Das schwarze Element - Band 7 - Nicole Böhm - E-Book
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Das schwarze Element - Band 7 E-Book

Nicole Böhm

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Beschreibung

Das Finale ist da. Ein letztes Mal treten Rose & Matthew in den Kampf gegen das Nichts. »Der Tag, an dem ich gestorben bin, war der glücklichste meines Lebens. Denn an jenem Tag trat ich in eine neue Welt voller Magie. Ich wurde Teil eines uralten Geheimnisses und verschwand in euren Schatten. Ihr seht mich nicht. Aber ich sehe euch. Wir sind uns so nah. Tagein, tagaus. Und dennoch trennen uns Welten. Ich beschütze euch. Ich kämpfe für euch. Ich blute für euch. Aber manchmal genügt nicht mal das. Manchmal kann ich nur zusehen, wie euer Leben unter meinen Fingern zerrinnt. Ich bin tot, und es ist das Beste, das mir je passieren konnte.«

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel6

2. Kapitel8

3. Kapitel16

4. Kapitel25

5. Kapitel34

6. Kapitel41

7. Kapitel48

****61

8. Kapitel62

9. Kapitel70

10. Kapitel74

11. Kapitel79

12. Kapitel93

13. Kapitel106

14. Kapitel114

15. Kapitel117

16. Kapitel126

17. Kapitel134

****139

18. Kapitel140

19. Kapitel149

20. Kapitel155

21. Kapitel164

22. Kapitel168

23. Kapitel175

24. Kapitel180

****186

25. Kapitel187

26. Kapitel194

27. Kapitel198

28. Kapitel204

29. Kapitel210

30. Kapitel219

31. Kapitel229

****232

32. Kapitel233

33. Kapitel237

34. Kapitel241

35. Kapitel248

36. Kapitel255

37. Kapitel260

38. Kapitel264

39. Kapitel266

40. Kapitel273

41. Kapitel277

42. Kapitel280

43. Kapitel282

44. Kapitel287

****289

45. Kapitel290

46. Kapitel294

47. Kapitel302

48. Kapitel304

49. Kapitel309

50. Kapitel310

51. Kapitel314

52. Kapitel315

53. Kapitel319

54. Kapitel320

55. Kapitel325

56. Kapitel328

57. Kapitel336

58. Kapitel338

59. Kapitel341

Epilog346

Impressum354

Das schwarze Element

Eine Geschichte aus der Welt der Seelenwächter

Von Nicole Böhm

Das schwarze Element

Teil 7

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Rose

Ich atmete tief ein. Die pure klare Luft strömte in meinen Körper und in meine Seele. Mein Bewusstsein rauschte durch mich hindurch, meine Zellen vibrierten, mein Herz raste, und reine Energie erfüllte mein Dasein.

Ich lebte.

Und ich spürte alles.

Mein Element. Die Magie. Meine Kraft. Unendlich und uralt. Geboren vor Jahrtausenden, erschaffen, um zu schützen.

Ich war eine Seelenwächterin.

Ich war gestorben und ich war wiedergeboren.

Ich war in diesen Zyklus aus Vergehen und Auferstehen getreten. Ich kehrte ins Nichts und wurde danach alles, um erneut ins Nichts zu gelangen.

Weiter und weiter und weiter drehte sich das Rad.

Tropf.

Tropf.

Tropf.

Das Geräusch brannte sich in meine Seele. Jede Sekunde meines Daseins war es da. Jede Sekunde beherrschte es meine Gedanken.

Tropf.

Tropf.

Tropf.

Das Leben sickerte in mich mit der Beständigkeit der Jahrtausende. So viel.

Immer wieder wurde es hell und finster. In mir drin und um mich herum. Ich war in der Dunkelheit gewesen. Ich hatte gegen ein Wesen gekämpft, das aussah wie ich. Gemeinsam mit meinen Freunden hatte ich alles gegeben und war am Ende gefallen.

Oder?

War sie gefallen?

Wer von uns beiden lebte?

Wer war tot?

Wer dachte?

Wer schwieg?

Es war alles eins. Ich. Sie. Das Nichts.

Und so driftete ich weiter dahin. Lauschte dem Rauschen des Windes. Meinem Element. Meinem Leben.

Und am Ende vielleicht auch meinem Richter.

2. Kapitel

Matthew

Der salzige Wind peitschte mir ins Gesicht. Die kalte Gischt fühlte sich an wie tausend eisige Nadelstiche auf meiner Haut. Vor mir erstreckte sich das unendliche Meer, das sich in der Ferne mit dem Himmel vereinte. Die Sonne tauchte es in einen glutroten Schein, während sie langsam darin versank. Es war ein wunderschöner, magischer Abend. Das perfekte Bild für jedes Reisemagazin.

Und ich? Ich fühlte nichts dabei.

In mir regierte die Leere.

Und eine Lüge. Eine weitere gigantische Lüge, die von dieser Insel bis in die Unendlichkeit reichte.

Die Erkenntnisse der letzten Stunden rauschten durch mich. Vincents Worte, nachdem er aufgewacht war. Die Wahrheit, mit der wir konfrontiert worden waren. Meine Eltern waren nicht durch Jugendliche gestorben, sondern durch Schattendämonen. Vincent war nicht erblindet, weil ihm jemand Pfefferspray in die Augen gesprüht hatte, sondern wegen Jon. Weil dieser gegen die Regeln verstoßen hatte. Weil er etwas getan hatte, was einem Luftwächter nicht zustand: jemanden zu heilen.

Alles, um Vincent zu retten.

Auch das schwirrte ständig durch mein Hirn.

Du wärst gestorben, wenn Jon es nicht aufgehalten hätte.

Kalas Worte hämmerten gegen mein Herz und meine Seele und schmerzten mit jedem Atemzug. An jenem Tag hatte ich meine Mutter und meinen Vater verloren, und beinahe wäre es auch mein Bruder gewesen.

Wäre Jon ein ehrbarer Seelenwächter gewesen, stünde ich heute allein hier. Gleichzeitig hatte sein Verhalten Vincents Gesundheit ruiniert, und um das alles zu vertuschen, hatte er unsere Erinnerungen manipuliert.

Was wog schwerer? Was schmerzte mehr? Auf welcher Seite sollten meine Gefühle sich einpendeln?

Ich wusste es nicht, und die Gedanken darüber zerrissen mich fast. Ich hasste, was Jon getan hatte, aber ich liebte es, dass mein Bruder nach wie vor bei mir war. Ein Leben ohne ihn war schlichtweg undenkbar. Ich war mir nicht mal sicher, ob es mich heute noch gäbe, wäre er mit meinen Eltern gegangen; ob ich die Kraft gehabt hätte, alles allein zu bewältigen, was ich die letzten Jahre mit ihm erlebt hatte.

