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Durch die Schwärze des Universums gleitet ein einsames, aber dafür umso gewaltigeres Raumschiff – die Dormire. An Bord befinden sich 2000 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder. Stirbt ein Crewmitglied, wird es umgehend durch seinen eigenen Klon ersetzt. Doch dann erwacht der Klon von Maria Arena vorzeitig und über und über mit Blut befleckt. Marias Erinnerungen wurden gelöscht, sie weiß nur noch, dass sie getötet wurde – ebenso wie der Rest der Crew. Schnell ist den Klonen klar, dass sich an Bord der Dormire ein Mörder aufhält, und wenn sie ihn nicht schnell finden, wird er wieder zuschlagen ...
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Seitenzahl: 543
MUR LAFFERTY
DAS SECHSTE
ERWACHEN
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Bernhard Kempen
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Durch die Schwärze des Universums gleitet ein einsames, aber dafür umso gewaltigeres Raumschiff – die Dormire. An Bord befinden sich zweitausend Passagiere, die einen fremden Planeten besiedeln sollen. Gesteuert wird die Dormire von der Künstlichen Intelligenz IAN und sechs Besatzungsmitgliedern. Stirbt ein Crewmitglied, wird es umgehend durch seinen eigenen Klon ersetzt. Doch dann erwacht der Klon von Maria Arena vorzeitig und über und über mit Blut befleckt. Marias Erinnerungen wurden gelöscht, sie weiß nur noch, dass sie getötet wurde – ebenso wie der Rest der Crew. Schnell ist den Klonen klar, dass sich an Bord der Dormire ein Mörder aufhält, doch da die Schiffs-KI ebenfalls defekt ist, stehen die sechs neu erwachten Klone vor einem Rätsel: Wer von ihren früheren Inkarnationen ist der Mörder? Und wie konnte das Schiff inzwischen vom Kurs abgebracht und die KI zerstört werden? Ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem alle sechs Crewmitglieder ihre ganz eigenen Geheimnisse zu verbergen suchen. Doch wenn sie den Mörder nicht schnell finden, wird er wieder zuschlagen …
Die Autorin
Mur Lafferty ist Autorin, Podcast-Produzentin, Gamerin, und Geek. Sie machte sich mit Podcasts wie I Should Be Writing und The Angry Robot einen Namen und gewann den John W. Campbell Award for Best New Writer. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Durham, North Carolina.
Mehr über Mur Lafferty und ihren Roman erfahren Sie auf:
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Titel der amerikanischen Originalausgabe:
SIX WAKES
Deutsche Erstausgabe 07/2018
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2017 by Hachette Book Group
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung
eines Motivs von Kimmo Lemetti
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-22179-9V001
www.diezukunft.de
Für Conny Willis und James Patrick Kelly
Internationale Zusatzbestimmungen
zur Gesetzgebung über den Umgang mit Klonen
Verabschiedet am 9. Oktober 2282
1. Es ist unrechtmäßig, von einer Person mehr als einen Klon gleichzeitig herzustellen. Jeder Klon ist eine Person. Das Klonen soll zur Lebensverlängerung genutzt werden, nicht zur Vervielfältigung. Wenn ein Klon von eigener Hand oder durch andere vervielfältigt wird, hat der jüngste Klon Anspruch auf die Identität, während die anderen nicht maßgeblich sind.
2. Es ist unrechtmäßig, wenn ein Klon Kinder gebärt oder zeugt. Ein Klon wird zeitlebens als sein oder ihr eigenes Kind betrachtet, auch wenn es um Erbschaftsangelegenheiten geht. Klone müssen bei der Wiedergeburt sterilisiert werden.
3. Es ist unrechtmäßig, einen Körper mit einer Mindmap zu versehen, wenn der Körper kein Träger der ursprünglichen DNS ist.
4. Klone müssen jederzeit die aktuellste Mindmap ihres Bewusstseins auf einem Datenträger mit sich führen. Sie selbst und ihre Mindmap dürfen jederzeit von staatlichen Institutionen durchsucht werden.
5. Es ist unrechtmäßig, die DNS oder die Mindmap eines Klons zu modifizieren. (Eine Ausnahme bildet Zusatzbestimmung 2.) Klone müssen mit der DNS ihres Originalkörpers und ihrer originalen Mindmap weiterexistieren.
6. Die Hülle, die von einem Klon hinterlassen wird, muss auf zügige und hygienische Weise und ohne Zeremonie oder Ritual entsorgt werden.
7. Es ist unrechtmäßig, wenn ein Klon sein oder ihr eigenes aktuelles Leben beendet, um wiedergeboren zu werden. (1. Ausnahme: Ein Klon kann eine Euthanasie-Vereinbarung unterzeichnen, wenn ein qualifizierter Arzt bestätigt, dass der Tod kurz bevorsteht und der Klon leidet. 2. Ausnahme: siehe Zusatzbestimmung 1.)
ERSTES ERWACHEN
DIE BESATZUNG DER »DORMIRE«
Dies ist keine Pfeife
Tag 1
25. Juli 2493w
Geräusche kämpften sich durch die zähe Synth-Amneo-Flüssigkeit. Als sie Maria Arenas Ohren erreichten, klang es wie eine Kettensäge: laut, hartnäckig und unaufhörlich. Sie konnte keine Worte verstehen, aber es hörte sich nicht nach einer Situation an, in der sie sich gern befinden würde.
Ihr Widerwille gegen ihre eigene Wiedergeburt erinnerte sie daran, wo sie war und wer sie war. Sie griff auf ihr letztes Back-up zu. Die Besatzung hatte soeben ihre Quartiere in der Dormire bezogen, und der Klonraum war die letzte Station gewesen, die sie bei ihrem Rundgang besucht hatten. Dort hatten sie ihr erstes Back-up an Bord des Schiffs gemacht.
Maria musste kurz danach einen Unfall oder etwas in der Art gehabt haben, bei dem sie gestorben war; daraufhin war es notwendig geworden, ihren nächsten Klon aufzuwecken. Der nachlässige Umgang mit einem Leben würde keinen guten Eindruck auf die Kapitänin machen, die vermutlich die Quelle der wütenden Kettensägen-Geräusche war.
Schließlich öffnete Maria die Augen. Sie versuchte die Bedeutung der dunklen runden Kügelchen zu verstehen, die vor ihr im Tank trieben, aber es fiel dem frisch geklonten Gehirn schwer, zum ersten Mal die Arbeit aufzunehmen. In einem solchen Chaos gingen zu viele Dinge schief.
