Das Schicksal der Lilian H. - Marie Louise Fischer - E-Book

Das Schicksal der Lilian H. E-Book

Marie Louise Fischer

0,0

Beschreibung

Lilian, Chefsekretärin, ist hinreißend schön und führt ein ausschweifendes Leben. Die Männer liegen ihr zu Füßen, und sie scheint ganz und gar abhängig von deren Bewunderung und Aufmerksamkeit, sie ist dem Luxus verfallen. Doch während sie ihre Liebschaften schon nicht mehr beziffern kann, sehnt sie sich heimlich nach Geborgenheit und Liebe, vielleicht sogar nach einer Ehe, einem bürgerlichen Leben. Kurt Kayser, ihr Vorgesetzter und Firmeninhaber, mit dem sie ein Verhältnis hat, wäre genau der Richtige für Lilian, doch er ist verheiratet und an seine schwerkranke Ehefrau gebunden. Eines Morgens wird diese mit durchschnittener Kehle in ihrem Bett aufgefunden. Wer hätte ein besseres Tatmotiv als Lilian? Doch ist sie tatsächlich eine eiskalt berechnende Mörderin oder das Opfer eines Justizirrtums?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 277

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Louise Fischer

Das Schicksal der Lilian H.

SAGA Egmont

Das Schicksal der Lilian H.

Das Schicksal der Lilian H. (Diagnose Mord)

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1975 by Lübbe Verlag, Germany

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711718513

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Es war Freitag nachmittag kurz nach 16 Uhr, als die Tür zum Labor des Gerichtsmedizinischen Instituts einen Spalt breit geöffnet wurde.

»Herr Doktor Sturm«, rief die Sekretärin Professor Fabers und steckte den Kopf herein, »bitte, würden Sie wohl mal rüber kommen?«

Dr. Michael Sturm, der gerade dabei gewesen war, einen winzigen Hautfetzen unter dem Mikroskop zu untersuchen, richtete sich auf, und sein junges, glattes Gesicht zeigte die Verwirrung eines Menschen, der unversehens aus dem Zustand höchster Konzentration gerissen worden ist.

»Professor Faber will Sie sprechen«, verkündete das Mädchen und war schon wieder verschwunden.

»Au weia!« Dr. Jo Kulicke, der Reagenzgläser in die Spezialspülmaschine ordnete, drehte sich um. »Das hat nichts Gutes zu bedeuten.« Er fuhr sich mit der freien Hand über sein kurzgeschnittenes rotblondes Haar.

Dr. Sturm blieb gelassen. »Vielleicht doch.« Er trat zum Waschbecken und sah flüchtig sein eigenes Bild in dem schiefhängenden kleinen Spiegel: ehrliche blaue Augen, eine breite Stirn, dichtes dunkelblondes Haar und ein gepflegter Kinnbart, der ihm, wie er selber fand, eine gewisse Würde verlieh. Er stellte fest, daß sein Kittel nicht mehr ganz sauber war, zog ihn aus – Professor Faber war sehr penibel –, wusch sich gründlich die Hände und schlüpfte in sein hochsommerlich leichtes hellbraunes Jackett.

Dr. Kulicke beobachtete ihn dabei, und seine schmalen grünen Augen funkelten amüsiert. »Du willst wohl Eindruck schinden, wie?«

Dr. Sturm war an die kleinen Bosheiten seines jüngeren Kollegen gewöhnt. »Schnauze, Füchschen«, sagte er und puffte ihn im Vorbeigehen leicht in die Seite, »laß an meinem Platz alles, wie es ist. Ich will es nachher fertig machen.«

Dr. Michael Sturm verließ das Labor, schritt den Flur entlang und betrat, direkt vom Gang aus, nach kurzem Anklopfen das Arbeitszimmer Professor Fabers.

Der Leiter des Gerichtsmedizinischen Instituts saß hinter seinem Schreibtisch, ein schlanker, weißhaariger Herr mit schmalem Gesicht und kühlen grauen Augen. Beim Eintritt seines ersten Assistenten nahm er die dunkle Hornbrille ab. »Ah, da sind Sie ja, lieber Kollege«, sagte er mit der ihm eigenen leicht übertriebenen Höflichkeit, mit der er sich Abstand und Achtung verschaffte, »reizend von Ihnen, daß Sie gleich gekommen sind … bitte, nehmen Sie doch Platz!« Er deutete auf den Sessel gegenüber dem Schreibtisch.

Dr. Sturm setzte sich schweigend und wartete ab. Dabei hatte er, wie meist in der Anwesenheit seines Chefs, das peinigende Gefühl, im Vergleich mit diesem selbstsicheren eleganten Mann ein grober Klotz zu sein.

Professor Faber kam rasch zur Sache. »Sie haben sich vor einiger Zeit als Leiter des Gerichtsmedizinischen Institutes in Kiel beworben, lieber Kollege …« Er lehnte sich gemächlich zurück.

»Mit Ihrem Einverständnis, Herr Professor«, beeilte Dr. Sturm sich zu versichern.

»Aber selbstverständlich! Ich bin nicht der Mensch, der sich der Karriere junger Mitarbeiter in den Weg stellt.« Professor Fabers Gesicht blieb völlig undurchdringlich. »Um so mehr bedaure ich, Ihnen heute mitteilen zu müssen, daß es diesmal nicht geklappt hat … man hat sich in Kiel für einen anderen Bewerber entschieden.«

Dr. Sturm fühlte, wie ihm kalt und heiß wurde. So sehr hatte er auf diese Berufung gehofft, so stark hatte er damit gerechnet – und nun das!

