Das rote Kornfeld - Mo Yan - E-Book

Das rote Kornfeld E-Book

Mo Yan

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Beschreibung

Die endlosen Felder sind der Glanz und der Reichtum des chinesischen Dorfes Gaomi. In mächtigen roten Wellen erstrecken sie sich bis zum Horizont. Rot sind auch die Vorhänge der Sänfte, in der die schöne Dai Fenglian zu ihrem zukünftigen Ehemann Shan getragen wird. Aber als der Sänftenträger Yu Zhan'ao und Dai Fenglian sich sehen, entbrennen sie in Liebe zueinander. Als opulente Familiensaga zeichnet der Roman das Schicksal eines Dorfes vor dem Hintergrund des chinesisch-japanischen Krieges nach. Mo Yan beschreibt atmosphärisch dicht eine Familie am Übergang vom traditionellen zum modernen China. Die Verfilmung des Romans wurde 1988 mit dem Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele ausgezeichnet und für den Oscar nominiert.

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Seitenzahl: 748

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Über dieses Buch

Rot sind die endlosen Felder um das Dorf Gaomi. Rot sind auch die Vorhänge der Sänfte, in der die schöne Dai Fenglian zu ihrem zukünftigen Ehemann getragen wird. Aber als sie den Sänftenträger Yu Zhan’ao sieht, entbrennen sie in Liebe zueinander.

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Mo Yan (was so viel heißt wie »keine Sprache«) ist das Pseudonym von Guan Moye (*1956). Spätestens seit der Verfilmung seines Romans Das rote Kornfeld gilt er als einer der wichtigsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur. 2012 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

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Peter Weber-Schäfer war von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 Professor für Politik Ostasiens an der Ruhr-Universität Bochum. Zudem ist er Übersetzer belletristischer Literatur aus dem Chinesischen, dem Japanischen und dem Englischen.

Zur Webseite von Peter Weber-Schäfer.

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Mo Yan

Das rote Kornfeld

Roman

Aus dem Chinesischen von Peter Weber-Schäfer

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Originaltitel: Hong gaoliang jiazu (1987)

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30552-6

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Version vom 17.05.2024, 21:05h

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Inhaltsverzeichnis

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Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DAS ROTE KORNFELD

ERSTES KAPITEL — Rote Hirse1 – Am neunten Tag des achten Monats des Jahres …2 – In die Gemeinde Nordost-Gaomi bin ich zurückgekehrt …3 – Genau so war es, wie sie erzählte …4 – Im roten Sonnenlicht, das soeben die Nebelwand durchbrochen …5 – Als meine Großmutter sechzehn war, verlobte ihr Vater …6 – Mühsam bahnte Vater sich einen Weg durch die …7 – Großmutter, die zwei Körbe mit Handkuchen an einer …8 – Hirsekörner tanzen über Großmutters Gesicht. Ein Korn fällt …9 – Während die Maschinengewehre auf den Lastwagen die Gegend …ZWEITES KAPITEL — Hirsebrand1 – Was ist es, das die Zuckerhirse von Nordost-Gaomi …2 – Großmutter kehrte in ihr Elternhaus zurück, wo sie …3 – Vater stand im verdorrten Gras, das die Abendsonne …4 – Als Großvater Shan Tingxiu und seinen Sohn umbrachte …5 – Dorfvorsteher Shan Wuhou war noch in derselben Nacht …6 – Als Großmutter eben vom Esel steigen wollte …7 – Das erste, was Vater sah, als Großvater ihn …8 – Vierzehn Jahre zuvor hatte Yu Zhan’ao, das Bettzeug …9 – Nachdem ihn Großmutter mit einem Paket gefüllter Klöße …10 – Am dreiundzwanzigsten Tag des zwölften Monats im Jahre …11 – Großvater und Vater kehrten zu ihrem Haus zurück …DRITTES KAPITEL — Hundewege1 – Die ruhmreiche Geschichte der Menschheit ist überreich an …2 – Die japanischen Truppen zogen ab. Wie ein dünnes …3 – Mutter und mein dreijähriger Onkel hatten schon einen …4 – Vater, Wang Guang (männlich, fünfzehn Jahre, klein …5 – Die Zeit: sechsundvierzig Jahre später. Der Ort …6 – Damals war ich fünfzehn. Als die Japaner das …7 – Unter der liebevollen Pflege der hinkenden Liu verbesserte …8 – Der Hundebiss war – wohl weil Vater zwei …9 – Großvater klopfte mit den Knöcheln die Wand ab …VIERTES KAPITEL — Begräbnis in der Hirse1 – Im grausamen Monat April legen die Frösche im …2 – Trotz der unvorhergesehenen Ereignisse des Vorabends wurde Großmutters …3 – Vater, in Trauerkleidung und das Gesicht nach Südwesten …4 – Als mittags die Riten vollzogen waren, verkündete der …5 – Auf den düsteren regnerischen Herbst 1939 folgte ein …6 – Großvater und Lian’er liebten sich drei Tage und …7 – Die Soldaten der Eisengesellschaft machten ein Reitpferd für …8 – Im Herbst 1928 vernichtete Bezirksrichter Cao Mengjiu in …9 – Drei Minuten lang bellten Maschinengewehre hinter der Böschung …FÜNFTES KAPITEL — Seltsamer Tod1 – Die vollen purpurfarbenen Weintraubenlippen, wie man sie so …2 – Der Himmel war klar und blau. Die Sonne …3 – Dorfbewohner, die in die Stadt gegangen waren …4 – Frühmorgens weckte ein Gewehrschuss vor dem Dorf Zweite …5 – Großvater kam am nächsten Morgen in das Dorf …6 – Vater erinnerte sich, dass der Maultierwagen mit der …7 – Am dreiundzwanzigsten Tag des zwölften Monats im Jahre …8 – Nachdem er ihnen alle Sandalenwerkstätten im Dorf gezeigt …9 – Nachdem Großmutter sie mit heißem Wasser gewaschen hatte …10 – Ich war seit zehn Jahren nicht mehr zu …

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Über Mo Yan

Über Peter Weber-Schäfer

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Mit diesem Buch beschwöre ich die erzürnten Geister der Helden, die durch die grenzenlosen roten Hirsefelder meiner Heimat schweifen. Ich, euer unwürdiger Nachkomme, bin bereit, mir das Herz aus der Brust zu reißen, es in Sojasauce einzulegen, durch den Fleischwolf zu drehen, auf drei Essschälchen zu verteilen und es euch in den Hirsefeldern als Opfergabe darzubringen. Guten Appetit!

ERSTES KAPITEL

Rote Hirse

1

Am neunten Tag des achten Monats des Jahres 1939 nach dem alten Kalender schloss sich mein Vater, Spross einer Familie von Rebellen und gerade fünfzehn geworden, dem Trupp des Kommandanten Yu Zhan’ao an, eines Mannes, der später zu einem sagenumwobenen Helden werden sollte. Sie hatten vor, auf der Landstraße von Jiao nach Pingdu eine japanische Lastwagenkolonne zu überfallen. Großmutter, die eine warme Jacke übergeworfen hatte, begleitete sie bis zum Rand des Dorfes. »Bleib stehen«, befahl Kommandant Yu. Großmutter blieb stehen.

Douguan, höre auf deinen Pflegevater«, ermahnte Großmutter meinen Vater, der schwieg. Der Anblick von Großmutters hochaufgeschossener Gestalt und der Duft ihrer gefütterten Jacke ließen ihn erschauern. Er zitterte, und sein Magen knurrte.

Kommandant Yu strich ihm übers Haar und sagte: »Gehen wir, Pflegekind.«

Himmel und Erde waren in Aufruhr, die Landschaft verschwamm vor dem Auge, das gedämpfte Getrampel des Trupps klang aus weiter Ferne herüber. Vater konnte sie noch hören, aber die Männer selbst waren hinter einem weißblauen Nebelvorhang verschwunden. Vater hielt sich am Zipfel von Kommandant Yus Mantel fest und rannte stampfenden Schrittes voran. Das stürmische Nebelmeer kam immer näher, und Großmutter verschwand am fernen Ufer. Er hielt sich an Kommandant Yus Mantel fest wie an der Reling eines Bootes.

So eilte mein Vater dem unbehauenen Granitfelsen entgegen, der ihm inmitten der roten Hirsefelder seiner Heimat zum Grabstein werden sollte. Jahre später führte ein kleiner Junge mit nacktem Hintern einen weißen Ziegenbock an das unkrautüberwucherte Grab, und während der Bock ruhig und zufrieden graste, pisste der kleine Junge voll Inbrunst auf das Grab und sang aus voller Kehle: »Die Hirse ist rot, der Japaner kommt, Landsleute, seid bereit, feuert aus allen Rohren!«

Irgendjemand hat behauptet, der kleine Ziegenhirt sei ich gewesen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Damals liebte ich die Gemeinde Nordost-Gaomi von ganzem Herzen und hasste sie gleichzeitig mit zügelloser Wut. Erst als Erwachsener habe ich erkannt, dass Nordost-Gaomi der zweifellos schönste und abstoßendste, einzigartigste und gewöhnlichste, heiligste und korrupteste, heroischste und feigste, trinkfreudigste und liebestollste Ort auf der Welt ist. Damals, zur Zeit meines Vaters, aßen die Dorfbewohner mit Vorliebe Zuckerhirse und pflanzten so viel davon an, wie sie nur konnten. Im Spätherbst, im achten Monat nach dem alten Kalender, schimmerten die üppigen roten Hirsefelder wie ein Meer von Blut. Die rote Hirse war der Glanz von Gaomi; kühl und lieblich war sie und mächtig; süß und leidenschaftlich waren ihre Wellen.

