Das Schicksal von O - Helmut Brixel - E-Book

Das Schicksal von O E-Book

Helmut Brixel

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Beschreibung

Das Schicksal von O. Kriminalroman In einer kleinen Ortschaft fuhr eine junge Frau kurz vor Mitternacht mit ihrem Fahrrad nach Hause. Als sie eine unbeleuchtete Kreuzung überquert, wird sie von einem Auto erfasst. Die vier Insassen steigen aus und blicken auf die junge Frau, die am Boden liegt. "Die ist tot", sagt einer von ihnen. Sie lassen die junge Frau liegen und flüchten mit dem Auto. Sieben Jahren später stirbt eine der Personen aus dem Fluchtauto. Kurz darauf die zweite. Und die dritte. Die Polizei ist ratlos. Immer sah es nach Selbstmord aus. Oder war es doch Mord? Sie blieben als ungelöste Fälle auf dem Stapel liegen. Die vierte Person bekommt Angst. Wird auch sie sterben müssen? Wieder ein Mord? Die Kette reißt nicht ab, denn eine weitere unbekannte Leiche wird am Flughafen gefunden. Wer ist jetzt das? Wir waren doch nur zu viert! Wenn es Mord war, wer half der Rollstuhlfahrerin?

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Seitenzahl: 356

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Das Schicksal von O.

 

In Besenhalden strampelte eine junge Frau mit dem Fahrrad kurz vor Mitternacht nach Hause. Der kleine Ort lag im Dunkel der Nacht, es gab kaum Straßenlampen zur Beleuchtung. Zudem war die Frau ganz in Gedanken bei einem Mann versunken. Als sie über eine unbeleuchtete Kreuzung kam, wurde sie von einem Auto erfasst. Die vier Insassen stiegen aus und betrachteten die junge Dame, die am Boden lag.

 

»Die ist doch tot!«, kam von einem. Sie ließen die junge Frau liegen und flüchteten mit dem Fahrzeug.

 

Nach sieben Jahren stirbt eine der Personen aus dem Fluchtwagen. Bald danach die Zweite. Und die Dritte. Die Polizei ist ratlos. Es schien jedes Mal Selbstmord zu sein. Oder war es doch Mord?

Die vierte Person bekommt es kurzfristig mit der Angst zu tun. Wird auch sie sterben müssen? Noch ein Mord? Die Kette reißt nicht ab, denn am Flughafen wird eine weitere, unbekannte Leiche gefunden.

 

 

Impressum

 

Texte: © Copyright by Helmut Brixel

 

Umschlaggestaltung: © Copyright by Helmut Brixel

 

Titelbild: © Copyright by Helmut Brixel

 

Das Schicksal von O.

01 - Ottilies Unfall

02 - Wiedersehen und Geständnis

03 - Der Spaziergang mit dem Vater

04 - Treffen mit Herbert

05 - Maria Strom - Observation

06 - Opfer 1 Maria Strom

07 - Einsatz am Bahndamm

08 - Recherche über Karl Strom

09 - Vorbereitungen für Karl Strom

10 - Opfer 2 Karl Strom

11 - Einsatz bei Karl Strom

12 - Recherche über Franziska Röther

13 - Opfer 3 Franziska Röther, alias Red Franka

14 - Einsatz bei Franziska Röther

15 - Gespräch zwischen Vater und Tochter

16 - Ottilies Geständnis

17 - Vorbereitung Herbert Strom

18 - Opfer 4 Herbert Strom

19 - Mail an Ottilie

20 - Einsatz für Herbert Strom

21 - Treffen der Kommissare

22 - Vorbereitung für USA

23 - Kommissar bei Sven Hassinger

24 - Herbert Strom in Griechenland

25 - Ottilies erster Flug

26 - Ottilie in Alghero auf Sardinien

27 - Überfahrt nach Barcelona

28 - Abschied von Hans

29 - Besuch bei Nacht

30 - In der Zelle

31 - Der Capitan ist wieder da

32 - Barcelona

33 - Der Besuch

01 - Ottilies Unfall

Zu dieser späten Stunde fuhr kein Auto mehr, kein Hund kläffte. Aus der Ferne war nur das leise Rauschen des Verkehrs von der Autobahn zu hören. In dem kleinen Dorf Besenhalden herrschte Totenstille. Die kleinen Häuser der Siedlung säumten den Straßenrand, nur vereinzelte Straßenlaternen erhellten spärlich den schwarzgrauen Asphalt direkt unter ihnen.

 

Kurz vor 23 Uhr radelte Ottilie Altmann gut gelaunt nach Hause. Der kleine Scheinwerfer hatte Mühe, den Weg auszuleuchten. Ottilie war auf dem Heimweg von einer Freundin, bei der sie zu fünft den zweiten Abend mit der Mädchengruppe nach der Lehre verbracht hatten. Themen waren vorrangig ihre beruflichen Perspektiven und gegen Ende natürlich auch die Jungs. Voller Euphorie und in Gedanken an einen jungen Mann trat sie in die Pedale. Es war noch recht warm für diese Tageszeit. Ottilie genoss den kühlen Fahrtwind, der mit ihren Haaren spielte. An der unbeleuchteten Kreuzung überquerte sie die Straße, ganz in ihrer Fantasie mit dem jungen Mann versunken.

 

Erst als die grellen Lichter sie von der Seite anleuchteten, bemerkte sie gleichzeitig ein erschrockenes Gesicht hinter der Windschutzscheibe eines Autos. Im selben Augenblick wurden ihr die Beine unter dem Körper weggezogen. Ottilie spürte nur einen betäubenden Schlag, als ihr Kopf auf die harte Motorhaube des Wagens prallte. Ihr Körper rutschte seitlich über das Fahrzeug weg. Plötzlich wurde es still und ruhig in ihr. Sie sah und hörte nichts mehr. Kein Schmerz drang in ihr Bewusstsein. Ottilie spürte nicht einmal den kühlen Asphalt der Straße, auf der sie nun völlig verrenkt lag. Ihr Fahrrad auf dem Bürgersteig sah aus, als hätte es jemand weggeworfen. Das Hinterrad drehte sich noch leicht vom Schwung der Fahrt.

Mit quietschenden Reifen bremste das Fahrzeug bis zum Stillstand ab. Der Motor stotterte noch ein wenig und wurde anschließend abgewürgt. Erst nach mehr als zwanzig Sekunden des Schreckens öffneten sich langsam alle Türen des Wagens. Vier junge Menschen stiegen aus, zwei Mädchen und zwei Jungen. Angst und Entsetzen standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Blass gingen sie vorsichtig auf das Unfallopfer zu. Die junge Frau, die den Wagen zum Zeitpunkt des Unfalls gefahren hatte, zitterte am ganzen Körper vor Angst und Schrecken über das, was geschehen war ...