Und so stand ich hier im kitschigsten und schönsten Sonnenuntergang, den ich je gesehen hatte, vor diesem gigantischen Scherbenhaufen aus Gefühlen, Lügen und Wahrheiten, und hatte keine Ahnung, wie ich ihn je wieder zusammenfegen sollte.

Mein Herz war so schwer, meine Seele so wund. Ich war gefangen zwischen den Welten, ohne zu wissen, auf welche Seite ich gehörte. Denn über all diesen Tatsachen schwebte auch die Liebe für Rose.

Etwas, das ich weder ablegen konnte noch wollte.

Ich liebte diese Frau. Mit all meinem Sein und jeder Faser meines Körpers. Ich wollte nicht mehr ohne sie sein, ganz im Gegenteil. Am liebsten würde ich jeden Morgen mit ihr aufwachen und jede Nacht mit ihr zu Bett gehen.

Für immer.

Doch das bedeutete auch, dass ich weiter ein Teil dieser Welt bleiben musste, und das wiederum würde unweigerlich zu mehr Lügen, mehr Schmerz und viel zu viel Magie führen.

Es gab kein Richtig oder Falsch mehr für mich. Keinen guten oder schlechten Weg. Es gab nur noch Entscheidungen, die ich treffen musste, und ein Abwägen, mit welchen Konsequenzen ich eher leben konnte.

Die Sonne leuchtete ein letztes Mal auf, ehe sie endgültig ins Meer tauchte. Der Himmel färbte sich noch röter, schien all meinen Schmerz aufzunehmen und widerzuspiegeln. Ich atmete tief ein, hielt die Luft für ein paar Sekunden an und entließ sie mit einem Seufzen. Dann löste ich mich von dem Anblick und bog auf einen der zahllosen Sandwege ab, die zum Tempel führten. Ich musste zurück. Mit meinem Bruder sprechen. Sehen, ob er was brauchte.

Nachdem er die Wahrheit gehört hatte, war er rausgestürmt und ich hatte ihn gelassen, denn ich wusste, dass das eine seiner Bewältigungsstrategien war. Erst mal für sich sein, nachdenken, alles sortieren und dann handeln. Aber irgendwann mussten wir darüber reden. Es würde nicht besser werden, je länger wir warteten.

Ich war noch nicht weit gekommen, als ich jemanden am Strand sitzen sah. Vincent hockte auf einem Felsbrocken und warf kleine Steine ins Meer. Ich seufzte, bog auf den Weg, der runter zu ihm führte. Er hörte mich, blickte nur kurz auf und schleuderte den nächsten Stein in die trägen Wellen. Ich nahm neben ihm im kühlen Sand Platz und zog die Beine an.

Er sprach nicht.

Ich sprach nicht.

Für eine gefühlte Ewigkeit saßen wir einfach nur da, lauschten dem Rauschen des Meeres und beobachteten die ersten Sterne, die über uns auftauchten. Mein Bruder suchte den nächsten Stein, warf auch den, dann noch einen und noch einen, bis er keine mehr fand.

»Willst du drüber reden?«, fragte ich irgendwann.

»Ich weiß nicht.«

»Kann ich was tun?«

»Ich weiß nicht.«

Ich schloss die Augen, wünschte, ich könnte ihm die Verzweiflung und den Kummer nehmen. Wir hatten schon so viel durchgemacht. Er und ich. Zusammen und getrennt hatten wir unseren Dämonen ins Gesicht geblickt und waren durch unsere eigene Hölle gegangen. Aber was, wenn sie irgendwann zu groß für uns wurde? Was, wenn wir vorher zerbrachen?

»Ich bin so leer und wütend«, sagte er schließlich. »Gleichzeitig bin ich auch froh. Weil ich lebe und weil wir hier sind. Weil ich noch atmen und fühlen und hören kann. Ich hab sogar mein Augenlicht zurück. Etwas, das ich mir vor ein paar Jahren nicht mal hätte erträumen können, und nun, da es soweit ist, kann ich es nicht richtig genießen.«

»Siehst du denn wieder ganz normal?«

»Ja. Alles ist glasklar. Besser noch als durch die Behandlung mit dem Serum. Es brennt nicht, es schmerzt nicht, es drückt nicht. Ich bin einfach wiederhergestellt.«

»Einfach.« Nichts hiervon war einfach, das war ihm genauso klar wie mir.

Er drehte den Kopf und blickte zu mir. Ich tat es ihm nach und bekam Gänsehaut. Seine Augen waren wieder völlig normal. Genau wie vor dem Unfall. Nun war er noch mehr mein Spiegelbild als je zuvor, und dennoch könnten die Unterschiede zwischen uns nicht größer sein.

»Ein Teil von mir ist auch wütend auf dich.«

Ich hielt die Luft an. »Wegen Rose?«

Er nickte und schüttelte sofort darauf den Kopf. »Oder wegen der Seelenwächter. Weil sie durch dich in unser Leben kamen und nun diese Lüge aufgedeckt wurde. Auf der einen Seite wünsche ich mir die Unwissenheit zurück, auf der anderen tut es gut, die Wahrheit zu kennen.«

»Ich weiß genau, was du meinst. Mir geht es auch so.«

Er seufzte, blickte zurück aufs Meer und rieb sich über die Stirn. »Ich muss weg, Matt. Ich kann nicht länger hier sein.«

»Okay, wir reiten nach Chicago und …«

»Nein. Ich … ich muss allein sein.«

Ich zuckte zusammen, als hätte er mir in den Magen geboxt.

»Ich ertrage gerade gar nichts. Ich will zu … zu Amy. Ich will mit ihr darüber reden, überlegen, wie ich mit alldem umgehen soll. Ich brauche mehr Menschlichkeit um mich herum.«

Amy.

Seine Worte taten weh. Normalerweise durchschritten er und ich Krisen gemeinsam. Normalerweise war ich an seiner Seite und hielt jeden Schmerz mit ihm aus, aber was war noch normal in unserem Leben? Amy war für Vincent da gewesen in diesen letzten Monaten. Sie war da, als er das erste Mal wieder sehen konnte, weil ich im Knast saß. Sie hatte ihn festgehalten, als er gefallen war. Sie. Nicht ich.

»Ich bin …«, setzte ich an. Mein Kopf war so leer und mein Herz so voll. Die Worte tanzten durch meinen Verstand, ich wollte so viel sagen, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. »Ich liebe dich, Vincent. Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.«

»Ich weiß. Das ist umgekehrt genauso.« Er fasste sich ans Herz, atmete durch, rang sichtlich um seine Fassung. »Aber im Moment tut alles viel zu sehr weh. Ich brauch Abstand. Bedauerlicherweise auch von dir.«

»Ich verstehe.« Nein, eigentlich tat ich es nicht, aber vielleicht mussten wir diesen Zustand akzeptieren. Ich würde ihm die Zeit lassen, die er brauchte, und konnte nur hoffen, dass wir am Ende wieder wir waren.