Die Schmierspuren an der Seite des Tanks und die violette Farbe der Kügelchen in der bläulichen Flüssigkeit, in der Maria schwamm, brachte sie darauf, dass es vermutlich Blutstropfen waren. Blut sollte nicht schweben. Das war das erste Problem. Wenn Blut schwebte, hieß das, dass der Gravantrieb, der das Schiff rotieren ließ, ausgefallen war. Wahrscheinlich war das ein weiterer Grund, warum jemand herumbrüllte. Das Blut und der Gravantrieb.
Blut in einem Klonraum war wieder eine andere Sache. Ein Klonraum war ein tadellos sauberer Ort, wo Menschen in ihren neu geklonten Körper geladen wurden, nachdem der vorherige gestorben war. Das Ganze war viel sauberer und weniger schmerzhaft als eine menschliche Geburt mit viel Geschrei und Blut.
Und wieder Blut.
Im Klonraum standen sechs Tanks in zwei geraden Reihen, gefüllt mit bläulicher Synth-Amneo-Flüssigkeit und den Klonen, die für den Rest der Besatzung bereitgehalten wurden. Blut gehörte in die Krankenstation weiter unten am Korridor.
Das unwahrscheinliche Auftauchen eines Tropfens Blut, der aus der Krankenstation stammte und durch den Korridor bis in den Klonraum schwebte, um vor Marias Tank zu treiben, wäre etwas Außergewöhliches. Doch so etwas war nicht geschehen, denn ein Körper schwamm über den Blutstropfen. Mehrere Körper, um genau zu sein.
Und wenn der Gravantrieb tatsächlich ausgefallen war und tatsächlich jemand im Klonraum verletzt worden war, dann hätte irgendein anderes Besatzungsmitglied das Blut weggewischt. Es stand immer jemand bereit, um dafür zu sorgen, dass der Übergang vom Tod in einen neuen Körper reibungslos verlief.
Nein. Eine vollkommene violette Kugel aus Blut sollte nicht genau vor ihrem Gesicht schweben.
Maria war jetzt seit einer guten Minute oder so wach. Niemand arbeitete am Computer, um die Synth-Amneo-Flüssigkeit abzulassen und sie zu befreien.
Ein kleiner Teil ihres Gehirns schrie sie nun an, dass sie sich viel größere Sorgen um die anderen Körper machen sollte, aber es war wirklich nur ein kleiner Teil.
Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, den Notöffnungsschalter innerhalb eines Klontanks zu benutzen. Wissenschaftler hatten diese Schalter eingeführt, nachdem irgendwelche Techniker beschlossen hatten, einem Klon einen Streich zu spielen, indem sie die Frau aufweckten und sie dann stundenlang im Tank allein ließen. Als sie endlich draußen war, so hieß es in den Geschichten, hatte das unschöne und gewalttätige Folgen gehabt, und einige der Techniker mussten neu geklont werden. Danach hatten Ingenieure einen internen Öffnungsschalter eingebaut, damit sich ein Klon selbst aus dem Tank befreien konnte, wenn er aus irgendeinem Grund darin gefangen war.
Maria drückte den Knopf und hörte ein Klacken, als der Öffnungsmechanismus ausgelöst wurde, aber die Synth-Amneo-Flüssigkeit blieb, wo sie war.
Um die Flüssigkeit abzulassen, war Schwerkraft nötig. Über Leitung 101. Das Ventil war geöffnet, aber die Flüssigkeit schloss Maria weiterhin hartnäckig wie eine Gebärmutter ein.
Sie suchte nach dem Ursprung des Geschreis. Ein Besatzungsmitglied schwebte vor den Computern. Er war nackt, und sein feuchtes Haar sträubte sich wie ein Strahlenkranz. Ein weiterer Klon war erwacht. Waren zwei von ihnen gestorben?
Hinter ihr trieben Besatzungsmitglieder in vier Tanks. Alle hatten die Augen geöffnet, und alle suchten nach dem Notöffnungsschalter. Dreimal war das Klacken zu hören, aber auch sie blieben in der gleichen Position wie Maria.
Maria drückte den anderen Notschalter, um den Deckel des Tanks zu öffnen. Im Idealfall wurde er erst dann benutzt, wenn die Flüssigkeit abgelassen worden war, aber in dieser Situation war so gut wie nichts ideal. Sie und eine beträchtliche Menge der Synth-Amneo-Flüssigkeit ergossen sich aus dem Tank, um dann sanft mit der Kugel aus Blut vor ihr zusammenzustoßen. Die Oberflächenspannung beider Flüssigkeiten blieb stabil, und der Tropfen prallte ab.
Maria hatte sich noch nie mit dem Problem auseinandergesetzt, wie man in Nullschwerkraft aus einem flüssigen Gefängnis entkam. Sie probierte es damit, um sich zu schlagen, aber das führte nur dazu, dass sich ein Teil der Flüssigkeit von der Hauptblase löste und davontrieb. Während ihrer vielen Leben war sie schon in mehreren würdelosen Situationen gewesen, aber dies war etwas Neues für sie.
Aktion und Reaktion, dachte sie und inhalierte so viel von der sauerstoffreichen Flüssigkeit wie möglich. Dann presste sie alles aus ihren Lungen heraus, als würde sie niesen. Es ging nicht so schnell wie mit Luft, weil sie sich weiterhin in der viskosen Flüssigkeit befand, aber es gab ihr genügend Antrieb, sich rückwärtszubewegen und aus der Blase herauszukommen. Sie atmete Luft ein, hustete und erbrach den Rest der Flüssigkeit, die sich als Sprühnebel vor ihr verteilte. Schließlich stieß sie sich den Kopf an der Computerkonsole, als das Bewegungsmoment ihres Körpers sie weitertreiben ließ.
Nachdem sie die Flüssigkeit endlich verlassen hatte, schnappte sie nach Luft und blickte auf.
»Ach du Scheiße!«
Drei tote Besatzungsmitglieder schwebten im Raum, zwischen dem Blut und den anderen Flüssigkeiten. An zwei Leichen hingen feuchte Tentakel aus blutigen Blasen, die sich nicht von den tödlichen Wunden lösen wollten. Eine vierte war am Terminal auf einem Stuhl festgeschnallt.
Etliche Liter Synth-Amneo-Flüssigkeit vermischten sich mit den blutigen Überresten, als sich die neu geklonten Besatzungsmitglieder aus ihren Tanks kämpften.
Sie reagierten genauso schockiert wie Maria auf ihre Umgebung.
Kapitänin Katrina de la Cruz bewegte sich schwebend an ihre Seite, ohne den Computer aus den Augen zu lassen. »Maria, hören Sie auf zu starren, und machen Sie sich nützlich. Überprüfen Sie die anderen.«
Maria suchte nach einem Halt an der Wand, um der Kapitänin aus dem Weg zu gehen, die ans Terminal heranzukommen versuchte.