 

»Hast du sie nicht gesehen?«, fuhr sie jemand an.

 

»Nein, ich habe nur nach hinten geschaut«, schrie sie fast hysterisch zurück.

 

»Seid ruhig. Vielleicht hat noch niemand etwas gehört oder gesehen«, kam es beschwörend von der Beifahrerin. Ihr Blick suchte forschend die Fenster der umliegenden Häuser ab. Kein Fensterladen öffnete sich, kein Licht brannte, alles blieb ruhig und weiterhin verschlafen.

 

»Lebt sie noch?«, fragte einer der jungen Männer, der hinten gesessen hatte und nun auf einen weiten Rock blickte, der den scheinbar leblosen Körper als weiblich definierte. Die vier standen um das Unfallopfer herum und betrachteten es ängstlich. Vor ihnen lag eine junge Frau in einer völlig absurden Haltung. Die Beine und der Unterkörper im dunklen Rock zeigten nach rechts. Der Oberkörper in der hellen Bluse lag rücklings auf der Straße. Nur der Kopf mit den langen hellen Haaren zeigte übertrieben nach links. Unter dem Körper bildete sich eine kleine Blutlache. Einer der jungen Männer fasste sich ein Herz und drehte den Kopf der angefahrenen Frau vorsichtig nach oben. Das zerschrammte Gesicht war noch weitgehend von den Haaren verdeckt. Erst als der junge Mann ihr mit der Hand über die Stirn fuhr, um die Haare beiseite zu schieben, wurde allen Anwesenden klar, dass es sich um eine ehemalige Schulkameradin handelte.

 

»Scheiße! Scheiße! So ein Mist! Was machen wir jetzt?«

»Abhauen! Was sonst!«

»Und das, so schnell wie möglich!«

»Ihr wollt sie doch nicht so liegen lassen!«

»Warum denn nicht? Die ist bestimmt tot.«

»Aber wir könnten doch wenigstens einen Krankenwagen rufen!«

»Was willst du denen sagen? Ich habe gesehen, wie jemand überfahren wurde? Ich saß auch im Auto und musste zusehen?«

»Und deine Nummer vom Telefon haben sie auch! Und schon haben sie dich!«

»Kommt endlich! Verschwinden wir! Und zwar schnell!«

»Lass bloß dein Telefon stecken! Wehe, du rufst an!«

»Ihr könnt doch nicht einfach ...«

»Doch! Können wir. Und zwar schnell! Los!«

»Ja, ist schon gut. Ich komme mit.«

 

Alle vier rannten zurück zum Auto. »Fährst du bitte? Ich zittere zu sehr«, kam es von der Fahrerin. »Klar. Kein Problem.«

 

Ottilie lag noch immer auf der Straße. Die Gespräche von eben waren gedämpft in ihrem Kopf zu ihr durchgedrungen. Nur die Gesichter, die auf sie herabblickten, konnte sie alles andere als einordnen, denn sie machten auf Ottilie einen optisch verschobenen und zerfurchten Eindruck. Sie wollte um Hilfe schreien. Sie öffnete den Mund nur leicht, aber so sehr sie sich auch bemühte, es kam kein Laut heraus.

 

Warum hilft mir niemand? Sieht mich denn niemand? Wo gehen die jetzt hin? Das waren ihre letzten Gedanken in diesem Moment, bevor die Dunkelheit sie wieder umfing und Stille einkehrte.

 

Der junge Mann stieg ein und startete den Motor. Vier Türen schlossen sich leise und der Wagen rollte weiter in die Nacht. Die junge Frau blieb auf der Straße zurück. Sie lag da, wie sie angefahren worden war. Der einzige Unterschied war, dass ihr Kopf nach oben gedreht war und ihr Gesicht zum Himmel zeigte, wo ein paar Wolken lautlos vom Nachtwind getrieben wurden.

 

Eine ältere Dame musste alles von der anderen Straßenseite aus beobachten, als sie mit ihrem Hund spazieren ging. Sie stand noch wie angewurzelt neben einem Baum in der Dunkelheit. Die Dame war von dem Unfall so geschockt, dass sie sich mucksmäuschenstill verhalten hatte. Außerdem war sie ohne Brille und nur mit der kurzen Leine in der Hand nach draußen gelaufen. Der kleine Hund schaute zu ihr auf.

 

Als die ältere Dame näher kam, sah sie die junge Frau am Boden liegen, das Fahrrad ein paar Meter weiter auf dem Bürgersteig. Schnell zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief den Notarzt.

 

Ottilie erwachte wie aus einem tiefen Schlaf, völlig erschöpft und müde, als ihr etwas über die Wange strich. Sie spürte etwas Feuchtes und Raues, das sie immer wieder berührte. Eine fremde Stimme drang mit den Worten ‚Fiffi! Fiffi! Lass das!‘ zu ihr durch. Wenige Minuten später hörte die alte Dame schon die Sirenen und konnte in der Ferne das blaue Blinklicht erkennen. Endlich fuhr der Krankenwagen vor und sofort sprangen zwei Sanitäter heraus. Einer rannte schnurstracks zur Verletzten, der andere ging zur Seitentür und holte eine große Tasche heraus, mit der er ebenfalls zur Verletzten eilte. Nach einigen Minuten traf ein Streifenwagen der Polizei ein. Er tauchte die dunkle Kreuzung in ein unwirkliches Blau, das von allen Seiten reflektiert wurde.

 

»Guten Abend. Haben Sie den Unfall gemeldet?«, fragte der Uniformierte die ältere Dame. Dann prasselte eine Frage nach der anderen auf sie ein.

 

»Konnten Sie wenigstens erkennen, um was für ein Fahrzeug es sich handelte, oder haben Sie sich gar das Kennzeichen gemerkt?«

 

»Guter Mann, wie denn, ohne Brille? Sonst hätte ich die lange Leine für meinen Fiffi mitgenommen. Ich war froh, dass ich ohne Brille die 112 wählen konnte. Es waren vier junge Leute, den Stimmen nach zu urteilen, zwei Frauen und zwei Männer. Mehr konnte ich nicht erkennen.«

 

In der Zwischenzeit wurde die junge Frau bereits auf die Trage gelegt und in den Rettungswagen geschoben. Ein Sanitäter stieg hinten ein, der andere klemmte sich hinter das Lenkrad. Mit Blaulicht und Martinshorn ging es zurück in Richtung Krankenhaus.

Der Vater, Ottokar Altmann, wartete auf seine Tochter Ottilie, denn die Uhr zeigte schon weit nach 23 Uhr. Sonst kam sie immer pünktlich nach Hause oder rief zumindest an, dass es später werden würde.