Der Herbstwind ist frisch und kühl, die Sonne strahlt hell. Weiße, pralle runde Wolken treiben am tiefblauen Himmel und werfen purpurne, pralle runde Schatten auf die Hirsefelder. Jahrzehntelang, über Jahrzehnte, die nur ein Moment der Ewigkeit sind, huschten scharlachrote menschliche Gestalten durch die Hirsefelder und verwoben sich zu einem gewaltigen menschlichen Netz. Sie töteten, sie plünderten, sie verteidigten ihr Land in einem tapferen, aufwühlenden Ballett, neben dem wir, ihre getreuen Nachkommen, die heute das Land bewohnen, blass erscheinen. Inmitten des Fortschritts ahne ich beunruhigt den Rückschritt der menschlichen Gattung.

Nachdem sie das Dorf verlassen hatten, marschierte der Trupp einen engen Feldweg entlang. Der Klang ihrer Schritte verschmolz mit dem Rascheln des Unkrauts. Der dichte Nebel war seltsam belebt und bunt. Kleine Wassertropfen liefen auf Vaters Gesicht zu großen Tropfen zusammen; die Haare klebten ihm an der Stirn. Der leichte Pfefferminzduft und der süßliche, durchdringende Geruch der Hirse, die ihn vom Wegrand her umwehten, waren vertraut. Das alles war nicht neu. Aber als sie durch den dichten Nebel marschierten, entdeckte seine Nase einen neuen, ekelerregenden süßlichen Geruch, irgendetwas zwischen Gelb und Rot. Er mischte sich mit dem Duft von Pfefferminze und Hirse und rief tief in seiner Seele verborgene Erinnerungen wach.

Sieben Tage später, am fünfzehnten Tag des achten Monats, dem Tag des Mittherbstfestes. Ein heller voller Mond stieg langsam am Himmel über den feierlich stummen Hirsefeldern auf und badete die Rispen in schimmerndem Quecksilber. Zwischen den scharf umrissenen Lichtflecken roch Vater einen ekelerregenden, intensiv süßen Duft, wie man ihn heute nirgends mehr riechen kann. Kommandant Yu führte ihn an der Hand durch die Hirse, in der dreihundert Dorfgenossen lagen. Die Köpfe ruhten auf den Armen, frisches Blut verwandelte die Erde zu klebrigem Schlamm, der das Laufen schwermachte. Der Gestank verschlug ihnen den Atem. Ein Rudel aasfressender Hunde kauerte im Feld, sie starrten Vater und Kommandant Yu aus glühenden Augen an. Kommandant Yu zog die Pistole und feuerte; ein Paar Augen schloss sich. Noch ein Schuss, noch ein Paar Augen. Aufheulend stoben die Hunde auseinander, dann, außer Schussweite, kauerten sie auf den Hinterläufen, begannen wütend zu bellen und starrten gierig lechzend auf die Leichen. Der ekelerregende Geruch wurde immer stärker.

»Japanische Hunde!«, schrie Kommandant Yu. Er leerte das Magazin seiner Pistole, und die Hunde verschwanden spurlos. »Komm, mein Sohn«, sagte Kommandant Yu, »gehen wir.« Zu zweit, ein alter und ein junger Mann, suchten sie im Mondlicht ihren Weg durch das Hirsefeld. Der widerliche süßliche Geruch über den Feldern tränkte die Seele meines Vaters und blieb in den grausamen, brutalen Monaten und Jahren, die vor ihm lagen, sein ständiger Gefährte.

Wirr zischten und dampften Hirsehalme und -blätter im Nebel. Das dröhnende Rauschen des Schwarzwasserflusses, der sich träge durch die sumpfige Niederung wälzte, war mal laut, mal leise, mal nah, mal fern von hinter dem Nebelvorhang zu hören. Als sie den Trupp einholten, hörte mein Vater Fußgetrampel und schweres Atmen von allen Seiten. Zwei Gewehrkolben schlugen gegeneinander. Ein Fuß trat auf etwas, das wie menschlicher Knochen knirschte. Der Mann unmittelbar vor meinem Vater hustete laut. Es war ein vertrautes Husten, das an große Ohren erinnerte, die blutrot wurden, wenn ihr Besitzer nervös war. Große, durchscheinende Ohren, von kleinen Äderchen durchzogen, waren das hervorstechende Merkmal von Wang Wenyi, einem kleinen Mann, der den Kopf gebeugt zwischen den Schultern trug. Mein Vater blinzelte und kniff die Augen zusammen, bis sein Blick durch den Nebel drang: Es war Wenyi, dessen Kopf mit jedem Hustenanfall von rechts nach links zuckte.

Vater erinnerte sich, wie Wang von Adjutant Ren auf dem Exerzierplatz geschlagen worden war und wie mitleidheischend er damals mit dem Kopf gewackelt hatte. Er hatte sich gerade erst Kommandant Yu angeschlossen. Adjutant Ren kommandierte: »Rechtsum kehrt!« Wang Wenyi trat freudig und kräftig auf, aber niemand hätte erkennen können, in welche Richtung er seine Kehrtwendung machen wollte. Adjutant Ren schlug ihm die Peitsche über den Hintern, und er schrie auf: »O Mutter meiner Kinder!« Es war nicht zu bestimmen, ob er lachte oder weinte. Hinter der Mauer johlten freudig ein paar Kinder.

Kommandant Yu trat Wang Wenyi in den Hintern. »Wer hat dir erlaubt zu husten?«

»Kommandant Yu«, Wang Wenyi unterdrückte einen Hustenanfall, »mein Hals kratzt.«

»Das ist kein Grund. Wenn du unsere Stellung verrätst, bist du dran.«

»Jawohl«, antwortete Wang und brach in neues Husten aus.

Mein Vater spürte, wie Kommandant Yu vorsprang und Wang Wenyi mit beiden Händen am Hals packte. Wang stöhnte und keuchte, aber das Husten hörte auf.

Mein Vater fühlte auch, wie die Hände des Kommandanten von Wangs Hals abließen; er spürte sogar die blauen Flecke, die sie hinterließen und die aussahen wie reife Trauben. Wangs dunkle, ängstliche Augen füllten sich mit gekränkter Dankbarkeit.

Der Trupp marschierte schnell durch das Hirsefeld. Instinktiv wusste mein Vater, dass sie nach Südosten zogen. Der Feldweg war die einzige direkte Verbindung zwischen dem Schwarzwasserfluss und dem Dorf. Bei Tageslicht war er blassgrau. Die ursprünglich ebenholzschwarze Erde war zertrampelt und von Fährten zahlloser Tiere bedeckt: den gespaltenen Hufspuren von Ochsen und Ziegen, den halbmondförmigen Spuren von Maultieren, Pferden und Eseln; da waren wurmige Kuhfladen, trockene Pferdeäpfel und kleine schwarze Ziegenböhnchen. Vater war diesen Weg so oft gegangen, dass er ihn später häufig vor sich sah, als er in der japanischen Aschengrube lag. Er hat nie erfahren, wie viele sexuelle Komödien meine Großmutter auf diesem Feldweg aufgeführt hat; aber ich weiß es. Er hat nie erfahren, dass ihr glänzender, jadefarbener nackter Körper im Schatten der Hirsehalme auf der schwarzen Erde gelegen hat; aber ich weiß es.

Der Nebel, der sie umgab, wurde zähflüssiger, als sie das Hirsefeld erreichten, und zog sich so dicht zusammen, dass Vater sich kaum mehr bewegen konnte. Die Halme quietschten in geheimer Empörung, wenn die Männer oder ihre Ausrüstung sie berührten, und ließen große, traurige Wassergüsse zu Boden fallen. Das Wasser war eiskalt, klar und sprudelnd, wunderbar erfrischend. Mein Vater sah nach oben, und ein großer Tropfen fiel ihm in den Mund. Als der Nebelvorhang sich langsam lüftete, sah er die Hirserispen sich schwer und gemächlich beugen. Die zähen, biegsamen, tauschweren Blätter sägten an seinen Kleidern und seinem Gesicht. Eine kurze Brise ließ die Halme über ihm flüstern; das Dröhnen des Schwarzwasserflusses wurde lauter.

Vater hatte so oft im Schwarzwasserfluss gebadet, als sei er im Wasser geboren. Großmutter behauptete, der Anblick des Flusses sei ihm lieber als das Bild seiner eigenen Mutter. Mit fünf Jahren konnte er tauchen wie ein Entchen, sein kleines rosa Arschloch tanzte über dem Wasser, und die Füße wedelten in der Luft. Er wusste, dass das modrige Flussbett schwarz und glänzend und schwammig wie weicher Talg war und dass die Ufer von blassgrünem Schilf und daunenfarbenem Wegerich bedeckt waren. Gewundene Ranken und hartes Gras bedeckten den Schlamm, über den Krabben hin und her huschten.

