Das schwarze Sakrament - Dennis Vlaminck - E-Book

Das schwarze Sakrament E-Book

Dennis Vlaminck

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Beschreibung

Das Rheinland im Jahr 1248: In einer Kirche in den Wäldern vor Köln werden die Leichen von 26 Frauen, Männern und Kindern gefunden, alle ohne äußere Verletzungen. Schnell geistert ein Gerücht durchs Land: Drei erst vor Kurzem ertrunkene Kinder sollen als Untote, Neuntöter genannt, ihre Familien umgebracht haben. Im Auftrag des Kölner Erzbischofs kehrt Büttel Konstantin in seine Heimat zurück, um den mysteriösen Fall zu lösen.

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Dennis Vlaminck wurde 1970 in Jülich geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften, war mehrere Jahre Nachrichtenredakteur und arbeitet heute als freier Journalist und Autor.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv:©frozenstarro/Privatarchiv Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-752-9 Ein Krimi aus dem Mittelalter Originalausgabe

Für Mönger

Erstes Buch

Thommes

Einen halben Tagesritt von Köln, 1.Mai 1248, Walpurgistag

Evgen fand ihren toten Bruder, als sie die Schafe zum Wasser führte. Sie sah ihn schon von der Anhöhe durch das Wäldchen und durchs Schilf. Er trieb auf dem Rücken im Weiher, die Arme ausgebreitet, die offenen Augen in den Himmel gerichtet. Thommes war nackt, so wie immer, wenn er in den Weiher gegangen war. Er war ertrunken. Sie spürte es, nein wusste es. Evgen blieb stehen, machte ein paar Schritte, zögerlich, stolpernd, taumelnd, blieb wieder stehen. Fast knickten ihr die Beine weg. Doch sie hielt sich. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, lief sie los, durch den Hain, hinunter zum Weiher. Die Schafe folgten ihr, angetrieben von Garm, dem Hütehund mit dem kirschblütenweißen Fell.

Am Ufersaum verharrte Evgen, zwischen Binsengras und Rohrkolben. Das Wasser. Sie wagte nicht, einen Fuß hineinzusetzen. Sie konnte nicht schwimmen. Und– hier am Ufer endete das Reich der Menschen. Evgen sah hinaus auf den Weiher. Die sanften Wellen ließen das rote Licht der Abendsonne auf Thommes' Körper tanzen. Evgen war traurig und wütend zugleich. Sie hatte ihren kleinen Bruder immer wieder beschworen, nicht ins Wasser zu gehen, die Wassergeister nicht zu stören, ihren Zorn nicht zu wecken. Er hatte sie nur ausgelacht. Es ist doch schon so heiß in diesem Frühling, hatte er gerufen, wer wolle denn da nicht ins Wasser gehen? Und dann war er wieder zum Weiher gelaufen und kopfüber hineingesprungen, hatte dort Dinge gemacht, die er besser nicht gemacht hätte. Thommes war anders als sie. Vielleicht hatten die Leute ja doch recht. Vielleicht war Thommes ja sogar ganz anders als alle.

Evgen spürte, wie ihre Beine nun doch nachgaben, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, sich gerade zu halten. Sie fühlte, wie sie auf die Knie sank und sich ihre Finger ins Gras krallten. Der Tod hatte Thommes viel zu früh ereilt. Er war doch erst sieben Sommer alt, nur drei Jahre jünger als sie. Ihre Brust bebte, ihr Atem ging schnell. Evgen zwang sich, langsam Luft zu holen.

Sie hörte, wie die Schafe rechts und links von ihr zu trinken begannen. Sie tranken vom Wasser, in dem Thommes sein Leben gelassen hatte. Sie tranken sein Leben. Nein, sie durfte ihn dort nicht lassen. Nicht im Reich der Geister. Sie stand auf, hob ihr Kleid und setzte einen Fuß nach dem anderen in den Weiher. Sie spürte, wie sich ihr Kleid mit Wasser vollsog, erst nur am Saum, dann bis zu den Knien, dann hinauf bis zur Hüfte, bis zum Nabel.

»Heiliger Irmundus, bitte mach, dass er nicht zu weit draußen schwimmt. Bitte mach, dass ich dort noch stehen kann. Bitte beschütze mich vor den Geistern.«

Mit jedem Schritt in den kleinen See kam sie schwerer voran. Als würde der Weiher sie aufhalten wollen. Mit jedem Schritt wuchs die Angst vor dem Wasser, das sie nicht tragen würde. Wuchs die Angst, hinabgezogen zu werden. Die Angst vor dem, was in dem Weiher war und ihrem Bruder das Leben genommen hatte. Sie hörte hinter sich ein Knurren. Das musste Garm sein.

Wasserpflanzen strichen wie Finger um Evgens Beine, griffen nach ihr, fassten sanft ihre Schenkel und Knie. Ihre Füße fanden nur schwer Halt auf dem schlammigen Boden. Evgen stolperte über einen Stein und kippte fast vornüber, doch sie ruderte mit den Armen und fing sich. Von dem Ruck wallte ihr Kleid im Wasser auf. Evgen erschrak. Es fühlte sich an, als erwachte ihr Gewand zu Leben. Als wollte es seine Trägerin umgreifen, hinabzerren auf den Grund. Evgen streckte die Hände aus und drückte den nassträgen Stoff wieder nach unten. Sie spürte, wie sich die Angst in ihrer Brust ausbreitete, wie sie gegen ihre Kehle drückte. Evgen atmete gegen ihr wild pochendes Herz an. Sie richtete den Blick nach vorn, auf ihren Bruder. Es war nur noch ein kurzes Stück bis zu Thommes' Leichnam. Hinter ihr begannen die Schafe zu blöken. Garm knurrte wieder, dunkel, aus tiefer Brust. Dann bellte er. Bestimmt hatte er Angst um sie.

Schritt für Schritt wagte sie sich vor. Das Wasser reichte ihr nun bis zur Brust. Als sie die Hand nach dem Arm ihres Bruders ausstreckte, bemerkte sie, wie sie zitterte. Evgen hatte gehofft, Thommes sähe friedlich aus. Wenigstens nicht bekümmert, nicht trostlos im Angesicht des Todes. Doch Thommes war elend ertrunken. Seine Züge waren verzerrt, seine Hände in Krämpfen versteift. Evgen fasste ihn vorsichtig und zog ihn zu sich. Mit einer Hand hielt sie ihn, mit der anderen schloss sie seine Augen. Sie hörte Garm bellen, sah ihren Hund aber nicht. Er musste hinter den Schafen stehen, die sich ängstlich zusammendrängten.

»Ach, Thommes, warum nur, warum?«

Evgen schob ihren Bruder vor sich her, zurück zum Ufer. Er schwamm auf dem Weiher wie ein großes, totes Stück Holz. Immer wieder sah Evgen zurück, ob ihr auch nichts und niemand folgte. Je näher sie dem Ufer kam, je seichter das Wasser wurde, desto schneller ging Evgen.

Kurz bevor sie den Ufersaum erreichte, entdeckte Evgen die beiden anderen Kinder. Sie lagen bäuchlings im Schilf, dort, wo das Wasser nur noch knöchelhoch war. Das mussten Laurenz und Klärchen sein, Thommes' Freunde. Sie waren so nackt wie Thommes. Sie waren so tot wie Thommes. Lieber Gott im Himmel, hilf!, dachte Evgen. Die Wassergeister mussten sehr zornig sein. Tränen stiegen ihr in die Augen und trübten ihren Blick.

War da ein Geräusch? Sie fuhr herum und schaute wieder auf den Weiher hinaus. Ihr Herz schlug so stark, als wollte es ihr aus dem Hals springen. Nein, da war nichts. Evgen hob Thommes halb ans Ufer, stieg aus dem Wasser und zog ihn ganz heraus. Dann schaffte sie auch die Leichen von Klärchen und Laurenz an Land. Garm bellte noch immer. Er bellte und bellte, als wollte er sein Innerstes nach außen kehren. Die Schafe drängten sich um Evgen und die drei Toten.

Thommes' Kleider und die seiner Freunde lagen gleich neben den Leichen auf dem Stamm einer umgestürzten Weide, dort, wo er sie immer ablegte. Evgen nahm sie und bedeckte die Kinder. Außer seinen Kleidern fand sie nichts, auch Thommes' Messer nicht. Nichts, was sie den Wassergeistern geben konnte, um sie zu besänftigen. Evgen griff in ihren Lederbeutel und zog ihre Knochenpfeife hervor. Es war das Kostbarste, das sie besaß. Sie nahm ein Stück Holz, setzte es aufs Wasser und legte die Pfeife darauf. Dann schob sie ihre Opfergabe sacht hinaus auf den Weiher und flehte die Wassergeister um Vergebung für die Taten ihres Bruders und seiner Freunde an.