»Ich habe es vorerst unterderhand erfahren«, erklärte Professor Faber und spielte mit dem Bügel seiner Hornbrille. »Aber ich dachte, ich sollte es Ihnen sofort sagen, damit Sie nicht länger im ungewissen schweben.«

»Danke, Herr Professor«, brachte Dr. Sturm mühsam heraus.

»Nehmen Sie es nicht so tragisch!« Professor Fabers schmale Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Was ist schon Kiel!«

»Ich wollte heiraten, Herr Professor.«

»Ihr Gehalt ist doch nicht so gering …«

»Ich habe eine alte Mutter zu versorgen.«

»Nun ja, ich verstehe. Das Fräulein Braut wird ungeduldig. Aber lassen Sie sich von einem erfahrenen Mann etwas sagen … wie alt sind Sie?«

»Achtundzwanzig.«

»Na, sehen Sie. Es hat schon manch einer zu früh, aber noch niemand zu spät geheiratet. Ich jedenfalls bin recht froh, daß Sie unserem Institut noch erhalten geblieben sind.«

Dr. Sturm hatte das Gefühl, daß dies eine Entlassung sein sollte, und stand auf.

Professor Faber hob seine schmale, sensible Hand. »Moment, lieber Kollege. Sie wissen, daß ich heute nach Berlin fliege. Zu einem Kongreß. Lassen Sie sich die verschiedenen Anschriften und Telefonnummern, unter denen ich zu erreichen bin, von meiner Sekretärin geben. Notfalls werde ich in kürzester Zeit zurück sein. Aber ich hoffe doch, daß uns über dieses Wochenende ein Mordfall erspart bleibt. Und im übrigen verlasse ich mich ganz auf Sie, lieber Kollege.«

Als Dr. Michael Sturm ins Labor zurückkehrte, waren alle außer Dr. Kulicke, der auf der Fensterbank saß und seine Zigarette rauchte, schon gegangen.

»Was machst du denn für ein Gesicht?« rief er munter. »Hat der Alte dir in die Suppe gespuckt?«

»Kiel hat meine Bewerbung abgelehnt.«

»Sagt ich’s doch!« Dr. Kulicke schwang sich zu Boden. »Da steckt der Alte hinter. Der hat dir eine ungünstige Beurteilung geschrieben … noch zu jung, um eine so große Verantwortung zu tragen und so weiter und so fort … all der wohlbekannte Quatsch.«

Dr. Sturm schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er war so nett zu mir.«

»Ach was … der und nett! Das ist ein ganz falscher Fuffziger! Wir sollten dem mal tüchtig auf die Zehen treten …« »Nein, Jo, selbst wenn du recht hättest. Das nutzt doch nichts. Ich möchte bloß wissen, wie ich es Eva beibringen soll. Das macht mir die meiste Sorge.«

»Kann ich verstehen, Michael. Die wird ganz schön sauer sein.«

Die Schöller-Werke lagen am Rande der Stadt, ein ausgedehnter Komplex von Werkhallen, locker um das Hochhaus gruppiert, in dem die Verwaltung untergebracht war.

Fünf Uhr. Die Sirenen heulten auf und verkündeten den Feierabend. Die Arbeitnehmer schoben sich über das Gelände und drängten zu den Toren. Das Wochenende hatte begonnen.

Nur in den Büroräumen der höchsten Herren wurde noch gearbeitet.

Die Stimme Direktor Kaysers dröhnte durch die Sprechanlage in das Vorzimmer hinaus: »Fräulein Horn … bitte die Post zur Unterschrift!«

»Wurde aber auch Zeit.« Lilian Horn erhob sich geschmeidig und fuhr sich mit den Händen über die schmalen Hüften, um den weißen Leinenrock zu glätten.

Fräulein Föllner, ihre Kollegin, beobachtete sie dabei über ihre Brille weg mit einem Ausdruck zornigen Neides, die schmalen Lippen zusammengepreßt, die Nasenflügel bebend.

Lilian Horn lächelte auf sie herab. »Machen Sie sich nichts draus, Süße … bald fahr’ ich in Urlaub, und dann haben Sie wieder mal Gelegenheit, sich vom Alten unter den Rock fassen zu lassen!«

Fräulein Föllners graues Gesicht verzog sich, als wenn sie in eine Zitrone gebissen hätte. »Wie können Sie es wagen?« fauchte sie.

Lilian Horn lachte nur, nahm die beiden Unterschriftsmappen, klappte sie zu und tänzelte durchs Zimmer. Sie öffnete die Doppeltür und schloß sie sorgfältig hinter sich. Direktor Kurt Kayser blickte hoch, als sie eintrat, und in seinen hellblauen, leicht quellenden Augen leuchtete bewundernde Lüsternheit auf. »Wie machen Sie das nur, Lilian? Nach acht Stunden Büro sehen Sie immer noch wie aus dem Ei gepellt aus!«

»Eine Sache des Trainings, Herr Direktor.« Lilian Horn legte die beiden Mappen auf den Schreibtisch, schlug die oberste auf und schob sie vor ihn hin; als er an der Schleife ihrer maisgelben Chiffonbluse zupfen wollte, gab sie ihm einen leichten Klaps auf die Hand.

