstützen werde, ich höre dabei nicht auf, ein Christ zu sein. Der Krieg ist auch Christenpflicht. Oder ist es nicht christlich, Hunderttausende von Mitmenschen zu töten, Frauen Gewalt anzuthun, Städte zu verwüsten und in Brand zu stecken und alle möglichen Grausamkeiten zu verüben? Es ist endlich Zeit, alle diese ausgeklügelten Sentimentalitäten aufzugeben. Das ist das rechte Mittel, Kränkungen zu verzeihen und die Feinde zu lieben. Wenn wir dies nur im Geiste der Liebe thun, kann es nichts Christlicheres geben als einen so allgemeinen Mord.“

In einer zweiten Flugschrift unter dem Titel: „Wie viel Menschen sind nötig, um das Uebel in Gerechtigkeit umzuwandeln“, sagt er: „Ein Mensch darf nicht töten. Hat er getötet, so ist er ein Verbrecher, ein Mörder. Thun zwei, zehn, hundert Menschen dasselbe, so sind sie Mörder. Der Staat aber oder ein Volk darf töten, so viel es will, und das ist kein Mord, das ist ein gutes, lobenswertes Werk. Man braucht nur so viel Menschen als möglich zusammenzubringen, und das gegenseitige Morden von 10.000 Menschen wird ein unschuldiges Werk. Aber wie viel Menschen muß man dazu haben? Das ist die Frage. Einer darf nicht stehlen, rauben, aber ein ganzes Volk darf. Aber wie viel Menschen sind dazu nötig? Warum dürfen dann zehn, hundert Menschen das Gebot Gottes nicht übertreten; warum aber dürfen es viele?“

Ich lasse hier Balus Katechismus folgen, den er für seine Herde zusammengestellt hat:

Katechismus des Nicht-Widerstrebens.

Frage. Woher kommt das Wort Nicht-Widerstreben?

Antwort. Von dem Ausspruche Math. 5,39: Du sollst nicht widerstreben dem Uebel.

F. Was bedeutet dieses Wort?

A. Es bedeutet eine hohe christliche Tugend, die Christus vorgeschrieben hat.

F. Muß man das Wort Nicht-Widerstreben in seiner weitesten Bedeutung auffassen, das heißt, will es sagen, daß man in keinem Falle dem Uebel widerstreben darf?

A. Nein, es muß genau in dem Sinne der Vorschrift des Heilands verstanden werden, das heißt man soll nicht Böses mit Bösem vergelten. Dem Bösen muß man durch alle gerechten Mittel widerstreben, keineswegs aber mit Bösem.

F. Woraus geht hervor, daß Christus das Nicht-Widerstreben in diesem Sinne vorgeschrieben hat?

A. Aus den Worten, die er dabei gesprochen hat. Er hat gesagt: „Ihr habt gehört, daß den Alten gesagt ward: Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar, und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel.“

F. Wen meinte er mit den Worten: „Ihr habt gehört, daß da gesagt ist“?

A. Die Patriarchen und Propheten. Das, was sie gesagt haben und was in den Schriften des Alten Testaments aufbewahrt ist, das die Juden gewöhnlich das Gesetz und die Propheten nennen.

F. Welche Vorschriften verstand Christus unter den Worten: „Euch ist gesagt worden“.

A. Die Vorschriften, in welchen Noah, Moses und die anderen Propheten das Recht geben, denjenigen, die Schaden bringen, persönlichen Schaden zuzufügen, um sie zu strafen und die bösen Thaten auszurotten.

F. Führet solche Vorschriften an.

A. „Wer Menschenblut vergißt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.“ (1. Buch Mose 9,6.)

„Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. Kommt aber ein Schaden daraus, so soll er lassen Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.“ (2. Buch Mose 21,12. 23. 24. 25.)

„Wer irgend einen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben.“ „Und wer seinen Nächsten verletzet, dem soll man thun, wie er gethan hat.“ „Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ (3. Buch Mose 24,17. 19. 20.)