Evgen wischte sich Tränen von den Wangen und wandte sich um. Ihr nasses Kleid hing schwer an ihr. Garm hatte sich immer noch nicht beruhigt. Nun erst entdeckte sie ihn. Er hatte die Schafe, die unruhig hin und her trippelten, hinter sich geschart und sah hinauf zur Anhöhe, mit gebleckten Zähnen, die Nackenhaare waren aufgestellt. Evgen folgte seinem Blick. Dort oben, dort, wo sie eben noch gestanden hatte, saß ein Wolf. Er hatte ein dunkles, fast schwarzes Fell. Er saß einfach nur da und sah auf sie herab, auf Garm, die Schafe, auf Evgen, den toten Thommes und die anderen Kinder. Er rührte sich selbst dann nicht, als Garm ein paar Schritte auf ihn zustürmte und keifte, dass der Geifer von den Lefzen troff. Seine Ohren waren aufgerichtet, seine Augen verfolgten, was am Weiher geschah.

Evgen ließ sich auf die Knie fallen. Ihre Großmutter hatte so oft erzählt, dass die Seelen der Toten die Gestalt von Tieren annehmen konnten, dass sie als Sturmvögel durch die Lüfte zogen oder als Hunde zurückkehrten. Oder als Wölfe.

»Thommes?«

Der Wolf bewegte leicht den Kopf und sah sie an. Ein Ohr zuckte kurz. Ein Wink? Oder wollte der Wolf nur eine lästige Fliege loswerden?

»Thommes? Bist du das?«

Garm gab Ruhe und legte sich hin. Auch die Schafe verharrten und sahen zur Anhöhe hinauf. Der Wolf hielt Evgens Blick stand. Seine Augen strahlten Ruhe aus, sie wirkten wissend, allsehend. Des Wolfs Blick traf Evgens Innerstes. Konnten das Thommes' Augen sein?

»Ysengrim, treib kein Spiel mit mir. Hier liegt mein toter Bruder, und mein Herz weint. Bist du nur ein Wolf, dann geh. Meine Schafe fürchten sich, und ich muss mich um meinen Bruder und seine Freunde kümmern. Bist du aber mein Thommes, so gib mir ein Zeichen. Ich bitte dich.«

Der Wolf regte sich nicht. Die tief stehende Sonne verlieh seinem dunklen Fell einen seltsam roten Glanz. Obwohl er ganz still saß, sah es wegen des Schimmers doch so aus, als bewegte er sich.

»Thommes?«

Einen Augenblick lang kam es Evgen vor, als bliebe die Zeit stehen. Sie hörte keinen Vogel, spürte keinen Windhauch und fühlte die Nässe des Wassers nicht mehr auf ihrer Haut. Garm und die Schafe rührten sich nicht, und über allem thronte der Wolf. Er hatte sie alle mit seinem Blick versteinert.

Evgen wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich der Wolf erhob. Er wandte sich um und trabte leichten Fußes durch das Wäldchen davon. Kurz bevor er hinter der Anhöhe verschwand, drehte er sich noch einmal um. Seine Augen fanden wieder Evgens.

»Thommes?«

Dann verschwand der Wolf.

»Thommes…«

Der Auftrag

Woran ich mich erinnere? Nun, wenn ich an jene unheilvollen Frühjahrstage zurückdenke, kommt mir zunächst die raue Hand in den Sinn, diese grobe, harte Hand. Jedenfalls ist sie in meiner Erinnerung rau. Sie riss mich hoch, mein Kopf wurde in den Nacken geworfen, und der Schmerz war so heftig, dass ich unvermittelt aufwachte. Ich spürte das wilde Pumpen meines Herzens und blinzelte in das grelle Licht einer Fackel. Mein Hals war im Schlaf ganz ausgetrocknet, und beim Versuch zu schlucken musste ich heftig husten.

»Was…?«, stammelte ich.

Die Hand ließ mich los. »Herr, wacht endlich auf, wir müssen gehen.«

»Was… wohin? Was ist geschehen?«

Im flackernden Fackellicht sah ich das Gesicht eines Mannes, kantig, mit Lederhaut. Es kam mir bekannt vor. Aber woher?

»Seid Ihr Konstantin, den man den Kneifer nennt?«

»Ja… Wer seid Ihr?«

»Ihr müsst mir folgen. Auf der Stelle.«

Mit der Linken rieb ich mir den Schlaf aus den Augen, meine Rechte tastete nach meinem Schwert, das ich stets neben mein Lager legte.

»Gebt Euch keine Mühe. Ich habe Eure Waffe an mich genommen. Zu meiner Sicherheit. Und zu Eurer.«

Ich setzte mich auf und sah mich um. Ich war daheim. Mein Schwert lag hinter dem Eindringling. Es musste tiefste Nacht sein. Durch das offene Fenster drang kein Lichtstrahl und auch kein Geräusch von der Straße. Köln schlief. Ich nicht mehr.

»Wie seid Ihr hier hereingelangt? Und was wollt Ihr? Warum nehmt Ihr mein Schwert?«

Der Mann hob die Waffe auf und drückte sie mir in die Hand. »Ich hab es nur kurz beiseitegelegt, damit Ihr nicht auf dumme Gedanken kommt, schlaftrunken, wie Ihr seid. Und nun los. Der Erzbischof will Euch sehen. Jetzt.«

»Um diese Zeit?«

»Um diese Zeit. Wenn es Euch nicht passt, dann sagt es ihm selbst. Kommt schon. Kommt, kommt, kommt.«

Der Erzbischof. Endlich ordneten sich meine wirren Gedanken ein wenig. Irgendetwas musste geschehen sein. Erzbischof Konrad von Hochstaden war streng genommen mein Dienstherr. Ihm oblag die Blutgerichtsbarkeit in der Stadt, doch weil der Erzbischof als Geistlicher keine Strafen an Hals und Hand verhängen durfte, war diese Aufgabe schon vor langer Zeit dem Burggrafen übergeben worden. Was aber war so wichtig, dass nicht der Burggraf, sondern Konrad selbst nach einem Büttel schicken ließ, noch dazu mitten in der Nacht?

Ich erhob mich von meinem Strohsack und brauchte einen Augenblick, bis ich fest auf beiden Füßen stand. Nun erkannte ich auch meinen ungebetenen Besucher. Er gehörte zur Wachmannschaft des erzbischöflichen Palastes.

»Packt ein, was Ihr an Habseligkeiten in den nächsten Wochen benötigt.«

»Was?«

»Ihr werdet so schnell nicht in Euer Haus zurückkehren. Also packt. Das ist mein wohlgemeinter Rat.«

Ich stellte keine Fragen mehr. Je wacher ich wurde, desto klarer wurde mir, wie ernst die Lage sein musste. Ich nahm meine Satteltasche und packte ein, was ich für eine Reise brauchte. Auch zu meiner Amtstracht griff ich, dem rot-schwarzen Surkot.

»Lasst den Fetzen hier. Ihr werdet ihn dort, wo Ihr hingeht, sicher nicht nötig haben.«

Ein ungutes Gefühl, eine schlimme Vorahnung machte sich breit in mir, genährt nicht nur von dem, was der Bote des Erzbischofs sagte, sondern auch davon, wie er es sagte. Dann warf ich mir die Satteltasche über die Schulter und trat mit dem Mann vor die Tür.

Von meinem Haus in der Stolkgasse bis zum Palast des Erzbischofs war es nur ein Katzensprung. Es war immer noch warm, die Nachtluft jedoch schon frisch genug, um meinen Kopf freizufegen. Stille und Dunkelheit beherrschten die Gassen der Stadt, aber nicht völlige Dunkelheit. Der Mond war fast voll und spendete genug Licht, um zügig voranzukommen. Der Bote eilte mit der Fackel voran, ich folgte ihm auf dem Fuß. Der Tag, der in wenigen Stunden anbrechen würde, war der Feiertag des heiligen Apostels Matthias, der 14.Mai im Jahr des Herrn 1248.