 

Hoffentlich ist nichts passiert, schoss es ihm durch den Kopf. Auf keinen Fall wollte er Ottilies Freundin zu dieser späten Stunde noch einmal anrufen. Er setzte sich in sein altes Auto, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Ottokar Altmann dachte, wie jedes Mal, dass er sich bald ein neues kaufen müsste. Der Motor sprang erst zum dritten Mal an und Ottokar fuhr endlich los. Als er an die Kreuzung kam, leuchteten ihm schon die zuckenden Blaulichter entgegen. Die blinkenden Polizeiautos versperrten ihm den Weg in die Kreuzung.

Der Vater parkte das Auto am Straßenrand und stieg aus. Er hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend, wie vor über einem Jahr, als seine Frau von einem Betrunkenen angefahren worden war. Jetzt wurde die Kreuzung von mehreren Scheinwerfern in grelles Licht getaucht. Langsam näherte er sich der Unfallstelle. Sein Blick wanderte von links nach rechts und gleich wieder zurück. Er atmete auf, als er keinen Körper auf der Straße entdeckte. Die Straße war ruhig wie immer. Nur die Hektik der Polizisten und einiger anderer Beamter in weißen Anzügen erinnerte ihn an den Unfall mit seiner Frau.

 

Seine Frau war vor über einem Jahr mitten in der Großstadt an einem Zebrastreifen angefahren worden. Sie stürzte und schlug mit dem Kopf auf eine Bordsteinkante auf. Erst sieben Wochen später konnte sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Seitdem hatte er das Gefühl, seine Frau war nur noch eine Hülle ihrer selbst. Ihre frühere Lebensfreude war verschwunden, sie wirkte apathisch. Sie lebte nur noch in den Tag hinein. Die Ärzte sagten damals, dass mit Spätfolgen zu rechnen sei. Ein Teil des Schädelknochens hatte einen markanten Riss bekommen, sie musste ständig mit Kopfschmerzen rechnen.

Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er bis dahin sein Leben weitergeführt hatte. Immer wieder sagte er sich, dass er jetzt für seine Frau und seine Tochter da sein müsse. Ottokar ging weiter arbeiten, seine Tochter machte eine Lehre. Seine Frau wurde teilweise von ihrer Schwester und der Nachbarin betreut. So nannten sie es jedenfalls, denn es bestand auch die Möglichkeit, dass sie suizidgefährdet war.

 

Seine Tochter hatte glücklicherweise vor zwei Monaten ihre Lehre beendet. Sie wollte sich demnächst ein gebrauchtes Auto kaufen, um nicht immer mit dem Fahrrad oder dem Bus fahren zu müssen.

 

Plötzlich wurden seine Gedanken unterbrochen, als er das Fahrrad seiner Tochter auf dem Bürgersteig liegen sah. Einige Blutstropfen umrahmten fast das verbogene Fahrrad. Sofort stockte ihm der Atem. In der nächsten Sekunde holte er tief Luft und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Sofort eilten drei Polizisten auf ihn zu und fragten, ob sie helfen könnten.

 

»Das ist das Fahrrad meiner Tochter! Wo ist Ottilie?«, schrie er in die Nacht und auf die Beamten ein. Die versuchten ihn zu beruhigen, was natürlich das Gegenteil bewirkte. Er wurde nur noch wütender und schrie weiter in die Nacht. »Wo ist Ottilie?«

 

Erst als eine Polizistin vor Ort ihn zur Seite nahm und auf die Ladefläche des Dienstwagens bat, konnte sie ihm den letzten Tee aus der Thermoskanne anbieten. Danach beruhigte er sich zusehends. Sie betrachtete den hageren Mann mit den grauen Haaren. Er trug ein kariertes Hemd, darüber eine ärmellose Weste, Jeans und Turnschuhe. Sie schätzte ihn auf 55 bis 60 Jahre alt und etwa 1,85 Meter groß, er könnte also der Vater des Unfallopfers sein.

»Sind Sie der Vater des Mädchens? Wie heißen Sie? Wie heißt Ihre Tochter?«

 

Eine Frage nach der anderen prasselte auf ihn ein. Der ältere Mann hörte sie, ließ sie aber nicht an sich heran. Er wollte nur wissen, wo seine Tochter Ottilie war. Immer wieder fragte er, wo sie sei. Die Polizistin ließ sich erweichen und fuhr mit dem Vater ins Krankenhaus.

Inzwischen fuhren Herbert und Karl Strom, die zwei Damen in den nächsten Ort, nach Dreibruck. Franziska Rotheim war bei dem Unfall Beifahrerin gewesen, Maria Steven die Unfallfahrerin. Die beiden Brüder saßen auf dem Rücksitz. Jetzt saßen die beiden Brüder vorn, Karl fuhr. Unterwegs hielten sie einmal an, weil Maria sich übergeben musste. Die beiden Mädchen stiegen aus und kamen nach kurzer Zeit wieder. Sie meinten, jetzt ginge es wieder.

»Hast du das Auto von außen gesehen?«, fragte Herbert seinen Bruder Karl. »Nein, aber wir kommen ohnehin am See vorbei. Lass uns gleich hinfahren und schnell ein paar Eimer Wasser drüberkippen. Hinten im Auto in der Wanne steht noch ein Eimer vom letzten Schrottplatzbesuch.« Am See angekommen, leuchteten sie nach der Wäsche mit der Taschenlampe in den Wagen.

 

»So ein Mist! Das Glas vom Zusatzscheinwerfer ist beschädigt! War das schon vorher oder ist das beim Unfall passiert?«

 

»Da muss ich passen. Wir haben noch ein Paar davon in Reserve in der Werkstatt, soweit ich weiß. Die tauschen wir gleich morgen aus und werfen den alten Scheinwerfer in den Müll.«

 

»Ich muss unbedingt die Motorhaube ausbeulen. Sonst sehe ich keinen Schaden.«

 

»Ich auch nicht. Also los, zurück nach Hause. Wir stellen den Wagen gleich in der Werkstatt ab. Da fällt er am wenigsten auf, wenn wir morgen früh daran herumschrauben wollen.«

Die freundliche Polizistin fuhr den hageren Mann im Dienstwagen ins Krankenhaus. Zum Glück hatte er diesmal alle Papiere in seiner Brieftasche und nicht wie sonst im Auto liegen lassen. Die Polizistin nahm seine Daten auf und gab sie sofort an die Empfangsdame des Krankenhauses weiter. Das Geburtsdatum seiner Tochter nannte er automatisch, als er danach gefragt wurde. Nun saß er im Wartezimmer vor dem Operationssaal, neben ihm die Polizistin.

»Was soll ich jetzt meiner Frau sagen? Wird sie das überhaupt verstehen? Wie lange wird das dauern? Wie geht es meiner Tochter?«

 

Die Polizistin telefonierte kurz mit der Zentrale ihrer Dienststelle, weil ihr der Name Ottokar Altmann noch irgendwo im Gedächtnis geblieben war. Dann teilte sie dem älteren Herrn mit, dass ein anderer Beamter kommen würde, um sie abzulösen. Er habe damals den Fall seiner Frau bearbeitet. Vielleicht könne er ihm jetzt helfen.