„Und die Richter sollen wohl forschen, und wenn der falsche Zeuge hat ein falsches Zeugnis wider seinen Bruder gegeben, so sollt ihr ihm thun, wie er gedachte seinem Bruder zu thun. Dein Auge soll seiner nicht schonen. Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.“ (5. Buch Mose 19,18. 21.)

Das sind die Vorschriften, von denen Christus spricht.

Noah, Moses und die Propheten haben gelehrt, daß ein Mensch, der seinen Nächsten tötet, verwundet oder peinigt, Uebles thut. Um diesem Uebel zu widerstreben und es aus der Welt zu schaffen, muß man den Uebelthäter mit dem Tode oder mit Verstümmelung oder mit irgend einer persönlichen Qual strafen. Man muß Kränkung gegen Kränkung setzen, Totschlag gegen Totschlag, Qual gegen Qual, Uebel gegen Uebel. So haben Moses und die Propheten gelehrt. Christus aber verwirft all dies. „Ich aber sage euch,“ heißt es im Evangelium, „daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel, daß ihr nicht der Kränkung durch Kränkung widerstreben sollt, daß ihr eher eine zweite Kränkung ertragen sollt von dem Uebelthäter.“ – Was erlaubt war, wird verboten. Da wir begriffen haben, welcher Art des Widerstrebens sie gelehrt haben, wissen wir auch, was das Nicht-Widerstreben Christi lehrt.

F. Haben die Alten gestattet, der Kränkung mit Kränkung zu widerstreben?

A. Ja, aber Jesus hat das verboten. Der Christ hat in keinem Falle das Recht, einen Mitmenschen, der Uebel thut, des Lebens zu berauben oder ihm einen Schaden zuzufügen.

F. Darf er in der Notwehr jemanden töten oder verwunden?

A. Nein.

F. Darf er vor Gericht gehen mit einer Klage, in der Absicht, daß seine Beleidiger bestraft werden?

A. Nein, denn was er durch andere thut, thut er in Wirklichkeit selbst.

F. Darf er im Heere gegen Feinde kämpfen oder gegen innere Empörer?

A. Gewiß nicht, er darf nicht teilnehmen am Kriege oder an kriegerischen Rüstungen. Er darf keine totbringende Waffe gebrauchen. Er darf nicht Kränkungen mit Kränkungen heimzahlen, gleichviel, ob er allein ist oder mit anderen in Gemeinschaft, selbst oder durch andere Menschen.

F. Darf er freiwillig für die Regierung Soldaten werben oder ausrüsten?

A. Er darf nichts von alledem thun, wenn er dem Gebote Christi treu sein will.

F. Darf er freiwillig Geld geben zur Unterstützung einer Regierung, die sich durch Kriegsmacht, durch die Todesstrafe, überhaupt durch Gewalt erhält?

A. Nein, sobald das Geld nicht für irgend einen besonderen Gegenstand bestimmt ist, der an sich gerecht ist, und wo nicht Zweck und Mittel gute sind.

F. Darf er einer solchen Regierung Steuern zahlen?

A. Nein, er darf freiwillig keine Steuern zahlen. Er darf sich aber der Eintreibung der Steuern nicht widersetzen. Die Steuer, die die Regierung auferlegt, wird unabhängig von dem Willen der Unterthanen eingetrieben, man darf sich ihr nicht widersetzen, damit man nicht selbst zur Gewalt greife. Gewalt aber darf der Christ nicht brauchen, darum muß er geradezu sein Eigentum der gewaltthätigen Schädigung, wie sie die Behörden ausüben, überlassen.