Als wir auf den Domhof kamen, stieg mir Brandgeruch in die Nase. Auch wenn das Unglück nun schon zwei Wochen zurücklag, schwebte der Atem des großen Feuers noch in der Luft. Der Versuch, einen Teil des alten Doms niederzulegen, um Platz für den neuen zu schaffen, hatte in einem Inferno geendet. Die Flammen hatten nicht nur, wie es eigentlich geplant war, die Stützbalken in den eigens gegrabenen Stollen unter dem Marienchor gefressen, sondern waren übergesprungen auf die gesamte Kirche, hatten sich an ihr gelabt, bis das bleierne Dach geschmolzen und in einem glühenden Regen auf den Marmorboden herabgerauscht war. Von der jahrhundertealten Kathedrale waren nur Ruinen geblieben. Ruinen, auf denen bald eine neue Herrlichkeit zu Ehren Gottes zu sehen sein würde.

Andere hätten in dem alles verzehrenden Feuer einen Fingerzeig Gottes gesehen, eine Mahnung, dass die hochfliegenden Pläne der Kölner, eine Kathedrale im neuen Stil zu bauen, dem Herrn missfielen. Doch Erzbischof Konrad hatte die Schmach der Kölner umgedeutet. Die Zerstörung der alten Kirche zeige doch nur, dass es dem Herrn nicht schnell genug gehe, hatte Konrad der Stadt verkündet. Nur flott fort mit dem alten Tand, nur schnell her mit der neuen Pracht! Und die Kölner waren dieser Deutung gern gefolgt. Warum sich selbst geißeln, wenn man sich doch auch zu Gottes Günstlingen zählen durfte?

Gottes Günstling. Das war ich sicher nicht. Als ich durch die Ruinen der Kirche schritt, durch schwarze Asche und über zerplatzte Steine, fühlte ich mich, als stiege ich auf direktem Weg in die Hölle hinab. Mauerreste griffen rechts und links von mir in die Nacht, als wären sie beinerne Finger. Im flackernden Licht der Fackel schienen sich die Ruinen zu bewegen. Als winkten mir knochige Hände hinterher.

Hatte ich mir etwas zuschulden kommen lassen? Nein, da war nichts, woraus man mir einen Strick drehen konnte. Versuchte jemand, mir etwas anzuhängen? Hatte jemand ein falsches Zeugnis abgelegt, um eine lästige Spürnase loszuwerden? Ich war Diener der Gewaltrichter. Ich hatte schon viele Langfinger, Schlitzohren und Beutelschneider den Richtern übergeben, sie alle wünschten mir sicher das Antoniusfeuer oder eine andere Seuche an den Hals. Aber was galt schon deren Wort gegen meins?

»Könnt Ihr mir sagen, worum es sich handelt?«, fragte ich.

Der Bote, der schnellen Schrittes vorneweg ging, blickte über die Schulter. »Was der Erzbischof Euch mitzuteilen hat, wird er schon selbst sagen. Meine Aufgabe ist es nicht. Eilt Euch. Dann erfahrt Ihr es früher.«

Wir überquerten den Domhof und kamen an den erzbischöflichen Palast. Nun, da der Dom nur noch ein Haufen aus gebrochenen Steinen, geborstenen Balken und geschmolzenem Blei war, erschien Konrads Haus noch mächtiger. Der Palast war trutzig wie eine Burg, drei Stockwerke hoch und an die hundert Schritte breit. Die vielen kleinen Bogenfenster kamen mir wie argwöhnische schwarze Augen vor, die jeden Besucher vor seinem Eintritt prüften.

Der Bote klopfte dreimal kurz und zweimal mit langem Abstand an die Hauptpforte, die sofort aufschwang. Die Wachen erwarteten uns offenbar bereits. Ein kurzes Nicken des Wachmanns, der hinter der Tür wartete, dann traten wir hinein. Der Bote löschte seine Fackel in einem Wasserbottich und ließ sich vom Wachmann ein Öllicht geben. Ich folgte dem Mann und dem schwachen Licht. Wir passierten zwei kleinere Räume und kamen an eine doppelflügelige Tür, die so hoch war, dass ein Mann bequem auf einem Pferd hätte hindurchreiten können. Ich wusste zwar nicht, was sich dahinter verbarg, aber ich ahnte es. Hinter der Tür musste die große Halle des Palasts liegen, die sich über zwei Stockwerke erstreckte und der Residenz des Erzbischofs den Namen gab. Die Kölner nannten sie wegen dieses riesigen Raumes nur den »Saal«. Würde Konrad mich etwa hier empfangen, im Herzen seiner Macht?

Der Bote schien meine Gedanken zu erraten. »Keine Sorge, Konstantin, so wichtig seid Ihr nicht. Es ist der kürzeste Weg, daher.«

Der Saal war leer und dunkel. Die kleine Öllampe des Boten warf gerade genug Licht, dass ich die riesigen Teppiche erkennen konnte, die an den Wänden hingen, und am gegenüberliegenden Kopf der Halle den steinernen Thron, der Konrad bei Prozessen, Empfängen und Festen über die Anwesenden erhob. Die hohe Decke konnte ich nur erahnen. Alles in diesem Saal diente dazu, den Besucher klein wirken zu lassen. Ihn vor dem Hausherrn zu erniedrigen.

Unsere Schritte hallten in der Stille seltsam laut wider. Wir liefen am Thron vorbei und verließen den Saal durch eine dahinterliegende Tür. Von nun an ging es aufwärts, zunächst über eine breite Treppe, ab dem nächsten Stockwerk dann nur noch über schmale Stufen. Als ich glaubte, unter dem Dach angekommen zu sein, stieß der Bote eine weitere Tür auf. Eine enge Wendeltreppe führte uns noch weiter hinauf. Wir mussten in dem kleinen Turm sein, der an der Ostseite der Residenz, zum Rhein hin, auf dem Satteldach saß und aus gutem Grund als Warte gebaut war. Noch heute erzählten sich die Kölner gern, wie ihre Vorfahren vor zweihundert Jahren dem damaligen Erzbischof ans Leder wollten. Ich hatte die Geschichte mehr als einmal gehört. Der ungeliebte Erzbischof Anno hatte vor den Aufständischen fliehen müssen wie ein Straßenköter vor den Hundeschlägern. Rainald von Dassel, einer seiner Nachfolger, lernte aus Annos Schaden, ließ vor knapp hundert Jahren eine neue Residenz bauen und sie wehrhafter ausstatten. Ein Turm, von dem aus man die ganze Stadt im Blick behalten konnte, war Pflicht. Den Kölnern war wohl nicht zu trauen, zumindest nicht, wenn man ihr Erzbischof war.

Ich nahm die letzten Stufen und spürte den Wind, der unter das offene Dach blies. Der Bote trat zur Seite und gab den Blick frei auf einen Mann, der mit dem Rücken zu uns an der Brüstung stand. Hier oben, hoch über Köln, war es empfindlich kühl. Von der Wärme des Tages war nichts mehr zu spüren.

»Eure Eminenz«, sagte der Bote.

»Ich danke dir, Harper«, sagte Konrad von Hochstaden, ohne sich umzudrehen. »Und ich grüße dich, Büttel Konstantin.«

»Eure Eminenz«, erwiderte ich.

Ich hätte mich hinknien wollen, um dem Erzbischof den Ring zu küssen, doch Konrad zeigte sein Gesicht nicht. Ich hielt es aber für angebracht, mich leicht zu verbeugen, auch wenn Konrad es nicht sah.

»Tritt ein Stück näher und schau dir die Stadt an. Solch einen Ausblick bekommst du so schnell nicht mehr.«

Ich tat wie mir geheißen. Ich stellte meine Ledertasche ab, trat neben Konrad und legte die Hände auf die Brüstung. Wir standen höher über Köln, als ich gedacht hätte, und weil es den Dom bis auf ein paar nackte und schwarz verrußte Mauern nicht mehr gab, war die Sicht auf die Stadt rundherum frei. Ich versuchte, für einen Augenblick die absonderliche Begegnung mit dem Erzbischof zu vergessen und mich ganz dem Zauber des Ausblicks hinzugeben. Es brannten nur wenige Lichter in der Stadt. Aber der Vollmond half. Er zog der schlafenden Riesin Köln mit seinem Licht ein Kleid in Grau und Blau an. Und der Rhein lag eng an wie ein Saum aus Silber.

Was für eine Stadt! Köln war riesig, atemberaubend riesig, ein Meer von Dächern aus Stroh und Schindeln, aus denen hier, da und dort die Glockentürme von prächtigen, mächtigen Gotteshäusern emporragten. Die Hütten der Handwerker und die Häuser der hohen Herren drängten sich an Kirchen und Klöster wie kleine Kinder an ihre Eltern, und die gewaltige Stadtmauer schien Mühe zu haben, all die Bauwerke, all die Märkte, Obst-, Wein- und Baumgärten zu umfassen.