Katrina hämmerte auf eine Tastatur ein und tippte gegen den Bildschirm der Konsole. »IAN, was zum Henker ist passiert?«
»Meine Sprachfunktionen sind nicht zugänglich«, antwortete die männliche, leicht robotisch klingende Stimme.
»Ceci n’est pas une pipe«, murmelte jemand über Maria. Das löste sie aus ihrer Schockstarre und erinnerte sie an den Befehl der Kapitänin, nach den übrigen Besatzungsmitgliedern zu sehen.
Akihiro Sato, der Pilot und Navigator, hatte das gesagt. Sie hatte ihn erst vor ein paar Stunden bei der Cocktailparty vor dem Start der Dormire kennengelernt.
»Hiro, warum sprichst du Französisch?«, fragte Maria verwirrt. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Wenn jemand in verständlichen Worten erklärt, dass er nicht sprechen kann, ist das wie dieses alte Bild von einer Pfeife, auf dem steht: ›Dies ist keine Pfeife.‹ Es soll Kunststudenten zum Nachdenken anregen. Aber egal.« Mit einer Handbewegung deutete er auf den Klonraum. »Was ist überhaupt passiert?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Aber … mein Gott, was für ein Chaos! Ich muss nach den anderen sehen.«
»Verdammt noch mal, du hast doch gerade gesprochen«, sagte die Kapitänin zum Computer, während sie auf dem Bildschirm einige Symbole hin und her schob. »Irgendwas da drinnen funktioniert also. Rede mit mir, IAN!«
»Meine Sprachfunktionen sind nicht zugänglich«, wiederholte die KI.
De la Cruz schlug mit einer Hand auf die Tastatur. Dann hielt sie sich daran fest, damit sie nicht davon wegtrieb.
Hiro folgte Maria, als sie sich mithilfe der Haltegriffe durch den Raum manövrierte. Dann blickte Maria der grauenhaften Leiche von Wolfgang ins Gesicht, ihrem Ersten Offizier. Sie schob ihn behutsam zur Seite und versuchte, nicht die blutigen Tentakel abzureißen, die aus den Stichwunden in seinem Körper gesprossen waren.
Sie und Hiro schwebten weiter zum lebenden Wolfgang, der vornübergebeugt das Synth-Amneo aus seinen Lungen hustete. »Was zum Teufel geht hier vor sich?«, fragte er mit krächzender Stimme.
»Sie wissen genauso viel wie wir«, erwiderte Maria. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Er nickte und winkte ab. Wolfgang war ohnehin recht groß, doch als er sich aufrichtete, wurde er um fast einen halben Meter größer. Er war auf Luna geboren, in der Mondkolonie, und nach mehreren Generationen hatte seine Familie die langen Knochen entwickelt, die ein Leben in niedriger Schwerkraft mit sich brachten. Er packte einen Handgriff und stieß sich ab, um zur Kapitänin hinüberzutreiben.
»Woran erinnerst du dich?«, wollte Maria von Hiro wissen, während sie sich einem weiteren Besatzungsmitglied näherten.
»Mein letztes Back-up wurde gemacht, als wir gerade an Bord des Schiffs gegangen waren«, sagte Hiro. »Wir waren noch nicht einmal abgeflogen.«
Maria nickte. »Bei mir ist es genauso. Wir müssten immer noch angedockt oder nur wenige Wochen von der Erde entfernt sein.«
»Ich glaube, wir haben im Moment dringendere Probleme; zum Beispiel, was unseren derzeitigen Status angeht«, sagte Hiro.
»Stimmt. Unser derzeitiger Status sieht so aus, dass vier von uns tot sind«, sagte Maria und zeigte auf die Leichen. »Und ich vermutete, dass für die anderen zwei dasselbe gilt.«
»Was hätte uns alle töten können?«, fragte Hiro und wurde ein wenig grün im Gesicht, als er einem Stück blutiger Haut auswich. »Und was ist mit mir und der Kapitänin passiert?«
Damit bezog er sich auf die »anderen zwei« Leichen, die nicht im Klonraum schwebten. Wolfgang, der Ingenieur Paul Seurat und Dr. Joanna Glass trieben leblos durch den Raum, stießen gelegentlich leicht gegen einen Tank oder gegeneinander.
Wieder war ein Husten aus der hinteren Reihe der Tanks zu hören, dann eine sanfte Stimme. »Eher etwas recht Gewalttätiges, würde ich sagen.«
»Willkommen, Doktor! Wie geht es Ihnen?«, fragte Maria und hangelte sich zu der Frau hinüber.
Der neue Klon von Joanna nickte. Ihre dichten Locken glänzten vom Synth-Amneo. Ihr Oberkörper war schlank und kräftig wie bei allen neuen Klonen, aber ihre Beine waren kurz und krumm. Sie warf einen Blick zu den Leichen und schürzte die Lippen. »Was ist geschehen?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern zog sich an einem Handgriff zur Decke hinauf, wo eine Leiche schwebte.
»Schau nach Paul«, sagte Maria zu Hiro und folgte Joanna.
Die Ärztin drehte ihre eigene Leiche so herum, dass sie sie betrachten konnte, und riss die Augen weit auf. Sie fluchte leise. Maria tauchte hinter ihr auf und fluchte wesentlich lauter.
In der Kehle hatte sie eine Stichwunde, und an ihrem Hals hingen große, wogende Blutstropfen. Falls das fortgeschrittene Alter der Ärztin ein brauchbarer Hinweis war, lag der Beginn der Mission schon einige Zeit zurück. Maria erinnerte sich an sie als eine Frau, die sie auf Mitte dreißig geschätzt hatte, mit glatter, dunkler Haut und schwarzem Haar. Nun hatte sie Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln, und ihr straff geflochtenes Haar war grau meliert. Maria warf einen Blick zu den anderen Leichen und konnte jetzt erkennen, dass auch ihnen das Alter anzusehen war.
»Es ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte sie atemlos. »Ich … habe nur das Blut bemerkt. Wir waren seit Jahrzehnten auf diesem Schiff. Erinnern Sie sich an irgendetwas?«
»Nein.« Joannas Stimme war hart und tonlos. »Wir müssen es der Kapitänin sagen.«
»Niemand berührt etwas! Dieser ganze Raum ist ein Tatort!«, rief Wolfgang ihnen zu. »Gehen Sie weg von dieser Leiche!«
»Wolfgang, dieser Tatort, sofern es wirklich einer ist, wurde bereits von etwa fünfhundert Litern Synth-Amneo kontaminiert«, sagte Hiro, der sich jetzt vor Pauls Tank befand. »Ganz zu schweigen vom Blut, das überallhin gespritzt ist.«
»Wie meinst du das – sofern es ein Tatort ist?«, fragte Maria. »Glaubst du, das Schiff hat einfach die Rotation eingestellt, weil der Gravantrieb ausgefallen ist, und dann sind einfach irgendwelche Messer herumgeflogen?«
Apropos – das Messer trieb an der Decke dahin. Maria stieß sich ab und flog hinüber, um es sich zu schnappen, bevor es gegen den Luftansaugfilter prallen konnte, der ohnehin von Körperflüssigkeiten verstopft war, über die sie gar nicht genauer nachdenken wollte.