Ottokar Altmann sprang jedes Mal auf, wenn sich die Flügeltüren zum Gang des OP-Bereichs öffneten. Nach unzähligem Aufstehen drehte er nur noch den Kopf in Richtung Tür. Ein Bett wurde mit Patienten hineingeschoben, ein anderes heraus. Wenn eine Person in Weiß kam, schritt sie schnell durch die Flügeltüren hinein. Er wäre zu gern durch die Tür gegangen, doch das Schild ‚Zutritt verboten OP-Bereich‘ hinderte ihn daran.

Er hasste den Wartebereich, der ihm so unfreundlich, wie eine Bahnhofshalle vorkam. Ottokar hatte die Stühle schon mehrmals gezählt. Dann die Stuhlbeine. Die paar Tische mit den abgegriffenen Zeitschriften und Magazinen kamen in seiner Rechnung nicht vor. Selbst die Rippen der Heizkörper hatte Ottokar Altmann schon mehrfach gezählt. Die Neonröhren, in die Decke eingelassen, summten ihr monotones Geräusch. Er hasste diese Stühle ohne Polster, die sein Sitzfleisch malträtierten. Er hasste dieses endlose Warten. Das Gespräch mit der Polizistin war sehr einseitig, sie erzählte und er hörte nicht zu. Erst als sie vom Unfallhergang berichtete, wurde er aufmerksamer.

Sie erzählte dem Vater, was am späten Abend vorgefallen war.

»Schon wieder betrunken? Und schon wieder Fahrerflucht? Hört das denn nie auf?« Die Polizistin zeigte Verständnis für die Situation des Mannes und verwickelte ihn zur Ablenkung in ein belangloses Gespräch. Im Krankenhaus kam schließlich die Ablösung für die Polizistin. Sie war sehr froh darüber, denn ihr Dienst hatte bereits um acht Uhr morgens begonnen. Sie verabschiedete sich von Herrn Altmann und ging betroffen über den nächtlichen Unfall zu ihrem Dienstwagen.

 

»Hallo Herr Altmann. Mayer ist mein Name. Ich habe den Unfall Ihrer Frau vor 14 Monaten aufgenommen und bearbeitet. Das mit Ihrer Tochter tut mir sehr leid. Wissen Sie schon etwas Genaueres?«

 

»Nein. Es war noch kein Arzt oder sonst jemand bei mir. Ich sitze nur hier herum und warte. Ich werde fast verrückt! Meine Tochter liegt im OP und meine Frau ist allein zu Hause. Ich weiß nicht, ob und wie ich es ihr sagen soll.«

 

»Herr Altmann. Gerne schicke ich Ihnen morgen früh einen ausgebildeten Psychologen vorbei, der Ihnen helfen kann. Er kann auch gleich die Reaktion Ihrer Frau einschätzen und sie unterstützen. Wäre Ihnen damit erst einmal geholfen?«

 

»Ja, das schon. Aber wie geht es Ottilie?« »Ottilie heißt Ihre Tochter?« »Ja. Wann kommt endlich ein Arzt, der mir sagt, was los ist?« »Ich kann mal nachfragen. Als ermittelnder Polizist bekomme ich eher eine Auskunft.« »Das wäre nett von Ihnen.«

Der Beamte stand auf und ging zur Empfangsdame. Dort zeigte er seinen Dienstausweis und stellte ein paar Fragen. Herr Altmann konnte es nicht hören, er saß zu weit weg. Die Dame telefoniert eine Weile und legt dann auf. Der Beamte kam zurück.

»Gute Nachrichten, Herr Altmann. Gleich kommt ein Arzt und wird Sie aufklären.«

 

»Na endlich. Das wurde aber auch Zeit.«

 

»Möchten Sie bis dahin einen Kaffee? Schwarz, Milch, Zucker?«

 

»Nur schwarz, bitte.«

Der Beamte lief zum Kaffeeautomaten und zapfte zwei Becher mit schwarzer Brühe heraus. Einen davon reicht er dem älteren Herrn. »Danke«, sagt Herr Altmann und nippt an dem heißen Getränk. Der Beamte tat es ihm gleich.

Plötzlich öffneten sich die beiden Türflügel und ein jüngerer Arzt in einem weißen Kittel kam auf die beiden Herren zu.

 

»Herr Altmann?«, fragte er nur. »Mayer, mein Name, Kriminalpolizei. Der Herr ist Herr Altmann, der Vater des Unfallopfers.«

 

Herr Altmann erhob sich spontan und wartete mit offenem Mund auf die Aussage des Arztes. »Ihre Tochter hat Glück gehabt. Auf den Röntgenbildern kann man gut erkennen, dass beide Beine zwar gebrochen sind, aber wahrscheinlich wieder gut zusammenwachsen werden. Der linke Arm wurde beim Aufprall stark geprellt, wird aber in ein bis zwei Monaten schmerzfrei sein. Der Kopf hat einen Schlag abbekommen, wahrscheinlich beim Aufprall auf die Motorhaube, es wird eine mittelschwere Gehirnerschütterung sein. Ansonsten konnten wir keine Verletzungen feststellen. Ihre sensorischen Reflexe, auch in den Beinen, sind normal. Der Rücken ist unverletzt, ihre Tochter hat wirklich großes Glück gehabt.«

 

»Danke, Herr Doktor. Wird sie wieder laufen können?« »Natürlich. Nicht gleich am Anfang, sie wird zeitweilig einen Rollstuhl zur Unterstützung benötigen. Aber nach einer kurzen Therapie wird sie sicher wieder zu den Gehenden gehören.«

 

»Wie lange wird das dauern?« »Das kann ich Ihnen als Arzt nie sagen. Bei dem einen Patienten geht es schneller, bei dem anderen dauert es länger. Die Heilung kann ich nicht beeinflussen, das kann nur der Körper.«

 

»Kann ich sie sehen oder sprechen?« »Meine Kollegen haben gerade erst mit der Operation begonnen. Bisher liefen die Voruntersuchungen. Es wird noch ein paar Stunden dauern. Noch Fragen?«

 

»Kann ich sie dann morgen besuchen?« »Ja, wenn sie aus der Narkose aufgewacht ist. Dann darf ich mich verabschieden, gute Nacht.« »Gute Nacht, Herr Doktor.«

Der Arzt drehte sich um, drückte auf einen großen Knopf an der Wand, die Türflügel öffneten sich automatisch. Als der Arzt hindurchgegangen war, schlossen sich die Türflügel hinter ihm.

 

Der Beamte fuhr Herrn Altmann zu seinem alten Auto an der Kreuzung zurück.