Herbstwinde begannen zu wehen, die Luft wurde kühler, und am Himmel sah man Wildgänse nach Süden ziehen. Ständig wechselte ihre Flugordnung, mal flogen sie in einer Linie, dann in einem Keil. Wenn die Hirse rot wurde, kletterten nachts Scharen von Krabben, so groß wie Pferdehufe, ans Ufer und suchten unter dem Flussgras nach Nahrung. Krabben sammeln sich um frischen Kuhmist und faulendes Aas.

Das Rauschen des Flusses erinnerte Vater an die Herbstnacht in seiner Kindheit, in der Onkel Liu Luohan, der Vorarbeiter unseres Familienbetriebes, ihn zum Krabbenfang am Flussufer mitgenommen hatte. In jener purpurgrauen Nacht wehte eine goldene Brise über dem Fluss. Der saphirfarbene Himmel war tief und grenzenlos, und die Sterne schienen in grünlichem Licht: die Deichsel des Großen Wagens – Herr des Nordens, Herr des Todes – der Korb des Schützen – Herr des Südens, Herr des Lebens – der achteckige Gläserne Brunnen, dem eine Seite fehlt, Atair, der melancholische Kuhhirt, der sich erhängen wird. Vega, die trauernde Weberin, die sich im Fluss ertränken wird. Onkel Liu Luohan hatte jahrzehntelang die Schnapsbrennerei der Familie geleitet, und Vater hörte auf ihn, als sei er sein eigener Großvater.

Der Docht einer Petroleumlampe, eine Blechbüchse mit vier Glasscheiben, wies Vater den Weg. Das schwache Licht bohrte einen fünf Meter breiten hellen Kegel in den dunklen Nebel. Im Schein des Lichtkegels nahm das Wasser kurz die appetitliche Farbe reifer Aprikosen an, bevor es weiterströmte. Der Sternenhimmel spiegelte sich im Dunkel des Wassers. Die Regenmäntel über die Schultern geworfen, saßen mein Vater und Onkel Luohan im gedämpften Licht der Lampe und lauschten dem tiefen, ruhigen Murmeln des Flusses. Von Zeit zu Zeit erklang aus dem Hirsefeld am Ufer das erregte Bellen eines Fuchses. Vom Licht angezogen, trippelten Krabben auf die Lampe zu. Schweigend saßen mein Vater und Onkel Luohan im Wind, der den Schlammgestank des Flusses mit sich trug, und lauschten ehrfürchtig den Geheimnissen des Landes. Scharen von Krabben umkreisten ruhelos die Lampe. Vor Aufregung wäre mein Vater fast aufgesprungen, aber Onkel Luohan hielt ihn an der Schulter fest.

»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Der Gierhals bekommt am wenigsten Brei.« Mein Vater versuchte sich zu beherrschen und blieb still sitzen. Sobald sie den Lichtkreis der Lampe erreicht hatten, blieben die Krabben stehen. Kopf an Schwanz gereiht, bedeckten sie den Boden. Ober grünen Schalen öffneten sich unzählige Knopfaugen auf langen Stielen. Aus Mäulern, die unter fallenden Köpfen verborgen waren, strömten bunte, schäumende Blasen und weckten den Jagdeifer der Krabbenfischer. Vaters Haare sträubten sich unter dem Regenmantel. »Jetzt«, rief Onkel Luohan. Noch bevor der Ruf verklungen war, hatte mein Vater zwei Ecken des enggeknüpften Netzes gepackt, das sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Sie hoben es in die Luft, sammelten eine Schicht Krabben auf und legten einen klaren Erdflecken frei. Schnell verknoteten sie die Ecken, warfen das Netz beiseite und hoben genauso schnell und geschickt das nächste auf. Die schweren Bündel enthielten Hunderte, wenn nicht Tausende von Krabben.

Vater folgte den anderen ins Hirsefeld, dabei bewegte er sich unbewusst seitwärts wie eine Krabbe. Er traf die Zwischenräume zwischen den Halmen nicht, stieß sie an und ließ sie wild erschauern und wogen. Immer noch hielt er sich an Kommandant Yus Mantelzipfel fest und wurde so schnell mitgezogen, dass seine Füße den Boden kaum berührten. Aber er wurde müde; sein Hals war steif, und seine Augen wurden matt und glanzlos. Alles, woran er denken konnte, war, dass er nie mit leeren Händen nach Hause kommen würde, solange er Onkel Luohan zum Ufer des Schwarzwasserflusses folgen konnte.

Vater aß Krabben, bis ihm schlecht wurde. Großmutter aß Krabben, bis ihr schlecht wurde. Sie hatten keine Lust mehr auf Krabben, aber sie brachten es nicht übers Herz, den Rest wegzuwerfen. Schließlich hackte Onkel Luohan die Reste fein, mahlte sie unter dem Mühlstein und legte die Masse in Salz ein. Sie aßen jeden Tag Krabbenpaste, bis auch die verdarb. Den Rest verwendeten sie als Kompost für den Mohn. Großmutter muss wohl Opiumraucherin gewesen sein. Aber sie war nicht süchtig, und deshalb hatte sie eine pfirsichfarbene Haut, ein sonniges Gemüt und einen wachen Geist. Die krabbengedüngten Mohnblumen waren groß und fleischig, rosa, rot und weiß, und ihr Geruch füllte meine Nase. Der schwarze Boden meiner Heimat war besonders fruchtbar, und die Menschen, die ihn bestellten, waren besonders anständig, eigenwillig und ehrgeizig. Die weißen Aale im Schwarzwasserfluss waren so fett wie gespitzte Fleischkeulen und so dumm, dass sie jeden Angelhaken schluckten.

Vater dachte an Onkel Luohan, der vor einem Jahr auf der Landstraße von Jiao nach Pingdu gestorben war. Sie hatten die Leiche in Stücke gehackt und in der Gegend verstreut. Als sie ihm die Haut abzogen, zitterte und bebte das Fleisch wie ein großer geschundener Frosch. Der Gedanke an seine Leiche ließ Vater bis ins Mark erschauern. Dann dachte er an eine andere Nacht vor sieben oder acht Jahren. Großmutter, die betrunken war, stand neben einem Haufen Hirseblätter im Hof der Brennerei und hatte die Arme um Onkel Luohans Schultern gelegt. »Onkel«, flehte sie ihn an, »geh nicht fort. Wenn nicht um des Mönches willen, bleib um Buddhas willen. Wenn nicht für den Fisch, dann für das Wasser. Wenn nicht meinetwegen, dann bleib für den kleinen Douguan. Du kannst mich haben, wenn du willst. Du bist wie mein eigener Vater.« Vater sah, wie er sie wegstieß und in den Stall stolzierte, um Maultierfutter zu mischen. Wir besaßen zwei schwarze Maultiere, und als wir die Brennerei aufmachten, wurden wir zur reichsten Familie im Dorf. Am Ende ist Onkel Luohan doch nicht fortgegangen. Stattdessen leitete er unsere Brennerei, bis zu dem Tag, an dem die Japaner unsere beiden Maultiere für die Arbeit an der Landstraße von Jiao nach Pingdu beschlagnahmten.

Jetzt konnten Vater und die anderen die langgezogenen Schreie der Maultiere hören, die sie im Dorf zurückgelassen hatten. Gespannt riss Vater die Augen auf, aber er konnte nichts sehen außer dem dichten, aber gleichwohl durchsichtigen Nebel vor seinen Augen. Hinter der Dunstwand bildeten aufrechte Hirsehalme dicke Mauern. Hinter jeder Wand verbarg sich eine neue, scheinbar ohne Ende. Er wusste nicht, wie lange sie schon durch das Feld gingen, denn seine Aufmerksamkeit war auf den fruchtbaren Fluss gerichtet, der in der Ferne rauschte, und er war in seine Erinnerungen versunken. Er fragte sich, warum sie es so eilig hatten, diesen dichten, traumartigen Ozean von Hirse zu durchqueren. Plötzlich verlor er die Orientierung. Er hatte sich vor ein paar Jahren einmal in den Hirsefeldern verirrt, aber das Geräusch des Flusses hatte ihm die Richtung gewiesen.

Er lauschte aufmerksam nach einem Zeichen des Flusses und stellte bald fest, dass sie nach Ostsüdosten marschierten, auf den Fluss zu. Als ihm die Marschrichtung klar wurde, erkannte er auch, dass sie vorhatten, die Japaner in einen Hinterhalt zu locken, dass sie Menschen töten würden, wie sie die Hunde getötet hatten. Auf dem Weg nach Ostsüdosten würden sie bald die Landstraße zwischen Jiao und Pingdu erreichen, die von Nord nach Süd durch die sumpfige Tiefebene führte. Die Japaner und ihre Lakaien hatten die Einheimischen mit Bajonett und Peitsche gezwungen, die Straße zu bauen.