»Es tut mir leid.«

»Muss es nicht.«

Er holte tief Luft und schien seine nächsten Worte zu sortieren. »Ich würde gern Mel mitnehmen. Das Mädchen hat viel mitgemacht und seine Mutter verloren. Wenn es ihr so wie mir nach dem Aufwachen geht, wird sie sehr verwirrt sein. Ich denke, es wäre vielleicht besser, wenn sie in einer menschlichen Umgebung aufwacht statt hier. Außerdem könnte Amy sie gleich beaufsichtigen und untersuchen. Falls sie medizinische Hilfe braucht, wäre sie in den besten Händen.«

»Das ist eine schöne Idee.« Der die anderen hoffentlich zustimmen würden.

Er nickte und verfiel wieder in Schweigen. Genau wie ich. Wir lauschten den Wellen und den Vögeln, die ihre Abendlieder zwitscherten, bis es dunkel wurde und der Himmel übersät war mit endlosen Sternen. Wie konnte etwas derart Schönes in dieser grausamen Welt bestehen? Wie konnte sich dieser Abend so magisch und wundervoll anfühlen und gleichzeitig so wehtun?

»Wie kam die Erinnerung eigentlich wieder?«, fragte ich. »Wenn du es mir erzählen willst.«

Er atmete tief durch. »Diese andere Rose hat mir irgendwas entzogen, als sie mich mitgenommen hat. Was Dunkles. Erst war es wie ein Traum. Ich kehrte zurück an jenen Tag, an dem unsere Eltern starben. Sah die Jugendlichen, die uns in der Gasse angriffen und unser Geld verlangten. Dad wollte es ihnen nicht geben. Die Erinnerung hat sich auf einmal verändert. Die Jugendlichen waren nicht mehr menschlich. Sie wurden dunkler, bedrohlicher. Alles war gefährlicher. Sie waren diese Dämonen.«

»Schattendämonen.« Mich fröstelte bei dem Gedanken daran. Noch war ich keinem dieser Wesen begegnet, zumindest nicht bewusst. Doch Rose’ Erzählungen reichten mir völlig. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es für Dad und Mom gewesen war. Dass ihre letzten Momente im Kampf gegen Dämonen stattgefunden hatten. Erfüllt von Angst und Panik. Es war kein schöner Tod, und auch das zerriss mein Herz und vergrößerte diese klaffende Wunde in meinem Inneren.

»Ja. Und sie griffen uns an. Dad zuerst, weil er uns beschützen wollte. Er ging zu Boden. Es passierte rasend schnell. Der Dämon hat eine Hand auf seine Stirn und die Brust gelegt und ihm etwas entzogen.«

»S-seine Seelenenergie.« Ich schloss die Augen und das Bild kam von allein. Dad, der am Boden lag, nachdem er für uns gekämpft hatte. Er hätte alles getan, um seine Familie zu schützen, und er hatte keine Chance.

Mich schauderte, ich senkte den Kopf, wischte mir eine Träne weg.

»Ein anderer stürzte sich auf Mom«, redete Vincent weiter und nahm mich mit in die Wahrheit. »Sie wurde auch ausgesaugt, es war so grausam. Ich …« Er schluchzte ebenfalls. »Hast du das schon mal gesehen?«

Ich biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf. »Nein. Aber Rose hat mir davon erzählt.«

»Sie gingen auch auf mich los, doch du bist dazwischengetreten, bekamst einen Schlag ab, bist an die nächste Wand geflogen.«

Ich blickte wieder zu ihm, suchte in meinem Verstand nach diesen Erinnerungen, doch sie waren nicht da. Die Lüge, die die Seelenwächter in mir hinterlassen hatten, blockierte die Wahrheit. Es fühlte sich merkwürdig an. Als wäre mir etwas entrissen worden, was zu mir gehörte. Gleichzeitig war ein Teil von mir auch dankbar, nicht noch mehr Grauen verarbeiten zu müssen. Mein Geist war bereits so voll davon.

»Sie wollten uns aussaugen, aber dann kamen die Seelenwächter, und alles versank in Blut und Grauen. Ich …« Er fasste sich an die Stirn. »Ich kann das nicht.«

»Schon gut.« Ich legte eine Hand auf sein Knie und drückte sanft zu. Er umschloss meine Finger, seine Haut fühlte sich eiskalt an. Genau wie dieses Gespräch.

Vincent seufzte leise, blickte wieder raus aufs Meer, und wir verfielen ein weiteres Mal in Schweigen.

Nur die Sterne leuchteten über uns, ansonsten herrschte absolute Dunkelheit.

3. Kapitel

Rose

Als ich aufwachte, schwebten zwei braungoldene Augen direkt vor meiner Nase. Außerdem roch es extrem nach Feuer und abgebrannter Kohle. Ich schreckte hoch, stieß mit dem Gesicht vor mir zusammen und ächzte, als der Schmerz durch meinen Schädel rauschte.

»Autsch«, rief Daniel, der nach hinten getaumelt und auf dem Boden gelandet war.

»Heilige Elemente, hast du sie noch alle?« Ich rieb mir über die pochende Stirn. »Du kannst mich doch nicht so erschrecken.«

»Wollte nur schauen, ob du wach wirst.«

»Indem du in mein Gesicht kriechst?«

»Hab dir gesagt, dass das ‘ne dumme Idee ist«, meinte Alec, der am Tisch gegenüber lehnte und die Arme vor der Brust verschränkt hielt.

Daniel keuchte und richtete sich wieder auf. »Tut mir leid. Du hast dich seit ‘ner Stunde nicht bewegt, hab dich schon ein paarmal angetippt.«

Ich schüttelte den Kopf und blickte mich um. Ich war in dem Zimmer, in dem ich zuletzt mit Matthew aufgewacht war. Nicht nur hinter meiner Stirn pochte es, meine Brust fühlte sich an, als hätte jemand mit einer heißen Klinge darin herumgestochert. Ich zog die Decke enger an mich und musste daran denken, was Matthew und ich hier getan hatten, bevor meine Welt mal wieder in tausend Trümmer zerbrochen war.

Bevor wir in der Dunkelheit kämpften und ich ohnmächtig wurde, nachdem Zac mit dem Dolch der Wiedergeburt auf meinen Zwilling losgegangen war.

Daniel zeigte auf den Nachttisch neben meinem Bett. »Willst du was trinken?«

»Ich glaube nicht.«

»Erinnerst du dich daran, was geschehen ist?«

»Ein bisschen.« Ich fasste mir ans Herz. Meine Narbe fühlte sich wulstiger an als zuvor. »Wir haben gegen meinen Zwilling gekämpft.«

»Richtig.«

Mich schauderte, während ich langsam an den Fäden meiner Erinnerungen zupfte, um die letzten Stunden zu rekonstruieren.