 

»Können Sie selbst fahren? Oder soll ich Sie fahren? Ich könnte jemanden bitten, Ihnen das Auto morgen vorbeizubringen.« »Nein, danke. Es geht schon. Nochmals vielen Dank und gute Nacht.«

Der Polizist beobachtete aus der Ferne, wie der hagere Mann in sein Auto stieg, kurz und kräftig schnaufte und schließlich den Motor startete. Der Wagen wendete und fuhr langsam davon. Vor seinem geistigen Auge tauchten die Bilder vom Unfall seiner Frau auf. Er hatte sie so oft angeschaut, und doch war keine Spur zu sehen, kein Zeuge aufgetaucht. Es war wie verhext. Und jetzt das mit seiner Tochter. Hoffentlich fanden die Kollegen diesmal eine Spur oder bekamen Hinweise aus der Bevölkerung. Aber er hatte noch ein paar Stunden Zeit, denn er wollte noch eine Weile schlafen, bevor der Papierkram am nächsten Morgen wieder anfing.

Als Herbert Strom am nächsten Morgen die große Garage betrat, war sein Bruder Karl längst mit dem Schrauben beschäftigt.

 

»Morgen, Herbert. Na, du Langschläfer. Hab schon den Scheinwerfer komplett gewechselt. Fällt kaum auf, außer dass er nicht zwei Kratzer hat wie der andere. Dreckig und verbeult war er schon vorher. Den alten habe ich unter dem Müll in der Tonne versteckt, die demnächst geleert wird.«

 

»Guten Morgen, Karl. Sieht gut aus. Dann werde ich mich mal um die Motorhaube kümmern.«

 

Im kleinen Haus der Familie Altmann bereitete der Vater derweil das Frühstück vor. Als es an der Haustür klingelte, öffnete er und ließ die Schwester seiner Frau herein. Sie musste sich erst einmal kreidebleich hinsetzen, als sie von ihrem Schwager von Ottilies Unfall erfuhr. Gemeinsam tranken die drei dann den heißen Kaffee. Nur Herr Altmann aß nichts, denn er wollte sofort zu Ottilie ins Krankenhaus. Auf dem Parkplatz rief er in seinem Geschäft an und erzählte auch dort von dem Unfall und dass er dringend eine Woche Urlaub benötigte. Sein Vorgesetzter gab ihm sofort grünes Licht und Ottokar Altmann betrat wieder das große weiße Gebäude. An der Rezeption erkundigte er sich nach der Zimmernummer und dem Stockwerk seiner Tochter.

Als Herr Altmann aus dem Aufzug stieg, überkam ihn sofort wieder dieses seltsame Gefühl des Widerstandes, weiter zugehen. Er atmete tief durch, überwand sich und setzte langsam einen Fuß vor den anderen, an den kahlen Wänden des endlosen Korridors entlang, in dem es nach Desinfektionsmittel und Krankenhaus roch. Er hasste es, diese muffigen Räume zu betreten, weil er nie wusste, was ihn hinter den Türen der Krankenzimmer erwartete. Mit zitternder Hand drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür. Das Zimmer war leer. Kein Bett, kein Nachttisch. Völlig benommen trat er zwei Schritte zurück und las ein zweites Mal die Zimmernummer. Sie stimmte mit der auf dem Zettel überein, den ihm die freundliche Empfangsdame gegeben hatte.

Mit klopfendem Herzen ging er schnurstracks zum Schwesternzimmer. »Wir haben Ihre Tochter Ottilie in das Zimmer nebenan verlegt. Wenn sie aufwacht, hat sie gleich jemanden zum Reden. Sonst hätten die beiden jungen Damen allein in einem Zimmer gelegen. Möchten Sie einen Kaffee, bis Ihre Tochter aufwacht?«

 

Nicht nur ein Stein fiel ihm vom Herzen, nein, ein ganzer Felsbrocken. Er dachte schon, Ottilie hätte die Nacht nicht überlebt. Die Schwester brachte ihm eine Tasse duftenden Kaffee, an dem er vorsichtig nippte. Die andere Schwester kam zurück und sagte, dass seine Tochter noch schlafe. Sie informierte ihn über den aktuellsten Stand der Dinge. »Die Operation hat sieben Stunden gedauert und Ihr Körper muss sich jetzt langsam regenerieren. Sie können beruhigt nach Hause gehen. Ihre Tochter ist bei uns in guten Händen. Wir rufen Sie gerne an, sobald sie aufwacht.«

 

»Kann ich hier irgendwo warten?« »Die Cafeteria im Erdgeschoss hat sicher schon geöffnet. Dort können Sie auch frühstücken. Hinterlassen Sie bei uns Ihre Handynummer, damit wir Sie benachrichtigen können.«

Herr Altmann ließ sich den Weg zur Cafeteria beschreiben, da er sich nicht erinnern konnte, eine solche beim Betreten des Gebäudes gesehen zu haben. Unten angekommen, nahm er sich zwei Brötchen, Butter und Marmelade, denn sein Magen hatte schon im Aufzug zu knurren begonnen. Nein, diesmal nahm er einen großen Orangensaft und keine dritte Tasse Kaffee. Seine Hände zitterten sowieso schon vor Aufregung. An der Kasse sah er die Zeitung mit dem Foto der Unfallkreuzung. Er nahm sich eine. Neben dem Essen las er den Bericht in der Zeitung, der Rest der Zeitung interessierte ihn kaum. Er las den Artikel ein zweites Mal. Es stand nicht mehr drin, als er selbst an der Unfallstelle gesehen hatte. Das Foto zeigte nur ein Absperrband im Hintergrund und die Bremsspuren. Irgendwo dazwischen knieten zwei Spurensicherer in weißen Overalls. Im Text hieß es weiter, eine junge Radfahrerin sei nachts überfahren worden. Der oder die Täter seien auf der Flucht. Und dass die Straßen für Radfahrer viel zu unsicher seien. Es bräuchte viel mehr separate Radwege. Außerdem fehlten einige Straßenbeleuchtungen an markanten Kreuzungen und Einmündungen.

 

Wunderbar, jetzt haben sie es begriffen! Jetzt, wo es zu spät ist, dachte Herr Altmann wütend. Am liebsten hätte er dem flüchtenden Autofahrer den Hals umgedreht. Als er sich das bildlich vorstellte, huschte ein kleines Grinsen über sein Gesicht. Das hätte er auf jeden Fall getan!

Sein Handy klingelte. Vor lauter Aufregung fischte er es aus der Hosentasche und ließ es auf den Boden fallen. Nachdem er es aufgehoben hatte, konnte er endlich den Anruf entgegennehmen. Es war seine Schwägerin, Frau Altmann fragte nach ihrer Tochter. »Sag meiner Frau einfach, dass Ottilie schon im Urlaub ist. Sie ist heute Morgen mit ihren Freundinnen losgefahren.« »Gut. Das klingt plausibel. Ich werde es versuchen.« Sie legte auf.

