8,99 €
Auf dem Södertorg in Visby, Gotland liegt mein Friseursalon, der Salon d’Amour. Der Name ist deshalb so passend, weil meine beiden Schwestern und ich uns in unseren Friseursalons nicht nur um Ihre Frisur, sondern vor allem auch darum kümmern, einen passenden Partner für Sie zu finden. Wir überlassen es niemals dem Zufall, neben wem Sie frisiert werden.
Angelika Lagermark, Ende vierzig, seit sieben Jahren Witwe, ist leidenschaftliche Friseurin und eine ebenso leidenschaftliche Kupplerin. Sie hat es sich zum Lebensziel gemacht, Menschen zur Liebe zu verhelfen. Alles läuft ganz wunderbar, bis die Idylle in Visby eines Tages gestört wird: ein Betrüger verkauft die Häuser einiger Bewohner der Stadt im Internet, und ausgerechnet Angelika fällt ihm zum Opfer. Dann beschleicht sie ein Verdacht: Ist der Verbrecher am Ende der Unbekannte, in den sie sich heimlich verliebt hat?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 459
Zum Buch
Angelika Lagermark, Ende vierzig, seit sieben Jahren Witwe, ist leidenschaftliche Friseurin und eine ebenso leidenschaftliche Kupplerin. Sie hat es sich zum Lebensziel gemacht, Menschen zur Liebe zu verhelfen. Alles läuft ganz wunderbar, bis die Idylle in Visby eines Tages gestört wird: Ein Betrüger verkauft die Häuser einiger Bewohner der Stadt im Internet, und ausgerechnet Angelika fällt ihm zum Opfer. Dann beschleicht sie ein Verdacht: Ist der Verbrecher am Ende der Unbekannte, in den sie sich heimlich verliebt hat?
Zur Autorin
ANNA JANSSON wurde 1958 auf Gotland geboren, wo auch all ihre Bücher spielen. Ihre Kriminalromane über die Kommissarin Maria Wern haben sich fast zwei Millionen Mal verkauft. Sie wurden in fünfzehn Sprachen übersetzt und sind außerdem als Fernsehserie auch international sehr erfolgreich.
Anna Jansson hat drei erwachsene Kinder. Mit ihrem Lebensgefährten lebt sie in der Nähe der mittelschwedischen Stadt Örebro.
Anna Jansson
DAS SCHICKSAL WARTET BEIM FRISEUR
Waschen Schneiden Lieben
Roman
Aus dem Schwedischenvon Gabriele Haefs
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Ödesgudinnan på Salong d’Amour« bei Norstedts, Stockholm.
1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe Dezember 2016
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Anna Jansson by Agreement with Grand Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Semper smile nach einem Entwurf von Joël Renaudat / Éditions Robert Laffont
Coverillustration: Joël Renaudat / Éditions Robert Laffont unter Verwendung von Fotos von 123rf.com et Fotolia.com
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
AH · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-18216-8V001www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de
Für Jan Keith, den Meister und Paten der Teesiebrhetorik
Es ist schade, dass alle, die wirklich wissen, wie das Land regiert werden müsste, mit Taxifahren und Haareschneiden beschäftigt sind.
George Burns
Wir sind bereit
Am Södertorg in Visby liegt der Salon d’Amour. Sie sehen den Salon sofort, wenn Sie von der Stadtmauer kommen und an der Würstchenbude vorbeigehen. Das Ladenschild ist herzförmig, und wenn es draußen dunkel ist, leuchtet es in einem warmen Rot.
Vor sieben Jahren habe ich den Salon einem älteren Herrn abgekauft, und der Pomadegeruch des früheren Besitzers hat sich noch immer nicht ganz verzogen. Es ist ein schöner kleiner Laden mit Rosentapeten von der vorigen Jahrhundertwende und zwei Friseursesseln aus weinrotem Leder. An der hinteren Wand hängen vier Bilder, die ich auf Flohmärkten und Auktionen erstanden habe. Sie gehören zu einer Serie mit Motiven aus dem Ersten Weltkrieg. Das erste Bild zeigt einen Mann mit Uniform, Säbel und üppigem Schnurrbart, der seine Frau zum Abschied küsst. Dann folgt eine Kriegsszene, in der der Mann mit verbundenem Kopf und als Held das Schlachtfeld verlässt. Auf dem dritten Bild kehrt der Soldat wohlbehalten aus dem Krieg zurück und umarmt seine Gattin, die ein kleines Kind auf dem Arm hält. Auf dem letzten schließlich sieht man die Liebenden mit weiteren Kindern in einer Fliederlaube. Ich möchte so gern, dass Geschichten ein glückliches Ende nehmen. Glücklicher als die Geschichten in meinem eigenen Leben.
Angeblich war es hier, in der alten Barbierstube aus dem Mittelalter, wo der dänische König Valdemar Atterdag sich den Bart scheren ließ, nachdem er 1361 Visby gebrandschatzt hatte. Wenn ich aus dem großen Fenster schaue, sehe ich die Stelle, wo seine Krieger die Mauer durchbrochen haben. Jeder zweite Stein in der Mauerkrone wurde zur Erinnerung an den entsetzlichen Tag entfernt, als achtzehnhundert gotländische Bauern vom dänischen Heer niedergemetzelt wurden. Angeblich floss das Blut bis zum Hafen und färbte den Boden rot. Nichts spricht gegen meine Theorie, dass Valdemar sich hier rasieren ließ, abgesehen von der Tatsache, dass der dänische König einen Kopf kürzer gemacht worden wäre, wenn der Barbier ein geschliffenes Messer gehabt hätte und Gotländer gewesen wäre.
Hier am Södertorg liegt also mein Salon. Wenn Sie zufällig vorbeikommen, dann schauen Sie doch bitte herein. Ich lade Sie zu Tee mit Minze und Flieder aus meinem Garten ein, während Sie darauf warten, an die Reihe zu kommen. Ich beobachte Sie im Spiegel, um zu entscheiden, wie ich Ihnen am besten helfen kann. Meine Schere ist ein Zauberstab. Meine Farben machen die Verwandlung total, falls Sie das wünschen sollten. Wenn Sie sich in den Sessel setzen und ich Ihnen den Frisierumhang umlege, habe ich bereits eine Vorstellung. Aber meine erste Frage lautet immer: Was kann ich für Sie tun? Und damit meine ich keinesfalls nur Ihre Frisur. Ich meine: Was kann ich für Sie in Ihrem Leben tun? Es gibt zwei Friseursessel, und es ist nie ein Zufall, neben wem Sie landen, das ist genau überlegt. Darauf komme ich noch zurück.
Es gibt drei Typen von Kunden, die meinen Salon besuchen: Alltagskunden, die sich regelmäßig die Haare schneiden lassen. Narzisstische Kunden, die in ihrem eigenen Spiegelbild oder in Selbstmitleid ertrinken. Und schließlich gibt es noch die Verzweifelten Kunden, die hereinkommen und sagen: »Machen Sie alles ganz anders.« Oft habe ich das Gefühl, dass sie ihr Leben als Ganzes meinen. Sich eine neue Frisur schneiden und die Haare rot färben zu lassen, ist ein verzweifelter Anfang für ein neues und vielleicht besseres Leben als Single. Ich sage: ein vielleicht besseres Leben. Das bleibt zu diskutieren.
Dann gibt es natürlich Kunden, die in überhaupt keine Kategorie passen – ich arbeite noch an meinem System. Wenn der Besuch bei mir nicht geplant, sondern notgedrungen ist, dann brauche ich möglicherweise eine Sonderkategorie. Dafür gab es diese Woche schon ein Beispiel: Am Tag nach seinem Junggesellenabschied wollte sich ein Kunde seine Haare wieder umfärben lassen. Im Vorstand einer Bank braucht man einfach eine andere Farbe als Babykackegrün. Wenn man das Geld anderer Menschen anlegen will, sollte man Vertrauen ausstrahlen.
»Also, dann bis morgen«, sage ich zu meinem Kollegen Ricky, der früher freihaben möchte, damit er rechtzeitig zu seinem Poledance-Kurs kommt. Er hat gerade Hinterzimmer und Toilette geputzt. Ich drehe gerade eine Runde mit dem Besen und fege Staub und Haare zusammen. Ich wasche Bürsten und fülle die Friseurwagen für den morgigen Tag. Wische den Cafétisch ab und fülle den Korb mit Safranzwieback. Ich habe eine Lieferung Perücken und Toupets bekommen, die ich in den kleinen privaten Umkleideraum hänge. Bald wird eine meiner Kundinnen eine Chemotherapie durchmachen müssen, und ich freue mich, weil ihre Perücke jetzt da ist und so gut aussieht. Außerdem ist Material zur Haarverlängerung eingetroffen. Ricky findet, wir sollten das jetzt auch anbieten. Er hat auf der Friseurschule allerlei Neues gelernt.