Die Finsternis. Der Kampf gegen meinen Zwilling, der Drang, ihm zu gehorchen und mich ihm zu ergeben, und die Liebe für Matthew, die mich jedes Mal wieder rausgezogen hat. »Sie war uns absolut überlegen und schien ihre Kräfte unseren anzupassen. Je härter wir gegen sie vorgingen, desto stärker teilte sie aus. Irgendwann gab es eine Art Explosion? Da waren sehr viel Magie und Geschrei. Mehr hab ich nicht mitbekommen.«

»Wir saßen vorhin zusammen.« Alec stieß sich vom Tisch ab und zog einen Stuhl nahe an mein Bett. »Akil hat erklärt, was euch zugestoßen ist.«

»Sind denn alle heil rausgekommen?«

Er und Daniel hielten gleichzeitig die Luft an, und diese Geste erschreckte mich fast mehr als der Kampf gegen meinen Zwilling. Ich richtete mich auf und sah meine beiden besten Freunde eindringlich an. Daniel krabbelte zurück auf die Matratze und rückte so nah, dass seine natürliche Wärme ein wenig die Kälte aus meiner Seele vertrieb.

»Was … was ist? Ist jemand … W-wer?«

Sie tauschten einen Blick aus und schienen stumm zu diskutieren, wer die schlechte Nachricht überbrachte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und in meinem Kopf entstanden die schlimmsten Horrorszenarien. »Spuckt es aus! Was ist passiert?!«

»Prue hat es nicht geschafft«, sagte Alec schließlich. »Sie ist gestorben, als sie ihre Magie entfesselt und die Dunkelheit zerstört hat.«

Ich schluckte trocken und vergaß auf einmal, wie man blinzelte oder atmete.

Prue war tot?

Die Erkenntnis und der Schmerz darüber stachen auf meiner Seele wie tausend Nadeln. Wir mochten keine Freundinnen gewesen sein, aber das hatte ich nie für sie gewollt. Sie war eine unserer fähigsten Seelenwächterinnen und dennoch gestorben?

»Sie hat sich wohl geopfert, um alle zu befreien«, sagte Daniel. »Das hat Jess zumindest erzählt.«

Ich schüttelte den Kopf, rieb mir über die Stirn und versuchte, diesem Gespräch zu folgen, aber ich konnte nicht.

»Prue hat mit ihrer Magie die Dunkelheit zerstört.« Er atmete tief und rasselnd ein und wischte sich selbst über die Augen. »Ich hab sie echt nicht gemocht, aber das ist einfach zu krass. Ich kann mir das gar nicht vorstellen.«

Ich auch nicht. Die Frau, die mich vor Kurzem noch als Monster bezeichnet und alles und jeden gegen mich aufgewiegelt hatte, war fort. Ich fuhr mir übers Herz, spürte ihren Verlust tief in meinen Zellen. Lieber hätte ich mich weitere fünfhundert Jahre lang mit ihr angelegt, als das zu erleben. Das hatte sie nicht verdient.

»Ist noch jemand …? Was ist mit Kala?« Sie und Prue waren früher Teammitglieder gewesen. »Wo ist sie?«

»Draußen«, sagte Alec. »Ihr geht es den Umständen entsprechend. Sie wollte eigentlich auch für dich da sein, hat aber selbst Zeit gebraucht, um das zu verarbeiten.«

Ich nickte und konnte es mir gar nicht vorstellen, wie das schmerzen musste. Ihr altes Team starb ihr quasi unter den Händen weg. Es musste ihre Seele zerreißen. Erst Lyla, dann Jon, jetzt Prue. Kala hatte früher mit diesen Leuten Hand in Hand gearbeitet. Sie waren ein Team - eine Familie gewesen -, so wie ich mit ihr, Alec und Daniel. Sie mochten über die Jahre Abstand voneinander genommen haben, aber dennoch blieb so eine Bindung im Herzen bestehen. »Und der Rest? Zac, Jess, Jaydee? Matthew?! Wie geht es ihm?«

Daniel und Alec tauschten einen weiteren Blick miteinander aus.

»Ich wünschte echt, ihr würdet das lassen. Ich fühl mich wie ein Kind, dem man keine schlechten Nachrichten zumuten kann.«

»Tut mir leid«, sagte Alec. »Matthew geht es … gut.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen, und die Sorge um ihn fraß sich tiefer in mein Herz. »Aber irgendwas stimmt nicht, oder?« Mein Atem kam schneller, ich schluckte trocken und hätte die beiden am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt, damit sie mir alles erzählten. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch Angst davor, es zu hören.

»Nicht direkt«, erwiderte Daniel.

»Aber indirekt schon? Ist was mit Vincent?«

»Ja. Und nein. Ich glaube, es ist besser, wenn er dir das selbst erzählt.«

»Ist er aufgewacht?«

»Ja.«

»Und?! Bei allen Elementen, lass mich doch nicht so am ausgestreckten Arm verhungern!«

»Das will ich gar nicht, aber Matthew sollte dir das erzählen. Es ist seine Geschichte, genau wie die seines Bruders.«

Ich schüttelte den Kopf und wollte vom Bett aufspringen, doch da hatte ich die Rechnung ohne meinen Körper gemacht. Meine Knie knickten ein, mir wurde schwindelig, der gesamte Raum drehte sich, und ich sah gerade noch, wie Alec nach vorn sprang und mich auffing, ehe ich fallen konnte.

»Verflucht«, zischte ich und fasste mir an die Stirn.

»Hab dich.« Er bohrte seine Fingernägel in meinen Oberarm. Vermutlich, weil er zu viel meiner Emotionen abbekam. Gleichzeitig wurde ich ruhiger. Sachte bugsierte er mich zurück aufs Bett und setzte sich neben mich.

»Ich muss ihn sehen«, sagte ich. »Weiß er, was in Washington passiert ist?«

»Noch nicht. Er ist mit Vincent auf der Insel unterwegs. Akil wollte ihn informieren.«

Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht hier herumhocken wollte.

»Hey.« Daniel rückte an mich und zog mich an seinen warmen Körper. Der Geruch nach Feuer und abgebrannter Kohle stieg mir in die Nase.

»Was passiert denn hier gerade? Ich fühl mich, als würde alles auseinanderfallen.«

»Tut es nicht«, sagte Alec. »Wir kriegen das hin.«

»Tun wir das?« Ich blickte zu ihm. Tränen sammelten sich in meinen Augen, und ich musste mich zusammenreißen, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. Wenn Matthew oder Vincent was passiert war … Wenn er gehen würde … Allein beim Gedanken daran krampfte alles in mir.