Die Mauer! Im Halbkreis schloss sie Köln gegen den Rhein, zweiundfünfzig Wehrtürme hockten auf ihr, zwölf mächtige Torburgen bewachten die Wege in die Stadt. Jenseits der Mauer lagen nur armselige Dörfer, kleine Weiler in weitläufigen Wäldern. Die nächste Stadt landeinwärts war fast eine Tagesreise entfernt. Und Jülich war streng genommen keine Stadt, jedenfalls nicht aus Kölner Sicht, denn Jülich hatte sich selbst zur Stadt erhoben.

Weil der Palast des Erzbischofs hoch auf dem Domhügel stand, konnte ich mühelos über die Stadtmauer hinweg den Rhein sehen. Die Stadt schmiegte sich an den Fluss, der ihr den Wohlstand schenkte. Im silbernen Widerschein des Mondlichts auf dem Wasser schaukelten sanft die Masten der Handelsschiffe im Hafen.

»Ich bin gern hier oben«, sagte Konrad. »Wenn ich mir schon die Nacht um die Ohren schlagen muss, will ich es wenigstens mit dem Gefühl tun, über den Dingen zu stehen. Ein anderer Blickwinkel öffnet das Auge für anderes.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Es war zugig in dem offenen Turm. Konrad hatte es besser, er trug einen Mantel.

»Wie ich sehe, hast du bereits deine Tasche gepackt«, fuhr der Erzbischof fort. »Das ist gut. Du wirst den Rest der Nacht hier im Palast verbringen. Morgen früh, gleich bei Sonnenaufgang, wirst du aufbrechen.«

In mir wuchs die Unruhe. Es war an der Zeit, zu erfahren, worum es ging.

»Eminenz, ich hoffe, Ihr seht es mir nach, wenn ich Euch freiheraus frage. Ich bin in Sorge. Ihr habt mich noch nie zu Euch bestellt, und jetzt macht Ihr das mitten in der Nacht. Darf ich wissen, warum Ihr mich habt holen lassen?«

Konrad wandte sich mir zu. »Ich brauche einen Büttel, der das Recht Gottes und des Erzbischofs durchsetzt. Aber nicht in Köln. Es handelt sich um einen Fall weit weg von hier, einen halben Tagesritt. Ich glaube, du bist dafür genau der richtige Mann.«

»Ich?«

»Ja, du, Konstantin.«

»Ich danke Euch für das Vertrauen, Eminenz.«

»Ich halte dich für geeignet, weil es um ein Verbrechen geht, das sich nah deiner Heimat ereignet hat.«

»An der Erft?«

Konrad von Hochstaden wiegte den Kopf hin und her. »Ein paar Meilen vom Fluss und von deinem Dorf entfernt. Aber du kennst Land und Leute. Daher ist keiner besser geeignet als du.«

»Darf ich fragen, was geschehen ist?«

»Das wird dir Harper unterwegs erklären.« Konrad deutete mit einer Kopfbewegung auf den Boten, der sich im Hintergrund gehalten hatte. »Er wird dich auf der Reise begleiten und ist grob über das unterrichtet, was vorgefallen ist. Ich vertraue ihm, er weiß, worauf es mir ankommt. Daher musst du auf seinen Rat hören. Es wird kein leichtes Unterfangen. Dessen musst du dir im Klaren sein.«

Nun dämmerte mir, wie gefährlich die Reise war, auf die der Erzbischof mich schickte. Was hatte der Bote gesagt? Dort, wo ich hingehen würde, brauchte ich meine Kölner Amtstracht nicht.

»Diesseits oder jenseits der Erft?«

»Was meinst du?«

»Wo ist das Verbrechen geschehen? Diesseits oder jenseits des Flusses?«

Im Mondlicht erkannte ich ein Lächeln in Konrads Gesicht. »Wie ich sehe, verstehst du sehr wohl, wie verzwickt die Sache ist. Du bist wirklich der richtige Mann. Jenseits des Flusses. Auf Jülicher Gebiet.«

Ich hätte am liebsten laut aufgestöhnt. Die Erft war die Grenze zwischen Kölner und Jülicher Land, und der Erzbischof von Köln und der Graf von Jülich hassten sich. Nicht nur, weil der Graf selbst sein Jülich zur Stadt ernannt hatte. Graf WilhelmIV. versuchte seit Jahren, die Grenzen seiner Macht weiter Richtung Köln zu verschieben, und beherrschte inzwischen zwei der vier Erftübergänge zwischen den beiden Territorien. Lange schon lag Krieg zwischen den beiden Herrschern in der Luft– ein Krieg, wie er schon vor zehn Jahren zwischen ihnen getobt hatte.

Ich ertappte mich dabei, wie ich ein wenig zu laut die Backen aufblies. »Aber sagt mir eines, Eminenz: Wie soll ich Kölner Recht auf Jülicher Land durchsetzen? Ich werde dort keinerlei Befugnisse haben. Was, wenn mich die Leute des Grafen auf seinem Land erwischen?«

Konrad nickte. »Das Verbrechen ist in einer Kirche geschehen. In meiner Kirche. Sie gehört zu den wenigen im ganzen Land, die unmittelbar mir unterstehen. Und das tut sie, weil sie sehr alt ist, sie zählt zu den ältesten Kirchen weit und breit. Ich kann es nicht zulassen, dass Menschen in meinem Haus zu Schaden kommen. Und daher wirst du dieses Verbrechen mit aller Härte verfolgen. Ohne Rücksicht auf Jülicher Belange.«

Ich spürte, wie meine Knie weich wurden. Ich klammerte mich an der Brüstung fest. Der Erzbischof wollte mit Graf Wilhelm Schachzabel spielen, und ich, Konstantin, sollte ein kleines Spielfigürchen sein. Notfalls würde ich geopfert werden.

»Gebt Ihr mir ein paar bewaffnete Leute mit?«

Konrad schüttelte den Kopf. »Einzig Harper wird dich begleiten. Er muss als deine Leibwache genügen.«

Im Augenwinkel sah ich, wie Harper sich leicht verbeugte.

»Und noch etwas, Konstantin. Du brauchst dich nicht zu sehr zu sorgen. Du erhältst Unterstützung von Jülicher Seite. Dein Vater ist immer noch Burggraf zu Kaster. Er ist es, der deine Hilfe anfordert. Ein Mann Jülichs.«

»Mein Vater?«

Konrad nickte. »Er hat in seiner Botschaft dringend darum gebeten, ich möge dich schicken, niemanden sonst. Und es geht ihm nicht nur darum, Hilfe in diesen Mordfällen zu erhalten. Er will dich sehen, so schnell es geht.«

»Was ist geschehen?«

»Dein Vater, Konstantin, ist krank. Sehr krank. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Mir war, als drückte eine eiserne Hand meine Kehle zu.

Das bisschen Schlaf, das ich in dieser Nacht noch fand, war getränkt in düstere Träume. Mal sah ich mich wieder als kleinen Jungen an der Hand meines Vaters, aufblickend, bewundernd. Dann sah ich dieselbe Hand zu einer Ohrfeige ausholen, streng und strafend, wie ich sie so oft als Kind gesehen und schmerzhaft gespürt hatte. Mal war ich in dem Traum selbst der alte Mann und trug meinen Vater, ein Kind mit einem Bart, auf meinem Arm. Auch ich holte aus zu einer Ohrfeige, ich spürte Wut in mir aufwallen, Wut auf meinen Vater, den ich auf dem Arm hielt und der doch nicht zu halten war. Der sich mir entzog, mir entglitt.

»Bleibt hier!«, schrie ich ihm zu. »Jetzt bleibt, verdammt noch mal! Nun hört doch, was ich sage, Vater!«

Doch das Bündel Mensch auf meinem Arm fiel in sich zusammen, schrumpfte und verschwand. Nur ein leeres Tuch blieb in meiner Hand zurück.

Ich schreckte auf. Ich hörte Männer in der Dunkelheit schnarchen. Die Erinnerung an die vergangenen Stunden kehrte schnell zurück. Ich lag auf einem kratzigen Strohsack in den Schlafräumen der Wachmannschaft, irgendwo in Konrads Palast. Nicht gerade der beste Platz, um vor der Abreise noch ein wenig Ruhe und eine Mütze voll Schlaf zu finden.

Mein Vater. Wie mochte es um ihn stehen? Nicht gut, wenn er krank war und nach seinem Sohn rufen ließ. Er wollte sicher letzte Dinge regeln. Aber auch noch nicht zu schlecht. Was hatte der Erzbischof gesagt? Vater brauchte Hilfe bei der Klärung der Mordfälle. Dann war er also noch auf den Beinen. Er war noch im Dienst.