Als ich kurz vor Ladenschluss Kassensturz mache, habe ich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Vor dem Fenster ist für einen Moment ein Gesicht zu sehen. Ich müsste mir eine Alarmanlage zulegen. Es besteht immer das Risiko, niedergeschlagen und ausgeraubt zu werden, wenn man mit dem Tagesverdienst nach Hause geht. Ich bin davon überzeugt, dass die Körperhaltung verrät, ob man mit zwanzigtausend in der Handtasche unterwegs ist oder nur mit ein paar Zehnern. Aber Alarmanlagen sind teuer, und ich habe mich bisher aus brenzligen Situationen immer herausreden können. Wenn es überhaupt eine Begabung gibt, die eine Friseurin bis zur Perfektion beherrschen muss, dann die Kunst, zu reden und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Man lernt, mit allen Arten von Menschen zu kommunizieren, mit Bauern auf Bauernart, mit Müllkutschern über Latrinen, mit Gelehrten auf Latein. Wenn es in der Welt um Friedensstifter geht, werden Friseure oftmals unterschätzt. Man sollte sie einstellen, und keine Politiker, die Zuhören niemals gelernt haben.
Das Gesicht ist wieder da, wie ein grauer Schatten im Regen. Als ich versuche, in die Dunkelheit hinauszuschauen, taucht bei der Tür eine unförmige Gestalt auf. Eine dunkel gekleidete Person, die sich die Kapuze ins Gesicht gezogen hat. Natürlich fürchte ich mich. Ich bin allein im Salon. Die dunkle Gestalt kommt durch die Ladentür. In der Eile habe ich nicht mehr geschafft, sie abzuschließen. Verängstigt drücke ich die Kassenschublade mit der Hüfte zu und lasse den Schlüssel in meiner Kitteltasche verschwinden. Der Blick, der mir im Schatten der Kapuze begegnet, ist gehetzt und verzweifelt. Ich kann gerade noch denken, dass ich die Einnahmen dieses Tages verlieren werde. Und das ist ziemlich viel.
Szenen aus grauenerregenden Krimis jagen durch meinen Kopf. Werde ich an einen Stuhl gefesselt, während mein Mund mit Klebeband umwickelt wird, oder werde ich in einen Teppich gerollt und mit dem Kopf nach unten in die Abstellkammer gestellt? Es gibt Menschen, die gestorben sind, während sie mit dem Kopf nach unten und in Teppiche gewickelt irgendwo abgestellt waren, und die erst gefunden wurden, als es nach Tod und Verwesung stank. Falls überhaupt. Man landet vielleicht direkt in einem Container, mit Teppich und allem, und wird aufs Festland geschafft und zu Heizmaterial verarbeitet. Dann ist es doch noch besser, an einen Stuhl gefesselt zu werden. Aber was macht man, wenn die Nase läuft und man sie putzen muss, während einem die Hände auf den Rücken gebunden sind? Wenn man Rotz hochzieht und dann noch mehr Rotz, und die Nase noch immer läuft? Und dann kommt die Polizei, weil ein Passant Alarm geschlagen hat, und sie bringen Jonna von der Zeitung mit, die einem das Blitzlicht vors Gesicht hält, und dann wird man in der Morgenzeitung mit Rotz bis zum Kinn verewigt? Das wäre doch richtig peinlich. All diese Gedanken kann ich ganz schnell denken.
Zugleich staune ich über den Stecker, der an einem Kabel über der Schulter des Eindringlings hängt und hin und her baumelt, als der mit drei raschen Schritten durch den Laden läuft.
»Du musst mir helfen!« Die Stimme ist heiser und scharf wie ein Vogelschrei. »Bitte, ich zahle jeden Preis.«
Jetzt klingt es gar nicht mehr wie ein Überfall, im Gegenteil. Die maskierte Frau, denn jetzt höre ich, dass es eine Frau ist, erwartet, dass ich ihr Geld abknöpfe. Ich zahle jeden Preis … In meinen Ohren klingt das nach einem Lottogewinn.
»So schlimm kann es doch nicht sein?«, frage ich und trete vorsichtig einen Schritt vor, um mir ein Bild von der Lage zu machen.
»Schlimmer, liebste Angelika. Viel schlimmer.«
Mit einer hastigen Bewegung streift sie die Kapuze ab, und ich sehe ein graubraunes und verfilztes Elsternnest von Frisur, in dem eine Warmluftbürste feststeckt. Es ist Rut von der Polizei, eine meiner Stammkundinnen. Sie sieht aus wie ein Roboter mit Elektroantrieb, dessen Batterie fast leer ist. Ich fange an, die Sache zu entwirren. Es dauert mindestens vierzig Minuten, sie von der Lockenbürste zu befreien, und danach verspricht sie, mich für den Rest ihres Lebens zu lieben.
In meinem roten Notizbuch mache ich immer dann einen Strich, wenn eine Kundin oder ein Kunde sagt: »Du hast mir das Leben gerettet, Angelika!« In den vergangenen sieben Jahren sind es insgesamt dreiundvierzig Striche geworden, also dreiundvierzig gerettete Leben. Das ist kein schlechter Schnitt, fast so gut wie die Zahlen der Feuerwehr, und es zeigt, wie wichtig der Friseurberuf ist. Es zeigt zudem die Notwendigkeit einer Kategorie für Menschen mit akuten Haarproblemen. Ich habe vor, diese Sorte »Unglücksfall« zu nennen.
Nornen wirken im Stillen
»Hör jetzt gut zu«, sage ich zu Ricky, als er am nächsten Morgen kommt. »Die vier Hauptgruppen sind: A wie Alltagskunde, N wie Narzisst, V wie Verzweifelt und U wie Unglücksfall. Schreib den jeweiligen Buchstaben in den Terminkalender, um die Kategorie anzuzeigen. Außerdem malen wir ein Herz mit einer Zahl dazu, wenn jemand Hilfe dabei braucht, die Liebe zu finden.«
»Woher weiß man das denn?«, fragt er, ohne das brennende Interesse, auf das ich gehofft hatte.
»Man stellt diskrete Fragen, sammelt Informationen und zieht Schlüsse. Als Friseur verfolgt man Schicksal und Familiengeschichte der Menschen, oft über mehrere Generationen. Man hört hier ein wenig und da ein wenig, und ab und zu kommt es zu einem vertraulichen Gespräch. Man sammelt dadurch Erfahrungen und Erkenntnisse darüber, wie das Leben so spielt. Meine Aufgabe ist es, das Schicksal zu lenken. Im Salon d’Amour kann die Kundschaft mit vollständiger Diskretion rechnen. Kein Geheimnis wird weitergetragen. Hier können sie sich aussprechen und sie wissen, dass alles unter uns bleibt.«
»Ich habe am ersten Tag eine Schweigepflichterklärung unterschrieben. Hier wird nicht getratscht. Aber das mit den Zahlen im Buch habe ich noch nicht richtig begriffen.«
»In das Herz im Terminkalender schreiben wir eine Zahl für den Wichtigkeitsgrad auf einer Skala von eins bis fünf. Eine Fünf bedeutet ein verzweifeltes Bedürfnis nach Liebe, während die Einser auch allein zurechtkommen, wenn man ihnen nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung verpasst.«
»Dann bedeutet A 5 kein Papierformat, sondern einen Alltagsschnitt mit verzweifeltem Vögelbedarf«, fasst Ricky die Sache zusammen.
»So ungefähr, aber ab und zu ist Vögeln nur Vögeln, Ricky. Ich hatte an Liebe gedacht.«
Das Haareschneiden ist, wie Sie vielleicht jetzt schon ahnen, ein einträglicher Deckmantel für meine eigentliche Tätigkeit. Sie können mich als Beziehungscoach oder Gesprächspartnerin oder Therapeutin betrachten. Ich habe eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Friseurin und intuitive Therapeutin auf meine Visitenkarten zu schreiben. Aber ich hatte Angst, dass dann auch meine Haarschneidekunst als intuitiv aufgefasst werden könnte. Ich habe aber eine solide Ausbildung und ein Diplom. Wie würde die Welt aussehen, wenn es intuitive Gehirnchirurgen gäbe, intuitive Piloten und intuitive Elektriker, die aus ihrem Bauchgefühl heraus Stromleitungen verlegen, denken Sie jetzt vielleicht. Und da bin ich ganz Ihrer Meinung. Man muss wissen, was man tut. Die Einzigen, die in unserer heutigen Gesellschaft intuitiv sein dürfen, sind die Börsenmakler – und was hat uns normalen Kleinsparern das gebracht? Wenn ich stattdessen das Geld für meine Rente in einen Schuhkarton unter meinem Bett gesteckt hätte, wäre ich im Alter gesichert. Jetzt überlege ich, ob ich in einen Hühnerstall und ein Kartoffelfeld investieren soll, um an meinem Lebensabend nicht zu verhungern. Aber das ist hier nicht unser Thema.