Er unterschrieb, und sie blätterte um. Dabei sah sie auf seine glatte, sonnengebräunte Glatze, die von einem gepflegten eisgrauen Haarkranz umgeben war. Als er sich einem längeren Brief widmete, glitt ihr Blick sehnsüchtig zur Fensterwand, hinter der sich das Panorama der Industriestadt am Rhein mit ihren Schloten und Fördertürmen unter einem dunstig blauen Himmel ausbreitete.

»Ich fliege übers Wochenende nach Sylt«, sagte Direktor Kayser, während die Spitze seines Kugelschreibers ein vergessenes Komma einsetzte. Seine Unterschrift war zügig und kurz, man erkannte eigentlich nur das K.

»Na, dann viel Spaß!« Lilian Horn blätterte um.

»Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich nehme dich mit!«

Er wechselte, scheinbar unwillkürlich, vom förmlichen Sie zum vertraulichen Du über.

Sie merkte es sofort. »Bin zu Tränen gerührt.«

»Aber …?«

»Kein Interesse.«

Jetzt legte er den Kopf zurück. »Du weißt, daß ich es ganz ernst meine, Lilian! Du bist für mich die berückendste, entzückendste …«

Ihre bernsteingelben Augen funkelten. »Wie originell! Übernimm dich nur nicht!«

Er legte den Arm um ihre Hüften und zog sie an sich. »Ich hätte mich schon längst scheiden lassen …«

Sie befreite sich geschickt von seinem Griff. »Das hat niemand von dir verlangt!«

»Ich hätte es getan«, beharrte er, »wenn meine Frau nicht so krank wäre. Aber kann man einen Krüppel im Stich lassen? Sie hat niemanden und nichts außer mir.«

»Wie geht es ihr?« fragte Lilian, und der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert.

»Ihre Krankheit ist unheilbar, und sie weiß es.« Seine vollen Lippen zuckten. »Es ist ein Elend, sie so dahinsiechen zu sehen.«

»Aha, jetzt verstehe ich«, sagte Lilian Horn, und ihr Spott hatte etwas Gewaltsames, »darum läßt du sie auch jedes Wochenende allein? Damit du es nicht …«

In diesem Augenblick entdeckte sie, daß die Sprechanlage eingeschaltet war. Sie drückte auf die Taste, und das grüne Licht erlosch.

»Verdammt«, sagte er, »das hatte ich übersehen. Sehr schlimm?« Seine Hand glitt ihre perlonbestrumpften glatten Oberschenkel hinauf. »Jetzt habe ich dich kompromittiert.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Mich doch nicht.« Sie verzog ihre schönen, sorgfältig angemalten Lippen zu einem Lächeln. »Du kennst meine Devise: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt man gänzlich ungeniert!«

»Du kommst also mit?«

»Aber nicht doch, Chef! Nicht wieder dieselbe Leier von vorne!« Sie nahm die beiden Unterschriftsmappen an sich, berührte flüchtig mit den Lippen seine Glatze und tänzelte zur Tür. »Ich hab’ was Besseres vor!«

Er drückte auf die Sprechtaste. »Fräulein Föllner, bitte …«

»Herr Direktor?« Die Stimme des ältlichen Fräuleins kam atemlos, fast keuchend vor Erregung.

»Verbinden Sie mich, bitte, mit meiner Frau!« Er beugte sich weiter vor. »Moment mal, Fräulein Föllner … im übrigen verlasse ich mich ganz auf Ihre Diskretion. Haben Sie mich verstanden?«

2

Schwester Elise machte sich in dem weiten, vom Sonnenlicht durchfluteten Zimmer zu schaffen, während Frau Kayser telefonierte. Dabei beobachtete sie die Patientin unauffällig aus den Augenwinkeln, so daß sie gleich zur Stelle war, als der Hörer der kraftlosen Hand entfiel und an der kurzen Schnur hinunterbaumelte. Sie schnappte ihn, hielt ihn ans Ohr, legte ihn dann jedoch, da sie nur das Freizeichen hörte, auf die Gabel zurück. Danach blieb sie beim Bett stehen und blickte mit undeutbarem Ausdruck auf Irene Kayser herab, die mit geschlossenen Augen in ihren Kissen lag. Die bemalten Lippen der Kranken, die getuschten Wimpern und die gezupften Brauen wirkten gespenstisch in dem blassen, schlaffen, aufgedunsenen Gesicht. Frau Kaysers dunkles, mit einer weißen Strähne durchzogenes Haar war sorgfältig frisiert. Sie trug ein langärmeliges, weißes, hochgeschlossenes, mit Spitzen besetztes Nachthemd, und trotz der sommerlichen Wärme hatte sie einen bunten Kaschmirschal um den Hals geschlungen.

Die junge Schwester sagte nichts und fragte nichts, denn sie war lange genug im Haus, um zu wissen, was ein solcher Anruf Herrn Kaysers am späten Freitagnachmittag zu bedeuten hatte.

Als die Kranke sich nicht rührte, trat die Pflegerin in die offene Terrassentür hinaus und blickte über den sehr grünen kurz geschnittenen Rasen, auf dem die Wassersprenger sich drehten, zu den Beeten blühender, leuchtender, duftender Rosen hinüber.

»Schwester …«

Die Stimme Irene Kaysers war kaum vernehmbar, dennoch genügte sie, um die Pflegerin zusammenzucken zu lassen. Sie drehte sich um und eilte an das Bett.