Die erschöpften Männer, Köpfe und Hälse vom Tau klitschnass, versetzten die Hirse immer wieder in heftige Bewegung. Trotz der ständigen Wutausbrüche des Kommandanten hustete Wang Wenyi immer noch. Vater spürte die Landstraße in unmittelbarer Nähe; blassgelb konnte er sie undeutlich erkennen. Unmerklich öffneten sich kleine Löcher in dem dichten Nebelvorhang, und eine taugetränkte Hirserispe nach der anderen blickte meinen Vater traurig an; ehrfurchtsvoll starrte er zurück. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie lebende Geister waren. Mit Wurzeln, die tief in der dunklen Erde vergraben waren, saugten sie die Kraft der Sonne und die Stärke des Mondes auf. Von Tau und Regen genässt, wussten sie um die Wege des Himmels und die Gesetze der Erde. An der Farbe der Hirse konnte er ablesen, dass die Sonne den verborgenen Horizont bereits in leidenschaftliches Rot getaucht hatte.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Vater hörte irgendwo vor sich einen schrillen Pfiff und einen lauten Knall.

»Wer hat geschossen?«, brüllte Kommandant Yu. »Welches dumme Arschloch war das?«

Vater hörte, wie das Geschoss den dichten Nebel durchdrang, durch die Hirseblätter und -halme flog und eine der Rispen abschlug. Alles hielt den Atem an, als die Kugel durch die Luft flog und irgendwo landete. Der süßliche Geruch von Schießpulver durchzog den Nebel. Wang Wenyi schrie mitleiderregend auf: »Kommandant, mein Kopf ist ab! Kommandant, mein Kopf ist ab!«

Kommandant Yu erstarrte für einen Moment, dann versetzte er Wang Wenyi einen Fußtritt und knurrte: »Vollidiot! Wie könntest du ohne Kopf reden?«

Kommandant Yu stieß meinen Vater beiseite und ging nach vorne. Wang Wenyi wimmerte immer noch. Vater drängte sich vor, um den seltsamen Ausdruck in Wangs Gesicht besser sehen zu können. Eine dunkle Flüssigkeit strömte ihm über die Backe. Vater berührte sie mit dem Finger. Sie war warm und klebrig und roch fast so wie der Schlamm des Schwarzwasserflusses, nur frischer. Der Duft überdeckte das Pfefferminzaroma und die durchdringende Süße der Hirse und rief eine Erinnerung wach, die immer näher herankam. Wie Perlen auf einer Schnur verband sie den Schlamm des Schwarzwasserflusses, die schwarze Erde unter der Hirse, die ewig lebendige Vergangenheit und die unaufhaltsame Gegenwart miteinander. Zu manchen Zeiten schleudert dir alles auf der Welt den Geruch menschlichen Bluts entgegen.

»Onkel«, sagte Vater, »du bist verwundet.«

»Douguan, bist du das? Sag deinem alten Onkel, ob sein Kopf noch auf den Schultern sitzt.«

»Er ist noch da, Onkel, genau da, wo er hingehört. Nur dein Ohr blutet.«

Wang Wenyi berührte sein Ohr und zog eine blutige Hand zurück. Erst schrie er erschreckt auf, dann blieb er wie erstarrt stehen. »Kommandant, ich bin verwundet! Ich bin verwundet! «

Kommandant Yu kehrte von seinem Aussichtsposten zurück und legte die Hände um Wang Wenyis Kehle. »Hör auf zu schreien, oder ich erwürge dich!«

Wang Wenyi wagte keinen Ton mehr von sich zu geben.

»Wo bist du verwundet?«, fragte Kommandant Yu.

»Mein Ohr …«, weinte Wang Wenyi.

Kommandant Yu zog ein weißes Stoffstück aus dem Gürtel, riss es durch und gab es Wang Wenyi. »Halte das darauf und sei ruhig. Bleib im Glied, und wenn wir an der Straße sind, kannst du dein Ohr verbinden.«

»Douguan!«, rief Kommandant Yu barsch. Vater antwortete, und Kommandant Yu nahm ihn bei der Hand und führte ihn beiseite. Wimmernd folgte Wang Wenyi.

Der Unglücksschuss ging auf das Konto eines großen Kerls, den man den Stummen nannte. Er marschierte an der Spitze des Trupps und trug einen Rechen über der Schulter. Er war gestolpert, und dabei war sein Gewehr losgegangen, das ihm auf dem Rücken hing.

Der Stumme war ein alter Freund des Kommandanten, ein Held der Wildnis, der mit ihm in den Hirsefeldern von Handkuchen gelebt hatte. Er hatte von Geburt ein verkürztes Bein und hinkte beim Gehen, aber deswegen war er nicht langsamer. Vater hatte ein wenig Angst vor ihm.

Mit dem Morgengrauen hob sich endlich der dichte Nebelvorhang. In diesem Augenblick erreichte Kommandant Yu mit seinem Trupp die Landstraße von Jiao nach Pingdu. In meiner Heimat ist der August der Nebelmonat, vielleicht weil es in der Tiefebene so viele Sümpfe gibt. Als er die Straße betrat, fühlte sich Vater plötzlich leicht und behände. Endlich konnte er Kommandant Yus Mantelzipfel loslassen und federnden Schrittes weitergehen. Wang Wenyi dagegen, der das Stoffstück an sein verwundetes Ohr hielt, sah unglücklich in die Welt. Kommandant Yu legte ihm einen vorläufigen Verband an, der seinen halben Kopf einhüllte. Wang knirschte vor Schmerz mit den Zähnen.

»Das Schicksal meint es gut mit dir«, sagte Kommandant Yu. »Mein ganzes Blut ist verströmt«, winselte Wang. »Ich kann nicht mehr.«

»Quatsch!«, rief Kommandant Yu. »Das ist doch nur ein Mückenstich. Hast du deine drei Söhne vergessen?«

Wang ließ den Kopf hängen und murmelte: »Nein, ich habe sie nicht vergessen.«

Er trug eine langläufige Vogelflinte mit blutrotem Kolben über der Schulter. Eine flache Pulverbüchse aus Metall hing ihm an der Hüfte.

Letzte kleine Nebelschwaden wehten durch die Hirsefelder. Der Kies zeigte keine Spuren von Menschen oder Tieren. Die dichten Hirsewände neben der verlassenen Landstraße und die widernatürliche Situation, in der sie sich befanden, ließ die Männer ahnen, dass ein Verhängnis in der Luft lag. Vater hatte von Anfang an gewusst, dass Kommandant Yus Trupp nicht stärker als vierzig Mann war, selbst wenn man die Tauben, die Stummen, die Hinkenden und die Krüppel mitzählte. Aber solange sie im Dorf im Quartier lagen, hatten sie unter dem Gegacker der Hühner und Bellen der Hunde so viel Lärm gemacht, dass man sie für ein ganzes Garnisonskommando hätte halten können.

Draußen auf der Landstraße rückten die knapp vierzig Mann so eng auf, dass sie einer träge ruhenden Schlange glichen. Ihre bunt zusammengewürfelte Waffensammlung bestand aus Schrotflinten, Vogelbüchsen, alten Hanyang-Gewehren und einer Revolverkanone, die von zwei Brüdern namens Fang Sechs und Fang Sieben getragen wurde. Der Stumme trug einen Rechen mit sechsundzwanzig Metallzinken. Drei weitere Soldaten trugen ähnliche Waffen. Vater wusste immer noch nicht, was ein Hinterhalt war, und selbst wenn er es gewusst hätte, es wäre ihm schleierhaft geblieben, warum man dazu vier Rechen mitnahm.

2

In die Gemeinde Nordost-Gaomi bin ich zurückgekehrt, um eine Chronik meiner Familie zu schreiben, nicht zuletzt auch über das berühmte Gefecht am Ufer des Schwarzwasserflusses, in dem mein Vater gekämpft und in der ein japanischer General den Tod gefunden hat. Eine Zweiundneunzigjährige aus dem Dorf sang mir ein Lied: »Nordöstlich von Gaomi / Männer ohne Zahl / Am Schwarzwasserfluss die Schlacht begann / Yu, der tapfere Krieger, / hob dort die Hand / und die Kanonen donnerten laut / Die Teufel von jenseits des Meeres / stürzten, und keiner stand je wieder auf / Die schönste der Frauen, / die Heldin Dai Fenglian, / brachte Rechen aufs Schlachtfeld. / Der Japaner blieb stehn …« Die runzlige Greisin war so kahl wie ein Tontopf, und ihre rissigen Handrücken mit den vorspringenden Sehnen sahen aus wie Melonenschalen. Sie hatte das Herbstmassaker von 1939 nur überlebt, weil sie auf ihren entzündeten Beinen nicht laufen konnte und ihr Mann sie im Keller unter den Yamswurzeln versteckt hatte. Auch mit ihr hatte es das Schicksal gut gemeint. Die Dai Fenglian, von der sie sang, war meine Großmutter. Ich konnte meine Aufregung kaum unterdrücken, als ich ihr zuhörte, denn ihre Erzählung war der Beweis dafür, dass der Plan, den japanischen Konvoi mit Rechen aufzuhalten, von einer Angehörigen meiner Familie, einem Mitglied des schwachen Geschlechts, stammte. Als Pionierin des antijapanischen Widerstands verdiente es meine Großmutter, als Volksheldin gefeiert zu werden.