Reden wir lieber darüber, was Sie als meine Kundin von mir erwarten dürfen. Wenn Sie sich in der nordischen Mythologie auskennen und die Weissagungen der Völva gelesen haben, dann haben Sie von den Nornen gehört. Die drei Schicksalsgöttinnen Urd, Verdandi und Skuld spannen die Lebensfäden. Gemeinsam entschieden sie, welche Fäden zu einem gemeinsamen Schicksal zusammengeführt werden sollen und welche einander einfach nur passieren, wie Schiffe in der Nacht. Und genau das tun auch meine beiden Schwestern und ich. Meine Ambition geht weit über einen schönen Haarschnitt hinaus. Ich möchte Ihnen zu einer Verabredung verhelfen. In der Begegnung mit anderen Menschen entsteht das Ich und wird geformt. Und so können wir uns zu unserem potentiellen besten Ich entwickeln – oder zu einem Wrack, wenn es sich böse fügt.
Urd, Verdandi und Skuld bedeuten: das Vergangene, das Jetzige und das Kommende. Eine Norne ist gut und schlecht zugleich – also kein Engel. Das müssen Sie sich klar vor Augen halten. Ich folge den Gesetzen meines Herzens. Meine Aufgabe ist es, zuzuhören. Ich höre zu, bis ich Ihre Bedürfnisse erkannt habe. Sie selbst tragen alle Antworten und Lösungen in sich. Meistens reicht es, wenn ich sage: »Wie sehen Sie das jetzt?« Ich höre zu, wenn Sie zusammenfassen und zu einem Entschluss kommen. Und in dieser Lage bleiben die Wankelmütigen oft stecken. Hier kann ein Schubs in die richtige Richtung vonnöten sein oder »some ass kicking«, wie mein Kollege Ricky das formuliert.
Jetzt glauben Sie aber bitte nicht, alle Menschen wollten Hilfe zu einem amourösen Abenteuer. So ist das nun auch nicht. In der narzisstischen Gruppe finden wir viele Märtyrer, deren ganze Existenz darauf aufbaut, dass sie schlecht behandelt, übersehen und ausgenutzt werden. Sie haben vielleicht den Kunden bemerkt, der eben zur Tür hereingekommen ist und sich in den Friseursessel gesetzt hat. Ein magerer Mann mit halblangen, strähnigen Haaren und einem großen Kopf, den er nicht richtig aufrecht halten kann. Er trägt einen verwaschenen blau-weiß gestreiften Fischerkittel, den er Ende der siebziger Jahre im Ausverkauf erstanden haben muss, und Versandhausjeans. Kategorie N 5 steht im Terminkalender. Ein Narzisst mit verzweifeltem Bedürfnis nach Liebe. Noch weiß er es nicht, aber von jetzt an kann sein Leben nur besser werden. Er heißt Gunnar Wallén und ist Reporter bei Radio Gute.
Ich lege ihm den Frisierumhang um und befestige den Kreppstreifen um seinen schmalen Hals.
Gunnar ist sauer, weil er jeden Tag die Kaffeebecher der Arbeitskollegen spülen muss. Wenn ich das richtig verstanden habe, stand in seiner Arbeitsplatzbeschreibung nicht, dass er ihnen hinterherwischen soll, das ist eine selbst auferlegte Plage. Anscheinend gibt es Arbeitskollegen, die versucht haben, ihre Becher selbst zu spülen, aber – in Gunnars Augen – kläglich gescheitert sind, und als der Sportreporter von Radio Gute versuchte, den Spülstein mit einem Handtuch abzuwischen, hat Gunnar ihm energisch die Leviten gelesen.
Es wird nicht leichter für mich, Gunnars Ausführungen konzentriert zuzuhören, als ich Ricky entdecke, der halb versteckt hinter dem Vorhang zu unserem Pausenraum steht. Er hält ein Teesieb in der Hand, so eins mit einem Schaft und einer Kugel am Ende. Wenn Ricky diese Kugel öffnet und schließt, sieht sie aus wie ein klaffender Schlund. Er macht das im genauen Rhythmus der verlängerten Vokale in Gunnars Tirade: Nuur iiiich muss iiiiimmer spüüüülen. Nuuuur ich wiiiiische den Spüüüüülstein ab. Und weeer zum Teufel saaagt da maaal danke?
Gunnar gehört wie gesagt in Kategorie N 5, und das ist die schwerste Herausforderung, die eine Norne auf sich nehmen kann. Heute ist er noch schlechter gelaunt als sonst. Ich massiere sanft seinen verspannten Nacken und seinen Haaransatz, um ihn ein wenig zu beruhigen. Meine Kundschaft liebt im Normalfall die Kopfmassage. Auch Gunnar genießt die Berührung, aber er würde lieber barfuß über Glasscherben wandeln als das zuzugeben. Vermutlich haben seit Jahren nur sein Zahnarzt und ich ihn angefasst. Als er geht, lächelt er ganz kurz und sagt Danke. Nun weiß ich, dass es noch einen Schimmer Hoffnung gibt, eines Tages eine Lebensgefährtin für ihn zu finden.
Ricky habe ich kürzlich eingestellt, nachdem seine Mutter, die von meiner Schwester Vera in Hemse frisiert wird, zusammengebrochen war. Nach fünfundzwanzig Jahren, die sie ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht hat, Ricky zu erziehen, erlitt sie plötzlich einen Anfall und jagte ihren Sohn eine Dreiviertelstunde lang mit der Klobürste ums Haus, bis Vera die beiden dann entdeckte.
Ricky kann – trotz seines Alters – einfach noch nicht auf eigenen Beinen stehen. Er hatte auch noch nie eine feste Beziehung. Da er gelernter Friseur ist und ich sowieso gerade eine Aushilfe brauchte, nehme ich ihn nun unter meine Fittiche. Wir arbeiten hart an der Sache. Die Nummer mit dem Teesieb war unterhaltsam, aber wenn ich Vera richtig verstanden habe, dann war es gerade so eine Vorführung, nach der seine Mutter ihn dann vor die Tür gesetzt hat. Sie ist Krimiautorin und hat was von einer Drama Queen.
Ricky ist ein guter Friseur, aber er hat zu lange im Hotel Mama gewohnt. In unserem Vertrag steht, dass er Kaffeeküche und Toilette reinigt. Er ist nicht dumm, nur faul. Das mit dem Saubermachen schafft er problemlos, weil er muss, schließlich bliebe die Kundschaft aus, wenn er seine Arbeit nicht machen würde. In dieser Hinsicht ist er ziemlich gescheit, und wir ergänzen einander. Ricky hat den Mut, neue Dinge auszuprobieren, und ich die Erfahrung.
Ich wohne schon mein Leben lang in Visby, werde bald achtundvierzig und habe seit sieben Jahren meinen eigenen Salon. Ricky ist fünfundzwanzig. Er ist dunkelblond und trägt seine dicken Haare in einer Stachelfrisur, er ist schmal wie ein Schlips aus den fünfziger Jahren und kommt aus Grötlingbo. In seiner Freizeit macht er Poledance. Er hofft im Dezember auf Gold bei den Schwedischen Meisterschaften.
Als ich Ricky eingestellt habe und er von seinen Freizeitaktivitäten erzählte, hielt ich Poledance für dasselbe wie Strippen mit Stange. Er war absolut empört über meine Vorurteile. Jetzt habe ich einige Fachausdrücke gelernt, wie »invert«, sich auf den Kopf stellen, »firefighter«, eine einfache Umdrehung, dann ein Griff mit dem einen Bein vor und dem anderen hinter der Stange, eine gute Ausgangsposition zum Klettern; und »crying bird«, wie ein Vogel dazusitzen und das eine Bein nach unten hängen zu lassen. Dann gibt es noch »gemini« und »boomerang« und eine Menge anderer Dinge, die ich noch nicht richtig begriffen habe. Ricky ist der einzige Mann im Kurs. Er glaubt, es sei eine hervorragende Gelegenheit, lebensfrohe Frauen kennenzulernen. Einer der Gründe, warum ich ihn eingestellt habe, war, dass er die richtige Denkweise hat.
»Was Gunnar von Radio Gute braucht, ist Liebe«, sage ich zu Ricky, der das Teesieb noch immer in der Hand hält, obwohl der Kunde bereits gegangen ist. Wir haben den Begriff Teesiebrhetorik geprägt. Teesiebrhetorik kommt auch in der Politik vor, wenngleich ohne Teesieb. Dabei sollen andere als Schuldige vorgeführt werden, indem den Gegnern allerlei Schandtaten unterstellt werden. Nur iiiiihr seid sooo geeeeizig. Nuuuuur iiiiihr meint, Rentner müssten Kaaaatzenfuuuuutter essen!
»Was alle Menschen brauchen, ist Liiiiiiebe«, erklärt Ricky und lässt das Teesieb das Maul aufreißen.