Die Patientin sah sie aus glanzlosen Augen an. »Sie können mich abschminken, Schwester.«

Der Raum, in dem die Kranke lag, war ursprünglich das Eßzimmer der Kayserschen Villa gewesen, davon zeugte noch jetzt die Anrichte aus weißem Ahornholz, die eine ganze Wand einnahm. Auf ihr hatte Schwester Elise die Utensilien aufgebaut, die sie zur Pflege der Patientin brauchte. Jetzt stellte sie verschiedene Flaschen und Dosen auf einen Teewagen, holte aus der Küche eine flache Plastikschale voll lauwarmen Wassers und schob den so beladenen Wagen dicht an das freistehende Bett. Sie setzte sich auf den äußersten Rand, beugte sich hinüber und begann sehr behutsam das Gesicht der gelähmten Frau mit einer dicklichen weißen Flüssigkeit zu massieren.

»Sie dürfen das meinem Mann nicht übelnehmen«, sagte Irene Kayser, »er ist so vital … so voller Leben … er muß von Zeit zu Zeit hier heraus, verstehen Sie?«

»Wir beide werden uns ein ganz gemütliches Wochenende machen«, versprach Schwester Elise, »wenn es morgen so schön bleibt, kann ich Sie vielleicht auf die Terrasse schieben.«

Die Stimmung der Patientin schlug plötzlich um. »Spielen Sie bloß nicht die Aufopferungsvolle! Als wenn ich nicht wüßte, wie sehr Ihnen die Arbeit, die ich Ihnen mache, zum Hals heraushängt.«

»Sie gehört zu meinem Beruf«, erwiderte Schwester Elise sanft, »für den ich mich freiwillig entschieden habe.« »Tun Sie nur nicht so, als wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, einen Krüppel wie mich zu pflegen! Ich weiß genau, wie sehr Sie mich hassen … nein, nein, verteidigen Sie sich nicht, ich nehme es Ihnen ja gar nicht übel, ich hasse mich ja selber. Was für ein Leben. Immer nur allen anderen zur Last fallen … ohne Aussicht auf eine Heilung.«

»So dürfen Sie nicht reden, gnädige Frau«, erklärte Schwester Elise mit Nachdruck, »Doktor Koblenz … wir alle haben Hoffnung. Erinnern Sie sich noch … vor zwei Wochen ging es Ihnen viel besser …« Sie ließ die Patientin nicht zu Wort kommen, sondern redete weiter: »Wir erleben jetzt einen kleinen Rückfall, aber das ist doch kein Grund, den Mut zu verlieren. Wir müssen tapfer sein, ja?«

Irene Kayser hob mühsam die Hand und griff nach Schwester Elises Arm. »Sie sind so gut zu mir!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie müssen mich ja für eine Hexe halten.«

»Aber nein, bestimmt nicht.« Schwester Elise wischte ihr die Lotion mit einem feuchten Wattebällchen aus dem Gesicht.

»Ich arbeite gerne hier … wirklich.«

»Es wird zuviel für Sie. Sie sind noch so jung und … wissen Sie was? Sie werfen heute abend einmal alles hin und gehen ins Kino.«

»Gnädige Frau, das geht doch nicht! Sie wären ganz allein im Haus und …«

»Ich bitte Sie!« Irene Kayser lachte fast. »Was habe ich schon zu befürchten? Nichts. Ich habe nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren. Also gehen Sie schon. Tun Sie mir den Gefallen!«

»Es läuft zur Zeit gar nichts Vernünftiges.« Schwester Elise tupfte die Spuren von Feuchtigkeit mit einem weichen, sauberen Handtuch ab. »Nur Sex-Filme und so weiter.«

»Dann gehen Sie eben in einen Sex-Film, ja, es ist mein voller Ernst.« Die Patientin geriet geradezu in Eifer. »Gerade das ist es, was Sie brauchen. Sie sind ein bißchen zu prüde, Schwester! Glauben Sie mir, wenn Sie weiter so brav und zurückhaltend bleiben, kriegen Sie nie einen Mann.« Schwester Elises Gesicht verschloß sich. »Vorläufig habe ich auch noch nicht vor zu heiraten.«

Irene Kayser ließ sich nicht abspeisen. »Das sagt man so dahin, und mit einem Mal ist es zu spät. Je mehr ich es mir überlege, ein Sex-Film ist genau das Richtige für Sie. Das ist ein Befehl, Schwester. Ich schicke Sie ja auch aus Egoismus, damit Sie mir endlich wieder mal was zu erzählen haben.« Schwester Elise war schon fast überzeugt. »Und wie soll das mit dem Abendbrot werden?«

»Unwichtig. Ich esse heute eben früher. Sie machen mich zur Nacht fertig, geben mir meine Tabletten, und schon sind Sie endlich mal von mir und dieser Krankenstubenatmosphäre befreit. Keine Widerrede. So wird’s gemacht.«

3

Lilian Horn lag, nur mit einem weißen Bademantel bekleidet, einen Turban um das blonde Haar drapiert, lang ausgestreckt auf ihrem Bett und ließ die Schönheitsmaske, die sie sich aufgelegt hatte, wirken. Sie hatte zwischen den wohlgeformten Zehen Watteröllchen stecken, damit der frische Lack nicht beschädigt wurde, und hielt die manikürten und lackierten Finger gespreizt.