Mein Vater. Joriß, Burggraf zu Kaster. Und mein Strohhalm in diesem waghalsigen Unterfangen. Die Verbrechen waren ganz offenbar im Einflussbereich meines Vaters geschehen. Dann würde ich auf Jülicher Gebiet ermitteln und seinen Schutz genießen können. Der Graf von Jülich würde mir keine Vorhaltungen machen können. Einer seiner eigenen Leute hatte einen Kölner Büttel angefordert.

Ich tastete mit dem Zeigefinger der rechten Hand nach dem überlangen Nagel meines Daumens, dem ich meinen Spitznamen verdankte. Den weit hervorstehenden Fingernagel, den ich Übeltätern ins Ohr zu pressen pflegte, um meinen Fragen den nötigen Nachdruck zu verleihen, hatte ich mir bei meinem Vater abgeschaut. Der Daumennagel hatte sich schon bei meinem alten Herrn als wirksame Waffe erwiesen, weit wirksamer als ein Schwert. Jeder Strauchdieb fürchtete nichts so sehr wie ein Schlitzohr, das ihn für jedermann auf den ersten Blick als Halunken kenntlich machte. Mein Vater war ein kluger Mann.

Ich wälzte mich auf die andere Seite und zog mir die raue Decke über den Kopf, damit das Schnarchen der Wachleute nicht mehr so laut an meine Ohren drang. Es half nur wenig. Es dauerte lange, bis meine Müdigkeit den Kampf gegen die Geräusche gewann. Doch just, als ich in das Reich des Schlafes hinüberdämmerte, zog mir jemand mit einem Ruck die Decke vom Kopf.

Die Reise

Die Sonne stemmte sich gegen die Dunkelheit und schob ihren Lichtkranz an den Himmel. Köln erwachte, als Harper und ich den Domhof durch die Pfaffenpforte verließen und auf die Schmierstraße ritten. Langsam fand die Stadt ihren Takt, immer mehr Geräusche schnitten laute Löcher in die Stille: das Trällern der Vögel, die in den Baum- und Weingärten links und rechts des Wegs ihre Morgenlieder anstimmten; das Klappern der Hufe, als die Treidelknechte ihre Pferde die nahe Trankgasse hinab zum Rhein führten, um dort Schiffe flussaufwärts zu ziehen; das Schwatzen der Tagelöhner, die auf dem Weg zum Hafen waren, wo sie auf Arbeit beim Löschen und Laden der Schiffe hofften; das Klatschen des Urins, den Knechte und Mägde aus Nachttöpfen auf die Straße kippten. Die allzu vertrauten Geräusche wirkten nun seltsam fremd auf mich. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut.

Durch die Fenster der rechter Hand gelegenen Stiftskirche Sankt Andreas schimmerte bereits Licht, die Chorherren bereiteten sich auf die Frühmesse vor. In der Schmierstraße wohnte aber auch viel lichtscheues Gesindel, dem nicht nach dem frühen Hahnenschrei war und das in den Hütten die Ohren noch in die Strohsäcke drückte. Ich kannte viele von ihnen. Manchen hatte ich selbst schon an den Pranger gestellt. Doch nun hätte ich den Lohn eines ganzen Jahres gegeben, wenn ich mit einem der Tagediebe hätte tauschen können, statt im Auftrag des Erzbischofs zu reisen.

Der Weg führte an der alten Römermauer entlang und ging ein Stück weiter in die Friesengasse über. Die Straße war schnurgerade und das Friesentor schon von Weitem zu sehen. Die sechs Stockwerke des Stadttores überragten die Häuser der Vorstadt. Sollte jemals ein feindliches Heer vor Köln stehen, die zwölf mächtigen Torburgen der Stadt und die riesige Stadtmauer würden die Kämpfer das Fürchten lehren. Mir graute es davor, den Schutz der Mauer zu verlassen. Je näher ich dem Friesentor kam, desto größer und höher baute sich die Feldpforte vor mir auf. Das Tor war für mich der Eingang in ein Abenteuer mit ungewissem Ende. Jenseits des Tores wartete das Hinterland.

»Ist Euch nicht wohl?« Harper sah zu mir herüber. Offenbar konnte er Gedanken lesen. Es sah aus, als grinste er.

»Wundert Euch das? Ich hab ein wenig Sorge, was den Ausgang meiner Reise angeht. Versetzt Euch doch mal in meine Lage.«

»Bin ich denn in einer anderen Lage als Ihr?«

»Wie ich das sehe, seid Ihr mein Aufpasser. Die Verantwortung trage ich. Also halte ich auch den Kopf hin.«

Harper stieß einen Pfiff auf zwei Fingern aus. Ein Torwächter kam aus der Wachstube und öffnete einen Flügel des Friesentores.

»Wenn es auf Messers Schneide steht, bin ich genauso dran wie Ihr«, sagte Harper, als wir durch das Tor ritten. »Aber so weit sollten wir es nicht kommen lassen.«

Ich nickte. »Das sollten wir in der Tat nicht.«

Die gute Planung des Unterfangens stimmte mich jedenfalls zuversichtlich. Jede Tür, jedes Tor schwang auf, wenn Harper es wünschte, selbst das Friesentor, das nur an wenigen Tagen in der Woche geöffnet war. Vom Erzbischof hatten wir einen Geleitbrief bekommen, vom Kellerer des Palastes reichlich Zehrpfennige für jeden von uns und vom Stallmeister zwei kräftige Zelter, die sich nicht nur gut auf den bequemen Passgang verstanden, sondern offenbar auch zu einem schnellen Galopp in der Lage waren. Und Harper war für Händel gewappnet. Er führte ein großes Schwert mit sich und hatte ein leichtes Kettenhemd dabei.

Wir ritten auf das freie Feld vor der Stadt, kreuzten den Ringweg, der rund um die Stadtmauer führte, und wählten die Handelsstraße Richtung Roermond, die uns geradewegs nach Kaster führen sollte. Nach nicht einmal zwei Meilen kamen wir in den Wald. Das Gelände stieg leicht an. Die Luft war frisch und feucht, sie roch nach Moos und nassem grünem Laub. Den Duft des Waldes hatte ich lange nicht mehr wahrgenommen. Auch die Stille nicht. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis uns die ersten Bauern auf dem Weg in die Stadt begegneten, mit Wolle, Milch, Käse, Körben, Hühnern oder Holz auf ihren Karren, das auf den Kölner Märkten getauscht oder zu Geld gemacht werden sollte.

»Der Ritt wird sicher angenehm, sobald wir die Steigung hinter uns gebracht haben«, sagte Harper. »Das Wetter ist gut, wir bleiben auf dem Höhenrücken und müssen keine sumpfigen Flüsse kreuzen. Und Jülicher Gebiet betreten wir erst, wenn wir die Erft überschreiten.«

Es war offenkundig, dass Harper der Höhenzug zwischen Rhein und Erft, den man die Ville nannte, bekannt war.

»Von woher kommt Ihr?«, fragte ich ihn daher. »Ihr kennt Euch gut aus.«

Wieder machte sich Harper nicht die Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. »Wir sind einander ähnlicher, als Ihr denkt, Konstantin. Auch ich bin aus dem Erftland, allerdings ein wenig flussaufwärts. Wir hätten geradewegs meine Heimat erreicht, wenn wir der alten Römerstraße nach Aachen gefolgt wären. Meine Familie stammt eigentlich aus Esch, einem Dorf südlich von Köln. Wir waren dort Vögte. Aber nun haben wir es zu einigem Land und einem stattlichen Hof auf Jülicher Gebiet gebracht. An seiner Stelle wollen wir eine Burg bauen, die Burg Reuschenberg im Bürgewald. So nennen wir uns schon, derer von Reuschenberg. Aber wer baut schon eine Burg, wenn er den künftigen Herrn seines Landes noch nicht kennt?«

»Ihr haltet Euch den Erzbischof warm.«

»Sagen wir so– wir haben unsere altgewachsenen Verbindungen nach Köln nicht abreißen lassen. Meine Familie dient dem Grafen von Jülich treu, und ich diene Konrad treu.«

»Er ist natürlich mit Eurer Herkunft vertraut.«

»Er hat mich meiner Herkunft wegen für seine Dienste ausgewählt. Konrad bevorzugt es, genau zu wissen, was jenseits der Erft vor sich geht. Und er ist immer auf der Suche nach Verbündeten.«

»Gegen die Jülicher.«

»Gegen jeden, der ihm schaden kann.«

»Weiß der Graf von Jülich von Eurem Dienstherrn?«

Harper sah zu mir herüber. Er grinste nur.