Ich betrachte es als meine Lebensaufgabe, Menschen dabei zu helfen, die Liebe zu finden. In den sieben Jahren, die ich den Salon d’Amour nun schon betreibe, habe ich nicht weniger als sechsundzwanzig Brautpaare zusammengebracht. Ich habe zu Hause auf dem Klavier ein Album liegen. Ich stelle mich der Herausforderung, dort eines Tages ein Foto von Gunnar von Radio Gute mit der Auserwählten seines Herzens einkleben zu können.
Über Zlatan und den Sinn des Lebens
Ricky wurde genau an seinem Geburtstag von seiner Mutter vor die Tür gesetzt. Sie hat ihm eine Wohnung besorgt, seine Habseligkeiten von einer Spedition hinbringen lassen, ihr Haustürschloss ausgewechselt, ihm eine Torte hinterhergeworfen und Hurra gerufen. Wenn man in fünfundzwanzig Jahren seinen Sohn noch nicht stubenrein erzogen hat, besteht nicht mehr viel Hoffnung. Meine Schwester Vera hat mir eine Liste von Rickys Mutter übermittelt. Als ich die sah, dachte ich sofort, ich hätte einen großen Fehler begangen, als ich ihn eingestellt habe.
• Trifft die Toilette nicht
• Weiß nicht, wie oder warum man eine Klobürste benutzt
• Hat noch nie einen Tisch abgewischt
• Lässt feuchte und schweißnasse Kleidungsstücke auf dem Boden liegen, und die Katze macht in Notwehr darauf
• Isst in seinem Zimmer vor dem Computer, meistens Fertigpizza. Lässt Geschirr, Flaschen und Pizzakartons herumliegen. Begreift nicht, woher der Schimmel kommt
• Wohnt zu Hause, um Geld für seine Vergnügungen zu sparen
• Hat noch nie Staubsauger, Wasch- oder Spülmaschine angerührt
• Trinkt Milch direkt aus dem Karton
• Kann nur Wurst Stroganoff kochen, was er im Hauswirtschaftsunterricht in der siebten Klasse gelernt hat
Es ist meine Aufgabe, Ricky in die Mysterien des Erwachsenenlebens einzuführen. Als kleiner Knabe hat er seiner Mutter wohl gern beim Saubermachen geholfen und ist auf dem Staubsauger gefahren. Aber diese Lust ist ihm im Laufe der Zeit verloren gegangen. Vielleicht auch besser so. Aber wie gesagt, seine Erziehung lässt einiges zu wünschen übrig. An den vergangenen drei Sonntagen ist Ricky zu mir nach Hause gekommen, um richtig kochen zu lernen. Der Weg zu einer produktiven Zusammenarbeit war nicht schmerzlos. Anfangs hatten wir durchaus unsere Konflikte.
»Wurst Stroganoff ist lecker«, erklärte er mir, als er den dritten Tag hintereinander die Reste seines Eintopfes verzehrte. Seine letzte Bettgenossin hatte wohl keine Lust mehr auf Wurst und ihn gerade erst verlassen.
»Ricky, wenn du zum ersten Mal eine Frau zu dir einlädst, dann ja, beim zweiten Mal ist es schon die Frage, aber beim dritten Mal ist aufgewärmte Wurst Stroganoff eine Katastrophe. Es ist kein Wunder, dass deine Freundinnen aufgeben. Wenn du als Meisterkoch dastehen willst, brauchst du mehr Fleisch auf den Rippen. Und das lässt sich in die Wege leiten.«
Unser Plan ist es, sonntags für die gesamte kommende Woche zu kochen. Ich finde es angenehmer, wenn das Essen fertig ist, wenn ich abends nach Hause komme, da ich oft Arbeit aus dem Laden mitnehme. Kein Haareschneiden natürlich, sondern meine Aufgaben als Ehevermittlerin. Es kommt bisweilen zu Sondereinsätzen und auch zur Überwachung der Paare, die ich zusammenbringen will.
In den beiden ersten Wochen, als Ricky bei mir gearbeitet hat, hat er mittags ausschließlich Junkfood gekauft und mein kalorienarmes Essen misstrauisch beäugt.
»Quark ist Teufelswerk«, sagte er tiefernst schon am ersten Tag.
»Du hast gut reden, du bist ja mager wie eine Bergziege mit Grasallergie. Warte nur ab, was passiert, wenn dein Körper auf die fünfzig zugeht und nicht mehr so schnell rennen mag. Schon seit Urzeiten passt sich der menschliche Körper der Nahrungsmittelzugänglichkeit an. In der Steinzeit wäre ich verhungert, wenn ich meine Kaninchen selber hätte jagen müssen. Das Problem ist, dass die Anpassung an den Überfluss mit Verspätung geschieht. Erst in tausend Jahren oder so wird der Körper begriffen haben, dass er keine Vorräte für schlechte Zeiten lagern muss.«
»In tausend Jahren bist du eine Moorleiche! Gib zu, dass das auch kein Trost ist«, sagte er brutal und musterte meinen Quark mit Bohnensalat weiterhin äußerst skeptisch. »Gib zu, dass du dich nach richtigem Essen mit Butter und Sahne sehnst, und nach einem saftigen Stück Fleisch mit Sauce béarnaise.«
Nach einigen Wochen der Meinungsverschiedenheit über Ernährung und den Sinn des Lebens kamen wir überein, dass es da einen Zusammenhang gibt. Zwischen Ernährung und dem Sinn des Lebens, meine ich, und das führte dazu, dass wir ein eigenes, ebenso schlichtes wie angenehmes Tellermodell entwickelten. Der halbe Teller wird mit Gemüse gefüllt, auf die andere Hälfte kommt dann etwas, das wir gern essen. An den kommenden Sonntagen werden wir zusammen kochen, die Strategien der folgenden Woche planen und Radio hören.
Gunnar von Radio Gute hat ein eigenes Programm namens »Es fragt es«. Das ist ein Versuch, geschlechtsneutral zu sein und mit der Zeit zu gehen. Nur sehr wenige melden sich für diese Sendung, und bisweilen muss er sie ausfallen lassen. Die Teilnehmenden, die zögern, wollen sicher nicht, dass an ihrer Geschlechtszugehörigkeit irgendwelche Zweifel aufkommen. Die Sendung wird sonntags ausgestrahlt, und man lernt jedes Mal etwas Neues.
Natürlich ist Gunnars Liebesbedarf das Gesprächsthema Nummer eins, als Ricky und ich am Sonntag nach dem Besuch des Reporters Essen machen. Ich möchte gerne glauben, dass es für jeden Topf einen Deckel gibt. Und keine hoffnungslosen Fälle.
Ricky hat da seine Zweifel. »Wer sollte denn sein Geplapper aushalten? Er ist schlimmer als meine Mutter an einem Sonntagmittag, wenn sie sich bei einer Buchvorstellung mit Champagner vollgeschüttet hat.«
»Kann schon sein, aber die Liebe kann einen Menschen verändern. Das weiß ich. Ein bisschen Zuwendung kann ungeahnte Qualitäten aufblühen lassen. Gunnars Genörgel ist in Wirklichkeit ein Hilferuf: Sieh mich, sonst sterb ich! Mit Sicherheit hat seine Märtyrernummer schon funktioniert, sonst würde er damit ja nicht weitermachen. Versuch, das Kind in ihm zu sehen. Er hat vielleicht alles gekriegt, was er wollte, als er klein war und gequengelt hat. Er konnte sich im Laden vielleicht ein Eis erquengeln und so lange schmollen, bis er keine Hausaufgaben machen musste. Vielleicht konnte er sich sogar mehr Taschengeld zusammenjammern, was weiß ich? Die Probleme tauchten erst auf, als sich herausstellte, dass er sich keine Liebesbeziehung erquengeln konnte.«
Inzwischen kann ich ihn wirklich vor mir sehen – einen kleinen Wicht mit dicker Brille, verheulten Äuglein und Stupsnase. Sein Kopf war immer ein bisschen zu schwer für seinen schmalen Hals, deshalb hält er ihn ein wenig gesenkt und schief.
»Er braucht vielleicht eine, die schrecklich chaotisch ist – aber dankbar, wenn alles schön und sauber ist«, schlage ich vor, während ich für das Sonntagsessen Kartoffeln schäle und Ricky aus dem Lammhack Frikadellen formt. Als Nachtisch gibt es Safranpfannkuchen mit Kratzbeermarmelade und Sahne.