Die Balkontür stand weit offen, und ein leichter Luftzug strich durch das große Zimmer im 9. Stock eines Gebäudes, das im Volksmund der »Sekretärinnen-Silo« genannt wurde. Tatsächlich lebten nur alleinstehende Frauen in den modernen, praktischen Einzimmer-Appartements, wenn auch nicht ausschließlich Sekretärinnen.

Lilian Horn versuchte sich ganz zu entspannen und an nichts zu denken, denn sie wußte, daß das die Wirkung ihrer Maske unterstützen würde. Aber ohne daß sie es wollte, ging ihr das Gespräch mit ihrem Chef durch den Kopf.

Ob er es wohl ernst meinte? Sie war nicht ein bißchen in ihn verliebt, aber das hätte sie wohl kaum daran gehindert, seinen Antrag anzunehmen. Wenn er frei gewesen wäre. Nach einer mißglückten Ehe, die als Liebesheirat begonnen hatte, war sie, so glaubte sie wenigstens, Männern gegenüber sehr sachlich geworden. Kurt Kayser war nicht uneben, kein schöner Mann und auch nicht mehr jung, aber erfolgreich und intelligent. Er konnte einer Frau allerhand bieten: gesellschaftliche Stellung, sorgloses Leben, Schmuck, Pelze, Wochenenden auf Sylt, ein schönes Haus – er hätte ihr das geben können, wenn er unverheiratet gewesen wäre. Aber das eben war er nicht. Er war an eine Frau gefesselt, die nie mehr gesund werden würde, aber trotzdem noch gut und gerne zwanzig Jahre leben konnte. Also hatte es überhaupt keinen Zweck, einen Gedanken an Kurt Kayser zu verschwenden. Er fiel als ernsthafter Bewerber vollkommen flach.

Lilian Horn stützte sich auf die Ellbogen, richtete sich halb auf und warf einen Blick auf das Zifferblatt ihres winzigen Weckers. Die zehn Minuten, die die Maske wirken sollte, waren um. Sie schwang die nackten Beine vom Bett, löste die Wattebänder zwischen den Zehen, stand auf und warf sie in den Papierkorb.

Das Bad war ganz in rotem und schwarzem Plexiglas gehalten – eine Sonderanfertigung – und hatte keine Fenster, sondern nur Leuchtröhren und einen Luftabzug. Lilian Horn spülte sich die hart gewordene Maske mit lauwarmem Wasser ab und cremte sich ein, erst das Gesicht, dann den ganzen Körper.

Nackt betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Beine waren lang, der kleine, feste Busen saß hoch, es gab kein Pfund zu viel um die Hüften, Magen und Bauch bildeten von der Seite gesehen eine wundervolle Linie, und ihr schmales Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen unter den bernsteingelben Augen zeigte keine einzige Falte. Man hätte sie für achtzehn halten können, wenn da nicht eine gewisse Härte gewesen wäre, die von überwundenen Enttäuschungen sprach, eine Erfahrung im Blick, die kein junges Mädchen haben konnte.

Wenn sie lachte, wirkte sie jünger. Sie lachte ihrem Spiegelbild zu und nahm den Turban ab. Sie prüfte die Wurzeln ihres frisch getönten, hellblonden Haares, fand keine Spur von Dunkelheit, ließ die Strähnen befriedigt fallen und kämmte sich.

Sie parfümierte sich und schlüpfte in einen kleinen weißen Seidenslip, zog Perlonstrümpfe an und streifte Strumpfbänder über.

Anschließend besprühte sie ihre sorgfältig ausrasierten Achselhöhlen mit einem Desodorant und legte dann so peinlich genau Make up auf, daß ihr Gesicht, als sie fertig war, einem Kunstwerk glich.

Nachdem sie im Bad Ordnung gemacht hatte, ging sie ins Zimmer zurück, holte ein ärmelloses Kleid aus Goldbrokat aus dem Schrank, stieg von oben hinein und zurrte den Reißverschluß im Rücken zu. Sie wählte goldene Pumps, packte ihr goldenes Abendtäschchen, nahm eine helle Breitschwanzstola vom Bügel und warf sie über einen Sessel. Es war zwanzig Minuten nach acht.

Lilian Horn ging in die Küche und öffnete den Eisschrank. Sie fand eine noch unangebrochene Flasche Wodka und nahm sie heraus. Mit einem Küchenmesser trennte sie die Aluminiumkapsel auf und löste sie vom Verschluß.

Sie stieß einen leisen Schrei aus und zog die Hand zurück. Sie hatte sich in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand geschnitten.

Sofort steckte sie beide Finger in den Mund. Sie lief ins Bad, drehte den Kaltwasserhahn über dem Becken auf und hielt die blutenden Finger unter den Strahl. Aus dem Toilettenschrank über dem Becken holte sie mit der linken Hand einen Alaunstein, mit dem sie die Wunde bearbeitete.

Nach wenigen Minuten hörte die Blutung auf. Die Schnittwunden waren blaß und kaum noch zu erkennen.

Lilian Horn spülte das Becken aus, legte den Alaunstein an seinen Platz und kehrte in die Küche zurück. Sie warf die Aluminiumhülle in den Müllschlucker, schenkte sich drei Finger hoch Wodka in ein Glas und leerte es in einem Zug. Die Haustürklingel schrillte dreimal hintereinander in gleichmäßigen Abständen. Lilian Horn ergriff ihre Stola, ihre Tasche, ihre Handschuhe und verließ die Wohnung. Sie schloß die Tür ab und fuhr mit dem Lift nach unten.