Als sie auf meine Großmutter zu sprechen kam, wurde die Greisin gesprächig. Ihre Erzählung war wirr und unstet wie Herbstlaub im Wind. Sie sagte, meine Großmutter habe die kleinsten Füße unter allen Frauen im Dorf und der Schnaps aus unserer Brennerei Nachwirkungen wie kein anderer gehabt. Der Faden der Erzählung glättete sich, als sie anfing, von der Landstraße von Jiao nach Pingdu zu sprechen: »Als die Straße bis hierher reichte … die Hirse ging uns erst bis zur Hüfte … Die Teufel holten alle Männer zur Zwangsarbeit … Die Arbeit ging nicht voran … Sabotage … Sie nahmen deiner Familie die beiden großen schwarzen Maultiere weg … Bauten eine steinerne Brücke über den Schwarzwasserfluss … Luohan, der Leiter in eurem Betrieb … Irgendetwas hatte er mit deiner Großmutter, jedenfalls haben das alle gesagt … ei, ei, ei! Als deine Großmutter jung war, ist sie vielen Versuchungen erlegen … Dein Vater war ein tüchtiger Junge. Mit fünfzehn hat er seinen ersten Mann umgelegt. Aus acht oder neun von zehn Bastarden wird nichts … Luohan hat den Maultieren die Vorderbeine gefesselt … Die japanischen Schweine haben ihn erwischt und ihm die Haut abgezogen … Die Japse haben Leute umgebracht, in ihre Kochtöpfe geschissen, in ihre Wasserbecken gepisst. Einmal wollte ich in dem Jahr Wasser holen, und du glaubst nicht, was in meinem Eimer war: ein menschlicher Kopf, an dem noch der Zopf hing …«

Onkel Liu Luohan spielte eine beachtliche Rolle in der Geschichte meiner Familie, aber es gibt keine wirklichen Beweise dafür, dass er mit meiner Großmutter geschlafen hat, und ich glaube nicht, dass es stimmt. Ich verstand schon, was die alte Frau mit dem Kopf wie ein Tontopf sagen wollte, aber es war mir trotzdem peinlich. Onkel Luohan hat meinen Vater behandelt wie einen Enkel, also bin ich so etwas wie sein Urenkel. Und wenn mein Urgroßvater etwas mit meiner Großmutter hat, dann ist das doch Inzest, oder etwa nicht? Aber das ist alles Schwachsinn, weil meine Großmutter Onkel Luohans Chefin war und nicht seine Schwiegertochter, und die Bande zwischen ihnen waren wirtschaftlicher und nicht familiärer Natur. Er war ein loyaler alter Mann, der unserer Familiengeschichte zum Schmuck gereicht und ihr mehr Ruhm verliehen hat, als sie ohne ihn hätte. Ob meine Großmutter ihn geliebt hat oder ob er je zu ihr ins Bett geklettert ist, hat keinerlei moralische Bedeutung. Und wenn sie ihn geliebt hat? Ich bin fest davon überzeugt, dass sie tun durfte, was sie wollte, denn sie war eine Heldin des Widerstands, eine Vorkämpferin der sexuellen Freiheit, das Musterbild einer emanzipierten Frau.

In den Gemeindearchiven habe ich entdeckt, dass örtliche Arbeitskräfte aus den Bezirken Gaomi, Pingdu und Jiao im siebenundzwanzigsten Jahr der Republik insgesamt 400 000 Arbeitstage im Einsatz waren, um auf Befehl des japanischen Militärs die Landstraße von Jiao nach Pingdu zu bauen. Der Verlust für die landwirtschaftliche Produktion war enorm, und in den Dörfern entlang der Landstraße gab es keinerlei Zugtiere mehr. Liu Luohan, der damals auf dem Feld arbeitete, ging mit einer Hacke auf die Maultiere los. Er wurde erwischt, und am nächsten Morgen banden ihn die japanischen Soldaten an einen Pfahl, zogen ihm bei lebendigem Leibe die Haut ab und hackten seine Leiche vor den Augen seiner Landsleute in Stücke. Seine Augen zeigten keine Furcht, und seinem Mund entströmten bis zum Augenblick seines Todes Flüche und Beschimpfungen.

3

Genau so war es, wie sie erzählte. Als der Ausbau der Landstraße unser Dorf erreichte, stand die Hirse hüfthoch in den Feldern. Außer ein paar winzigen Dörfern, zwei Flüssen, die sie durchzogen, und ein paar Dutzend gewundenen Feldwegen gab es auf der sumpfigen Ebene von fünfunddreißig mal dreißig Kilometern nichts als Hirse, die Wellen schlug wie ein grüner Ozean. Von unserem Dorf aus konnte man den Berg des Weißen Pferdes sehen, eine gewaltige Felsformation am Nordrand der Ebene, die aussah wie ein Pferd. Wenn die Bauern, die ihre Felder bestellten, nach oben blickten, sahen sie das Weiße Pferd, wenn sie nach unten blickten, die schwarze Erde, die ihren Schweiß trank und ihren Herzen Ruhe schenkte. Als sie hörten, dass die Japaner eine Straße durch die Ebene bauen wollten, wurden sie nervös. Sie ahnten die Katastrophe, die kommen musste.

Vater schlief, als die Japaner und ihre chinesischen Marionetten kamen, um Zwangsarbeiter mitzunehmen und die Pferde und Maultiere der Bauern zu beschlagnahmen. Der Tumult auf dem Brennereigelände weckte ihn. Großmutter nahm ihn bei der Hand, und sie rannten so schnell, wie es mit Bambusschuhen geht, zur Brennerei. Dort stand damals ein gutes Dutzend Fässer, jedes einzelne von ihnen randvoll von dem weißen Hirsebrand erster Qualität, dessen Duft über dem ganzen Dorf schwebte. Zwei japanische Soldaten in Khaki führten mit aufgepflanztem Seitengewehr die Aufsicht über zwei chinesische Marionettensoldaten in Schwarz, die mit umgehängtem Gewehr bemüht waren, unsere zwei großen schwarzen Maultiere von dem Katalpabaum auf dem Hof loszubinden. Onkel Luohan wollte sich auf den kleineren Chinesen stürzen, der den Haltestrick losmachte, aber der größere von beiden stieß ihn mit dem Gewehrlauf zurück. In der frühsommerlichen Hitze trug Onkel Luohan nur ein dünnes Hemd, und die Gewehrmündung hinterließ überall auf seiner entblößten Brust kleine runde blaue Flecken.

»Brüder«, beschwor er die Soldaten, »wir können doch darüber reden. Wir können doch darüber reden.«

»Verschwinde, Bauerntrottel!«, brüllte ihn der größere Soldat an. »Die Tiere gehören doch jemandem«, sagte Onkel Luohan. »Die könnt ihr doch nicht einfach mitnehmen.«

Bedrohlich knurrte der Marionettensoldat: »Noch ein Wort, und ich schieß dir den Pimmel ab.«

Die japanischen Soldaten hielten ihre Gewehre im Präsentiergriff und standen still wie Lehmfiguren.

Als Großmutter und mein Vater das Gelände betraten, rief Onkel Luohan: »Sie wollen uns die Maultiere wegnehmen.«

»Meine Herren«, sagte meine Großmutter, »wir sind anständige Leute.«

Die Japaner blickten Großmutter mit zusammengekniffenen Augen an und grinsten.

Der kleinere Marionettensoldat machte die Maultiere los und versuchte sie wegzuführen, aber sie warfen stur die Köpfe hoch und rührten sich nicht. Also mischte sich sein Kumpel ein und stieß das Tier mit dem Gewehr in den Bauch. Wütend schlug das Tier mit den Hinterbeinen aus. Die Hufeisen glänzten unter dem Schlamm, der dem Soldaten ins Gesicht spritzte.

Der größere Soldat richtete das Gewehr auf Onkel Luohan und brüllte: »Los, komm her und bring die Maultiere zur Baustelle!« Onkel Luohan kauerte auf dem Boden und sagte nichts.

Einer der Japaner trat dazu, wedelte mit dem Gewehr vor Onkel Luohans Gesicht herum und schrie etwas Unverständliches. Das glänzende Bajonett vor Augen, setzte sich Onkel Luohan auf den Boden. Der Soldat stieß zu, und eine kleine Wunde öffnete sich auf Onkel Luohans Kopf.

Großmutter fing an zu zittern und rief: »Onkel, bring ihnen die Maultiere!«

Der andere japanische Soldat schlich sich immer näher an Großmutter heran. Vater fiel auf, wie jung und hübsch er war und wie seine schwarzen Augen funkelten. Aber wenn er lächelte, gaben seine Lippen einen vorstehenden gelben Zahn frei. Großmutter schwankte auf ihren gebundenen Füßen zu Onkel Luohan hinüber, dessen Kopfhaut und Gesicht blutverschmiert waren. Grinsend kamen die japanischen Soldaten näher. Großmutter legte Onkel Luohan die Hände auf den Kopf und schmierte sich sein Blut ins Gesicht. Wie eine Wahnsinnige raufte sie sich die Haare und sprang mit aufgerissenem Mund in die Höhe. Sie sah zu drei Teilen aus wie ein Mensch, zu sieben wie ein Dämon. Die japanischen Soldaten erstarrten vor Schreck.

»Um Gottes willen«, sagte der kleinere Marionettensoldat, »die Frau ist verrückt.«

Der eine Japaner murmelte irgendetwas vor sich hin und gab einen Schuss über Großmutters Kopf ab. Sie hockte sich auf den Boden und begann laut zu klagen.