Die Ärztin tat, wie von Wolfgang befohlen, und entfernte sich von der Leiche ihres alten Körpers. Sie kam zu ihm und der Kapitänin herüber. »Hier geht es um Mord«, sagte sie. »Aber Hiro hat recht, Wolfgang, es gibt einen Grund, warum die Null-G-Forensik nie eine große Zukunft als Wissenschaft hatte. Die Luftfilter saugen die Beweise ab, während wir hier miteinander reden. Inzwischen dürfte jeder mit dem Blut von allen anderen in Berührung gekommen sein. Wir sind jetzt sechs neue Leute, und das Synth-Amneo aus sechs Tanks fliegt herum und versaut alles, was noch übrig ist.«
Wolfgang zog eine finstere Miene und funkelte sie an. Sein großer, schlanker Körper schimmerte von der bläulichen Amneo-Flüssigkeit. Er öffnete den Mund, um der Ärztin etwas zu entgegnen, doch Hiro kam ihnen zuvor.
»Fünf«, warf Hiro ein. Er hustete und spuckte noch mehr Synth-Amneo aus, dem Maria knapp ausweichen konnte. Er verzog bedauernd das Gesicht. »Fünf neue Leute. Paul ist immer noch drinnen.« Er zeigte auf ihren Ingenieur, der mit geschlossenen Augen in seinem Tank trieb.
Maria erinnerte sich, seine geöffneten Augen gesehen zu haben, als sie noch in ihrem eigenen Tank gewesen war. Doch nun schwammm Paul mit geschlossenen Augen in der Flüssigkeit, die Hände über die Genitalien gelegt, und sah aus wie ein kleiner Junge, der sich vor etwas versteckte, das ihn ansonsten verschlingen würde. Er war zu blass, von Natur aus untersetzt und etwas muskulöser als der dickere Mann, an den Maria sich erinnerte.
»Holen Sie ihn da raus«, sagte Katrina.
Wolfgang gehorchte, begab sich an ein anderes Terminal und drückte den Knopf, der den Tank öffnete.
Hiro griff hinein, packte Paul am Handgelenk und zog ihn und die Flüssigkeit aus dem Tank.
»Okay, nur fünf von uns waren ausgestiegen«, sagte Maria und schwebte herüber. »Das verringert das Synth-Amneo um etwa hundert Liter. Keine überwältigende Verbesserung. Hier fliegt immer noch eine Menge Mist herum. Man dürfte kaum irgendwo anders als an den Leichen selbst Beweise finden.« Sie hielt das Messer mit Daumen und Zeigefinger am Ende des Griffs und reichte es Wolfgang. »Und möglicherweise an der Tatwaffe.«
Er blickte sich um, und Maria verstand, dass er nach etwas suchte, womit er das Messer entgegennehmen konnte. »Ich habe es bereits mit meinen Händen kontaminiert, Wolfgang. Es flog zwischen Blut und Leichen herum. Wahrscheinlich kann es uns nicht mehr verraten, als dass es uns alle getötet hat.«
»Wir müssen IAN wieder in Ordnung bringen«, sagte Katrina. »Und den Gravantrieb wieder aktivieren. Suchen Sie die beiden anderen Leichen. Sehen Sie im Frachtraum nach. Dann haben wir einen kompletten Überblick über unsere Situation.«
Hiro schlug Paul kräftig auf den Rücken, worauf sich der Mann zusammenkrümmte und schluchzend würgte. Wolfgang beobachtete voller Verachtung, wie Paul gegen eine Wand prallte, anscheinend ohne Bewusstsein für seine Umgebung.
»Sobald IAN wieder online ist, kann er einen sicheren Kanal zur Erde öffnen«, sagte Katrina.
»Meine Sprachfunktionen sind nicht zugänglich«, wiederholte der Computer.
Katrina knirschte mit den Zähnen.
»Das dürfte schwierig werden, Kapitänin«, sagte Joanna. »Diese Leichen haben ein beträchtliches Alter, was darauf hindeutet, dass wir uns schon viel länger im Weltraum aufhalten, als unsere Mindmaps vermuten lassen.«
Katrina rieb sich die Stirn und schloss die Augen. Sie schwieg, dann öffnete sie die Augen wieder und machte sich daran, Befehle in das Terminal einzutippen. »Bringen Sie Paul auf Vordermann. Wir brauchen ihn.«
Hiro starrte hilflos auf Paul, der immer noch schluchzte, zu einer dahintreibenden Kugel zusammengerollt, während er weiter versuchte, seine Geschlechtsteile zu verbergen.
Ein Klumpen aus Erbrochenem – nicht das Synth-Amneo aus den Lungen, sondern tatsächlicher Mageninhalt – trieb auf die Luftansaugung zu und wurde vom Filter verschluckt. Maria wurde klar, dass sie, nachdem alle Prioritäten der Kapitänin erledigt waren, noch eine ganze Weile damit beschäftigt wäre, die Luftfilter auszuwechseln und vielleicht sogar durch die Luftschächte des Schiffs zu kriechen, um sämtliche Reste von Körperflüssigkeiten zu entsorgen, bevor sie zu einem biologischen Risiko wurden. Plötzlich kam ihr die Position einer Wartungstechnikerin an Bord eines bedeutenden Raumschiffs gar nicht mehr so glamourös vor.
»Ich glaube, Paul wird sich besser fühlen, wenn er etwas zum Anziehen hat«, sagte Joanna, während sie ihn mit einem mitleidigen Blick bedachte.