In der Halle erwartete sie Herr Kerst, Leiter der Agentur »Hostessendienst GmbH«, ein unauffälliger mittelalterlicher Mann mit sandfarbenem Haar, einem korrekten dunkelgrauen Anzug und silberner Krawatte. »Pünktlich wie immer«, sagte er, »sehr schön.« Er öffnete ihr die Tür und ließ sie vor sich auf die Straße treten.

Wenige Schritte vom Portal entfernt parkte ein dunkelblauer Mercedes 300. Noch war es hell draußen, trotzdem waren schon einige Fenster im Appartement-Hochhaus erleuchtet.

Herr Kerst legte beschützend eine Hand unter Lilian Horns Ellenbogen. »Vielleicht sollte ich Sie das nächste Mal nicht von hier abholen, Lilian«, schlug er vor.

»Warum denn nicht? Für mich ist es so am bequemsten.«

»Man beobachtet Sie.«

»Wer?«

Herr Kerst machte eine Kopfbewegung in Richtung auf das Haus hinter ihnen. »Ihre Nachbarinnen!«

»Ach die!« Lilian Horn lachte. »Sollen sie doch, wenn es ihnen Spaß macht. Ich habe nichts zu verbergen.«

»Aber …«

»Die Hälfte von denen läßt sich übers Wochenende vollaufen, bloß um die Zeit totzuschlagen. Sollen die ruhig über mich lästern. Die haben mehr Dreck am Stecken als ich.« Herr Kerst öffnete die Türe im Fond des Mercedes, und Lilian stieg ein.

Vorne rechts saß Ruth Fiebig, ein junges Mädchen mit leuchtendrotem, kurz gelocktem Haar. Sie wandte ihr blasses, großäugiges Gesicht Lilian zu und grüßte lächelnd.

»Fein, daß wir wieder mal zusammen sind.«

»Hallo, Ruth!«

Herr Kerst ließ den Motor an und fuhr rückwärts aus der Parklücke auf die Fahrbahn hinaus.

»Hast du eine Ahnung, was heute los ist?« fragte Lilian.

»Bis jetzt noch nicht!« Ruth blickte Herrn Kerst an. »Hoffentlich wird es nicht zu schwierig. Ich bin ziemlich geschafft.«

»Ihr müßt nicht einmal dolmetschen«, versicherte Herr Kerst, »der Auftrag kommt von einem Herrn Schmitt, Firmeninhaber einer Spielzeugfabrik. Vielleicht kennt ihr ihn? Wir haben schon öfters für ihn gearbeitet.«

»Nein«, sagte Lilian.

»Sehr sympathisch, sehr seriös, na, ihr werdet schon sehen. Er hat zur Zeit einen Einkäufer da, einen Herrn aus der Provinz. Dem will er was bieten.«

»Dann fahren wir am besten nach Düsseldorf«, schlug Lilian vor, »denn hier …«

»Nein, nein«, wehrte Herr Kerst ab, »es soll ein kurzer Abend werden. Mit Überstunden ist kaum zu rechnen. Der Gast fliegt morgen zurück.«

»Schade«, sagte Lilian.

»Lilian, die Unermüdliche«, spöttelte Ruth, »wann wirst du endlich die Nase voll haben?«

»Vielleicht, wenn ich alt und klapprig geworden bin! Als ich so jung wie du war, habe ich das Wort Müdigkeit überhaupt nicht gekannt!«

Die Damen waren bester Laune, als Herr Kerst vor der »Taverne« vorfuhr, einem Restaurant im italienischen Stil, das sich durch eine gute Küche, gepflegte Getränke und gesalzene Preise ein anspruchsvolles Publikum geschaffen hatte.

Die »Taverne« lag außerhalb der Stadt, oberhalb des Deiches, und die bunten Lampions, die den kastanienbestandenen Garten beleuchteten, spiegelten sich im Wasser des Niederrheins, der hier schon sehr breit war. Mit einiger Fantasie konnte man sich, besonders in einer so warmen Sommernacht wie heute, an das Mittelmeer oder zumindest an einen der oberitalienischen Seen versetzt fühlen, eine Illusion, die noch durch die weichen Klänge einer kleinen Band verstärkt wurde.

Herr Kerst half erst Lilian, dann Ruth aus dem Wagen und gab die Autoschlüssel dem Portier.

Die Herren warteten in einer braun getäfelten Stube, die, trotz der südländischen Dekoration, sehr deutsch wirkte. Sie hatten an einem runden, blütenweiß gedeckten Tisch gesessen und erhoben sich gleichzeitig, als Herr Kerst, gefolgt von den beiden Hostessen, das Restaurant betrat.

Als sie den Tisch erreicht hatten, begann Herr Kerst die Vorstellung zu übernehmen, und in diesem Augenblick sah Lilian Horn sich einem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann mit braunen, von Lachfalten umgebenen Augen gegenüber.

Ihre Pupillen zogen sich von einer Sekunde zur anderen zusammen, als hätte sie, aus der Dunkelheit kommend, plötzlich in ein loderndes Feuer geblickt. Doch nichts weiter, nicht einmal das Zucken eines Muskels verriet sonst, daß sie diesen Mann kannte. Sie hatte sich bewundernswert in der Gewalt.

Sein Gesicht zeigte einen Atemzug lang äußerste Betroffenheit, dann hatte er sich wieder gefangen.