F. Darf der Christ bei den Wahlen seine Stimme abgeben und teilnehmen am Gericht oder an der Verwaltung?

A. Nein, die Teilnahme an den Wahlen, am Gericht oder an der Verwaltung ist die Teilnahme an der Gewalt der Regierung.

F. Worin besteht die Hauptbedeutung der Lehre vom Nicht-Widerstreben?

A. Darin, daß einzig und allein sie die Möglichkeit gibt, das Uebel mit der Wurzel zu tilgen, sowohl aus dem eigenen Herzen wie aus dem Herzen der Mitmenschen. Diese Lehre verbietet das zu thun, wodurch das Uebel in der Welt verewigt und vermehrt wird. Der Mensch, der einen andern überfällt und ihn beleidigt, entzündet in dem andern das Gefühl des Hasses, die Wurzel alles Uebels. Einen andern beleidigen, weil er uns beleidigt hat, mit dem Vorwande, das Uebel aus der Welt zu schaffen, heißt die schlechte That an ihm und an sich selbst wiederholen, heißt eben den Dämon erzeugen oder wenigstens befreien – begünstigen, den wir auszutreiben vorgeben. Der Satan kann nicht durch den Satan ausgetrieben werden, Unwahrheit kann nicht durch Unwahrheit geläutert werden und Uebel kann nicht überwunden werden durch Uebel.

Wahrhaftes Nicht-Widerstreben ist das einzige wirkliche Widerstreben gegen das Uebel, das Nicht-Widerstreben zertritt der Schlange den Kopf. Das Nicht-Widerstreben tötet und tilgt endlich das Uebelwollen aus.

F. Wenn nun auch der Gedanke der Lehre richtig ist, ist sie ausführbar?

A. Ganz so ausführbar wie alles Gute, das von Gottes Gesetzen vorgeschrieben wird. Das Gute kann nicht unter allen Umständen ausführbar sein ohne Selbstverleugnung, ohne Verzicht, ohne Leiden und, in äußersten Fällen, selbst ohne Verlust des Lebens. Wer aber sein Leben höher schätzt, als die Erfüllung des göttlichen Willens, ist schon tot für das einzige wahre Leben. Ein solcher Mensch verliert sein Leben, während er sich bemüht, es zu erhalten. Außerdem kostet überhaupt da, wo das Nicht-Widerstreben das Opfer des einen Lebens oder irgend eines wesentlichen Glückes des Lebens kostet, das Widerstreben solcher Opfer Tausende.

Das Nichtwiderstreben erhält, Widerstreben zerstört.

Es ist unvergleichlich weniger gefährlich, gerecht zu handeln, als ungerecht, eine Kränkung ertragen, als ihr mit Gewalt zu widerstreben, sogar weniger gefahrvoll in Bezug auf das wirkliche Leben. Wenn alle Menschen dem Uebel nicht mit Uebel Widerstand leisten wollten, wäre unsere Welt glückselig.

F. Wenn aber nur wenige so handeln werden, was wird mit ihnen geschehen?

A. Wenn auch nur ein Mensch so handelte und alle übrigen sich vereinigten, um ihn zu kreuzigen, wäre es nicht rühmlicher für ihn, im Triumph nicht-widerstrebender Liebe zu sterben, ein Gebet für seine Feinde auf den Lippen, als zu leben und die Krone des Cäsar zu tragen, besudelt von dem Blute der Erschlagenen? Aber ein Mensch oder Tausende, die fest entschlossen sind, dem Uebel nicht durch Uebel zu widerstreben, gleichviel, ob unter gebildeten oder wilden Mitmenschen, sind weitaus sicherer vor Gewalt, als Menschen, die sich auf Gewalt stützen. Ein Räuber, ein Mörder, ein Betrüger wird diese eher in Frieden lassen, als die Menschen, die ihm mit der Waffe Widerstand leisten. Die das Schwert ergreifen, werden vom Schwerte getötet werden, und die den Frieden suchen, die einträchtig handeln, ohne Kränkung, die Kränkungen vergessen und vergeben, werden sich meist des Friedens freuen oder, wenn sie sterben, gesegnet sterben.