»Ja, etwas zum Anziehen klingt gut«, sagte Hiro. Sie alle waren nackt und hatten Gänsehaut. »Und vielleicht auch eine Dusche, wenn wir schon beim Thema sind.«
»Ich brauche meine Krücken oder einen Rollstuhl«, sagte Joanna. »Es sei denn, wir wollen den Gravantrieb ausgeschaltet lassen.«
»Hören Sie auf damit!«, sagte Katrina. »Der Mörder könnte immer noch an Bord sein, und Sie reden über Duschen und Kleidung?«
Wolfgang tat ihre Besorgnis mit einer Handbewegung ab. »Nein, offensichtlich ist der Mörder im Kampf gestorben. Wir sind die einzigen sechs Personen an Bord des Schiffs.«
»Das wissen Sie nicht«, sagte de la Cruz. »Was ist in den letzten paar Jahrzehnten geschehen? Wir müssen vorsichtig sein. Niemand geht allein irgendwohin. Immer nur zu zweit. Maria und Hiro, Sie holen die Krücken der Ärztin aus der Krankenstation. Sie wird sie brauchen, wenn der Gravantrieb wieder läuft.«
»Ich könnte einfach die Prothesen von dieser Leiche übernehmen«, sagte Joanna und zeigte nach oben. »Sie benötigt sie nicht mehr.«
»Das sind Beweisstücke«, sagte Wolfgang, während er seine eigene Leiche stabilisierte, um sich die Stichwunden ansehen zu können. Er konzentrierte sich auf die blutigen Blasen, die immer noch am Brustkorb hingen. »Kapitänin?«
»Gut, holen Sie ein paar Overalls, besorgen Sie der Ärztin einen Rollstuhl oder was auch immer, und überprüfen Sie den Gravantrieb«, sagte Katrina. »Alle anderen machen sich an die Arbeit. Wolfgang, wir beide werden die Leichen zusammenschnüren. Wir sollten verhindern, dass sie weitere Schäden erleiden, wenn der Gravantrieb wieder aktiviert wird.«
Auf dem Weg nach draußen hielt Maria kurz inne, um sich ihre eigene Leiche anzusehen, was sie bislang noch nicht getan hatte. Die Vorstellung, in ihr eigenes totes Gesicht zu blicken, war ihr zu gruselig vorgekommen. Die Leiche war auf einem Sitz vor einem Terminal festgeschnallt und trieb langsam in den Gurten. Eine große Blase aus Blut hing an ihrem Genick, wo man ihr offenbar ein Messer hineingerammt hatte. Ihe Lippen waren weiß, und die Haut hatte einen kränklichen Grünton. Jetzt wusste Maria, woher das herumfliegende Erbrochene stammte.
»Wie es aussieht, war ich es, die den Wiederbelebungsschalter gedrückt hat«, sagte sie zu Hiro und zeigte auf ihre Leiche.
»Das ist gut«, sagte Hiro. Er blickte zur Kapitänin, die sich mit Wolfgang unterhielt. »Allerdings solltest du in nächster Zeit nicht mit einem Orden rechnen. Sie sieht nicht danach aus, als wäre sie in der richtigen Stimmung.«
Der Wiederbelebungsschalter war ein ausfallsicheres System. Falls alle Klone an Bord des Schiffs gleichzeitig starben, was statistisch sehr unwahrscheinlich war, sollte die KI in der Lage sein, die nächsten Klone zu wecken. Wenn das Schiff nicht dazu imstande war, was statistisch noch unwahrscheinlicher war, löste ein Knopf im Klonraum den Vorgang aus, vorausgesetzt, es lebte noch jemand, der ihn drücken konnte.
Wie bei den anderen wies auch Marias Leiche Anzeichen eines fortgeschrittenen Alters auf. Ihr Körper war weicher geworden, und die Hände, die über dem Terminal schwebten, waren dünn und fleckig. Sie war biologisch neununddreißig Jahre alt gewesen, als sie an Bord gegangen waren.
»Ich habe Ihnen einen Befehl gegeben«, sagte Katrina. »Und Dr. Glass, wie es aussieht, sollten Sie die Aufgabe übernehmen, unserem Ingenieur gut zuzureden. Beeilen Sie sich, oder er wird einen weiteren neuen Körper brauchen, wenn ich mit ihm fertig bin.«
Hiro und Maria machten sich auf den Weg, bevor die Kapitänin genauer erklären konnte, was sie ihnen antun würde. Obwohl es schwierig wäre, das zu toppen, was sie offensichtlich vor Kurzem durchgemacht hatten, überlegte Maria.
Maria hatte das Schiff glänzender und heller in Erinnerung: metallisch und glatt, mit Handgriffen an den Wänden für Nullschwerkraftsituationen und dünnen Metallgittern als Boden, unter dem ein Unterboden mit Staufächern und Rohren zu erkennen war. Jetzt war alles matter, ein weiterer Hinweis, dass ein jahrzehntelanger Raumflug das Schiff genauso verändert hatte wie die Besatzung. Es war dunkler, da einige Lampen ausgefallen waren, woran auch die gelbe Notbeleuchtung nicht viel änderte. Jemand – wahrscheinlich die Kapitänin – hatte den Alarm ausgelöst.
Zuvor war Maria einige Male in einer überwachten Umgebung gestorben. Sie hatte wegen Krankheit, Alter oder in einem Fall wegen einer Verletzung im Bett gelegen. Hilfreiche Techniker hatten eine letzte Mindmap ihres Gehirns erstellt, dann war sie euthanasiert worden, nachdem sie ein Genehmigungsformular unterschrieben hatte. Ein Arzt hatte es bestätigt, der Körper war ordnungsgemäß entsorgt worden, und sie war wieder aufgewacht, jung, schmerzfrei und mit den vollständigen Erinnerungen an alle vorherigen Leben.
Einige Male war es nicht so angenehm abgelaufen, aber es waren immer noch bessere Erfahrungen gewesen als die jetzige.
Ihre eigene Leiche zu sehen, voller Blut und Erbrochenem, war ein Schock gewesen, den sie nie für möglich gehalten hatte. Wenn ein Leben abgeschlossen war, hatte die Leiche keine Bedeutung mehr, auch nicht auf einer sentimentalen Ebene. Nur noch der künftige Körper zählte. Die Vergangenheit sollte nicht mehr präsent sein und einem mit toten Augen ins Gesicht starren. Sie erschauderte.
»Wenn die Maschinen wieder laufen, wird es auch wärmer«, sagte Hiro hilfreicherweise, als er den Grund für ihr Erschaudern missverstand.
Sie erreichten eine Kreuzung, und sie wandte sich nach links. »Jahrzehnte, Hiro. Wir waren mehrere Jahrzehnte lang hier draußen. Was ist mit unseren Mindmaps passiert?«
»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte er.
»Die Cocktailparty in der Luna-Station, während die letzten Passagiere in die Kryo gingen und verladen wurden. Wir bestiegen das Schiff. Wir hatten ein paar Stunden Zeit, unsere Quartiere zu beziehen. Dann kam der Rundgang, der im Klonraum endete, wo wir das letzte Update unserer Mindmaps machten.«
»Bei mir genauso«, sagte er.
»Hast du Angst?«, fragte Maria und hielt an, um ihn zu betrachten.
Sie hatte ihn sich nicht genauer angesehen, seit sie im Klonraum erwacht waren. Sie war es gewohnt, dass Klone mit einer Lebenserfahrung von Jahrhunderten den Eindruck erwecken konnten, sie hätten gerade erst die Universität verlassen. Ihre Körper erwachten im besten Alter, mit zwanzig Jahren, und waren bereits mit kräftigen Muskeln ausgestattet. Was die Klone nach dem Aufwachen mit diesen Muskeln machten, lag ganz bei ihnen selbst.