»Ich weiß, dass es gerade schwer ist, aber Matthew liebt dich. Das ist überdeutlich zu sehen, und er wird dir ganz gewiss alles erklären. Es geht ihm gut. Körperlich. Genau wie Vincent. Für den Rest bitte ich dich einfach um Geduld und Vertrauen, ja?«

»Könnt ihr mir denn wenigstens von den anderen erzählen?«

»Sie sind alle wieder hier. Bis auf Ikarius, der nach wie vor in Chicago mithilft. Anna wurde in Seattle auch von dem Sturm überrascht, aber sie konnte sich in ihrem Kraftplatz in Sicherheit bringen und es so aussitzen.«

»Was? Wie das?«

»Wissen wir alles noch nicht.«

»Es ist wirklich verrückt«, sagte Daniel. »Unser Anwesen ist nun endgültig hinüber. Da steht nichts mehr, hat Will erzählt. Nur Einöde mitten im Wald. Glaub nicht, dass wir es noch mal nutzen können.«

»Das kann doch nicht sein.« Wir hatten auch unser Anwesen verloren? Unsere Heimat? Unseren Safe-Space? Mir wurde übel, das Grauen des Ganzen drückte mich mit jedem Wort tiefer hinab. »W-was ist mit meinem Zwilling?«

»Sie hat sich danach nicht mehr gezeigt«, sagte Alec.

»Ist sie erledigt?«

Er schüttelte den Kopf. »Will glaubt es nicht. Die schwarzen Energiestrudel haben sich in Washington und Seattle aufgelöst, aber am Tempel der Wiedergeburt sind sie noch. Sie sind zwar geschrumpft, doch senden nach wie vor Energie aus. Will und einige andere Feuerwächter errichten gerade ein Eindämmungsfeld darum.«

»Und während ihr all das getan habt, hab ich geschlafen?«

»Du hast dich erholen müssen«, sagte Alec.

»Ja, hättest dich mal sehen sollen, als Akil dich aus Washington zurückgebracht hat. Du warst blutüberströmt und hast kaum noch geatmet.«

Ich schluckte trocken und fuhr über mein Herz. Die Erinnerung an meine letzten Minuten drängte sich ebenfalls nach vorn. Genau wie der Schmerz, der mich in die Bewusstlosigkeit geschickt hatte. Ich lehnte mich nach hinten an die Wand. »Es war heftig. Als Zac mit dem Dolch der Wiedergeburt auf meinen Zwilling eingestochen hat, erwischte es mich irgendwie auch.«

»Ja, dazu gibt es ein paar Theorien«, sagte Daniel. »Ich halte die für am glaubwürdigsten, dass du und Evil Rose eine Verbindung habt. Du hast sie schließlich auch mit dem Dolch erschaffen.«

Ich sah in den Becher in meiner Hand und dachte darüber nach. Dass wir eine Verbindung hatten, stand unumstritten fest. Sie hatte jedes Mal instinktiv auf mich reagiert, wusste immer, wann und wie ich zuschlagen wollte, was es mir fast unmöglich machte, gegen sie zu kämpfen. In England war das nicht so ausgeprägt gewesen. »Ich glaube, sie wird bei jedem Erscheinen mächtiger.«

»Das hat Will auch gesagt«, erwiderte Alec.

»Wenn sie das nächste Mal auftaucht …« Ich schüttelte den Kopf und rieb mir über die brennenden Augen. Dieses Wesen war zu groß für uns. Zu übermächtig. Allein der bloße Gedanke daran, ihm wieder gegenüberzutreten, zerriss mich vor Panik. Ich fing an zu zittern.

»Ganz ruhig.« Daniel schlang seine warmen Finger um meine. Ich atmete zischend ein, legte eine Hand auf mein Herz, doch ich konnte mich nicht beruhigen. Sofort kamen die Bilder aus der Finsternis zurück. Ich dachte an Matthew, an die Liebe, aber nicht mal die schien gerade zu mir durchzudringen.

Prue war tot.

Tamira war tot.

Samuel war tot.

Matthew und Vincent waren … irgendwas.

So viele andere Unschuldige waren tot. Im Trailerpark, bei Lionsgate. Die Menschen dort hatten nichts dafürgekonnt. Sie waren gestorben, weil mein Zwilling – ein Wesen, das ich erschaffen hatte – über sie hereingebrochen war und alles niedergerissen hatte. Auch unser Anwesen.

Alles fort.

Ich atmete erneut ein, doch der Kloß in mir wurde immer größer. »I-ich kann das nicht.«

»Wir sind da, Rose.« Daniel verstärkte seinen Druck, und auch Alec legte einen Arm um meine Schulter. Ich wollte ihn wegschieben, aber er ließ es nicht zu.

»Ich …« Mein Herz wummerte mir bis zum Hals, ich sah nur noch verschwommen, mein Magen krampfte, und ich wollte mich am liebsten zu einem Ball zusammenrollen und nie mehr rausgehen. »Ich hab so Angst.«

Alec verstärkte den Druck, stöhnte leise, als genau diese Angst ihn flutete. Sie flaute nur ein wenig ab. Er nahm sie mir nicht komplett, weil er wusste, dass ich da durchmusste. Dass nicht alle Emotionen abgeschaltet werden sollten. Weitere Tränen rannen über meine Wangen, und ich ließ sie kommen. Ließ alles kommen. Den Schmerz über die Verluste, die Ohnmacht, die Angst, die Schuld.

Ich hatte den Zwilling erschaffen.

Ich hatte die Verbindung zu ihr.

Ich hatte sie in diese Welt geholt.

Ich atmete ein weiteres Mal ein, heraus kam nur ein hässliches, gequältes Schluchzen.

»Wir haben dich«, flüsterte Daniel.

Ich sank tiefer in die Umarmung der beiden, ließ all die Gefühle kommen. Weil ich nicht mehr anders konnte.

Weil es rausmusste.

Weil ich nur noch aus Verzweiflung und Furcht bestand und mich erst darin auflösen musste, ehe ich mich wiederfand.

4. Kapitel

Claire atmete tief ein und aus und versuchte, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Sie hatte mittlerweile geduscht und frische Kleidung angezogen: eine Leggings, ein T-Shirt und eine Sweatjacke. Nichts, was sie normalerweise tragen würde, aber immerhin stanken die Sachen nicht mehr nach Blut und Rauch.

Auf dem Tisch an der Wand warteten zwei Sandwiches, eine Kanne Kaffee und Wasser. Irgendwer hatte sie hier abgestellt, während sie geduscht hatte. Sie wurde von den Seelenwächtern mit allem versorgt, was sie brauchte. Sie war sogar geheilt worden, und das irritierte sie zutiefst. Denn wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht, ob sie auch so handeln würde, wären die Rollen vertauscht.