»Ihr treibt da ein gefährliches Spiel, Harper.«

»Das lasst meine Sorge sein. Ihr habt andere.«

Das hatte ich in der Tat. Und nun wusste ich auch nicht mehr, ob ich über Harpers Gesellschaft glücklich sein sollte. Der Mann war mit allen Wassern gewaschen. Das mochte vorteilhaft sein. Aber konnte ich wissen, ob Harper auch auf meiner Seite stand?

Ich sah zum Morgenhimmel auf. Er war klar und kräftig rot. Wie sagte man? Morgenrot, Schlechtwetter droht. Ich sandte dem Herrn ein kleines Gebet und die Bitte, uns eine trockene Reise zu gewähren.

Wälder, Wiesen, Felder, Dörfer. Während unseres Ritts änderte sich die Landschaft der Ville auf die immer gleiche Weise. Wir kamen gut voran. Ich schätzte, dass wir weit vor der Mittagsstunde in Kaster einträfen. Die Wälder wurden dichter, die Hütten ärmlicher, und die Menschen gingen gebeugter, je weiter wir uns von Köln entfernten.

Nur etwa eine Meile hinter einem Weiler, dessen Namen ich nicht kannte, fanden wir im Wald auf einer leichten Anhöhe eine Leiche, der Kleidung nach ein Bauer. Der Tote lag nah am Weg, die Füße lugten unter einem Busch hervor.

Als ich absteigen wollte, um den Leichnam zu untersuchen, hielt Harper mich mit einer Handbewegung zurück. »Das ist nicht unser Toter. Lasst ihn liegen.«

»Wie meint Ihr?«

»Lasst ihn liegen. Wir haben einen anderen Auftrag.«

Ich stieg dennoch ab. »Ich soll den hier liegen lassen und ein paar Meilen weiter andere Morde verfolgen? Was soll das, Harper? Ist der Mann hier etwa ein schlechterer Toter? Wer weiß, wie viele Leute ihn schon haben liegen lassen. Er ist ja kaum zu übersehen.«

Ich ging zum Gebüsch und beugte mich hinab. Der Mann lag wohl schon einige Tage hier. Der Leichnam stank, und Maden krochen aus Mund, Nase und den eingefallenen Augen. Der Schädel war zertrümmert.

»Jemand hat ihn erschlagen«, rief ich Harper zu.

»Das werden Räuber gewesen sein«, sagte Harper. »Seht euch um. Die Stelle eignet sich bestens, einen armen Schelm auszunehmen. Von der Anhöhe aus lässt sich der Weg in beide Richtungen überblicken. So könnt Ihr genau sehen, ob Ihr auch Eure Ruhe habt, wenn Ihr einem Bauersmann eins überziehen wollt. Die Räuber haben sich sehr sicher gefühlt. Sie haben sich nicht mal die Mühe gemacht, die Leiche ordentlich zu verstecken.«

Ein helles Köpfchen war er, das musste man Harper lassen. Was er sagte, ergab Sinn.

»Nun kommt schon. Oder wollt Ihr den Madenhaufen da etwa mitnehmen?«

Ein helles Köpfchen. Und ein Schwein, keine Frage. »Einfach liegen lassen können wir ihn auch nicht.«

Harpers Pferd tänzelte. »Wir werden im nächsten Dorf Bescheid geben.«

»Wer weiß, wann wir das nächste Dorf erreichen? Reiten wir zurück. Der Weiler ist nicht weit.«

Harper ließ seinen unruhigen Rappen einmal im Kreis gehen. Im Spiel aus Licht und Schatten unter dem Blätterdach verschmolzen Pferd und Reiter zu einem seltsamen Wesen.

»Nein, wir müssen weiter. Jetzt. Die Menschen im nächsten Dorf werden wissen, welchen Vogt sie in Kenntnis zu setzen haben. Und sie können den Kerl mit einem Karren holen. Hiermit haben wir sonst nichts zu schaffen.«

Ich sprach ein stilles Gebet für den Toten und bekreuzigte mich. Dann stieg ich auf meinen Zelter. Mit einem Mal fühlte ich mich an diesem Ort nicht mehr wohl, nicht mehr sicher. Harpers Worte hallten in meinen Ohren nach. Die Anhöhe eignete sich bestens für einen Überfall.

»Also gut, lasst uns weiterreiten.«

Wir drückten den Pferden die Sporen in die Flanken und galoppierten den Weg hinab. Als wir die Senke und freies Feld erreichten, ließen wir unsere Tiere wieder in einen lockeren Trab und dann, nachdem ich mich zweimal im Sattel umgedreht hatte, in Schritt fallen.

Harper grinste mich an. »Schiss?«

»Sagen wir mal, innerhalb der Stadtmauern fühle ich mich wohler.«

Harper machte erst große Augen, dann lachte er so laut, dass die Amseln aus einer Linde am Wegesrand aufflogen und zwitschernd schimpften. »In den Kölner Gassen habt Ihr schneller ein Messer im Rücken als einen guten Wein am Gaumen. Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, dass Ihr mal wieder aus der Stadt rauskommt. Hier draußen ist die Welt noch in Ordnung. Da darf der liebe Gott noch Gott sein, ohne dass die Pfaffen ihm reinreden.«

»Ich könnte mir weitaus angenehmere Umstände vorstellen, Harper.«

»Mag sein.«

»Sagt mir lieber, warum dieser Bauer es nicht wert war, für ihn ein, zwei Stunden unserer Zeit zu opfern. Was erwartet mich an unserem Ziel?«

Harper sah zu mir herüber und rutschte im Sattel zurecht. »Ganz ehrlich, Konstantin, ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht genau. Man hat mir lediglich berichtet, dass in einer Kirche Tote gefunden wurden, ungewöhnlich viele Tote. Wie viele, weiß ich nicht.«

»Erschlagen? Erstochen?«

»Weiß ich nicht.«

»Wo?«

»Weiß ich auch nicht– oder nein, wartet. Das Dorf heißt Mandt oder so ähnlich. Ein paar Bauernhütten nur. Und die Kirche. Keine Ritter oder sonstige Herren. Kein großer Gutshof.«

»Mundt.«

»Oder Mundt. Ja, kann sein. Ihr kennt das Loch?«

Ja, ich kannte den Ort. Auch wenn es nur ein Bauerndorf war, hatte Mundt doch weithin einen Ruf als Pilgerstätte. Und auch wenn ich noch nie in Mundt gewesen war, hatte ich schon viel darüber gehört.

»Es gibt dort einen Weiher«, klärte ich Harper auf, »einen wundersamen Weiher, der nie trockenfällt, selbst in den heißesten Sommern nicht und obwohl er fast auf dem höchsten Punkt einer Kuppe liegt, von der aus man das Land viele, viele Meilen weit überblicken kann.«

»Wie kann das sein? In einer Senke kann sich Wasser sammeln, aber auf einer Kuppe?«

»Nun, die Leute erzählen sich, es ist ein Wunder. Und gewirkt hat es vor vielen hundert Jahren ein Einsiedler, als während einer Dürre Mensch und Vieh zu verdursten drohten. Die Alten berichten, dass der heilige Irmundus mit seinem Hirtenstab eine Quelle aus dem Boden geschlagen hat, eine Quelle, die nie versiegt. Bis heute nicht. Die Menschen von Mundt haben einen eigenen Heiligen und einen Weiher, der immer Wasser hält. Sie können sich glücklich schätzen.«

»Oder auch nicht.«

Ich erkannte zum ersten Mal sorgenvolle Züge auf Harpers Gesicht. »Was meint Ihr?«

»Sie sind alle tot.«

Wir erreichten die nächste Siedlung nach wenigen Meilen und gaben dem Dorfschulzen Kenntnis über den toten Bauern und seinen Fundort. Der Alte versprach, alles Notwendige in die Wege zu leiten, und wir setzten unseren Weg fort. Die Sonne stieg weiter an den Himmel, und je näher wir meiner Heimat kamen, desto schwerer lasteten die Gedanken auf mir, desto machtvoller kehrten die Erinnerungen zurück. Die Kuppe meines Zeigefingers fuhr wieder über den überlangen Daumennagel.