Akihiro Sato war ein schlanker Mann japanischer Abstammung aus der Panpazifischen Union. Er hatte relativ kurzes schwarzes Haar, das zu steifen Schmachtlocken trocknete, drahtige Muskeln und hohe Wangenknochen. Seine Augen waren schwarz und erwiderten ruhig ihren Blick. Den Rest seines Körpers sah sie sich nicht zu genau an, weil sie nicht unanständig sein wollte.
Er zupfte an einer Locke und versuchte sie zu glätten. »Ich bin schon an schlimmeren Orten aufgewacht.«
»Zum Beispiel?«, fragte sie und zeigte zum Korridor zurück, durch den sie gekommen waren. »Was kann schlimmer als eine Horrorfilmkulisse sein?«
Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe es nicht wörtlich gemeint. Ich meine, ich habe schon einige Male Zeit verloren. Manchmal muss man lernen, sich anzupassen. Schnell. Ich wache auf. Ich schätze die unmittelbare Bedrohung ein. Ich versuche mich zu erinnern, wo ich war, als ich das letzte Mal ein Mindmap-Update hochgeladen habe. Diesmal bin ich mitten in einem Haufen von Leichen aufgewacht, aber ich konnte keine direkte Gefahr erkennen.« Er legte neugierig den Kopf schief. »Hast du noch nie Zeit verloren? Nicht einmal eine Woche? Du bist doch sicher schon einmal zwischen zwei Back-ups gestorben.«
»Ja«, gestand sie ein. »Aber ich bin niemals in einer Gefahrensituation oder kurz nach einer Gefahrensituation aufgewacht.«
»Du bist nicht in Gefahr«, sagte er. »Zumindest das wissen wir.«
Sie starrte ihn an.
»Nicht in unmittelbarer Gefahr«, stellte er richtig. »Ich werde dich nicht hier in diesem Korridor abstechen. Unsere ganze Gefahr besteht in diesem Moment in Problemen, die wir wahrscheinlich lösen können. Verlorene Erinnerungen, kaputte Computer, die Suche nach einem Mörder. Nur ein bisschen Arbeit, und wir sind wieder auf Kurs.«
»Du bist der ungewöhnlichste Optimist, den ich je kennengelernt habe«, sagte sie. »Trotzdem würde ich gern weiter ausflippen, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Versuch dich zusammenzureißen. Du willst nicht zu dem werden, was auch immer aus Paul geworden ist«, schlug er vor, während er den Weg durch den Korridor fortsetzte.
Maria folgte ihm, froh darüber, dass er nicht hinter ihr war. »Ich reiße mich zusammen. Ich bin hier, nicht wahr?«
»Du würdest dich vermutlich besser fühlen, wenn du geduscht und etwas gegessen hättest«, sagte er. »Ganz zu schweigen von Kleidung.«
Sie beide trugen nur die klebrige, halb getrocknete Synth-Amneo-Flüssigkeit am Körper. Maria hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so sehr nach einer Dusche gesehnt. »Machst du dir überhaupt keine Sorgen, was uns erwartet, wenn wir deine Leiche finden?«, fragte sie.
Hiro blickte sich zu ihr um. »Ich habe schon vor einer ganzen Weile gelernt, nicht um alte Hüllen zu trauern. Ansonsten würden wir mit jedem neuen Leben immer trübsinniger werden. Ich glaube sogar, dass das vielleicht Wolfgangs Problem ist.« Er runzelte die Stirn. »Musstest du dich jemals selbst um die Entsorgung deines alten Körpers kümmern?«
Maria schüttelte den Kopf. »Nein. Schon die Begegnung war verstörend. Sie starrte mich an, als würde sie mir die Schuld an allem geben. Aber das ist immer noch ein wenig besser, als gar nicht zu wissen, was passiert ist.«
»Oder durch wen es passiert ist«, sagte Hiro. »Er oder sie hatte ein Messer.«
»Und er oder sie ist brutal vorgegangen«, sagte Maria. »Es könnte jemand von uns gewesen sein.«
»Wahrscheinlich, oder wir hätten es mit einer aufregenden Erstkontakt-Situation zu tun. Oder einem Zweitkontakt, nachdem der erste so übel abgelaufen ist …«, fügte Hiro ernüchtert hinzu. »Aber es könnte wirklich alles Mögliche schiefgelaufen sein. Es könnte sogar sein, dass jemand verrückt wurde, nachdem er oder sie aus der Kryo aufgewacht ist. Durch eine Computerpanne wurde die Mindmap beschädigt. Aber wahrscheinlich lässt es sich ganz einfach erklären … als wäre jemand erwischt worden, wie er beim Poker geschummelt hat. In der Hitze des Gefechts, jemand hatte ein Ass im Ärmel, die Ärztin warf den Tisch um …«
»Das ist nicht witzig«, sagte Maria leise. »Es war Wahnsinn, und es war kein Verbrechen im Affekt. Wenn es das wäre, hätten wir es nicht mit einem abgeschalteten Gravantrieb zu tun. Uns würden nicht mehrere Jahrzehnte Erinnerung fehlen. IAN hätte uns einfach sagen können, was los ist. Aber irgendjemand – einer von uns – wollte uns alle töten, also hat er – oder sie – auch an den Back-ups unserer Persönlichkeiten herumgepfuscht. Warum?«
»Ist das eine rhetorische Frage? Oder erwartest du wirklich, dass ich es weiß?«, fragte er zurück.
»Rhetorisch«, brummte Maria. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Eine Strähne aus steifem schwarzem Haar schlug ihr ins Gesicht, und sie zuckte zusammen. »Es könnten auch zwei Personen gewesen sein. Eine tötete uns, die andere machte sich an den Erinnerungen zu schaffen.«
»Wohl wahr«, sagte er. »Wir können vermutlich davon ausgehen, dass alles vorsätzlich geplant war. Jedenfalls hat die Kapitänin recht. Wir sollten vorsichtig sein. Und wir sollten eine Vereinbarung treffen. Ich verspreche, dass ich dich nicht töten werde, und du versprichst, mich nicht zu töten. Abgemacht?«
Maria musste trotz allem lächeln. Sie schüttelte seine Hand. »Ich verspreche es. Jetzt lass uns weitergehen, bevor die Kapitänin uns jemanden hinterherschickt.«
Die Tür zur Krankenstation wurde von roten Lämpchen umrahmt, damit sie leichter gefunden werden konnte, auch wenn man krank oder verletzt war. In der Alarmsituation blinkten die Lichter abwechselnd rot und gelb. Hiro hielt abrupt am Eingang inne. Maria prallte gegen seinen Rücken, und die Kollision versetzte sie in leichte Rotation, wie Zahnräder in einem Uhrwerk. Er wurde zum Korridor herumgedreht, während sie nach vorn driftete und sehen konnte, was ihn so plötzlich hatte stutzen lassen.