Der größere Marionettensoldat stieß Onkel Luohan mit dem Gewehr in die Seite und befahl ihm aufzustehen. Onkel Luohan nahm dem kleineren Marionettensoldaten den Strick aus der Hand. Die Maultiere warfen die Köpfe zurück, und ihre Beine zitterten, aber sie ließen sich von ihm führen. Die Straße war ein Chaos von Maultieren, Pferden, Ochsen und Ziegen.

Großmutter hatte keineswegs den Verstand verloren. Sobald die Japaner und ihre chinesischen Marionetten abgezogen waren, nahm sie den hölzernen Deckel von einem der Schnapsfässer und betrachtete ihr blutiges und verängstigtes Spiegelbild. Vater sah, wie die Tränen auf ihren Wangen rot wurden. Großmutter wusch ihr Gesicht in dem Schnaps, der sich blutrot färbte.

Wie die Maultiere, die er am Halfter führte, musste auch Onkel Luohan an der Straße arbeiten, die sich in den Hirsefeldern abzuzeichnen begann. Die Landstraße am Südufer des Schwarzwasserflusses war fast fertiggestellt, und von der neuen Straße her kamen Autos und Lastwagen mit Steinen und gelbem Kies, den sie am Flussufer entluden. Da es nur eine einzige Holzbrücke über den Fluss gab, hatten die Japaner beschlossen, eine große steinerne Brücke zu bauen. In den Hirsefeldern nördlich des Flusses, wo man auf beiden Seiten der Straße schwarze Erde aufgeschüttet hatte, zogen Dutzende von Pferden und Maultieren schwere Steinwalzen, die zwei große quadratische Flächen inmitten eines Meeres von Hirse plattwalzten und den grünen Getreidevorhang um die Baustelle zerstörten. Die Männer führten die Tiere kreuz und quer durch das Feld, zertrampelten die zarten Sprosse, die sich unter beschlagenen Hufen bogen, und walzten sie in den Boden; und die glatten Steinwalzen färbten sich im Saft der Hirsepflanzen dunkelgrün. Das durchdringende Aroma grüner Hirseknospen hing wie eine schwere Wolke über der Baustelle. Onkel Luohan wurde auf die Südseite des Flusses geschickt, um Steine ans Nordufer zu schleppen. Zögernd übergab er die Maultiere einem alten Mann mit entzündeten Augen. Die kleine Holzbrücke schwankte so wild, als wolle sie einstürzen. Am Südufer versetzte ihm ein chinesischer Aufseher mit einer purpurfarbenen Rattangerte einen leichten Schlag auf den Kopf und sagte: »Also los, trag die Steine ans andere Ufer!« Onkel Luohan rieb sich die Augen; das Blut aus der Kopfwunde hatte seine Augenbrauen verschmiert. Er hob einen Stein mittlerer Größe auf und schleppte ihn ans andere Ufer, wo der alte Mann mit den Maultieren stand. »Behandle sie gut«, sagte er, »sie gehören der Familie, bei der ich arbeite.« Der Alte nickte stumm, wandte sich ab und führte die Maultiere zu den anderen Gespannen, die an der Verbindungsstraße arbeiteten. Auf den glänzenden Leibern der Maultiere spiegelte sich in hellen Flecken die Sonne. Onkel Luohan bückte sich, sammelte ein wenig schwarze Erde und rieb sie über die immer noch blutende Kopfwunde. Ein dumpfer, schwerer Schmerz durchfuhr ihn vom Kopf bis in die Zehenspitzen, und sein Kopf tat weh, als wolle er platzen.

Bewaffnete japanische Soldaten und ihre chinesischen Marionetten standen rund um die Baustelle, und der Aufseher strich mit der Peitsche in der Hand wie ein Gespenst hin und her. Mit verstohlenen Blicken sahen die verängstigten Arbeiter zu, wie Onkel Luohan mit blut- und schlammverschmiertem Kopf einen Stein hochhob und ein paar Schritte machte. Plötzlich hörte er ein lautes Knallen hinter sich und spürte einen stechenden Schmerz im Rücken. Er ließ den Stein fallen und sah dem grinsenden Aufseher ins Gesicht.

»Herr Vorgesetzter«, sagte er, »wenn Sie mir etwas sagen wollen, warum schlagen Sie mich dann?«

Wortlos ließ der grinsende Aufseher seine Peitsche durch die Luft zischen und sie sich um Onkel Luohans Taille winden. Es fühlte sich an, als habe man ihn in der Mitte durchgeschnitten, und zwei Ströme brennend heißer Tränen sprangen aus seinen Augenwinkeln. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und die Wunde unter dem blutigen, schlammbedeckten Schorf begann zu klopfen, als wolle sie aufspringen.

»Herr Vorgesetzter!«, rief Onkel Luohan.

Der Aufseher versetzte ihm noch einen Peitschenschlag.

»Herr Vorgesetzter«, fragte Onkel Luohan, »warum schlagen Sie mich?«

Der Aufseher schnalzte mit der Peitsche und verzog sein grinsendes Gesicht, bis die Augen nur noch schmale Schlitze waren. »Nur so zum Angewöhnen, du Hurensohn.«

Mit tränennassen Augen unterdrückte Onkel Luohan sein Schluchzen. Er bückte sich, nahm einen großen Stein vom Haufen und taumelte damit auf die kleine Brücke zu. Sein Kopf schien zu explodieren, ein weißer Vorhang war vor seinen Augen. Die rauen Kanten des Steins gruben sich in seinen Brustkorb, aber er fühlte den Schmerz nicht mehr.

Der Aufseher blieb unbeweglich stehen, die Peitsche in der Hand, und Onkel Luohan zitterte vor Furcht, als er den Stein an ihm vorbeischleppte. Diesmal traf ihn der Peitschenhieb im Nacken. Er fiel vornüber auf die Knie und presste noch immer den Stein an die Brust. Der Stein riss ihm die Haut an den Händen auf und hinterließ einen tiefen Schnitt im Kinn. Verwirrt begann er zu wimmern wie ein Säugling. Eine dunkelrote Flamme loderte in der Leere seines Schädels auf.

In diesem Augenblick kam ein Mann mittleren Alters vorbei; er mochte vielleicht vierzig Jahre zählen. Der Mann, der von einem Ohr zum anderen grinste, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot sie dem Aufseher an. Der öffnete die Lippen, ließ sich eine Zigarette in den Mund stecken und wartete dann, bis der Mann ihm Feuer gab.

»Hoher Herr«, sagte der Mann, »ein stinkender alter Bauerntölpel wie der hier ist Eurer Wut nicht würdig.«

Der Aufseher blies Rauch durch die Nase und schwieg. Onkel Luohan starrte gebannt auf die Peitsche zwischen seinen gelben, nervös zuckenden Fingern. Der Mann mittleren Alters steckte dem Aufseher den Rest des Päckchens in die Tasche. Der tat, als merke er nichts, klopfte auf seine Tasche, schnaubte durch die Nase und ging weiter.

»Bist du neu hier, älterer Bruder?«, fragte der Mann.

Onkel Luohan bejahte.

»Und du hast ihm nichts gegeben, um ihn ein bisschen zu schmieren?«

»Diese irren Hunde haben mich ohne jeden Grund hierhergeschleppt.«

»Gib ihm ein bisschen Geld oder ein Päckchen Zigaretten. Er prügelt weder die guten noch die schlechten Arbeiter, sondern nur die, die sich nicht auskennen.«

Der Mann ging zu den anderen Arbeitern hinüber.

Den ganzen Vormittag schleppte Onkel Luohan wie ein Besessener Steine. Der Schorf auf seinem Kopf trocknete in der Sonne und verursachte unerträgliche Schmerzen. Seine Hände waren rau und blutig, und der Speichel lief ihm über das Kinn. Die purpurrote Flamme hörte nicht auf, über die Innenseite seines Schädels zu streichen. Manchmal brannte sie stärker, manchmal schwächer, aber sie erlosch keinen Augenblick.

Gegen Mittag quälte sich ein Lastwagen über die kaum befahrbare Straße. Benommen hörte Onkel Luohan ein grelles Pfeifen und sah, wie die Arbeiter halb bewusstlos auf den Lastwagen zu taumelten. Er saß willenlos auf dem Boden und fragte sich nicht, warum der Lastwagen gekommen war oder wozu er da war. Er fühlte nichts als das Dröhnen der dunkelroten Flamme, die in seinem Schädel brannte.

Der Mann mit den Zigaretten kam wieder, zog ihn hoch und sagte: »Komm, älterer Bruder, es ist Essenszeit. Probier den japanischen Reis.«

Onkel Luohan stand auf und folgte ihm.

Aus dem Lastwagen wurden ein Paar Eimer mit schneeweißem Reis und ein Korb ausgeladen, in dem Tonschalen mit einem blauen Blumenmuster lagen. Neben den Eimern stand ein hagerer Chinese mit einem Messingschöpfer. Neben dem Korb stand ein fetter Chinese, der Schalen an die Männer ausgab, die sich in einer Schlange anstellten. Der andere teilte den Reis aus. Die Arbeiter standen um den Lastwagen herum und stopften sich das Essen mit bloßen Händen in den Mund.