Diesen Weg war ich zwei Jahre zuvor zum letzten Mal geritten, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Ich hatte Kaster den Rücken gekehrt und wollte mein Glück in Köln versuchen. Meine Heimat, so hatte ich mir geschworen, wollte ich nie wiedersehen. Gründe gab es viele. Nun, zwei, um genau zu sein. Der eine war mein Vater. Er war ein wahres Ekel. Ein Schläger. Ein Ehebrecher und Hurenbock. Ein Mann, der die Liebe zu seinem Sohn am liebsten in Backpfeifen und Rutenhieben ausdrückte. Aber das änderte nichts daran, dass er mein Vater war. Du sollst Vater und Mutter ehren, heißt es in der Heiligen Schrift. Das konnte ich im Fall meines Vaters am besten aus der Ferne, sagte ich mir damals. Manches Mal hatte ich mir gewünscht, der Herrgott hätte in einem elften Gebot auch allen Eltern aufgetragen, ihre Kinder zu ehren.

Wir kamen wie erwartet gut voran und konnten die Rauchsäulen, die sich von den Feuerstellen der Burgsiedlung in den Himmel wanden, schon von Weitem sehen. Der Druck in meinem Bauch wurde nun übermächtig. Ich zog die Zügel an, bat Harper, kurz zu warten, und stieg ab, um mich in die Büsche zu schlagen und mir Erleichterung zu verschaffen.

Als ich zu meinem Zelter zurückkehrte, blickte ich wieder in Harpers grinsendes Gesicht. Ich kann wahrlich nicht sagen, dass es in mir irgendeine Form von Zuneigung zu meinem Begleiter weckte.

»Was ist so lustig?«, fragte ich, als ich in meinen Sattel stieg.

»Die Vorfreude auf das Wiedersehen scheint Euch auf den Magen geschlagen zu sein.«

»Wenn ich den Erzbischof richtig verstanden habe, ist mein Vater schwer krank. Todkrank. Ihr mögt das erheiternd finden. Ich nicht.«

Harper hob bloß die Schultern. »Ihr solltet Euch schnell ein dickeres Fell zulegen. Das werdet Ihr in den nächsten Tagen sicher gut gebrauchen.«

»Das Befinden meines Magens und die Beschaffenheit meines Fells lasst meine Sorge sein«, sagte ich und drückte dem Pferd die Fersen in die Seiten.

Es ging abwärts. Die Ville fiel zur Erftniederung deutlich ab, und bei Kaster durchschnitt der Fluss den Höhenrücken. Die Burg und ihre Siedlung lagen am tiefsten Punkt dieses Tals, das eine gute Meile breit war. Um zur Burg zu gelangen, mussten wir drei Erftarme über Brücken überqueren, zwei natürliche Läufe des Flusses, der sich etwas weiter oberhalb aufgespalten hatte, und einen Mühlengraben, der unmittelbar an Siedlung und Burg vorbeiführte, um eine Wassermühle anzutreiben.

»Die Burg ist gut geschützt«, sagte Harper, als unsere Pferde ihre Hufe auf die Holzbohlen der ersten Brücke setzten.

»Ihr habt noch nicht alles gesehen«, gab ich zurück. »Wenn wir in der Siedlung sind, sind wir noch lange nicht in der Burg.«

Harper nickte. Er musterte die Anlage, auf die wir geradewegs zuritten. Ich ahnte, wie sehr ihn der Anblick beeindrucken musste, da ich den Ort nur zu gut kannte. Die Siedlung lag am Fuß der Burg. Eine Palisade aus mächtigen Holzstämmen umfasste die Häuser, in denen Handwerker und die Familien der Burgbesatzung lebten, lediglich das Wasserrad der Burgmühle lugte aus der Befestigung heraus. Rechts von der Siedlung, dem Lauf des Flusses folgend, erhoben sich die Vorburg und dahinter die Burg über den Mühlengraben und die Erft. Die Vorburg besaß eine eigene Umwallung, und zwischen Vorburg und Burg gähnte ein Graben, der nur über eine Zugbrücke zu überwinden war. Die Burg selbst lag erhöht auf einem Hügel. Sie war rundherum geschützt: von Erft, Vorburg und Gräben, die teils mit Wasser gefüllt waren. Auch die sumpfige Aue, die Siedlung und Burg umgab, war ein treffliches Hindernis, sollte sich mal von der Landseite, der Jülicher Seite her, ein Feind nähern. Eine Flussniederung war nun wahrlich kein Ort, an dem sich Menschen üblicherweise niederließen, weil im Sommer Fieberkrankheiten und Mückenschwärme das Leben zur Hölle machten. Aber eine Burg bot in unruhigen Zeiten wenigstens Schutz vor Schwerthieben, Pfeilen und Lanzenstichen.

Die Gänse, die uns auf der Brücke vor dem Tor in Empfang nahmen, machten schnatternd Platz. Durch das offene Tor zur Siedlung konnten wir Kinder sehen, die zwischen den Hütten Fangen spielten, einen Stellmacher, der ein neues Wagenrad zu mehreren anderen vor seine Werkstatt rollte, und eine Magd, die zwei Wassereimer auf einem Tragjoch schleppte. Gleich hinter dem Tor weckte das Hufgetrappel unserer Pferde einen Wachmann auf, der mit dem Rücken zur Palisade eingenickt war. Ich kannte den Torwächter. Und ich hatte ihn vermisst.

Das Männlein, um einiges älter als ich, aber kaum größer als ein Junge von zehn Jahren, blinzelte mich an. Als er den Mund aufmachte, war ein Gebiss zu sehen, das seinen Namen nicht verdiente. Durch manche Zahnlücke ließ sich gemütlich eine ganze Mohrrübe schieben.

»Kontz? Bist du das?«

So hatte mich schon lange niemand mehr gerufen. »Ich bin es, mein guter Halbritter.«

»Gottlob bist du endlich da, Kontz, gottlob! Du wirst erwartet. Wenn du wüsstest, Kontz. Dein Vater, Burggraf Joriß, er ist–«

Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

»Ich habe davon gehört, Rost. Auch deshalb bin ich hier. Wir sind auf dem Weg zu ihm.«

Rosts aufgeregte Rufe hatten Kinder angelockt. Sie scharten sich um uns, kleine Rotznasen mit zerrissenen Kleidern und schmutzigen Gesichtern. Auch aus den Hütten wurde uns manch neugieriger Blick zugeworfen. Ich stieg vom Pferd, nahm meine Ledertasche und gab Rost die Zügel in die Hand.

»Im Palas?«

»Ja, Kontz, er ist im Palas. Geh nur, geh schnell. Gottlob bist du wieder da.«

Auch Harper stieg ab, Rost nahm ihm den Zelter ab und führte beide Pferde fort. Landeinwärts, außerhalb der Siedlung, befand sich der Tiergarten, in dem mehr als genug Platz für die Reittiere von Reisenden war. Wenn der Graf von Jülich mit seinem Gefolge zu Besuch kam, waren an die hundert Pferde zu versorgen.

Rost wandte sich noch einmal um. »Kontz?«

»Ja, Rost?«

»Ich wusste, dass du zurückkehrst. Ich musste nur Geduld haben. Mit der Zeit wird aus Gras Milch.«

»Ich weiß, Rost. Du hast recht gehabt.«

Harper und ich gingen zur Vorburg. Hier in der Nähe des Flusses war es feucht, die Wege zwischen den Hütten waren teils schlammig, selbst jetzt noch, nach Wochen der Hitze. Im Sommer würde es wieder viele Fälle von Fieber geben. Auf dem Weg ließ ich meinen Blick durch die Siedlung schweifen. Sie war gewachsen, mehrere Hütten waren nach meiner Abreise gebaut worden. Es wunderte mich nicht, denn der Graf hatte die Burg erst vor ein paar Jahren gekauft. Der Schutz des mächtigen Adligen versprach Wohlstand, Handwerker hofften auf Aufträge. Die Siedlung war inzwischen so groß, dass sie eine eigene Kirche verdient hätte. Die Kapelle der Burg konnte so viele Menschen sicher nicht mehr fassen. Etliche Gesichter kannte ich nicht. Zwei Jahre sind eine lange Spanne.

»Ein Halbritter? Mit Namen Rost?«

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Harper sich erkundigen würde. Natürlich grinste er wieder. Die Reise schien ihm große Freude zu bereiten.

»Er heißt nicht wirklich so«, gab ich zurück.