Als Herr Schmitt vorstellte: »Herr Togler … Fräulein Horn!«, begrüßten sie sich wie Fremde.

Allerdings spürte Lilian Horn jetzt, wie ihre Knie zu zittern anfingen, und sie war froh, als sie sich setzen durfte. Sie fühlte sich elend. Manchmal schon hatte sie sich ausgemalt, wie es sein würde, Hubert Togler zu begegnen. Aber nie hatte sie sich vorstellen können, daß ein Wiedersehen sie so treffen würde. Qualvoll wurde sie sich bewußt, daß sie dieses Kapitel ihres Lebens innerlich noch nicht abgeschlossen hatte.

Hubert Togler plauderte mit Ruth. Er durfte und sollte nicht merken, was in ihr vorging. Ostentativ wandte sie sich Herrn Schmitt zu und versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber sie war so außer sich, daß sie gar nicht richtig aufnahm, was er zu ihr sagte, noch was sie selber erwiderte. Erst als sie einen Cocktail hastig in zwei, drei Zügen hinunter gestürzt hatte, fühlte sie sich besser.

»Noch einen?« fragte Herr Schmitt lächelnd.

Lilian übersah den warnenden Blick von Herrn Kerst.

»Ja, gerne.«

Auch den zweiten Cocktail trank sie sofort aus. Dann merkte sie, daß sich ihre Mundwinkel beim Lächeln verkrampften und die Gesichter um sie zu verschwimmen begannen.

›Ich bin betrunken!‹ dachte sie voller Scham und Schrecken. Sie erhob sich, mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht zu schwanken, und sagte mit einer Stimme, die ihr nicht mehr gehorchen wollte: »Entschuldigen Sie mich, bitte …«

»Lilian, ist Ihnen nicht gut?« fragte Herr Kerst.

Sie lächelte ihr verkrampftes Lächeln. »Doch, doch, ich bin gleich wieder zurück …« Als Ruth sich erheben wollte, winkte sie ab. »Bitte, nicht!«

Mit steifen Schritten verließ sie den Raum. Sie wollte in den Garten, verfehlte die Richtung und fand sich auf der Straße wieder.

Sie zwang sich, tief durchzuatmen, aber das Schwindelgefühl wurde eher stärker als schwächer. Am liebsten hätte sie sich auf den grasbewachsenen Abhang neben der Straße geworfen, den Kopf in die Arme gelegt und geheult.

Aber sie befahl sich, aufrecht zu bleiben, und setzte weiter mechanisch Fuß vor Fuß.

Die anderen saßen schon bei den Horsd’œuvres, als Lilian wieder erschien. Sie wirkte erfrischt und sehr beherrscht, zeigte mit keiner Miene, was in ihr vorgegangen war. Niemand verlor über ihre Abwesenheit ein Wort.

»Ich habe für dich mitbestellt«, sagte Ruth Fiebig, »hoffentlich ist es dir recht.«

»Aber ja, ich danke dir. Du kennst ja meinen Geschmack.« Lilian aß mit gutem Appetit, trank aber mit äußerster Vorsicht von dem trockenen Weißwein, den Herr Schmitt bestellt hatte. Sie plauderte glänzend und gewandt und brachte mit ihren Geschichten die anderen immer wieder zum Lachen.

Als das Dessert abgetragen war, fragte der Gastgeber, ob die Damen einen Kaffee wünschten. Ruth bat darum.

Lilian sagte: »Lieber nicht. Wenn ich eine Bitte äußern darf, ich möchte tanzen!«

Sie blickte dabei Hubert Togler direkt in die Augen.

Er erhob sich, und sie schlängelten sich auf die Terrasse hinaus. Die Band spielte »Moon River«. Lilian lag so leicht wie eine Feder in seinen Armen, daß er sie kaum spürte.

Er tanzte steif und sehr gehemmt.

Sie lächelte zu ihm auf. »Hast du etwa Angst vor mir?«

»Du bist eine gefährliche Frau.«

»Nicht gefährlich genug. Sonst wärst du mir damals nicht entkommen.«

»Ich wußte, daß du mir das vorhalten würdest.«

»Hast du etwa gedacht, ich könnte es jemals vergessen?«

»Lilian!« Seine Stimme wurde laut, und er hatte Mühe, sie zu dämpfen. »Ich habe dich geliebt … ehrlich …«

Sie hob spöttisch die Augenbrauen. »Was kann ich mir dafür kaufen?«

»Ich konnte dich nicht heiraten, Lilian, ich habe mit mir gekämpft, aber, bei Gott, ich konnte es nicht! Ich lebte in einer stockkatholischen Kleinstadt, fast war’s ein Dorf … was glaubst du, was passiert wäre, wenn ich da eine schuldig geschiedene Frau angebracht hätte?«

»Ich weiß nicht. Ich hätte es gern erlebt.« Sie legte ihm den Finger auf die Lippen, als er etwas erwidern wollte.

»Scht, du sollst dich nicht verteidigen. Es ist ja längst vorbei. Ein alter Hut. Ich will dir keine Vorwürfe machen, sondern nur die Atmosphäre zwischen uns bereinigen, damit wir wie vernünftige Menschen miteinander umgehen können. Du wohnst also jetzt nicht mehr auf deinem Dorf?«

»Nein. In München. Ich bin Einkäufer eines Warenhauskonzerns geworden. Verheiratet bin ich inzwischen auch. Meine Frau erwartet ein Baby.«

»Dann kann ich dir also nur noch gratulieren!« Sie strahlte zu ihm auf, während ihr war, als zöge sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.