Der Aufseher näherte sich, die Peitsche in der Hand. Noch immer stand das gleiche rätselhaft kalte Grinsen in seinem Gesicht. Die Flamme in Onkel Luohans Schädel loderte auf und warf ihr Licht auf Erinnerungen, die er zu vergessen versuchte. Er dachte an den Alptraum von jenem Vormittag. Die bewaffneten japanischen und chinesischen Wächter versammelten sich um einen Emailkübel, der ihr Mittagessen enthielt. Ein Wachhund mit langer Schnauze und gestutzten Ohren saß hinter dem Kübel. Mit hängender Zunge blickte er auf die Arbeiter.

Onkel Luohan zählte das knappe Dutzend Japaner und das knappe Dutzend Marionettensoldaten, und das Wort Flucht schoss ihm in den Sinn. Flucht! Wenn er es bis zu den Hirsefeldern schaffte, würden ihn die Schweine nicht einholen. Seine Fußsohlen waren heiß und feucht von Schweiß. Nachdem er angefangen hatte, über eine Flucht nachzudenken, wurde er nervös und ängstlich. Irgendetwas verbarg sich hinter dem kalten, ruhigen Grinsen des Aufsehers. Was war es? Onkel Luohans Gedanken verwirrten sich, wenn sein Blick auf dieses grinsende Gesicht fiel.

Der fette Chinese sammelte die Schalen wieder ein, noch bevor die Arbeiter zu Ende gegessen hatten. Sie leckten sich die Lippen und starrten gierig auf die Reiskörner, die an den Essenskübeln klebten, wagten aber keine Bewegung. Am nördlichen Flussufer schrie laut ein Maultier. Onkel Luohan erkannte die vertraute Stimme. Die Tiere waren neben der neu angelegten Trasse an Walzsteine angebunden. Überall lagen geknickte Hirsehalme. Träge knabberten die Maultiere an zertrampelten Zweigen und Blättern.

An diesem Nachmittag rannte ein Mann von etwa zwanzig Jahren in das Hirsefeld, als er glaubte, der Aufseher sähe ihn nicht. Eine Kugel folgte seinem Fluchtpfad. Regungslos blieb er am Feldrand liegen.

Der braune Lastwagen kam wieder, als die Sonne im Westen unterging. Onkel Luohan aß seine Schale Reis. Sein Verdauungssystem, das an Hirse gewöhnt war, wollte den schimmeligen weißen Reis ausstoßen, aber er zwang sich, das Essen herunterzuschlucken. Der Gedanke an Flucht war stärker als je zuvor. Er sehnte sich nach dem heimischen Brennereigelände im nahen Dorf und nach dem durchdringenden Schnapsgeruch, der dort in der Luft lag. Alle Brennereigehilfen waren geflohen, als die Japaner kamen; und der dampfende Brennkessel war kalt geworden. Noch stärker war seine Sehnsucht nach meiner Großmutter und meinem Vater. Er hatte die Wärme und Zufriedenheit nicht vergessen, die sie ihm neben dem Hirsehaufen geschenkt hatte.

Nach dem Essen wurden die Arbeiter in eine Art Verschlag aus Holzpfählen und aufgespannten Zeltplanen getrieben. Die Pfähle waren durch Drähte in der Dicke von Mungobohnen verbunden, und das Lagertor bestand aus dicken Metallstäben. Die Japaner und ihre chinesischen Gehilfen waren ein paar Meter vom Lager entfernt in eigenen Zelten untergebracht. Der Wachhund war vor einem der japanischen Zelte angebunden. An einem hohen Mast vor dem Tor waren zwei Laternen befestigt. Darunter hielten japanische und chinesische Soldaten abwechselnd Wache. Die Maultiere und Pferde waren auf einem planierten Grundstück westlich des Lagers an Holzpfosten angebunden.

Die Luft im Lager war erstickend. Ein paar Männer schnarchten laut, andere erleichterten sich in einen Eimer am Zaun. Das Plätschern des Urins klang wie Perlen, die auf eine Jadeschale fallen. Im fahlen Licht der Laternen bewegten sich unruhig die langgezogenen Schatten der Wachposten.

Im Verlauf der Nacht wurde die Kälte unerträglich. Onkel Luohan konnte nicht schlafen. Er dachte immer noch an Flucht, und rund um das Lager erklangen die Schritte der Wachen. Er lag da und wagte nicht, sich zu rühren. Schließlich fiel er in unruhigen Schlaf. Im Traum fühlte sich sein Kopf an, als durchbohre ihn ein scharfes Messer, und es war, als hielten seine Hände Brandeisen. Er erwachte schweißgebadet, und seine Hose war uringetränkt. Aus einem fernen Dorf erklang ein schriller Hahnenschrei. Pferde und Maultiere stampften und schnaubten. Schüchtern zwinkerten die Sterne durch die löchrige Plane, die als Dach diente.

Leise richtete sich der Mann auf, der ihm am Vortag geholfen hatte. Selbst im Dunkel des Lagers konnte Onkel Luohan seine leuchtenden Augen sehen, und er wusste, dass das kein gewöhnlicher Mensch war. Still lag Onkel Luohan da und beobachtete jede seiner Bewegungen.

Der Mann saß am Lagereingang und hob langsam und kontrolliert die Arme. Onkel Luohans Augen klebten an seinem Rücken und seinem Kopf, der von einer geheimnisvollen Aura umgeben schien. Der Mann atmete tief ein, lauschte mit vorgeneigtem Kopf, ließ seine Hände vorschießen wie die Pfeile aus einem Bogen und griff zwei Metallstäbe. Aus seinen Augen sprühte ein grünes Licht, das zu knistern schien, wenn es auf Widerstand traf. Leise öffneten sich die Metallstäbe. Durch die Öffnung fielen Laternenlicht und Sternenschein. Ein Schuh mit einem großen Loch in der Sohle wurde sichtbar. Ein Wächter näherte sich. Onkel Luohan sah, wie sich ein dunkler Schatten aus dem Tor stürzte. Der japanische Wächter gab einen Grunzlaut von sich und sank dann im stahlharten Griff des Mannes zu Boden. Der Mann hob das Gewehr des Japaners auf und verschwand lautlos im Dunkeln.

Es dauerte lange, bis Onkel Luohan verstand, was geschehen war. Offenbar handelte es sich um einen Meister der Kriegskunst, und er hatte ihm den Weg gewiesen. Zeit zur Flucht. Vorsichtig kroch Onkel Luohan durch die Öffnung. Der tote Japaner lag auf dem Rücken; ein Bein zuckte noch.

Onkel Luohan kroch ins Hirsefeld. Dann richtete er sich auf und folgte vorsichtig den Furchen. Auf dem ganzen Weg zum Schwarzwasserfluss achtete er sorgsam darauf, die Halme nicht anzustoßen, damit sie nicht raschelten. Das Dreigestirn des Orion stand im Zenit. Die schwere Dunkelheit, die vor der Dämmerung herrscht, umgab ihn. Im Schwarzwasserfluss spiegelten sich funkelnde Sterne. Als er kurz am Ufer stehenblieb, zitterte er vor Kälte. Seine Zähne klapperten, und der Schmerz an seinem Kinn breitete sich über die Wangen und die Ohren aus, um schließlich mit dem klopfenden Schmerz unter seiner eiternden Kopfhaut zu verschmelzen. Die raue Luft der Freiheit, die den Duft der Hirse durchwehte, drang in seine Nüstern, seine Lungen, seine Eingeweide. Das schummrige Licht der beiden Laternen schien schwach durch den Nebel. Die dunklen Umrisse des Lagerzauns glichen einem riesigen Friedhof. Erstaunt, wie leicht es gewesen war, zu entkommen, betrat er die baufällige Holzbrücke über den springenden Fischen und dem plätschernden Wasser. Eine Sternschnuppe huschte über den Himmel. Es war, als sei nichts geschehen. Er konnte ins Dorf zurückkehren, sich verstecken, warten, dass seine Wunden heilten, weiterleben. Aber als er auf der Brücke stand, hörte er vom Südufer her den klagenden Schrei eines Maultiers. Um der Maultiere willen ging er zurück, und so nahm die Tragödie ihren Lauf.

Auf einem Grundstück in der Nähe des Lagers, das nach Maultiermist und Pferdepisse stank, waren an einem Dutzend Haltepfählen Pferde und Maultiere angebunden. Die Pferde schnaubten, die Maultiere knabberten an den Pfählen. Die Pferde fraßen Hirsehalme, die Maultiere schissen. Onkel Luohan, der bei jedem Schritt dreimal ins Stolpern kam, schlich sich zwischen die Tiere. Er atmete den willkommenen Geruch zweier schwarzer Maultiere ein, und seine Augen erkannten die vertrauten Gestalten. Er wollte seine Leidensgefährten befreien. Aber die Maultiere, denen die Welt der Vernunft fremd ist, wandten ihm den Rücken zu und schlugen mit den Hufen nach ihm.