Der Körperkontakt hätte ein unangenehmer Moment sein können, wenn die Szene vor ihnen nicht so schockierend gewesen wäre.
In der Krankenstation lag eine übel zugerichtete, ältere Version von Kapitänin Katrina de la Cruz in einem Bett. Sie war bewusstlos, aber noch sehr lebendig, an ein Lebenserhaltungssystem mit Infusion, Atemschläuchen und Monitoren angeschlossen. Ihr Gesicht war voller Prellungen, und ihr rechter Arm trug einen Gipsverband. Sie war an das Bett angeschnallt, das magnetisch am Boden verankert war.
»Ich dachte, wir alle wären gestorben«, sagte Hiro erstaunt und leiser als sonst.
»So hätte es sein sollen, wenn wir alle aufgewacht sind. Ich vermute, dass ich irgendwie den Notschalter für die Wiederbelebung gedrückt habe«, sagte Maria und stieß sich vom Türrahmen ab, um näher an die Kapitänin heranzuschweben.
»Zu schade, dass du dich nicht selbst fragen kannst«, erwiderte Hiro trocken.
Die Erschaffung eines doppelten Klons wurde hart bestraft und resultierte üblicherweise in der Vernichtung des älteren Klons. Allerdings würde Wolfgang es angesichts mehrerer Mordfälle und nun auch noch einer Körperverletzung wahrscheinlich nicht als Priorität betrachten, dieses spezielle Verbrechen zu bestrafen.
»Über das hier wird niemand glücklich sein«, sagte Hiro und zeigte auf den bewusstlosen Körper der Kapitänin. »Und Katrina erst recht nicht. Was machen wir jetzt mit zwei Kapitäninnen?«
»Es könnte ein Vorteil sein«, sagte Maria. »Wenn wir sie aufwecken können, finden wir vielleicht heraus, was passiert ist.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass sie dir zustimmen würde«, sagte er.
Ein silbernes Laken bedeckte den Körper und schwebte träge, wo es nicht von den Gurten festgehalten wurde. Der Klon der Kapitänin lag still da, das einzige Geräusch kam vom Beatmungsschlauch.
Maria hangelte sich zum Schrank auf der gegenüberliegenden Seite des Raums hinüber. Sie griff sich eine Handvoll großer Overalls, auch wenn sie zu kurz für Wolfgang, zu eng für die Ärztin und zu weit für Maria waren. Dann zog sie aus dem Schrank, in den schwaches Licht fiel, einen zusammengeklappten Rollstuhl hervor.
Sie reichte Hiro einen Overall und legte selbst einen an, wobei sie keine Hemmungen hatte und sich nicht von ihm abwandte. In den mittleren Lebensjahren waren manche Menschen reif genug, um darauf zu pfeifen, was jemand über ihren Körper denken mochte. Wenn man das ein paarmal multiplizierte, entsprach das der Züchtigkeit (oder dem Mangel daran) eines durchschnittlichen Klons. Als Maria zum ersten Mal gespürt hatte, wie sich ihre Befangenheit legte, war es für sie befreiend gewesen. Diese Einstellung behielten viele Klone bei, auch nachdem sie wieder jugendliche Körper erhielten, da sie wussten, dass ein vom Computer konstruierter Körper irgendwelchen Idealen viel näher war, als man mit Diäten und Sport erreichen konnte.
Der schluchzende Ingenieur Paul war der beschämteste Klon gewesen, den Maria jemals gesehen hatte.
Der Stoff des Overalls war nicht so weich wie Marias rote Technikeranzüge in ihrem Quartier, aber zumindest war ihr jetzt etwas wärmer. Sie fragte sich, wann man ihnen endlich erlauben würde, etwas zu essen und in ihre Quartiere zurückzukehren, um sich zu duschen und zu schlafen. Das Aufwachen war eine anstrengende Prozedur für einen Klon.
Hiro war bereits angezogen und hatte sich zum Bett begeben, wo er das Gesicht der Kapitänin musterte. Maria manövrierte sich ebenfalls mithilfe der Handgriffe an der Wand zu ihm hinüber. In seinem normalerweise freundlichen Gesicht spiegelte sich nun die Ernsthaftigkeit ihrer Situation.
»Wahrscheinlich können wir diese Leiche nicht einfach verstecken, oder?«, fragte er. »Sie recyceln, bevor irgendjemand davon erfährt? Das könnte uns in nächster Zukunft eine Menge Kopfschmerzen ersparen.«
Maria überprüfte die Werte, die auf dem Computerbildschirm angezeigt wurden. »Ich glaube nicht, dass sie schon eine Leiche ist. Sie zur Leiche zu erklären, um sie zu entsorgen, ist die Aufgabe eines Gerichts und nicht unsere.«
»Welches Gericht?«, fragte er, während Maria den Rollstuhl nahm und sich auf den Weg zur Tür machte. »Hier sind nur wir sechs!«
»Sieben«, stellte Maria richtig und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Person in der Krankenstation. »Acht, wenn wir IAN wieder in Ordnung bringen können. Und dann liegt die Entscheidung bei der Kapitänin und bei IAN, nicht bei uns.«
»Gut, dann geh, und überbringe die letzte schlechte Neuigkeit.«
»Ich bin im Augenblick noch nicht bereit, mich mit Wolfgang auseinanderzusetzen«, sagte Maria. »Oder mitzuerleben, wie die Kapitänin Paul ein neues Arschloch aufreißt. Außerdem müssen wir noch den Gravantrieb überprüfen.«
»Wolfgang aus dem Weg zu gehen, klingt für mich nach einer guten höchsten Prioritätsstufe«, sagte Hiro. »Und wenn ich meinen letzten Klon ausfragen könnte, hätte auch er sich vermutlich bemüht, einen großen Bogen um Wolfgang zu machen.«
Die Brücke des Raumschiffs Dormire war eine beeindruckende Angelegenheit, mit einem Sitz für die Kapitänin und einem für den Piloten an den Computerterminals, die auf dem Boden standen. Doch gleich am Eingang zum Raum führte eine Leiter zu einer Stelle hinauf, wo ein paar bequeme Bänke an der Wand befestigt waren, der ideale Ort, um das Universum zu beobachten, während sich das Schiff langsam der Lichtgeschwindigkeit annäherte. Der Raum selbst bestand aus einer Kuppel, die aus Diamant konstruiert worden war, sodass man einen Blick auf ein 270-Grad-Panorama hatte. Die Pilotenkanzel sah aus wie eine große gläserne Warze am Ende des Schiffs, aber von dort hatte man einen wunderbaren Blick auf das Universum, das sich um einen drehte, wenn der Gravantrieb das Schiff rotieren ließ. Nachdem er jetzt deaktiviert war, wirkte der Weltraum statisch, obwohl sie sich mit einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit vorwärtsbewegten.