Er lacht herzlich und warm. »Noch chaotischer als ich? Gunnar könnte dem Druck nicht standhalten. Er würde eine Sanierungsfirma mit Hochdruckspüler engagieren, um so einer hinterherzuräumen. Nein, du, ich glaube eher an eine, die nur heimlich ein bisschen chaotisch ist und nur ein bisschen Unordnung schafft. Es könnte wie ein Phobietraining vor sich gehen. Wenn Gunnar an Tag eins einen kleinen Punkt auf dem Spülbecken überlebt, schafft er am nächsten vielleicht einen Fleck. Dann kann man ihm ein Foto eines richtig verdreckten Spülsteins zeigen, und das muss er sich ansehen, bis er schreit, und diese Expositionszeit verlängert man dann, bis er jeden Schmutz hinnimmt und im wirklichen Leben durch ein Schlammfeld und eine Jauchegrube robben kann. Man muss sich nach und nach vorarbeiten.«
Ricky betrachtet nachdenklich das Fett, das aus der Bratpfanne spritzt, während die Lammfrikadellen zur Perfektion gebraten werden. Er mimt, wie er die Spüle für Gunnars bevorstehendes Phobietraining fotografiert.
»Und wie sollen wir eine Partnerin finden, die nur ein bisschen chaotisch ist?«
»Scheiß drauf. Ich habe eine neue Idee – wir können versuchen, ihn mit einer Perfektionistin zu verkuppeln, einer, die noch pingeliger ist als er selbst. Einer, die nach ihm zur Spüle kommt und sagt …«
Ricky zieht die oberste Schublade auf und nimmt das Teesieb heraus. Ich weiß nicht, woher er weiß, dass dort sein Lieblingsspielzeug liegt. Er muss heimlich meine Küchenschubladen durchsucht haben. »Nur iiiiiich wische Fliiiiiiegenkacke weg, nuuuuuur iiiiich suuuuuche die Kacke mit dem Vergrööööößerungsglas!«
»Von mir aus, eine Perfektionistin. So machen wir das«, sage ich zustimmend. »Aber wir brauchen noch mehr, wenn es passen soll. Gunnar schwärmt für blonde, mollige Frauen. Wenn die Kundinnen auch nur annähernd eine Ahnung davon hätten, wie viele Informationen wir daraus entnehmen können, was sie lesen, würden sie die Zeitschriften überhaupt nicht mehr anrühren.«
»Oder daraus, wo sie eilig weiterblättern. Auch das liefert interessante Informationen.« Ricky dreht sich um und macht sich am Spülstein zu schaffen. »Was liest Gunnar?«, fragt er mit schmachtender Stimme und aufgeplusterten Wangen.
Ich überlege und sehe vor mir, was er sich zuletzt aus dem Zeitungsstapel ausgesucht hat. »Er betrachtet Bilder von rundlichen Blondinen, liest aber nicht über sie. Er liest über Sport, nur über Sport, und jeden Buchstaben, der von Zlatan Ibrahimović handelt.«
»Das würde ich als Lebensanschauung betrachten«, meint Ricky und versucht zu verstecken, dass er sich die eine Wange mit Hackfleisch ausgestopft hat. »In Schweden haben wir heute drei große Religionsgemeinschaften: Facebooknerds, Aktienmarktanbeter und Zlatanverehrer. Wie viele blonde Perfektionistinnen kennen wir, die sich mit dem zweiten Rang zufriedengeben, weil ein Mann total in seiner Religion aufgeht? Braucht eine Frau dieselben Vorlieben, oder reicht es, wenn sie ihre eigene Religion hat und auf Facebook rumhängt?«
»Ich hänge auch auf Facebook rum. Und wann ist der Aktienmarkt zur Religion geworden?«, frage ich neugierig.
»Das ist eine Religion auf dem Vormarsch. Vor einigen Jahren gab es in unserem Bewusstsein noch keine Aktienkurse. Jetzt rollen sie ununterbrochen bei Nachrichtensendungen über den unteren Bildrand. In den heiligen Börsennotierungen kann man lesen, ob der Mammongott gütig oder erzürnt ist. Die Religion infiltriert ganz heimlich unsere Sprache. Du wirst beeinflusst, auch wenn du das gar nicht merkst. Man liefert eine Idee, die jemand kauft, man investiert in eine Beziehung, und wir reden von einer Win-win-Situation. What’s in it for you? Das Leben ist eine Geschäftsbilanz.«
Wir setzen uns an den Tisch und grübeln über die neuen Religionen nach, während die Teigtaschen im Ofen gebacken werden und auf dem Herd ein Portersteak zischt. Bis zur Mittagspause haben wir emsig gearbeitet.
»Mir fällt keine von unseren Kundinnen ein, die zu Gunnar passen könnte«, sagt Ricky und ertränkt seine Lammfrikadellen in Sahnesoße. Ich muss ihn daran erinnern, dass das Gemüse auch noch seinen Platz braucht. »Der halbe Teller für Gemüse, Ricky! Das ist eine Abmachung, auf die wir uns die Hand gegeben haben.«
»Wir müssen neue Kundschaft aufreißen«, murmelt er mit vollem Mund. »Wo finden wir die?«
Ich denke laut nach. »Jetzt ist die beste Zeit dafür. Es ist Frühling, die Sonne taut die Wintergefühle auf, die Menschen wollen sich verändern und aufblühen. Typisches Frühlingsverhalten ist, dass man anfängt, im Wald zu joggen, den Wagen zu waschen, Gewichte zu stemmen, Nordic Walking zu versuchen, neue Kleider zu kaufen, Kurse zu buchen und sich die Haare schneiden zu lassen …«
»… und sich zu verlieben. Du hast recht. Jetzt ist Paarungszeit. Die Wohnwagen fangen an zu rollen, wenn die Männchen sich aufmachen, um Weibchen in ihre Paarungskammern auf Rädern zu locken. Ich spüre es. Ich spüre es hier«, sagt er und greift sich in den Schritt. »Der Saft steigt.«
Plötzlich kommt mir ein Gedanke. »Ich weiß, wo wir eine mögliche Frau für Gunnar finden können. Natürlich! Kannst du morgen früh bis elf den Laden allein schmeißen?«, frage ich und runzele die Stirn, weil Ricky sich noch eine Portion nimmt, ohne das Gemüse anzurühren. Danach behauptet er, zu satt zu sein, um auch noch Grünzeug hinunterzubekommen. Ich merke, dass wir auch an Rickys schlechter Impulskontrolle und seinem Bedürfnis nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung arbeiten müssen.
Werbeaktion im Fitnessstudio
Ricky hat absolut recht. Wenn der Frühling in der Luft liegt, möchte man sich verlieben. Licht und Wärme, die wiederkehren, machen etwas mit den Hormonen im Körper. Das muntere Tropfen des schmelzenden Schnees, die glucksenden Gullys, die Tulpen in vielen Farben in den Eimern vor den Blumenläden, und die Mimosen aus Italien – das alles gebiert eine Sehnsucht, denke ich auf meinem Spaziergang zu dem Fitnessstudio hinter der Österport, wo sich heute eine Abnehm-Gruppe trifft.
Ich habe mich am Vorabend online angemeldet. Und ich habe Gutscheine für einen Damenschnitt bei mir ausgedruckt. Ich habe vor, Kundinnen für meinen Salon zu locken, in der Hoffnung, dabei auch eine mollige blonde Perfektionistin für Gunnar von Radio Gute aufzutun. Mollige Frauen findet man im Fitnessstudio. Ihr Verlust ist unser Gewinn. Da Ricky so lächerlich mager ist, fällt die Aufgabe zweifelsfrei mir zu.
Ehe ich hineingehe, mustere ich mein Spiegelbild im Schaufenster. Was mir an meinem Aussehen am besten gefällt, sind meine dicken, dunkelbraunen Haare. Ich lasse sie lang, auch wenn meine Kundinnen – in Erwartung der Hitzewellen der Wechseljahre – sie sich im Nacken meistens kurz schneiden lassen. Ich habe lange Haare, um meine Frisur variieren zu können. Ich trage einen Pferdeschwanz, einen lockeren Knoten oder einen komplizierten Zopf bei der Arbeit und lasse sie offen, wenn ich freihabe.
Wenn man Frauen in meinem Alter bittet, fünf Dinge über ihr Aussehen zu sagen, mit denen sie zufrieden sind, fällt den meisten rein gar nichts ein. Ich habe im Herbst einen Vortrag über Selbstvertrauen gehört, und mit etwas Training komme ich auf zwei Dinge, die mir gefallen: meine Haare und meine Augen. Dinge, die mir nicht zusagen, fallen mir viel schneller ein. Zum Beispiel mein molliger Bauch. Und dann beneide ich alle, die elegante Fußgelenke haben, meine sehen so wulstig aus. Und dennoch sind sie in einer anderen und glücklicheren Zeit geküsst worden …
Als ich das Fitnessstudio betrete, werde ich gebeten, die Schuhe auszuziehen. Meine Füße hinterlassen feuchte Spuren auf dem Boden. Das Schmelzwasser ist durch die undichten Sohlen meiner heruntergelaufenen Lieblingsschuhe gesickert. Ich habe mir schon lange nichts Neues mehr leisten können. Es wäre aber zu ärgerlich, wenn irgendwer das für Fußschweiß hielte. Auf dem empfindlichen Kunststoffboden zeichnet sich jeder Zeh deutlich ab.