»Das hätte mich auch gewundert.«

»Wie ihn seine Eltern genannt haben, weiß niemand mehr, vielleicht nicht einmal er selbst. Seit ich ihn kenne, trägt er den Namen Rost. Sein Gebiss ist so löchrig, dass es aussieht wie ein Küchenrost. Daher.«

»Und der Halbritter?«

»Ihr habt bemerkt, wie klein er ist?«

»War ja nicht zu übersehen.«

»Er ist nur für wenige Arbeiten zu gebrauchen. Mein Vater schickt ihn auf Botengänge, und er hat ihn in die Mannschaft der Torwächter übernommen. Da kann er wenig Schaden anrichten. Sein Schwert ist fast so groß wie er selbst, und wenn er es trägt, ist er stolz wie der Papst zu Ostern. Irgendjemand hat sich dann den Spottnamen ausgedacht. Halbritter.«

»Ein armer Wicht. Der Herr hat ihn gestraft.«

»Aber der Herr hat ihn mit großer Weisheit belohnt. Seine Worte sind tiefer als manches Meer.«

Wir kamen an das Holztor der Vorburg und begehrten Einlass, der uns gewährt wurde. Der Wachmann, der uns öffnete, kannte mich. Er senkte den Blick und kehrte zu seinen Kameraden zurück, die auf einem Stamm saßen, ihre Kettenhemden wienerten und ihre Lederwämser bürsteten. Vor uns erhob sich die Burg, die Zugbrücke war heruntergelassen. Als wir den Graben überquerten, hielt Harper mich kurz am Arm zurück.

»Ihr solltet allein gehen«, sagte er. »Ihr habt erst einiges zu klären. Ich bleibe im Hof. Ruft mich nachher dazu.«

»Keine Eile dieses Mal?«

»Keine Eile. Lasst mich trotzdem nicht zu lange warten.«

Ich nickte. Und wunderte mich ein wenig über Harpers Einfühlungsvermögen. Das hatte er bisher vermissen lassen. Er grinste auch nicht, sondern gab mir nur einen kräftigen Klaps auf die Schulter.

Wir schritten durch das Tor und betraten die Burg, die im Grundriss vielleicht dreißig mal vierzig Schritte maß. Harper blieb im Innenhof zurück und sah sich um, und ich ging hinüber zum zweistöckigen Palas, der gegenüberlag. Die zweiflügelige Pforte stand offen. Ich fand meine Mutter in der großen Küche, sie saß am Fenster und stickte. Zwei Mägde, die Rübchen schabten, gingen hinaus, kaum dass sie mich sahen. Grau war meine Mutter geworden und ihr Rücken krumm. Als sie mich erblickte, warf sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Ich nahm sie in den Arm und wiegte sie wie ein kleines Kind. Auch mir kamen die Tränen, aber meine Mutter sah es nicht, weil ich sie so lange an mich presste, bis ich mich wieder im Griff hatte.

»Kontz, mein Junge«, sagte sie und trat einen Schritt zurück. Ihre Stimme zitterte. »Ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder.«

»Ihr habt Euch geirrt, Mutter.«

»Wie ist es dir ergangen, Junge?«

»Ich stehe in Diensten des Erzbischofs von Köln.« Darauf war ich wirklich stolz.

»Das weiß ich doch. Geht es dir gut, will ich wissen. Hast du ein Weib?«

»Ja, es geht mir gut– und nein, Mutter, kein Weib.«

»Dann wird es Zeit, Kontz, höchste Zeit. Dein Vater könnte…«

Sie hielt inne. Ich ahnte, warum. Nein, Vater würde vielleicht nichts mehr anbahnen können. Ihr kamen wieder die Tränen.

»Wo ist er?«

»Oben, in der Halle.«

Natürlich, in der Halle. Das passte zu ihm. Obwohl er nur der Verwalter für den Grafen war, gebärdete er sich wie der Burgherr. Ich löste mich von meiner Mutter, verließ die Küche und nahm die Treppe. Die Halle stand offen. Vater lehnte an einem Fenster und schaute auf das Erfttal hinunter. Ich wusste im selben Augenblick, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Seine Kleider hingen schlaff an dem dürren Körper hinunter. Er verfiel. Er war nicht mehr der Mann, den ich verlassen hatte.

Vater musste meine Schritte gehört haben, vielleicht hatte er mich auch schon im Hof gesehen. Er sprach mich an, ohne sich umzudrehen.

»Vielleicht ist es kein guter Einfall, hier am Fluss zu leben«, sagte er. Seine Stimme war matt. »Vielleicht trägt das Wasser die Lebenskraft aus unseren Körpern davon. Dieses unentwegt fließende Wasser.«

»Vater.«

Er wandte sich um. Sein Gesicht war fahl, die Wangen eingefallen, knochig wie die Flanken eines ausgehungerten Ochsen. Der Anblick schmerzte mich. Es fühlte sich an, als griffe eine kalte Hand nach meinem Herzen. In diesem Moment war all mein Groll auf meinen Vater vergessen, all meine Wut verraucht. Vater ging einige Schritte auf mich zu. Es kam mir vor, als bemühte er sich um einen festen Gang. Am Tisch blieb er stehen und stützte sich mit der Rechten ab. Seine Hand war fleckig, gräulich-gelb. Und sein Fingernagel, sein überlanger Fingernagel, war brüchig geworden.

Ich trat auf Vater zu und nahm ihn in den Arm. Er ließ es geschehen. Und in diesem Augenblick spürte ich eine große Erleichterung, ein Glücksgefühl, wie nach einem Sprung aus großer Höhe, den man unbeschadet überstanden hatte. Auch Vater zeigte keinen Zorn gegen mich. Dazu hätte er ein Recht gehabt. Ich, sein Erbe, hatte ihm den Rücken gekehrt. Ihn im Stich gelassen. Doch nun stand nichts zwischen uns, zumindest für diesen einen Moment nicht.

Wir verharrten nicht lange so da, bald schob er mich sacht weg. »Lass dich ansehen, Konstantin. Du bist ein Mann geworden. Du hast dich verändert.«

»Ihr Euch auch«, entfuhr es mir, und ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen.

Vater sah mich tadelnd an. Aber den strengen Blick vermochte er nicht lange zu halten.

»Ja«, sagte er dann. »Es stand schon besser um mich.«

»Was habt Ihr, Vater?«

»Ich kann es dir nicht sagen, Konstantin, denn ich weiß es nicht. Erst dachte ich, es seien Würmer. Ich habe immer mehr Gewicht verloren. Aber es schmeckt mir auch nicht mehr. Ich scheiße und spucke Blut. Ich wollte dich schon in Köln besuchen und sehen, ob es in der großen Stadt vielleicht einen Bader oder Kräuterkundigen gibt, der mir zu helfen weiß. Ich bin noch nicht dazu gekommen. Meine Pflichten fesseln mich hier.«

»Habt Ihr Schmerzen?«

Er antwortete nicht. Ein Blick in seine trüben Augen sagte mir genug. Plötzlich straffte er den Rücken und reckte das Kinn vor.

»Jedenfalls brauche ich noch keinen Pfaffen. Und in dem bisschen Zeit, die der Herrgott mir auf Erden noch zugesteht, muss ich etwas Wichtiges erledigen. Und du kannst mir helfen.«

»Vater, Ihr seid krank, wir müssen sehen, wie wir Euch–«

Er schnitt mir das Wort mit einer scharfen Handbewegung ab. »Nichts da. Ich kann meinen Frieden nur finden, wenn ich die letzte große Aufgabe, die mir als Burggraf auferlegt ist, gelöst habe. Du musst mir helfen. Daher habe ich dich rufen lassen.«

Er wollte nicht über seine Krankheit reden. Das war sein Wunsch, und ich gedachte ihn zu respektieren.

»Deshalb bin ich hier«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. »Der Erzbischof schickt mich, Euch zur Seite zu stehen. Mich begleitet Harper von Reuschenberg, auch ihn schickt der Erzbischof. Ich habe gehört, die Bewohner eines ganzen Dorfes sind tot.«

Mit einem Mal war da ein Funkeln in meines Vaters Augen zu sehen. Tatendrang und Lebenskraft.

»Ihr werdet euch nun stärken, du und dein Begleiter, und dann werden wir gemeinsam in der Burgkapelle beten. Danach brechen wir auf. Ich will noch heute in Mundt sein.«

»Ist das nicht zu anstrengend? In Eurem Zustand?«

»Ich werde mich nicht hinlegen und warten, bis Gevatter Tod mich holt. Ich werde laufen, so lange ich kann. Richte dich darauf ein, dass ich dich auch nach Köln begleite, wenn das hier zu Ende ist.«

»Nach Köln?«

»Ich habe Dinge zu regeln, bevor ich sterbe. Das kann ich in Köln besser als hier.«

»Also gut, reisen wir zusammen«, sagte ich.

Vater nickte und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch mal zu mir um.