Sein Gedankenkarussell begann sich wieder zu drehen. Was habe ich getan, dass ich so bestraft werde? Erst der Unfall mit meiner Frau, jetzt mit meiner Tochter. Vor eineinhalb Jahren war die Welt noch nicht aus den Fugen geraten. Einst wollten wir unseren gemeinsamen Traum verwirklichen, im Ruhestand einmal quer durchs Land zu reisen. Entweder mit einem neuen Auto oder mit einem Wohnmobil. Wir wollten das Leben genießen, solange es geht. Nun ist dieser Traum schon wie eine Seifenblase zerplatzt, allein durch den Unfall meiner Frau. Und jetzt kommt auch noch Ottilie dazu. Was hat der Arzt am Anfang über den Rollstuhl gesagt? Wie lange wird das dauern? Wer kümmert sich dann um Ottilie? Kann sie sich damit allein fortbewegen?

Seine Fragen drehten sich im Kreis, bis sein Handy wieder klingelte. »Herr Altmann? Mayer von der Kriminalpolizei. Ihre Schwägerin hat mir freundlicherweise Ihre Nummer gegeben. Sind Sie im Krankenhaus? Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.« »Ja, ich bin im Krankenhaus. Sie finden mich in der Cafeteria, bis meine Tochter aufwacht.« »Okay, ich bin schon auf dem Parkplatz davor. Bis gleich.«

 

»Guten Morgen, Herr Altmann. Ich wollte Sie nur auf den neuesten Stand bringen. Ach, Sie haben schon die Zeitung gelesen?«

 

»Ja, aber da steht nicht mehr drin, als ich gestern schon selbst gesehen habe.« Der Polizist rutschte näher an den alten Mann heran und sprach relativ leise.

»Kein Wunder, Herr Altmann. Wir haben wichtige Informationen zurückgehalten. Laut einer Zeugin waren es vier Personen. Zwei junge Frauen und zwei junge Männer. Soweit sie es hören konnte. Leider hatte sie keine Brille auf, die hatte sie vergessen. Das Fahrzeug und auch das Kennzeichen konnte sie nicht erkennen. Wir haben aber einige Glasscherben am Fahrrad sichergestellt, die zu einem Zusatzscheinwerfer eines Fahrzeugs gehören. Das haben unsere Spezialisten in der Nacht schon herausgefunden. Und? Wie geht es Ihrer Tochter?«

»Sie schläft noch. Die Krankenschwestern rufen mich an, sobald sie aufwacht.«

 

»Dann sieht es ja relativ gut aus. Ich hoffe nur für Sie, dass wir diesmal mehr Glück haben als bei Ihrer Frau. Ich habe heute Morgen gleich die alten Akten geholt und durchgesehen. Sagen Sie, Ihre Frau heißt auch Ottilie, wie ich heute Morgen gelesen habe?«

 

»Ja. Meine Frau wollte den alten Namen Ihrer Mutter weitergeben. Sie heißen beide mit Vornamen Ottilie.«

 

»Okay. Ich war fast verwirrt, weil in den Papieren immer der gleiche Vorname steht. Aber jetzt ist mir alles klar.« Wieder klingelte das Handy. »Ihre Tochter ist aufgewacht. Sie können fünf Minuten mit ihr sprechen.«

 

Der hagere Mann sprang wie von der Tarantel gestochen auf und eilte zum Fahrstuhl. Er schien in einem der oberen Stockwerke zu stecken und kam nicht mehr herunter. Der Alte sprang die Treppe hinauf, bis in den zweiten Stock, und wollte schon in das Zimmer stürmen.

»Herr Altmann«, hielt ihn eine Schwester auf, »aber denken Sie bitte daran, nur fünf Minuten. Ihr Zustand ist noch etwas prekär. Sie muss jede Aufregung vermeiden, außerdem hängt sie am Tropf.«

»Ja, ist schon gut«, versuchte er die Schwester zu beruhigen. Er schob die Schwester ein wenig zur Seite, drängte sich durch die Tür und blieb im Schritt stehen. Da lag seine Tochter mit einem Schlauch im Arm und vielen roten und blauen Flecken im Gesicht. Langsam ging er auf sie zu. Ihr Gesicht sah schlimm aus. Er streckte die Hand nach seiner Tochter aus und strich ihr sanft über das Haar. Ottilie schien es nicht zu bemerken, denn sie reagierte nicht. Er versuchte es erneut. Jetzt drehte sie ihren Kopf ein wenig zur Seite, zu ihrem Vater. Ihre Augen waren ohne das gewohnte Leben, sie sahen müde aus. Sie versuchte etwas zu sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Nur ihre Lippen bewegten sich ganz langsam, nur ein wenig. Ottilie schloss die Augen.

Der Vater wollte sofort nach der Schwester rufen. Er hatte nicht bemerkt, dass sie ihm gefolgt war und schon neben ihm stand.

 

»Bitte gehen Sie jetzt wieder. Sie haben selbst gesehen, dass sie kaum ansprechbar ist. Die Nachwirkungen der Narkose sind beträchtlich. Es wird sicher bis heute Nachmittag dauern. Bitte gehen Sie wieder.« Er betrachtete ihr verfärbtes Gesicht und erschauerte, drehte sich um und ging der Schwester hinterher.

 

»Normalerweise hätte ich niemanden hereinlassen dürfen. Ihre Tochter kommt erst langsam wieder zu sich.« »Die roten und blauen Flecken im Gesicht, bleibt das so?« »Nein, das sind nur blaue Flecken. Die verschwinden innerhalb eines Monats. Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie wurde von Kopf bis Fuß geröntgt. Sie war auch in der Röhre, um ihren Rücken auf innere Verletzungen zu untersuchen. Dort hat sie überhaupt keine Verletzungen. Nur die Beine sind gebrochen und müssen mit Metallplatten verschraubt werden. Das kann aber erst geschehen, wenn die Schwellung zurückgegangen ist. Danach wird sie einige Zeit im Rollstuhl sitzen müssen. In der Therapie bei uns im Haus wird sie dann wieder laufen lernen. Sie werden sehen, es wird alles wieder gut. Es dauert nur eine Weile, bis alles wieder zusammengewachsen ist. Aber bei jungen Menschen geht das zügiger, im Gegensatz bei uns zwei Alten.«

Die Schwester stupste ihm freundschaftlich mit dem Ellbogen auf den Arm und lächelte. »Dann kann ich heute Nachmittag wiederkommen?« »Ich glaube, morgen früh wäre besser. Bis dahin hat sie die Narkose besser überstanden und wird bestimmt etwas fitter sein.«

 

»Gut. Bis morgen früh.«

 

»Auf Wiedersehen.«

 

02 - Wiedersehen und Geständnis

Sieben Jahre später streckte Herbert Strom bequem seine Füße unter einem Tisch im Café aus. Gerne kam er in sein altes Dorf nach Besenhalden zurück. Denn hier, in seiner alten Heimat mit den vertrauten alten Häusern und kleinen Wirtschaften, fühlte er sich noch immer unsagbar wohl.