Auf dem Weg zur Waage versuche ich, die Fußabdrücke auszuwischen, indem ich ganz schnell laufe, aber nun sehen sie aus wie Schneckenspuren. In den Spuren der Väter zu den Siegen der Zukunft, denke ich, um mir vor der Begegnung mit der Gewichtsberatung Mut einzuhauchen. Ich verspüre aufgrund meines Wohllebens ein vages Schuldgefühl.
Vor mir in der Schlange zu der Waage steht eine krummrückige und leicht x-beinige Frau mit Fahrradhelm. Sie redet ununterbrochen mit ihrer Freundin. Hier würde Ricky sich mit dem Teesieb zu Tode schuften. Sie redet beim Ein- und beim Ausatmen. Als sie aufgefordert wird, den Helm abzunehmen, weigert sie sich. Bei ihrem ersten Abnehm-Termin in Arvika 1997 hatte sie beim Wiegen den Helm auf, behauptet sie, und deshalb muss sie ihn weiterhin bei jedem Wiegen tragen. Das Ergebnis darf schließlich nicht verfälscht werden.
Nachdem ich mich eingetragen und bezahlt habe, schiele ich zu den anderen Frauen im voll besetzten Studio hinüber. Es sind fast nur Frauen. Nur einen Mann gibt es in dieser Menschenmenge. Er hat sich ganz hinten in der Ecke verkrochen und hat etwas Kastriertes im Blick. Er will überhaupt nicht hier sein, will nicht reduziert und wesentlicher Teile seines Körpers beraubt werden. Vermutlich ist er nicht aus eigenem Antrieb hergekommen. Er wurde zwangsrekrutiert, sagt mir mein sechster Sinn. Die Hälfte der Frauen hier ist mollig und blond. Ich muss nur noch feststellen, welche Single und Perfektionistin ist.
»Seid alle willkommen! Ich heiße Majvor. Wie viele waren schon einmal hier?«, fragt die Gruppenleiterin. Eine hassenswert schlanke Frau mit kurzen und federleichten blonden Haaren und einem aus dem »Sound of Music« entsprungenen Kleid. Meine Nebenfrau flüstert mir zu, dass Majvor vom Festland kommt, frisch geschieden und bis über den Dachfirst verschuldet ist und dass sie in der Gemeinde Hogrän eine Vertretung als Kantorin macht.
Alle außer mir zeigen auf. Das hier ist mein erster Besuch, und sofort frage ich mich, ob es wirklich eine so gute Abnehm-Methode ist, wo doch alle Teilnehmerinnen noch immer hier sind und offensichtlich nicht großartig abgenommen haben. Oder geht es eigentlich gar nicht um das Abnehmen, sondern darum, Kontakte zu schließen, egal, in welcher Interessenorganisation? Um hier dazuzugehören, muss man übergewichtig sein. Wenn man sein Zielgewicht erreicht, trifft man doch montags die anderen nicht mehr. Gewichtsverlust ist vielleicht ein Hobby wie jedes andere auch?
»Wie war denn die vergangene Woche?« Majvor lächelt aufmunternd, während sie fast unmerklich auf den Zehen auf und nieder wippt. Eine feinsinnige Art, Kalorien zu verbrennen. »Wer von euch möchte sich denn als Erste zu ihren Sünden bekennen?«, fragt sie, und ich vermute, dass sie aus Östergötland stammt, denn die Wörter landen ganz vorn in ihrem Mund.
Ein gedämpftes Murmeln breitet sich aus. Die meisten scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben. Majvors Lächeln sieht immer verspannter aus. »Möchte jemand erzählen?«
Sogar die Frau mit dem Fahrradhelm ist verstummt. Die meisten starren zu Boden und rutschen verlegen auf ihren Bänken hin und her.
»Dann soll eben die Waage reden. Es hätte also besser gehen können, aber wir werden nicht aufgeben. Wir werden weiterkämpfen, nicht wahr?«, sagt sie munter. »Kann uns jemand einen Tipp geben, wie wir unser Hungergefühl kontrollieren können, um nicht der Versuchung zu erliegen?«
Majvor steht aufrecht wie ein Major. Ihr Lächeln ist erstarrt zu einer Maske mit hart zusammengebissenen Zähnen, und ich fürchte, dass sie bald an ihren ohnehin schon ziemlich abgenagten Nägeln herumknabbern wird.
Eine bleiche Blondine mit toupierten Haaren, weitem hellblauen Rollkragenpullover und hochhackigen Stiefeln hebt die Hand. Zu meiner Freude trägt sie keinen Trauring, sie ist nicht einmal verlobt. Was natürlich nicht bedeuten muss, dass sie frei ist. Aber es gibt mir eine gewisse Hoffnung auf meiner Suche nach einer Partnerin für Gunnar.
Majvor atmet auf und sieht erleichtert aus. »Åsa. Bitte sehr.«
»Ich habe in der Handtasche immer eine Plastiktüte mit Möhren, die ich in sechs Zentimeter lange Stücke zerschnitten habe, damit sie ins Seitenfach passen. Die esse ich, um zwischen den Mahlzeiten keinen Hunger zu bekommen.« Åsa öffnet ihre Handtasche und zeigt die Tüte mit den perfekt zurechtgeschnittenen Möhrenstücken, und ich merke, dass meine Hoffnung immer größer wird.
»Danke. Gibt es noch weitere Tipps?«
Fahrradhelm hebt die Hand. Majvor versucht, sie zu ignorieren, indem sie sich unserer Seite zuwendet und die ansieht, die auf der rechten Seite des Raums sitzen. Fahrradhelm winkt eifrig. Da keine auf der rechten Seite etwas sagt, gibt Majvor ihr widerwillig ein Zeichen zu antworten.
»Man kann Möhren essen – zum Beispiel«, sagt sie und sieht richtig glücklich aus.
»Das haben wir gerade erwähnt.« Etwas Hasserfülltes ist jetzt in Majvors Blick zu sehen, während sie auf beängstigende Weise lacht. »Was kann man sonst noch machen, um zwischen den Mahlzeiten keinen Hunger zu bekommen?«
»Wasser trinken«, schlägt meine Sitznachbarin vor. »Oder Kaffee.« Wir nicken zustimmend. Sie wirkt sympathisch, aber ein bisschen zu alt für Gunnar, fürchte ich.
»Weitere Vorschläge?« Majvor hat ihre hektische Anführerinnenrolle wieder übernommen. Nur ein geübtes Auge kann entdecken, dass sie gereizt ist. Ihre Bewegungen sind ein bisschen zu ruckhaft, ihr Lächeln ein bisschen zu breit, aber vor allem reibt sie ihre kurzen Daumennägel so aneinander, dass dabei ein wütendes Knacken ertönt.
»Man kann Kaffee trinken«, sagt Fahrradhelm laut, ohne gefragt worden zu sein. »Oder Wasser …«, fügt sie hinzu, noch immer glücklich, weil sie bei diesem Verhör die richtigen Antworten liefern kann.
Majvor kneift die Augen zusammen, ballt die Hände zu Fäusten und öffnet sie wieder. »Sehr richtig, beides haben wir ja gerade erst erwähnt.«
Fahrradhelm gibt ihrer Freundin ein High five. Es läuft gut. Drei von drei möglichen Antworten richtig. Nicht schlecht, auch wenn die Antworten souffliert wurden. »Man kann außerdem Anchovis in einer Plastiktüte in der Sonne gären lassen und sie dann essen, um besser zu kacken. Wie viele Punkte darf man dann mehr essen, die ganze Tagesration oder nur die für die Anchovis?«
Alle, auch die Klassenbeste in der ersten Reihe, drehen sich um, um diejenige anzusehen, die dermaßen unvorstellbare Dummheiten absondert. Keine schließt sich den Ausführungen über die Anchovis an. Keine. Fahrradhelm zu weiteren blödsinnigen Behauptungen zu ermutigen, würde mit der Todesstrafe geahndet. Man braucht nicht besonders intuitiv zu sein, um das zu begreifen.
Fahrradhelm redet trotzdem weiter: »Und wie viele Punkte hat eigentlich Büchsenschinken, also die ganze Mischung an sich? Ich hab meinem Nachbarn versprochen, das zu fragen. Sein Hund ist ganz schön fett geworden und stößt sich den Bauch an den Treppenstufen, wenn er zum Pinkeln nach draußen soll, und ich will außerdem noch wissen, ob Ananas selbstverbrennend ist, wenn man die Schale mitisst. Also ob man beim Essen mehr Kalorien verliert als man zu sich nimmt. Mein Nachbar sagt, das sei so.«
In diesem Moment merke ich, dass ich zu hart über Majvor geurteilt habe. Das hier ist sicher bei jedem Treffen so. Wie der stete Tropfen, der den Stein höhlt, hat Fahrradhelm der Gruppenleiterin ein Loch in den Kopf geplappert. Sie stalkt Majvor vielleicht schon seit Jahren. Sitzt mit ihren Anchovisbüchsen und ihren Gärtheorien vor Majvors Tür. Wer weiß? Deshalb kommt das, was jetzt passiert, auch nicht allzu überraschend.