So leuchtet es ein: wenn alle das Gebot des Nichtwiderstrebens beobachten würden, gäbe es keine Kränkung und keine Uebelthat. Wären diese in der Mehrzahl, so würden sie die Herrschaft der Liebe und des Wohlwollens auch über die Beleidiger aufrichten, indem sie nie dem Uebel Widerstand leisten und nie Gewalt anwenden. Oder wäre solcher eine ziemlich zahlreiche Minderheit, so würden sie eine tiefgehende sittliche Wirkung auf die Gesellschaft ausüben, daß jede grausame Strafe abgeändert würde und Gewalt und Feindschaft sich in Frieden und Liebe verwandelten. Wäre ihrer nur eine kleine Minderheit, so würden sie selten etwas Schlimmeres erfahren, als die Verachtung der Welt; die Welt aber würde, ohne es zu fühlen und ohne dafür dankbar zu sein, beständig weiser und besser werden durch diese geheime Einwirkung. Und wenn im schlimmsten Falle einige von den Mitgliedern dieser Minderheit verfolgt würden bis in den Tod, so würden diese für die Wahrheit Gestorbenen ihre Lehre zurücklassen, nun noch geheiligt durch ihr Märtyrerblut.

Und es wird Friede sein mit allen, die den Frieden suchen, und die alles überwindende Liebe wird ein unverlorenes Erbe jeder Seele sein, die sich freiwillig dem Gebote Christi fügt: „Widerstrebe nicht dem Uebel durch Gewalt.“

Adin Balu.

Balu schrieb und veröffentlichte fünfzig Jahre lang Bücher, die hauptsächlich die Frage des Nicht-Widerstrebens behandeln. In diesen nach der Klarheit ihres Ideenganges und der Schönheit der Darstellung trefflichen Werken wird die Frage von allen möglichen Seiten betrachtet. Es wird die Verbindlichkeit dieses Gebots für jeden Christen festgestellt, der die Bibel als göttliche Offenbarung anerkennt. Es werden alle die üblichen Einwürfe gegen das Gebot des Nicht-Widerstrebens angeführt, aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament, wie zum Beispiel die Vertreibung aus dem Tempel und Aehnliches, und auf alles werden Entgegnungen beigebracht; es wird unabhängig von der Schrift die praktische Vernünftigkeit dieses Grundsatzes gezeigt und alle gewöhnlich dagegen erhobenen Einwürfe und Entgegnungen beigebracht. – So behandelt ein Kapitel seines Werkes das Nichtwiderstreben in Ausnahmefällen; er erkennt darin an, daß, wenn es Fälle gäbe, in denen die Anwendung des Nicht-Widerstrebens unmöglich wäre, dies beweisen würde, daß dieser Grundsatz überhaupt unhaltbar ist. Er führt diese Ausnahmefälle an und beweist, daß bei ihnen gerade die Anwendung dieses Grundsatzes notwendig und vernünftig ist. Es gibt keine Seite der Frage, sowohl für die Anhänger als für die Gegner, die in diesem Werke nicht erforscht wäre. Alles dies führe ich an, um das unzweifelhafte Interesse zu zeigen, welches solche Werke für Menschen haben müßten, die das Christentum bekennen, und daß daher die Wirksamkeit Balus bekannt sein müßte und die Gedanken, die er ausgesprochen, entweder anerkannt oder widerlegt sein müßten. Aber nichts von alledem war der Fall.

Die Thätigkeit Garrisons, des Vaters, seine Begründung der Gesellschaft des Nicht-Widerstrebens und die Erklärung haben mir mehr noch, als meine Beziehungen zu den Quäkern die Ueberzeugung beigebracht, daß die Abweichung des staatlichen Christentums von dem Gebote Christi über das Nicht-Widerstreben etwas längst Beobachtetes und Nachgewiesenes ist, an dessen Klarstellung die Menschen gearbeitet haben und nicht aufhören zu arbeiten. Balus Wirksamkeit hat mir das noch mehr bestätigt. Aber das Schicksal Garrisons und noch mehr Balus, der trotz seiner fünfzigjährigen ununterbrochenen und unermüdlichen Arbeit in ein und derselben Richtung niemandem bekannt ist, haben mir auch das bestätigt, daß eine gewisse unausgesprochene, aber entschiedene Verabredung besteht – alle Versuche dieser Art tot zu schweigen. Im August 1890 starb Balu, und in einer amerikanischen Zeitschrift christlicher Richtung (Religio-Philosophical journal, August 23.) wurde ihm ein Nachruf gewidmet.