»Schwarze Maultiere«, murmelte Onkel Luohan, »schwarze Maultiere, lasst uns gemeinsam fliehen.« Zornig stampften die Maultiere, die ihr Gebiet verteidigen wollten, mit den Hufen. Sie erkannten ihren Herrn nicht, und er wusste nicht, dass der Geruch von getrocknetem Blut und frischen Wunden ihn für sie zum Fremden gemacht hatte. Verwirrt und ärgerlich machte er einen Schritt vorwärts und rannte gegen einen Maultierhuf, der ihn an der Hüfte traf und in die Luft schleuderte. Er lag auf dem Boden und fühlte sich wie betäubt. Das Maultier bockte noch immer und schlug aus. Die Hufeisen glänzten wie kleine Mondsicheln. Onkel Luohans geschwollene Hüfte fühlte sich nutzlos und unbrauchbar an. Mühsam richtete er sich auf, nur um wieder hinzufallen. Sobald er auf dem Boden lag, versuchte er wieder auf die Füße zu kommen. Wieder krähte im Dorf mit schwacher Stimme der Hahn. Die alles einhüllende Dunkelheit wich dem Licht der Sterne. Die Leiber und die Augäpfel der Maultiere wurden sichtbar.

»Ihr blöden Viecher!«

Wut stieg in seinem Herzen auf. Er torkelte über das Grundstück und suchte nach einer Waffe. Neben einem Bewässerungskanal fand er eine scharfe Metallhacke. Jetzt, wo er bewaffnet war, fluchte er laut, während er umherging, und vergaß die Männer und den Hund, die keine hundert Schritt weit entfernt waren. Er fühlte sich frei: Nur Angst kann die Freiheit verhindern.

Ein roter Hof umgab die Sonne, die im Osten aufging, und die Hirse war so still, als wolle sie bersten. Onkel Luohan ging auf die Maultiere zu. Er trug die Rosenfarbe des Morgengrauens in den Augen und bitteren Hass auf die schwarzen Maultiere im Herzen. Die Maultiere standen ruhig und reglos da. Onkel Luohan holte mit seiner Hacke aus, zielte auf das Hinterbein des einen Maultiers und schlug mit aller Kraft zu. Ein kalter Schatten fiel über das Bein. Das Maultier schwankte ein paarmal hin und her, richtete sich auf und gab ein tierisches, wütendes, betäubendes, gewaltiges Wiehern von sich. Dann richtete sich das verwundete Tier auf und überschüttete Onkel Luohans Gesicht mit einem Schwall von heißem Blut. Er schlug die Hacke in das andere Hinterbein. Dem schwarzen Maultier entfuhr ein Seufzer. Sein Rumpf fiel der Erde entgegen, und es senkte sich schwer auf den Boden. Mit den Vorderbeinen hielt es sich aufrecht, der Hals wurde vom Halfter hochgerissen. Aus weit geöffnetem Maul schrie es den blaugrauen Himmel an. Die Hacke, die unter dem Rumpf des Maultiers eingeklemmt war, zerrte Onkel Luohan in die Hocke. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, die Hacke herauszureißen, deren scharf geschliffene Kante mit dem Schienbein des Maultiers verwachsen schien.

Das zweite Maultier schaute blöd auf seinen gestürzten Gefährten und stieß mitleiderregende Schreie aus, als weine es oder flehe um sein Leben. Onkel Luohan ging auf das Tier zu und schleifte seine Hacke hinter sich her. Das Maultier wich so erschreckt zurück, dass der Haltestrick fast gerissen wäre und der Pfosten knirschte. Dunkelblaue Lichtstrahlen entströmten seinen faustgroßen Augen.

»Hast du Angst? Verdammtes Vieh! Was ist aus deinem Stolz geworden? Verdammtes Vieh! Du verkommener, undankbarer, schmarotzender Bastard! Du verlogener, verräterischer Hurensohn!«

Onkel Luohan schleuderte dem Tier eine obszöne Beschimpfung nach der anderen entgegen, riss seine Hacke in die Höhe und schlug nach dem langen rechteckigen Gesicht. Aber er traf den Pfosten. Er zerrte und zog, und schließlich gelang es ihm, die Hacke aus dem Holz zu ziehen. Das schwarze Maultier wehrte sich so heftig, dass seine Hinterbeine sich durchbogen, während sein schütterer Schwanz den Boden peitschte. Onkel Luohan zielte sorgfältig auf den Kopf des Tiers. Krachend landete die Hacke mitten auf der breiten Stirn. Dröhnend schlug Metall auf Knochen. Die Schwingungen durchfuhren den Stiel und erreichten Onkel Luohans Arme als stechender Schmerz. Aus dem geschlossenen Maul des schwarzen Maultiers drang kein Laut. Seine Beine und Hufe zuckten zornig, bevor es wie eine einstürzende Mauer zu Boden fiel und den Haltestrick durchriss. Ein Ende schaukelte vom Pfosten, das andere lag als Schleife neben dem Kopf des Maultiers. Onkel Luohan blieb schweigend stehen. Seine Arme hingen herab. Der glänzende Holzstiel der Hacke, die tief im Kopf des Tiers vergraben war, wies in spitzem Winkel zum Himmel.

Hundegebell, Rufe, Morgengrauen. Der geschwungene Umriss einer blutroten Sonne erhob sich über dem östlichen Hirsefeld, und ihre Strahlen fielen hell in die schwarze Öffnung, die Onkel Luohans Mund war.

4

Im roten Sonnenlicht, das soeben die Nebelwand durchbrochen hatte, zog die Kolonne zum Fluss herunter. Das Gesicht meines Vaters schimmerte wie die Gesichter der anderen auf einer Seite rot, auf der anderen grün, und wie die anderen starrte auch er in den Nebel, der sich über dem Schwarzwasserfluss zu lichten begann. Die vierzehn Bogen einer steinernen Brücke verbanden den südlichen mit dem nördlichen Teil der Landstraße. Weiter im Westen sah man noch die alte Holzbrücke. An manchen Stellen waren ihre verrotteten Planken ins Wasser gestürzt, und nur die braunen Pfosten standen aufrecht in der weißen Gischt, die den Fluss hinabtrieb. Die roten und grünen Farbtöne zwischen den Nebelschwaden und ihr Spiegelbild im Wasser waren von erschreckender Ernsthaftigkeit. Von der Böschung streifte der Blick über endlose Hirseflächen, ein ruhiges, glattes, ebenes Meer reifer roter Gesichter. Natürlich war mein Vater zu jung, um das, was er sah, mit so gewählten Worten zu beschreiben. Die Metaphern stammen von mir.

Die Hirse wartete ebenso wie die Männer auf die Ernte, die der Zeit der Blüte folgen musste.

Die Landstraße zog sich schnurgerade gen Süden, wurde schmaler und schmaler und verschwand schließlich zwischen den Hirsefeldern. Fern am Horizont, wo die Getreidehalme mit dem blassen Himmelszelt verschmolzen, bot der Sonnenaufgang einen trüben, feierlichen und dennoch erregenden Anblick.

Voll Neugierde beobachtete Vater die schweigsamen Partisanen. Wo kamen sie her? Wo gingen sie hin? Warum legten sie sich in den Hinterhalt? Was würden sie tun, wenn alles vorbei war? In der feierlichen Stille klang das Plätschern des Wassers an den Brückenpfosten lauter denn je zuvor und viel, viel frischer. Reste der Nebelwand, die die Sonnenstrahlen zerschlagen hatten, legten sich über das Wasser, und die Farbe des Schwarzwasserflusses wandelte sich von tiefem Karmin zu brennendem Goldrot. Der Fluss war voll von Farbe. Eine einsame welke Wasserpflanze trieb vorüber. Die einst aggressiv strahlenden Blüten hingen matt und bleich wie Seidenraupen zwischen dem dunklen Blattwerk. »Es ist wieder Krabbenzeit«, dachte Vater. »Die Herbstwinde wehen, die Luft wird kühler, ein Schwarm Wildgänse zieht nach Süden …« Onkel Luohan ruft: »Jetzt, Douguan, jetzt!« Das verworrene Muster der Krabbenscheren bedeckte den weichen, schwammigen Uferschlamm. Vater roch den zarten fischigen Geruch von Krabben, der vom Fluss herüberwehte. Vor dem Krieg benutzte meine Familie Krabbenpaste als Dünger für den Mohn, der groß und breit in strahlenden Farben blühte und einen überwältigenden Duft verströmte.

»Geht hinter der Böschung in Deckung«, sagte Kommandant Yu. »Stummer, bring deine Rechen in Stellung.«

Der Stumme nahm ein paar Drahtschlingen von der Schulter und band die vier Rechen aneinander. Er grunzte seinen Kameraden etwas zu, und sie halfen ihm, die Kette von Rechen an die Stelle zu tragen, wo die Steinbrücke auf die Landstraße traf.

»In Deckung, Männer«, befahl Kommandant Yu. »Bleibt in Deckung, bis der japanische Konvoi auf der Brücke ist und Zugführer Lengs Trupp ihm den Rückweg abgeschnitten hat. Schießt nicht, bevor ich den Befehl gebe. Dann macht die japanischen Schweine nieder und werft sie den Aalen und Krabben zum Fraß vor!«

Der Stumme führte die Hälfte der Männer in das Hirsefeld westlich der Landstraße, wo sie sich versteckten. Wang Wenyi folgte dem Trupp des Stummen, aber sie schickten ihn zurück. »Ich will, dass du bei mir bleibst«, sagte Kommandant Yu. »Hast du Angst?«

Wang Wenyi nickte ein paarmal und sagte: »Nein.«