Majvor verliert die Beherrschung: »Hau ab! Hau bitte ab, sonst zerr ich dich an deinem Doppelkinn raus!« Sie packt Fahrradhelm, die mittlerweile verstummt ist, an der Wange und scheucht sie mit Gewalt zu dem wartenden Fahrrad. »Es gibt noch andere Abnehmgruppen. Warum, warum zum Teufel musst du unbedingt in meiner sein?« Die Tür wird zugeknallt. Wir sitzen wie versteinert da.
Majvor kommt mit schnellen Schritten herein und lächelt verkrampft. Ihre Augen zucken, als hätte sie einen nervösen Tic. Mit barscher Stimme und deutlicher Aussprache fängt sie an zu singen. Wir wechseln Blicke und starren dann den Boden an.
Je länger wir zusammen sind, zusammen sind, zusammen sind, je länger wir zusammen sind, umso dünner werden wir.
Sie starrt uns mit Verzweiflung im Blick an. »Alle mitsingen! Denn deine Freunde sind meine Freunde, und meine Freunde sind deine Freunde. Je länger wir zusammen sind, umso dünner werden wir.«
Es ist sicher ein Versuch, nach ihrem Ausbruch die Stimmung aufzulockern, aber es macht uns nur Angst, und ich muss daran denken, wie die Wohnungsbauministerin Birgit Friggebo im Volkshaus von Rinkeby vorschlagen hat, »We shall overcome« zu singen, ohne die dortige Untergangsstimmung bemerkt zu haben.
Eine nach der anderen trottet heimwärts. Aber immerhin kann ich einigen Frauen Gutscheine für einen verbilligten Haarschnitt zustecken. Auch Åsa, der Klassenbesten. Mit ihr kann ich sogar einige Worte über die einzigartigen Blond-Tönungen wechseln, die wir anbieten. Denn eine echte Blondine ist sie nicht. Ich kann ihren dunklen Ansatz sehen, als sie sich umdreht.
Über den Mut zum Misserfolg
Der wichtigste Faktor für den Erfolg, egal, womit man Erfolg haben will, ist der Mut zum Misserfolg. Doch dazu gleich mehr.
Der Montagvormittag bietet frischen Seewind und Sonne, als ich auf dem Rückweg vom Fitnessstudio am Café Siesta vorbeigehe. Aber wenn ich ehrlich sein soll, gehe ich nicht nur vorbei, ich schaue auch hinein, um nachzusehen, ob sie Bienenstich haben, frisch und wunderbar mit Vanillecreme, und das haben sie. Nichts kann so sehr den Appetit auf Süßes schüren wie ein Besuch bei der Gewichtskontrolle.
Auf seinem üblichen Fensterplatz sitzt Gunnar Wallén, gehüllt in einen militärgrünen Dufflecoat. Die Mütze trägt er auch im Haus. Die Sonnenbrille mit den riesigen Gläsern lässt ihn aussehen wie eine sehr traurige Ameise. Er rührt in seiner Kaffeetasse und beißt ein großes Stück von seinem Mandelhörnchen ab, während er mit zerstreutem Blick frühlingshaft gekleidete Menschen vorbeischlendern sieht. Er sieht einsam aus, und ich gehe zu ihm, um ein paar aufmunternde Worte über die gestrige Quizsendung zu sagen.
»Ich habe dich gestern gehört, das war wirklich lustig.«
Gunnar hebt sein schweres Haupt und sieht mich mit unendlichem Leid im Blick an. »Lustig?« Er spuckt dieses verhasste Wort aus. »Lustig! Als ermittelnder Journalist will ich keine lustigen Sendungen machen. Ich will Sendungen mit sozialrealistischer Brutalität machen, über den Kampf des kleinen Menschen gegen die Übermacht in einer verrottenden und korrupten Gesellschaft.«
Ich frage, ob ich mich zu ihm setzen darf, und bekomme ein Grunzen als Antwort, als sei es ihm ganz egal, ob ich bleibe oder verschwinde. »Angenommen, du hättest freie Hand, Gunnar«, locke ich, »… unbegrenzte Mittel, worüber würdest du am liebsten eine Sendung machen?« Menschen nach ihren Träumen zu fragen, ist ein Trick, der immer funktioniert.
Gunnars Gesicht hellt sich auf. Ein Funke wird in seinem erloschenen Blick entzündet, seine Haltung wird plötzlich gerade, und ein kleines Lächeln zuckt in seinen Mundwinkeln, während er überlegt: »Steuerhinterzieher und andere Betrüger. Ich will die richtigen Schurken entlarven. Die, die von außen respektabel wirken, aber die insgeheim den Armen die Teller leer fressen.«
Mein Bienenstich trifft ein, in der guten Gesellschaft von einem Stück frisch gebackener Traumtorte und einem Mazariner. Im erbarmungslosen Tageslicht sehe ich, dass Gunnar sich schon eine ganze Weile nicht rasiert hat, und rieche, dass er als Deo noch immer das gleiche langweilige Old Spice benutzt wie eh und je. Bei Gunnar ist der Frühling noch nicht angekommen. Hier herrscht Dauerfrost. Ehe er für eine Romanze empfänglich werden kann, muss er zum Leben erweckt werden und den Lenz in sich spüren.
»Betrüger also. Stell dir vor, du könntest einen Scoop landen und einen richtig dicken Treffer erzielen!« Ich ziehe meinen Terminkalender hervor. »Aber etwas anderes. Ich würde gern eine neue Frisur an dir testen. Kostet dich nichts.«
»Aber ich hab mir doch eben erst die Haare schneiden lassen!«
»Das weiß ich, Gunnar. Aber das hier ist gratisss«, zische ich wie die Schlange Kaa aus dem Dschungelbuch und versuche, ihn mit Blicken zu hypnotisieren. »Zufälligerweise habe ich meinen Terminkalender bei mir, und gerade in dieser Woche haben wir ein phantastisches Angebot. Wenn du zehn Haarschnitte buchst, bekommst du jeden zweiten gratis. Aber das gilt nur, wenn wir jetzt sofort buchen. Was sagst du dazu? Das erspart dir doch auch die Zeit, in der Telefonschlange zu sitzen, um einen Termin bei uns zu machen.«
Dabei hatte ich nun allerdings ein bisschen übertrieben. Aber die Nachfrage führt zu weiterer Nachfrage, und ich musste ihn doch zum Anbeißen bringen.
»Müsst ihr jetzt schon hausieren gehen, steht es so schlecht in eurer Branche? Ich meine, so lang ist die Schlange doch eher selten, Angelika. Aber von mir aus.«
Zufrieden mit meiner neuen Kundenfangstrategie wandere ich durch die Adelsgata zum Södertorg und komme gerade in dem Moment zum Salon herein, als Åsa mit den Möhren anruft, um einen Termin zu vereinbaren. »Einen Moment«, sage ich und zwinkere Ricky zu. Das läuft ja wie geschmiert.
»Schneiden«, wiederhole ich mit dem Bleistift zwischen den Zähnen. »Morgen, 17.30 Uhr, geht das?« Als ich den Hörer aufgelegt habe, muss ich auf dem frisch gebohnerten Boden einfach eine Pirouette hinlegen. Ich habe ihnen gleichzeitig einen Termin gegeben. Gunnar und Åsa. Jetzt geht’s los.
Ricky schaut von dem Kunden auf, dem er gerade die Haare schneidet. Es ist mein Nachbar. Ein älterer General, der seit ungefähr 1900 dieselbe Frisur hat, aber jetzt will er plötzlich auf etwas Jugendlicheres umsteigen, so etwas mit Gel, wie die Jungs beim Schlagerfestival es haben. Nach unserer Einschätzung ist er ein A-Nuller und durchaus nicht auf Suche nach Anschluss – soviel wir wissen. Der General hat gehört, dass man Stützhaare zurechtschneiden kann, so dass die oberen besser stehen, und Ricky versucht ihn davon zu überzeugen, dass er jedes einzelne Haar braucht, um überhaupt eine Frisur zu haben. Ich habe den Verdacht, dass hier etwas ganz anderes stehen soll. Er hat Frühlingsgefühle, der alte Mann.
Ich hab’s geschafft, mime ich im Spiegel für Ricky.
Was?, fragt seine Grimasse hinter dem Generalsrücken.
Ein Date für Gunnar! Ich mache noch eine Drehung, einfach aufgrund der Schwungkraft. Und in diesem Moment sehe ich Fahrradhelm, die draußen ihren Drahtesel mit dem Fahrradkorb abstellt. Und dann kommt sie in den Salon. Gefolgt von einem Hund. Vermutlich der dickliche Dackel des Nachbarn, den sie im Korb chauffiert hat. Er schafft es kaum, sich über die Schwelle zu schleppen und legt sich platt auf den Boden wie ein Tigerfell.