4

Schwester Elise kam zwanzig nach zehn in die Kaysersche Villa zurück. Sie ging sofort auf ihr Zimmer, den ehemaligen kleinen Salon, der direkt neben dem zur Krankenstube degradierten Eßraum lag.

Leise öffnete sie die Tür einen Spalt breit und wunderte sich, daß drinnen nicht wie sonst das Nachttischlämpchen brannte. Aber da die Patientin, die gewöhnlich beim leisesten Geräusch erwachte, sie nicht rief, nahm sie an, daß sie glücklicherweise fest eingeschlafen war. Lautlos zog Schwester Elise sich im Dunkeln aus, huschte in die Gästetoilette, wo sie sich wusch und für die Nacht vorbereitete. Dann legte sie sich auf ihre Couch und schlief kurz darauf ein.

Sie erwachte mit dem Gefühl, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. Sie lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut. Die Vorhänge waren zugezogen, aber durch die Spalten drang das schwache Licht der Morgendämmerung.

Jetzt begriff Schwester Elise, was sie so irritierte: die Nacht war vergangen, ohne daß Frau Kayser sie ein einziges Mal geweckt hatte. Sie warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt ihres großen, stabilen Weckers: Es war genau zwei Minuten vor fünf. Sie sprang auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ihren Morgenrock und eilte zur Verbindungstür, die sie, wie immer, halb offen gelassen hatte. Sie stieß sie auf.

Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den großen Raum; die Tür zur Terrasse hin stand auf. Die Patientin lag in einer unnatürlichen Haltung da. Der rechte Arm hing aus dem Bett und die Hand berührte das Heidschnuckenfell auf dem Boden.

Schwester Elise erschrak. »Frau Kayser«, rief sie, »was ist passiert?« Ihre Stimme schallte sehr laut durch das stille, einsame Haus.

Sie lief näher, und erst jetzt sah sie, daß alles voller Blut war: das Nachthemd, der Teppich, die Bettdecke, alles war von dunkelbraunem, bereits geronnenem Blut durchtränkt.

Mit äußerster Anstrengung überwand Schwester Elise ihren Ekel und beugte sich über das Bett. Irene Kaysers Hals war mit einem grauenhaften Schnitt durchtrennt. Ihr Kopf war in den Nacken gesunken, die offenen Augen blickten starr zur Decke.

Sie hörte einen gellenden Schrei, und es war ihr, als käme er aus der grauenhaft klaffenden Wunde der Toten wie aus einem zweiten Mund. Es dauerte Sekunden, bis sie begriff, daß sie es selber war, die schrie, immer noch schrie.

Sie drehte sich panikartig um, raste in die Diele hinaus und dann in das Herrenzimmer, auf dessen Schreibtisch ein Telefon stand. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, den Apparat auf dem Nachttisch der Toten zu benutzen, sie hätte es nicht länger dort ausgehalten.

Ohne zu überlegen wählte sie die Nummer der Polizei: »Ein Mord … meine Patientin, Frau Kayser … die Kehle durchschnitten, alles voll Blut«, stammelte sie, »ja, ja, ich rufe aus dem Haus an … Rheinallee 127 … schnell, bitte, kommen Sie schnell!«

Sie legte den Hörer auf und ließ sich in den Sessel sinken, versuchte, Fassung zu gewinnen, ihre Gedanken zu ordnen.

Immer noch zitternd rief sie den Hausarzt, Dr. Koblenz, an. »Bitte, kommen Sie sofort … Frau Kayser ist tot. Ich habe schon die Polizei angerufen.«

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte der Arzt mit einer Stimme, die vor Verschlafenheit knarrte.

»Aber … alles ist voll Blut … sie ist … ermordet worden!«

»Das können Sie nicht beurteilen, Schwester. Werden Sie um Himmels willen nicht hysterisch. Bleiben Sie ganz ruhig und rühren Sie nichts an. Ich bin gleich da.«

Aber noch vor Dr. Koblenz war die Mordkommission am Tatort, ein ganzer Pulk von Männern. Schwester Elise hörte ihre Stimmen, das Quietschen der Bremsen und das Zuschlagen der Autotüren auf der Straße, und sie riß die Haustür auf, noch bevor es klingelte.

Ein langer, magerer junger Mann stürmte mit umgehängter Kamera als erster herein und schrie: »Wo ist es? Wo?« Schwester Elise wies auf die offene Türe an der gegenüberliegenden Seite der Diele.

Der junge Mann rannte weiter.

Ein untersetzter Mann mit schief sitzender Krawatte, einem verbeulten Hut auf dem Kopf und Bartstoppeln am Kinn trat zu Schwester Elise. »Ich bin Kriminalinspektor Kramer. Sie haben die Polizei verständigt, ja?«

Schwester Elise konnte nur nicken, sie war ihrer Stimme nicht mächtig.

»Nun beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte der Inspektor, »wir werden uns den Tatort ansehen. Dahinten? Danke, Sie brauchen nicht mitzukommen. Vielleicht ziehen Sie sich inzwischen an. Und kochen Sie uns doch bitte eine große Kanne Kaffee, die können wir alle brauchen.«

Er zog mit seinen Männern weiter, Schwester Elise blieb einfach stehen, unfähig, seinen gutgemeinten Anordnungen nachzukommen.