Vermutlich hätte sie diese Wesen längst in ein Labor gesteckt und untersucht. Alles für die Wissenschaft. Alles für die Forschung. Das war es, was Claire stets antrieb. Ihre Neugierde und ihr Wissensdurst waren ihre Werte, aber nun musste sie diese infrage stellen und überlegen, wie weit sie damit noch gehen wollte. Oder konnte.

Sie atmete durch und lauschte dem Grummeln ihres Magens, der so verzweifelt um Nahrung bettelte. Claire rieb sich darüber, wusste nicht, was sie tun sollte. Wie sie sich jetzt verhalten musste. Was mit ihr passieren könnte.

Alles war so viel auf einmal. Sie schaffte es kaum, einen klaren Gedanken zu fassen, weil die vergangenen Eindrücke ihr Gehirn überforderten. Sie, die strukturierte, organisierte Frau. Die immer einen Plan hatte. Die immer wusste, in welche Richtung sie gehen musste. Sie war verloren.

Nicht mal ihre Rachegedanken Jaydee gegenüber fühlten sich noch richtig an. Etwas das ihr stets geholfen hatte, wenn sie an sich gezweifelt und sich gefragt hatte, warum sie das alles machte.

Nun waren da nur Leere und Schmerz und Kummer.

Sie schloss die Augen, fand aber dadurch nur noch mehr Dunkelheit. Und Scham. Über sich selbst. Über ihre Gedanken. Über ihre Taten. Über ihr Leben.

Lionsgate. Ihre Forschung. All die schrecklichen Dinge, die sie im Namen der Wissenschaft ausgeführt hatte. Sie war ein so unglaublich herzloses Biest geworden. Sie hatte so viele Grenzen der Moral überschritten. Hatte so viele unschuldige Leben ruiniert, um andere zu retten. Auch das hämmerte durch ihren Geist und ließ sie beben. Hier, auf dieser merkwürdigen magischen Insel, wurde sie mit alldem konfrontiert, was sie getan hatte.

Und es fühlte sich nicht gut an. Wenn sie zurückblickte, tat sie das nicht voller Stolz, sondern voller Ekel.

Was würden wohl ihr Mann und ihre Tochter dazu sagen, wenn sie sie jetzt sehen könnten? Claire rieb sich über die Arme und schüttelte sich. Sie wusste genau, wie Leon reagieren würde. Er würde es hassen. Jeden dunklen Weg, den sie gegangen war. Jede finstere Tat, die sie veranlasst hatte. All das Leid, das wegen ihr verursacht worden war. Er hätte sich von ihr abgewandt und wäre gegangen, denn er war kein Mann gewesen, der in der Dunkelheit leben konnte. Er hatte das Licht gebraucht und sie stets damit eingehüllt, aber mit seinem Tod hatte er es einfach ausgeschaltet.

Sie schüttelte sich, stand auf und trat zum Tisch. Dort pflückte sie eine Traube vom Teller. Statt sie zu essen, drehte sie sie in ihren Fingern, und kurz flammte die wissenschaftliche Neugierde in ihr auf. Woher nahmen die Seelenwächter ihre Lebensmittel? Wie funktionierte dieser Tempel, wenn sie keinen Strom hatten? Das Wasser war warm gewesen, ihr Zimmer wurde durch eine indirekte Beleuchtung erhellt. Aber es gab keine sichtbaren Lichtschalter oder Steckdosen.

Es klopfte an ihrer Tür und sie zuckte zusammen. Rasch legte sie die Traube weg, strich über ihre Sweatjacke und die Haare und murmelte ein leises Herein.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie erkannte, wer ihr Zimmer betrat. Sofort sprangen sämtliche Alarmglocken an. Sie sah auf den Teller. Dort lag ein kleines Messer. Es war weder spitz, noch wirkte es sehr scharf, aber sie wäre wenigstens nicht schutzlos.

»Das wirst du nicht brauchen.« Jaydee trat fast lautlos ein. »Ich will dir nichts tun.«

Sie reckte das Kinn, unsicher, ob sie ihm glauben sollte. Er schloss die Tür hinter sich, blieb aber dort stehen und musterte sie stumm. Er sah mitgenommen aus. Zwar hatte er keine offensichtlichen Wunden, doch seine Haut war blasser und seine Augen wirkten müde. Claire nahm sein Bild in sich auf, sog jedes Detail in ihr Herz und fühlte nach.

War ihr Hass gegenüber diesem Mann noch da? War dieser Schmerz, den sie gerade spürte, Zorn oder Ohnmacht oder Angst? Sie wusste es nicht, und sie war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.

Jaydee schnaubte leise und senkte den Kopf.

»W-was willst du von mir?«, fragte sie.

»Das wollte ich dich fragen.« Er sah sie an. Mit diesen merkwürdig intensiven silbergrauen Augen. Sie bohrten sich tief in ihre Seele, genau an die Stelle, wo ihr Schmerz gesessen hatte. Wo sie den Verlust ihres Mannes und ihrer Tochter spürte. Sie legte eine Hand auf ihren Brustkorb, ließ ihn zu, wollte ihn spüren und sich wieder daran festhalten, wie sie es die ganze Zeit getan hatte.

Dieser Schmerz hatte sie über Jahre definiert. Sie hatte ihm alles untergeordnet. War immer von ihm getrieben gewesen.

»Ich hab dir was genommen, hab ich recht?«, fragte er und trat einen Schritt näher.

Sie wich zum Tisch zurück, stieß gegen die Kante.

»Wen?«, hakte er nach. »Familie? Freunde?«

Sie presste die Lippen aufeinander, hätte am liebsten laut aufgeschrien, aber es kam nichts aus ihrem Mund. Nur ihr Herzschlag beschleunigte sich, und jeder Atemzug riss an dieser alten, klaffenden Wunde.

»Partner?«

Sie hielt die Luft an.

»Also ja. Ehemann? Ehefrau?«

Sie schüttelte den Kopf, rieb sich mit zitternden Fingern über die Stirn. »Warum tust du das?«

»Weil ich es wissen muss.«

»Wozu?«

Er öffnete den Mund, schloss die Augen, schien darüber nachzudenken. »Weil es falsch ist. Weil es wehtut. Weil es mein Herz zerreißt, es zu erfahren, und mich bis ins Mark erschüttert. Weil ich ein Monster bin. Weil ich mich nicht vor meinen Taten verschließen werde. Weil ich deinen Schmerz spüren möchte.«

Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals. Konnte sie das? Ihn daran teilhaben lassen? Wollte sie das? Sie war sich so unsicher. Was gestern noch deutlich in ihr gewesen war, war jetzt weg. Der Weg, der einst klar vor ihr gelegen hatte, war versperrt – und sie hatte sich verirrt.

»Sag es mir«, flüsterte er.