Bei einer Tasse Kaffee genoss er heute seinen freien Nachmittag und überflog die Schlagzeilen der Tageszeitungen. Da ihn kaum etwas Interessantes auf den aufgeschlagenen Seiten fesseln konnte, blätterte Herbert weiter. Währenddessen hob er den Kopf und ließ dabei über die Zeitung hinweg seinen Blick im Café umherschweifen.

 

Schlagartig hielt er in der Bewegung inne und richtete sein Augenmerk uneingeschränkt auf eine junge Frau, die ein paar Tische weiter im Rollstuhl saß. Neben ihr hielten sich noch zwei weitere Frauen auf, vielleicht fünf bis zehn Jahre älter. Auch sie saßen jede in einem Rollstuhl. Auf der anderen Seite des Tisches vervollständigten zwei weitere Frauen auf normalen Stühlen die kleine Frauenrunde am Tisch.

 

Es war lange her, dass er dieses aufmunternde Lachen gehört hatte. Und doch kam es ihm auf eine bestimmte Art und Weise bekannt vor. Herbert betrachtete die junge Frau länger. Die Frisur erschien ihm etwas kürzer, das süße Näschen und der rote Mund mit den seitlichen Grübchen, das müsste doch eindeutig SIE sein! Und dann war da noch IHR Lachen, das ihm einen Stich ins Herz versetzte! Nach längerem Betrachten der jungen Frau von der Seite und ihrer Gestik wurde er immer mehr von Zweifeln geplagt.

 

Seine Gedanken rasten unablässig und er konnte nicht anders, als noch einmal an die nächtliche Unfallszene denken zu müssen. Als wäre es gestern gewesen, tauchten sofort wieder die Bilder vor seinem inneren Auge auf! Er sah IHR Gesicht direkt vor sich, wie er IHR die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte. Könnte das tatsächlich SIE sein? Sie ist doch schon begraben, seit …

 

Herbert konnte nicht mehr sagen, wann das Begräbnis stattgefunden hatte. Damals hatte er absichtlich vermieden, sich dort sehen zu lassen. Er hatte es nicht riskieren wollen, noch einmal den anderen dort zu begegnen.

Zwei Frauen standen auf. Sie schoben die beiden anderen in den Rollstühlen aus dem Café. Nun saß SIE allein am Tisch. Es hatte den Anschein, als würde SIE auf etwas warten. Plötzlich drehte sich die junge Frau zu Herbert hin. Verlegen senkte er sofort den Blick und sah in die Zeitung. Ein paar Sekunden später blickte er verstohlen über den oberen Rand der Zeitung zu IHR zurück. Die Frau rührte mit dem Löffel in der Tasse. Je länger er sie von der Seite betrachtete, desto sicherer wurde er, dass es SIE sein musste. An diesem Tag nahm Herbert all seinen Mut zusammen und stand von seinem Stuhl auf. Er ließ seine leere Tasse und die Zeitung auf dem Tisch liegen und ging zu dem freien Platz am Tisch, direkt IHR gegenüber.

 

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so anspreche. Heißen Sie mit Vornamen Ottilie?«

»Ja, wieso?«, entgegnete sie erstaunt und sah dem jungen Mann freundlich in die Augen.

»Vielleicht sogar Ottilie Altmann?«, kam die nächste Frage von Herbert, ein wenig verzögert, weil er sich mit seinen Gedanken fast in ihren Augen verloren hatte.

»Ja. Kennen wir uns?« Antwortete sie und kam gleich mit einer Frage. Große Augen blitzten ihn erstaunt an.

»Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?« Ohne zu warten, dass sie antwortete, zog er den nächsten Stuhl heran und setzte sich an IHREN Tisch. Er betrachtete ihr Gesicht und sah tief in IHRE Augen. Er dachte bei sich, das muss SIE sein, diese Augen gibt es nur einmal, und dann dieses herzerfrischende Lachen. Ottilie trug ein helles Oberteil und eine dunkelblaue Stoffhose. Sie sah genauso verführerisch aus wie früher. Ottilie steckte ein kleines Etui in ihre Seitentasche.

»Ich bin Herbert. Herbert Strom. Erkennst du mich nicht mehr?«

»Herbert?« Sein kariertes Hemd steckte in einer ausgewaschenen Jeans. Aus den Turnschuhen an seinen Füßen ragten beigefarbene Sportsocken, so hatte er vorhin vor ihr gestanden. Ottilie kramte in ihrem Gedächtnis nach allen bekannten Gesichtern. Ein Herbert mit Bart fiel ihr nicht ein, bis es plötzlich in ihrem Gehirn klickte.

»Ach ja, aus der Schule. Allerdings ohne Bart. Ist aber lange her, bestimmt an die zehn Jahre, oder?« SIE lächelte ihn nun an.

»Ja. Um ehrlich zu sein, bin ich komplett überrascht, dich hier zu treffen. Und überhaupt lebendig …«

»Wieso lebendig?«

Herbert begann zu zögern. Wie sollte er ihr das jetzt erklären? Mutig, wie die Unterhaltung bereits begonnen hatte, sprach Herbert einfach weiter.

»Na, bist du nicht vor sechs oder sieben Jahren beerdigt worden?« Ein Lächeln machte sich auf Ottilies Mund breit.

»Da kann ich dich beruhigen. Meine Mutter ist ein halbes Jahr nach meinem Unfall gestorben. Die einen sagen, an gebrochenem Herzen, die anderen sagen, vor lauter Kummer.«

»Aber ich habe doch deinen Namen in der Zeitung gelesen, Ottilie Altmann.«

»Ja, das weiß ich noch. Natürlich hat das viele Leute aufgewühlt. Meine Mutter wollte den Namen ihrer Mutter weitergeben. Meine Oma, Mutter und ich, wir drei haben alle denselben Vornamen, schlicht Ottilie.«

»Ach, deshalb stand Ottilie in der Todesanzeige. Hätte ich nur auf das Geburtsdatum geachtet, dann wäre ich vielleicht nicht mit …« Mit gesenktem Blick unterbrach Herbert seinen Satz.

»Herbert, was wärst du dann nicht?«, erkundigte sich neugierig Ottilie.