»Ich kümmere mich für meinen Nachbarn um Trulle«, sagt sie und zieht ihren verschlissenen Helly-Hansen-Pullover aus. »Mein alter Nachbar muss auch mal ausschlafen. Es ist anstrengend, jede Nacht aufstehen und dem Hund eine Mahlzeit kochen zu müssen.«
»Warum macht er das denn?«, muss ich einfach fragen. Es ist doch die pure Tierquälerei, einen Hund so zu mästen, finde ich.
»Trulle ist daran gewöhnt, jede Nacht um zwei eine warme Mahlzeit zu bekommen, sonst ist es zu lang bis zur nächsten Mahlzeit, und dann zerbeißt er die Schuhe in der Diele. Es ist wichtig, konsequent zu sein, wenn man Tiere erzieht, und ihnen klarzumachen, dass man der Rudelführer ist«, sagt sie mit eintöniger Stimme und nimmt in dem leeren Frisierstuhl Platz, ohne auf meine Aufforderung zu warten. »Ich habe einen Gutschein. Den habe ich von jemandem aus dem Abnehm-Kurs bekommen.«
»Genau. Und zwar von mir. Fangen wir an?«, frage ich, da sie den Helm noch immer nicht abgenommen hat. Einige verirrte Haarsträhnen lugen unter dem Rand hervor, und ich frage mich, ob sie vielleicht einen Topfschnitt will.
»Alles, was ich für 200 Kronen inklusive Mehrwertsteuer kriegen kann.« Sie nimmt den Helm ab und entblößt die fettigsten Haare, die ich jemals gesehen habe. »Eine luftige und pflegeleichte Frisur, und gerne ein paar Strähnchen im Pony. Ich habe gehört, dass man Stützhaare zurechtschneiden kann.«
Wenn heute noch jemand Stützhaare sagt, bekomme ich einen hysterischen Anfall.
»Das mit den Stützhaaren ist ein Mythos! Ich glaube, wir fangen mit einer Wäsche an«, sage ich und befestige den Frisierumhang um ihren Hals, während ich mich zugleich frage, ob der Fahrradhelm ein Himmelfahrtskommando ist und ob wir das wirklich auf uns nehmen sollen.
»Ja, aber es muss schnell gehen, mein Mann holt mich gleich ab.«
»Welches Shampoo benutzen Sie denn?« Ihre Kopfhaut ist so fettig, da stimmt doch mit dem Shampoo etwas nicht.
»Ich nehme nie Shampoo. Das ist unnötig teuer. Ich nehme immer diese Seife … Lux, ich nehme Lux als Lösung für alles. Ein guter Tipp. Den Rat kriegen Sie gratis von mir. Ich freue mich ja immer, wenn ich meinen Mitmenschen mit guten Ratschlägen und Ideen helfen kann.«
Kaum sind wir mit der Haarwäsche fertig, da hören wir vor dem Fenster ein Hupen. Auf einem Moped mit Anhänger sitzt ein wieselähnlicher Mann mit langen roten Koteletten und spitzer Nase. Er wirft Fahrradhelm einen Handkuss zu, als er sie durch die Fensterscheibe sieht, und sie reißt sich den Frisierumhang ab und stürzt zur Tür hinaus. Der Hund erhebt sich widerwillig und tapst hinterher.
»Das Schneiden erledigen wir ein andermal«, höre ich sie rufen. Dann sehe ich, wie sie dem Wieselmann einen Kuss auf den gespitzten Mund haucht. Es sieht sehr verliebt aus.
»Was war das denn?«, fragt Ricky und tritt einen Schritt in Richtung Fenster vor, und so kann er gerade noch sehen, wie sich Fahrradhelm hinten auf das Moped setzt und glücklich lächelt.
»Sieht aus wie Liebe.«
Ich staune ebenso wie er, und nach kurzem Nachdenken füge ich hinzu: »Und ich glaube, es geht hier um den Mut zum Misserfolg. Zu versuchen, zu scheitern und wieder zu versuchen. Fahrradhelm gibt nicht auf, obwohl es jedes Mal schiefgeht. Das ist eine wichtige Fähigkeit. Wenn man es hartnäckig genug versucht, dann schafft man es am Ende. Amor vincit omnia.«
»Und sie hat es ohne unsere Hilfe geschafft.« Ricky ist zutiefst beeindruckt.
Flaschenpost an einen unbekannten Geliebten
Nach der Mittagspause ist Jonna zum Färben von Pony, Wimpern und Augenbrauen angemeldet. Jonna ist Journalistin bei der Morgenzeitung und hat die schärfste Feder der Insel. Sie hat eigentlich die herrlichste Lockenpracht, von der man nur träumen kann, aber wer Locken hat, wünscht sich glatte Haare, und wer glatte Haare hat, verlangt eine Dauerwelle. Das ist fast schon ein Naturgesetz.
Jonna Bogren will düster und bedrohlich wirken, mit glatten, stufigen Haaren und gesträhntem Pony. Was dazu führt, dass sie sich Augenbrauen und Wimpern färben muss, um nicht zu seltsam auszusehen.
Bei ihrem ersten Besuch in meinem Salon hatte Jonna sich die hellen Augenbrauen abrasiert und mit Kajalstift neue ein Stück oberhalb der alten aufgemalt, so dass sie aussah wie eine immer erstaunt blickende kleine Puppe. Und das war keinesfalls das gewollte Ergebnis, also habe ich ihr geholfen, das schnell zu beheben.
Im Terminkalender steht N 5. N für Narzisstin und dann ein Herz mit einer 5. Jonna hat ein wenig dasselbe Problem wie Ricky. Ab und zu einmal Vögeln aus Gesundheitsgründen schaffen sie, eine dauerhafte Beziehung aber nicht. Rickys Rekord ist eine Woche, bei Jonna geht es nur um Stunden, ehe sie einen Mann verwirrt, und das scheint sich auch nicht zu ändern. Um ihre Einstellung dem anderen Geschlecht gegenüber zu betonen, hat sie sich ein Fuck you man auf den rechten Oberarm tätowieren lassen. Ich habe sie noch nie mit langen Ärmeln gesehen.
Ab und zu frage ich mich, wogegen sie sich so hartnäckig wehrt. Hinter den schwarz geschminkten Augen ahne ich ein verschüchtertes kleines Mädchen, das Angst davor hat, nicht gut genug zu sein und nicht geliebt zu werden. Aber das kommt nur selten zum Vorschein – meistens ist sie hart und erfüllt von ihrer eigenen Größe und bereit, allen Versagern den Tritt in die Eier zu verpassen, den sie verdienen. Und das macht es nicht so ganz leicht, für sie einen passenden Kandidaten zu finden, aber ich habe nicht vor, mich geschlagen zu geben.
Ich binde ihr den Frisierumhang um den Hals und streife Handschuhe über, während sie mir ihr Herz ausschüttet.
»Ich hab zu meinem Scheißchef gesagt: Hands off, verdammt noch mal! Hier kommt Jonna. Und weißt du, was er da gesagt hat? Er hat gesagt: Verzeihung! Verzeihung hat er gesagt. Was für ein Vollpfosten!«
Sie lacht laut und zeigt in einem phantastischen Lächeln eine Reihe perfekter weißer Zähne. »Es war die Frage, wer den Ministerpräsidenten interviewen soll, und ich habe nur gesagt: Hands off, der gehört mir. Wenn Jonna den Ministerpräsidenten interviewen will, dann interviewt sie den Ministerpräsidenten. Keine Scheißdiskussion, Mann.«
»Ich habe den Artikel gelesen«, sage ich. »Der war sehr gut geschrieben. Du hast es wirklich auf den Punkt gebracht, mit klaren Beispielen dafür, wie ungerecht es ist, wenn Großeltern, die auf dem Festland wohnen, sich nicht die Fähre leisten können, um ihre Enkelkinder zu besuchen.«
Ich war schon mehrmals von Jonnas Schreibe beeindruckt, von der Empathie, die aus ihrer Feder fließt, während sie ja zugleich auch mit Schärfe zustechen kann.
Sobald ich wusste, dass Jonna vorbeikommen würde, habe ich Männern, die eventuell zu ihr passen könnten, einen Termin zur gleichen Zeit gegeben. Einer der Männer sitzt gerade vor Ricky. Er ist vom Statistischen Zentralbüro, einer Behörde, die vor einiger Zeit auf die Insel verlegt worden ist, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der Mann heißt laut Terminkalender Petter und gehört zur Kategorie V1. Ein unkomplizierter Mann um die dreißig. Es ist Rickys Aufgabe, herauszufinden, ob er Single ist. Er trägt keinen Ring.
SZB