Sie hielt die Luft an. »Mann. Und … und Tochter.«

Jaydee zischte und zog die Augenbrauen zusammen. »Wie alt?«

»Zehn. Sie war zehn. Ihr Name war Cecilia. Mein Mann hieß Leon.«

»In welcher Stadt?«

»Phoenix.« Claire hasste es, wie dünn ihre Stimme klang. Sie stand hier vor dem Mörder ihrer Familie und empfand nichts als Erschöpfung und Überforderung.

Wie hatte es dazu kommen können? Wie war sie hierhergelangt?

Jaydee biss die Zähne fest aufeinander und kam noch einen Schritt näher. Ein Raubtier, das wusste, wie man tötete. Aber es war nicht auf Beute aus. »Ich werde bedauerlicherweise nicht ungeschehen machen können, was passiert ist, doch ich weiß, wie du dich fühlst. Wie es ist, Menschen zu verlieren, die man liebt.«

Er hielt sie weiter mit seinem bohrenden Blick fest, und Claire erkannte die Wahrheit hinter seinen Worten. In seinen Augen spiegelte sich die Trauer, die Wut, die Verzweiflung, wenn einem das Schicksal das entriss, was man liebte.

Und auf einmal sah sie sich selbst ihn ihm. Sie sah sich auf seiner Seite stehen, denn auch sie hatte Familien auseinandergerissen. Sie hatte getrennt, was nicht hätte getrennt werden dürfen.

So viel Leid. Sie beide hatten so viel Leid verursacht.

»Ich glaube, dass nichts diesen Schmerz je auslöschen kann.« Er fasste an seinen Gürtel und zog ein Messer heraus. Ein langes und scharfes. Claire zuckte zusammen, blickte auf das Küchenmesser, das hinter ihr lag und gegen seins wie ein Spielzeug wirkte.

»Ganz ruhig.« Jaydee drehte es mit dem Griff voran und reichte es ihr.

»Was …?«

»Du kannst es versuchen.«

»Was versuchen?«

»Du wolltest mich in diesem Bungalow leiden lassen. Mir den Schmerz antun, den du ertragen musstest. Mir das Herz herausschneiden und mich langsam ausbluten lassen. Oder etwa nicht?«

Alles in ihr gefror zu Eis. Ja, das hatte sie gewollt. Ja, das hatte sie angetrieben. Über die Jahre hinweg. Über ihre Moral hinweg. Über all den Schmerz und den Kummer hinweg. Doch es hatte ihr keinen Frieden gebracht.

Noch nicht.

Er kam näher, griff vorsichtig nach ihrer Hand und legte das Messer hinein. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut, meinte sogar das Pochen seines Herzens zu hören, aber vermutlich war es nur ihr eigenes. Claire atmete zitternd ein, umschloss den Dolch fester, doch sie bebte zu sehr. Jaydee half ihr auch dabei, er führte die Klinge höher, bis an seinen Hals, wo er sie direkt an seiner Kehle ansetzte.

»Jetzt hast du die Gelegenheit.« Seine Stimme klang erstaunlich ruhig. »Lass mich bluten. Nimm deine Rache, wenn du denkst, dass sie dich heilen wird.«

»Aber du …« Claire wurde schwindelig. Sie hatte mit vielem gerechnet, doch nicht damit.

Nicht so.

Nicht hier.

Ihr schwirrte der Schädel, sie musste blinzeln, weil sie plötzlich nicht mehr klarsehen konnte.

Was, wenn sie zustach?

Was, wenn sie es nicht tat?

Ein Teil von ihr wollte es. So sehr. Ein Teil von ihr wollte auch sich selbst richten. Weil sie es genauso verdient hatte wie er. Sie könnte erst ihn töten, dann sich. Sie würden beide ausbluten. In dem Leid, das sie verursacht hatten.

»Ich habe deine Familie getötet«, sagte er.

»Ja.«

Er schloss die Augen, drehte sich, sodass die Klinge seine Haut verletzte. Das erste Blut floss. Es rann seinen Hals hinab, er wischte es nicht weg.

»Ich habe alles zerstört.«

Claire atmete rasselnd ein. Dachte an ihren Mann, ihre Tochter, das Chaos von damals. Sie spürte ihre eigene Angst. Sie roch den Rauch und das Blut und all die Zerstörung.

Er war es.

Er hatte es getan.

Und nun stand er vor ihr, gab ihr die Gelegenheit, nach der sie sich seit über einem Jahrzehnt sehnte.

Töte den Schuldigen. Nimm dir, was dir entrissen wurde.

Claire keuchte. Ein klägliches Wimmern kam über ihre Lippen, weil sie sich so hilflos fühlte. Genau wie damals in Phoenix, als sie voller Verzweiflung ihre Familie gesucht hatte.

Sie schloss die Augen, hörte die Stimme ihres Mannes und ihrer Tochter. Die letzte Nachricht, die sie ihr geschickt hatten. Sie kannte jedes Wort auswendig.

»Hey, Schönheit, wie geht es dir? Ich wollt dir nur Bescheid geben, dass Lia und ich gerade auf dem Weg nach Hause sind … Falls du Wünsche hast, lass es mich wissen.«

»Eiscreme! Heute ist Rapunzel dran. Dad muss mitsingen.«

»Das will niemand hören, Spatz.«

»Doch! Mami! Und ich.«

»Ich lieb dich und freu mich auf den Abend mit dir.«

»Ich lieb dich auch!«

»Was macht denn der Kerl mitten auf der Straße? Scheiße!

»Daddy!«

»Halt dich fest, Spatz! Ist alles in Ordnung, Lia?«

»J-ja.«

»Bleib sitzen, ich hol dich raus. Es ist alles gut. Ich hab dich.«

Tränen rannen über ihre Wange. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Die Worte hämmerten gegen ihre Seele, rissen alles in ihr entzwei. Es war zu viel. Einfach viel zu viel, als dass sie es nur eine Sekunde länger aushalten konnte.

Ich hab dich. Ich lieb dich. Halt dich fest.

Sie schluchzte erneut, rang um Atem und um Halt, der aber nicht da war. Claire fiel und fiel und fiel seit Jahren in diesen Abgrund, der einfach nicht enden wollte.

Ich hab dich. Ich lieb dich. Halt dich fest.

»H-halt mich fest«, flüsterte sie und schnappte nach Luft. »Halt mich fest. Halt mich fest. Halt mich …«

Das Messer sank hinab. Starke Arme umschlossen sie, zogen sie in Wärme und Geborgenheit, die sie seit jenem Tag nicht mehr gespürt hatte.

Sie hatte verlernt, wie es sich anfühlte.

Sie hatte verlernt, was Schwäche war.

Sie hatte verlernt, was Liebe war.

»Halt mich …«, stammelte sie wieder und wieder und wieder.