In diesem rühmenden Nachruf heißt es, Balu sei der geistige Leiter einer Gemeinschaft gewesen, er habe acht- bis neuntausend Predigten gehalten, tausend Paare getraut und etwa fünfhundert Abhandlungen geschrieben. Aber nicht ein Wort war darin gesagt über die Aufgabe, der er sein Leben gewidmet hat, nicht einmal das Wort „Nicht-Widerstreben“ kam darin vor.

Wie alles, was die Quäker seit zweihundert Jahren predigen, wie die Wirksamkeit Garrisons, des Vaters, die Begründung seiner Gesellschaft und seiner Zeitschrift, sein Aufruf, ist auch die Wirksamkeit Balus vorübergegangen, als wäre sie nicht und wäre sie nie gewesen.

Als ein überraschendes Beispiel solcher Unbekanntheit von Werken, die auf die Klarstellung der Frage des Nicht-Widerstrebens gerichtet sind und auf die Widerlegung derjenigen, die dieses Gebot nicht anerkennen, bietet das Schicksal des Buches des Tschechen Chelcicky, das erst vor kurzem bekannt wurde und bis heute noch nicht gedruckt ist.

Kurz nach dem Erscheinen meines Buches in deutscher Sprache erhielt ich aus Prag einen Brief eines dortigen Universitätsprofessors, der mir Mitteilungen machte von der Existenz eines nie gedruckten Werkes des Tschechen Chelcicky aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das den Titel „Netz des Glaubens“ führte. In diesem Werke hat Chelcicky, wie mir der Professor schrieb, vor vier Jahrhunderten dieselbe Ansicht über das wahre und falsche Christentum ausgesprochen, die ich in meinem Werke „Worin besteht mein Glaube?“ ausgesprochen habe. – Der Professor schrieb mir, Chelcickys Werk solle zum erstenmal in tschechischer Sprache in der Zeitschrift der Petersburger Akademie der Wissenschaft erscheinen. – Da ich nicht die Möglichkeit hatte, das Werk selbst zu bekommen, versuchte ich mich mit dem bekannt zu machen, was über Chelcicky bekannt war; und Mitteilungen dieser Art erhielt ich aus einem deutschen Buche, das mir eben dieser Prager Professor schickte und aus der „Geschichte der tschechischen Literatur“ von Pypin. Bei Pypin heißt es:

„‚Das Netz des Glaubens‘ ist die Lehre Christi, die den Menschen aus der finstern Tiefe des Lebensmeeres und seiner Ungerechtigkeiten herausziehen soll. Der wahre Glaube besteht darin, daß man den Worten Gottes glaube; aber jetzt ist eine Zeit gekommen, wo man den wahren Glauben für Ketzerei ausgibt, und deshalb muß die Vernunft zeigen, worin der wahre Glaube besteht, wenn dies jemand nicht weiß. Finsternis hat die Augen der Menschen bedeckt und sie erkennen nicht das wahre Gesetz Christi.

Zur Erklärung dieses Gesetzes weist Chelcicky auf die ursprüngliche Verfassung der christlichen Gemeinschaft hin – eine Verfassung, die, wie er sagt, in der römischen Kirche jetzt als abscheuliche Ketzerei gilt.

Diese ursprüngliche Kirche war sein eigentliches Ideal einer Gesellschaftsverfassung, begründet auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das Christentum bewahrt nach der Meinung Chelcickys noch jetzt diese Grundlagen in sich; es sei nur nötig, daß die Gesellschaft zu seiner reinen Lehre zurückkehre, und dann würde sich jede andere Ordnung, die Könige und Päpste nötig macht, als überflüssig erweisen: in allem sei das Gesetz der Liebe allein ausreichend.