»Dann wäre ich nicht mit Maria verheiratet, sondern vielleicht mit …«

»Sag mal, du erzählst mir alles nur in Rätseln. Jetzt zögere doch nicht ständig, sondern kläre mich bitte auf. Wie du siehst, sitze ich seit meinem Unfall vor sieben Jahren im Rollstuhl. Mich kann so schnell nichts mehr erschüttern. Also, schieß los!«

 

Ottilie beugte sich mit dem Oberkörper vor und legte die Unterarme auf den Tisch, um Herbert näher zu sein. Ihr Gesicht war über der Hälfte vom Tisch gebeugt. Sie freute sich über die Begegnung mit jemandem aus ihrer alten Schulklasse und das Gespräch mit ihm. Herberts festes Gewissenskonstrukt war ins Wanken geraten. Sollte er ihr nun die Wahrheit gestehen oder für immer schweigen?

Ottilie legte ihre Hände auf seine und sah ihm ins Gesicht, direkt aus dieser kurzen Distanz in seine Augen. Herbert zögerte nur kurz und suchte nach den richtigen Worten. Ein Blick in ihre strahlenden Augen, und es war um ihn geschehen. Herbert begann zu erzählen.

 

»Dein Unfall ist genau das, worum es in der Geschichte geht. Ich sah eine junge Frau auf der Straße liegen, drehte ihren Kopf nach oben und wischte ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als ich dich erkannte, dachte ich, du seist tot. Alle anderen wollten vor dieser Situation flüchten. Ich wollte sofort einen Krankenwagen rufen. Die anderen hielten mich davon ab und wir fuhren einfach weiter. Als mein Bruder Karl und ich die beiden Mädchen abgesetzt hatten, rief ich die Rettungsleitstelle an. Von dort aus habe ich dann erfahren, dass bereits ein Krankenwagen vor Ort war. Du kannst dir bestimmt nicht vorstellen, was mir seinerzeit für ein Stein vom Herzen gefallen ist.«

 

Betretenes Schweigen umhüllte die zwei am Tisch. Ottilie hatte einen Kloß im Hals, sie hätte am liebsten geschrien, so wie sie es beim Unfall tat. Heute wäre sicher ein Ton aus ihr herausgekommen. Nach so langer Zeit sollte sie nun endlich erfahren, was in jener verhängnisvollen Nacht geschehen war? Sie wollte alles wissen, wer, warum und wie. Sie schluckte schwer.

»Hast du es gesehen oder warst du dabei?«

»Beides«, kam es schuldbewusst und leise von Herbert, mit leicht gesenktem Kopf. »Karl und ich saßen hinten im Auto. Maria fuhr und Franziska saß daneben. Wir kamen von einem kleinen Fest in Kappenfurth, wo ich Maria loswerden wollte. Sie hing immer an mir, was mir gar nicht gefiel. Anstatt nach vorn zu sehen, drehte sie sich beim Reden immer zu mir um. Ich sah nur ein großes Haarbüschel, das auf die Motorhaube knallte und dann über den Kotflügel zur Seite rutschte. Maria schaute nicht nach vorn und bremste erst, als wir anderen schrien«.

 

Ottilie hatte das Gefühl, als würde ihr Herz bei Herberts Geständnis stehen bleiben. Endlich wusste sie, wer an ihrem Unfall schuld war und wer ihr so viel Leid zugefügt hatte! Maria hatte nur einen Blick nach hinten auf Herbert geworfen, der sich sowieso nicht für sie interessierte! Ottilies Oberkörper hatte sich in ihrem Rollstuhl steif gegen die Rückenlehne gedrückt und ihre Hände verkrampften sich in den gepolsterten Armlehnen. Ihr ganzer Körper war steif wie ein Brett. Ihr rot glühender Mund hatte sich zu einem spitzen Schmollmund verzogen. Sie musste ein paar Mal kräftig durchatmen. Mit solch einem Geständnis hatte sie bei der nett begonnenen Unterhaltung wirklich nicht gerechnet!

 

Ottilie erinnerte sich an die Atemübungen im Krankenhaus. Eine kleine Ewigkeit später kam sie mehr und mehr zur Ruhe. Zögernd kehrte das Leben in das Innere der jungen Frau zurück. Sie war entspannt, denn sie kannte nun den Menschen, auf dessen Gewissen sie lastete.

Herbert dagegen fühlte sich mit einem Mal befreit, weil er endlich in der Lage war, ihr alles zu gestehen. Herbert konnte plötzlich besser atmen als sonst. Sein schlechtes Gewissen war kaum noch eine Last für ihn. Es war mit einem Mal wie weggeblasen. Bis auf eine winzige Kleinigkeit, die immer noch an ihm nagte und ihn quälte.

 

»Ich bin froh, dass du lebst. Das mit dem Rollstuhl tut mir unendlich leid. Könnte ich doch nur alles rückgängig machen.« Und abermals verstummte das Gespräch.

Ottilie dachte für einen kurzen Moment an die vergangenen sieben Jahre zurück. Zu Anfang hatte man ihr im Krankenhaus große Hoffnungen gemacht. Bald sollte sie wieder gehen können. Nach der Beerdigung ihrer Mutter hatte es beinahe ein Jahr an Überwindung gekostet, bis sie sich zu Hause wieder zu den ersten Schritten hat durchringen können. Nur mit größter Konzentration war es ihr anfangs gelungen, einen Fuß neben den anderen zu setzen. Ottilie schob die vergangene Zeit kurzfristig aus ihren Gedanken und begann fast mechanisch zu antworten.

 

»Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Der Rollstuhl ist für mich zu einem Teil von mir geworden. Sind dir vorhin die vier Frauen an meinem Tisch aufgefallen?«

»Ja. Zwei im Rolli und zwei zu Fuß.«

»Wow, du kennst die Sprache der Rollstuhlfahrer?«

»Ja, wir haben einen in der Firma, mit dem ich mich sehr gut verstehe. Er hat mich immer als Gehenden bezeichnet. Deshalb kenne ich die Worte. Und du verkehrst auch mit anderen Rollis?« Der Widerstand, den Ottilie mit ihrem Bekenntnis gegen Herbert aufgebaut hatte, schwand allmählich.

»Ja. Wir haben uns alle im Krankenhaus kennengelernt. Die beiden waren übergangsweise auch Rollis und dann mit Gehstöcken unterwegs. Inzwischen können sie sich wieder frei bewegen, müssen aber Prothesen tragen.«

»Was? Das hätte ich nie gedacht. Für mich sah das ganz normal aus.«

»Training ist alles. Vielleicht bin ich froh, dass ich keine Prothesen brauche. Meine Knochen werden von ein paar Metallplatten, Schrauben und Nägeln zusammengehalten. Deshalb trainiere ich auch jeden Tag, denn ich möchte, wie sie eines Tages wieder allein laufen können.«

 

Herbert nahm noch einmal allen Mut zusammen und wollte ihr seine Liebe gestehen. »Weißt du, für mich war das mit Maria auf jeden Fall nicht das Richtige. Eigentlich wollte ich jemand anderen …«, begann er sein weiteres Geständnis.