Und Jaydee tat genau das. Er hielt sie. Er atmete mit ihr. Er trat mit ihr in den Schmerz, den er verursacht hatte, und er teilte ihre Verzweiflung.

Claire riss ihn an sich, zog ihn mit in ihre Finsternis und entließ alles, was sie innerlich zerfraß. Die Tränen flossen ungehindert. Ihr Körper wurde von so heftigen Schluchzern erfasst, wie sie sie noch nie gespürt hatte. Ihr Herz schien zu explodieren, überzuquellen von dem Schmerz der Jahre und daran zu zerbrechen.

»Ich hab dich«, flüsterte er.

Und sie ließ los.

5. Kapitel

Rose

Irgendwann hatte ich mich ausgeweint.

Irgendwann war meine Kehle trocken und mein Herz leichter.

Irgendwann fühlte ich mich wieder in der Lage, mich dem zu stellen, was mich draußen erwartete.

Ich richtete mich auf, löste mich aus der Umarmung meines Teams und rieb mir mit dem Handrücken über die Nase und die Augen, die sich vom Weinen geschwollen anfühlten. An meiner Haut haftete der Geruch nach Feuer und Wasser. Nach Alec und Daniel und all der Liebe, die wir miteinander teilten.

Ich hatte nach wie vor Angst, wenn ich an meinen Zwilling dachte, aber sie war nicht mehr so niederdrückend oder lähmend. Weil mir meine beiden Teammitglieder neue Kraft gegeben hatten. Weil ich wusste, dass wir alles mobilisieren würden, was wir konnten, und uns gemeinsam jeder Gefahr stellten.

So lange, wie wir mussten.

So lange, bis entweder die Finsternis verschwand oder wir in ihr zergingen.

»Magst du jetzt was trinken?« Alec rückte von mir ab und deutete auf das Wasser. Ein harter Ausdruck lag in seinem Gesicht. Er hatte sichtlich Mühe, mit all den Emotionen umzugehen, die er soeben aufgenommen hatte, aber wie immer würde er seinen Weg finden, sie loszuwerden.

Ich nickte, er goss mir ein, und ich leerte den Becher in einem Zug. »Ich will zu Matthew.«

»Fühlst du dich fit genug?«, fragte Daniel und rückte von mir ab.

»Ich glaub schon.« Ich rutschte zur Bettkante und richtete mich vorsichtig auf. Meine Beine fühlten sich noch ein bisschen wackelig an und mir war schwindelig, aber es war nicht mehr so schlimm. »Was denkt ihr, wo er ist?«

»Wie gesagt, war er vorhin draußen.« Auch Alec erhob sich. »Du kannst ja deine Sinne nach ihm ausdehnen und ihn suchen.«

»Ja. Mal sehen.« Irgendwie verwendete ich meine Fähigkeiten nicht gern, wenn es um Matthew ging. Vermutlich weil ich wusste, dass er das nicht mochte. Aber die Insel war auch nicht so groß. Ich würde ihn schon finden. Vorsichtig machte ich den ersten Schritt, dann den nächsten und den nächsten. Langsam kehrte das Leben in meine Glieder zurück. Ich atmete durch und lächelte Alec und Daniel an.

»Danke für alles.«

»Jederzeit, Rose«, erwiderte Alec.

»Was …«, setzte ich an, doch da hörte ich hektische Schritte auf dem Flur, die auf dieses Zimmer zukamen. Kurz darauf flog die Tür auf und Matthew stand im Rahmen.

Er atmete schwer, seine Haut war blass, seine Wangen waren eingefallen, seine Augen wirkten unglaublich müde und abgekämpft. Ich hielt die Luft an, mein Herz zog sich zusammen.

»Rose! Akil hat mir eben erklärt, was passiert ist …« Er trat näher. »Bist du okay?«

»Ja.«

Er seufzte tief und kehlig, machte noch einen Schritt, und dann lag ich schon in seinen Armen. Ich schlang meine ebenfalls um ihn, drückte ihn fester an mich, bis er leise keuchte. Er hüllte mich in den Mantel aus Geborgenheit und Liebe.

Er war mein Licht.

Nicht nur vorhin in der Finsternis, sondern hier und jetzt und in meinem Leben. Wir gehörten zusammen. Früher. Heute. Und morgen ganz sicher auch. Ich atmete ihn ein, hielt ihn, bis das Pochen meiner Narbe aufhörte und das Drücken in meinen Eingeweiden verschwand. Er klammerte sich ebenso an mich, schluchzte leise gegen meinen Hals und bebte bei jedem Atemzug.

Ich fuhr über seinen Nacken in seine Haare, vergrub meine Finger darin und schloss die Augen. Ich brauchte diesen Mann so sehr. Ich begehrte ihn. Ich liebte ihn. Mit jeder Faser meines Seins. Mit all der Kraft meines Elementes und meiner Menschlichkeit.

Jemand räusperte sich neben uns. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Alec Daniel am Arm zog und nach draußen führte. »Wir lassen euch wohl besser allein.«

Daniel grinste uns breit an und zwinkerte mir zu. Ich erwiderte das Lächeln nur kurz, vergrub sofort wieder meine Nase an Matthews Hals und lauschte dem Klicken der Tür.

Seine Hände glitten meinen Rücken auf und ab, er umschlang mich noch fester, schluchzte weiter gegen meine Haut. Sein gesamter Körper bebte und stand unter so viel Spannung, dass er jeden Moment zu platzen schien.

Mir fiel wieder ein, was Alec und Daniel vorhin gesagt hatten. Dass etwas mit Vincent passiert war und sie es mir nicht erzählen konnten. Mein Herz krampfte, denn ich ertrug nicht, was er gerade durchmachen musste. Was er wegen uns erduldete. All den Schmerz, die Sorge, die Gefahr.

»Ich liebe dich«, flüsterte er mit kratziger Stimme.

»Ich dich auch. So sehr.«

Er löste sich ein Stück von mir, aber nur so weit, dass er mich ansehen konnte. Tränen rannen über seine Wangen. Seine Augen waren gerötet. Da lagen so viele Gefühle verborgen. Verwirrung, Unsicherheit, Liebe – und vielleicht sogar Zorn?

War er wütend? Auf mich? Auf uns?

»Matthew.« Meine Stimme klang leise und brüchig. »Was ist passiert?«

Er atmete geräuschvoll ein und schloss die Augen. Sein Schweigen schnitt tiefer in mein Herz als der Dolch, den Zac in meinen Zwilling gerammt hatte. Meine gesamte Seele brannte vor Sehnsucht nach diesem Mann. Ich wollte all diesen Schmerz von ihm nehmen. Ihn vor allen Gefahren schützen, ihn in dieser Wärme halten und alles andere aussperren.

»Alec und Daniel meinten, dass etwas mit Vincent ist«, tastete ich mich vorsichtig voran.