Historisch setzt Chelcicky den Verfall des Christentums in die Zeit Konstantins des Großen, den der Papst Sylvester ins Christentum eingeführt habe mit allen heidnischen Sitten und heidnischem Leben. Konstantin seinerseits habe den Papst mit weltlichem Reichtum und weltlicher Macht belehnt. Von der Zeit hätten beide Gewalten immer einander geholfen und nur nach äußerem Ruhm gestrebt. Die Doktoren, Magister und der geistliche Stand hätten begonnen, nur darauf bedacht zu sein, daß sie die ganze Welt ihrer Herrschaft unterwürfen, hätten die Leute gegen einander zu Mord und Raub gewaffnet und das wahre Christentum in Glauben und Leben ganz vernichtet. Chelcicky verwirft das Recht des Krieges und die Todesstrafe vollständig. Jeder Krieger, sogar der Ritter, sei nur ein Gewaltmensch, ein Missethäter und Mörder ...“

Auch einige biographische Einzelheiten und Auszüge aus Chelcickys Briefwechsel finden sich in dem deutschen Buche.

Nachdem ich so mit dem Kern der Lehre Chelcickys bekannt geworden war, erwartete ich mit um so größerer Ungeduld das Erscheinen des „Netzes des Glaubens“ in den Schriften der Akademie. Aber es verging ein Jahr, es vergingen zwei bis drei Jahre – das Buch erschien nicht. Erst im Jahre 1888 erfuhr ich, daß man begonnen hatte, das Buch zu drucken, daß der Druck aber unterbrochen worden sei. Ich verschaffte mir die Korrekturbogen des gedruckten Teils und las das Buch. Es ist ein in jeder Beziehung merkwürdiges Buch.

Sein Inhalt ist von Pypin völlig treu wiedergegeben. Chelcickys Grundidee ist die: das Christentum sei, nachdem es sich unter Konstantin mit der Macht vereinigt und sich unter diesen Bedingungen fortentwickelt habe, völlig zerstört worden und habe aufgehört, Christentum zu sein. Den Titel „Netz des Glaubens“ hat Chelcicky seinem Werke gegeben, weil er zum Motto den Vers des Evangeliums über die Berufung der Jünger, auf daß sie Menschenfischer werden, genommen hat. Chelcicky setzt dieses Gleichnis fort und sagt: Christus hat mit Hilfe seiner Jünger in sein Glaubensnetz die ganze Welt eingefangen, die großen Fische aber haben das Netz durchlöchert und sind herausgeschlüpft, und durch diese von den großen Fischen gemachten Löcher sind auch alle übrigen entwischt, so daß das Netz beinahe leer geworden ist.

Die großen Fische, die das Netz durchlöchert haben, sind die Machthaber, die Kaiser, die Päpste, die Könige, die, ohne ihrer Macht zu entsagen, weniger das Christentum als seine Macht angenommen haben.

Chelcicky lehrt dasselbe, was jetzt die Anhänger des Nicht-Widerstrebens, die Mennoniten, die Quäker, in früheren Zeiten die Bogomilen, die Paulicianer und viele andere gelehrt haben und lehren. Er lehrt, daß das Christentum, das von seinen Anhängern friedfertige Demut, Sanftmut, Vergebung der Kränkung, die Darreichung der anderen Wange, wenn jemand die eine schlägt, Liebe zu den Feinden verlangt, nicht vereinbar ist mit der Gewalt, die die notwendige Vorbedingung der Macht bildet.

Der Christ kann nach Chelcickys Erklärung nicht nur nicht Heerführer oder Soldat sein, er kann kein Händler oder sogar Gutsbesitzer sein, er kann nur Handwerker oder Landbauer sein.

Dieses Buch ist eines von den wenigen dem Scheiterhaufen entronnenen, die das offizielle Christentum entlarven. Alle Bücher dieser Art, die man ketzerische nannte, sind zugleich mit ihren Verfassern verbrannt worden, so daß es sehr wenige von den alten Werken gibt, die die Verirrung des offiziellen Christentums aufdecken, und darum ist dieses Buch besonders interessant.

Aber abgesehen davon, daß dieses Buch interessant ist, wie man es auch betrachte, ist es eines der bemerkenswertesten Schöpfungen sowohl nach der Tiefe seines Inhalts, wie nach der wunderbaren Kraft und Schönheit seiner volkstümlichen Sprache und nach seinem Alter. Und doch bleibt dieses Buch nun schon mehr als vier Jahrhunderte ungedruckt liegen und wird niemandem bekannt mit Ausnahme der gelehrten Spezialisten.