Allerdings konnte einem davon durchaus übel werden. Rundherum nur Weltraum, und selbst der Fußboden war durchsichtig. Maria erinnerte sich, dass sie auf dem Rundgang durchs Schiff hier gewesen war, aber jetzt sah sie es zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch von Luna. Zumindest war es das erste Mal in der Erinnerung dieses Klons.
Sie löste ihren Blick von der Aussicht, den Terminals, der Pilotenkonsole und den Bänken und sah Hiros alten Körper, der fast am oberen Ende der Kuppel schwebte. Er hing an einem Strick, der an der Basis einer Bank befestigt worden war. Sein Gesicht war gerötet, und die offenen Augen traten hervor.
»Oh! Da …« Er verstummte, um zu schlucken, bevor er weitersprach. »… da bin ich.« Er wandte sich mit grünlichem Gesicht ab.
»Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber auf keinen Fall einen Selbstmord«, sagte Maria leise und blickte in das angeschwollene, schmerzverzerrte Gesicht. »Ich hatte sogar daran gedacht, dass vielleicht auch du überlebt hast.«
»Tod durch Erhängen habe ich nicht erwartet«, sagte er. »Aber ich glaube, ich habe gar nichts erwartet. Jetzt ist alles so real.« Er hielt sich die Hand vor den Mund.
Maria wusste, zu viel Mitgefühl konnte dazu führen, dass eine Person am Rand der Verzweiflung endgültig die Kontrolle verlor, also wurde sie sachlich. »Ich hoffe, du kotzt hier nicht. Ich muss schon den Klonraum säubern, und du hast die Sauerei dort gesehen. Zwing mich nicht, noch mehr aufwischen zu müssen.«
Er starrte sie an, doch nun kehrte langsam etwas Farbe in sein Gesicht zurück. Er schaute nicht noch einmal nach oben.
Etwas stieß behutsam gegen Marias Hinterkopf. Sie griff danach und stellte fest, dass es ein brauner Lederstiefel war. Die erhängte Leiche trug den zweiten.
»Allmählich wird ein Zeitablauf erkennbar«, sagte Maria. »Das Erhängen kann nur passiert sein, als wir noch Schwerkraft hatten. Ich glaube, das ist gut.«
Hiro hatte der Brücke immer noch den Rücken zugekehrt und blieb dem Korridor zugewandt. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief durch.
Maria legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Komm jetzt. Wir müssen den Gravantrieb wieder hochfahren.«
Hiro drehte sich um und konzentrierte sich auf das Terminal, das rot blinkte.
»Kannst du ihn auch ohne IAN wieder aktivieren?«, fragte Maria.
»Es müsste eigentlich möglich sein. IAN kann alles kontrollieren, aber wenn er offline ist, sind uns nicht die Hände gebunden. War das mein Schuh?« Die letzte Frage klang beiläufig, als hätte sie keine große Bedeutung.
»Ja.« Maria schwebte zur Pilotenkonsole hinüber und sah sich die Leiche genauer an. Es war schwer zu erkennen, weil das Gesicht durch die Erhängung so stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, aber Hiro sah anders als der Rest der Besatzung aus. Alle erweckten den Eindruck, dass Jahrzehnte seit dem Start von der Luna-Station vergangen waren. Aber Hiro sah genauso aus wie jetzt, als wäre er frisch aus dem Tank gekommen.
»Hiro, mir scheint, dass du während der Reise schon mindestens einmal gestorben bist. Wahrscheinlich kurz vor dem Fiasko. Dieser Klon ist neuer als die anderen«, sagte sie. »Ich glaube, wir sollten damit anfangen, alle Seltsamkeiten zu notieren.«
Hiro gab einen Laut von sich wie ein Tier, das in einer Falle festsaß. Er hatte jeden Humor verloren. Sein Blick war hart, als er endlich zu ihr und dem Klon aufschaute. »Gut. Das war es jetzt.«
»Was war was?«
»Der letzte Strohhalm. Jetzt habe ich offiziell Angst.«
»Jetzt? Du hast so lange gebraucht, um Angst zu bekommen?«, fragte Maria, während sie sich zum Boden hinunterhangelte. »Nach allem, womit wir es hier zu tun haben, bekommst du erst jetzt Angst?«
Hiro schlug auf das Terminal ein, kräftiger, als Maria es für nötig gehalten hätte. Nichts tat sich. Er verschränkte die Arme, löste sie wieder voneinander und sah sie an, als wären Arme eine völlig neue Art von Gliedmaßen, mit der er nichts anzufangen wusste.
Er nahm den Stiefel von Maria entgegen und zog ihn sich über einen Fuß.
»Ich hatte es gerade geschafft, mit allem anderen zurechtzukommen«, sagte er. »Es war etwas, das mit euch allen passiert ist. Ich hatte nichts damit zu tun. Ich war kein Gast auf der Wochenend-Horrorparty. Ich war nur als hilfreiches, freundliches Gesicht dabei. Ich war hier, um euch zum Lachen zu bringen. Super, Hiro sorgt immer für gute Laune!«
Maria legte eine Hand auf seine Schulter und blickte ihm in die Augen. »Willkommen im Panikraum, Hiro. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Atme tief durch. Jetzt müssen wir den Antrieb starten und dann der Kapitänin und Wolfgang Bericht erstatten.«
»Du musst sehr verzweifelt sein, wenn du unbedingt mit Wolfgang reden willst«, sagte er und sah aus, als würde er sich zu einem Lächeln zwingen, was ihm jedoch misslang.
»Und wenn du den Antrieb hochgefahren hast, könntest du dann herausfinden, welches Jahr wir haben, die Fracht überprüfen und vielleicht von hier aus Kontakt mit IAN aufnehmen?«, fragte Maria. »Nach allem, was passiert ist, wäre es nett, auch mit ein paar guten Neuigkeiten zurückzukommen. Oder zumindest etwas besseren Neuigkeiten.«
Hiro nickte. Sein Mund war geschlossen, als würde er etwas zurückhalten, das er bereuen würde, wenn er es aussprach. Vielleicht auch einen Schrei. Er schwebte zu seinem Pilotensessel hinüber und schnallte sich an. Der Bildschirm der Konsole blinkte ihn weiterhin in hellem Rot an. »Danke für die Warnung, IAN. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass der Antrieb ausgefallen ist.«
Er gab ein paar Befehle ein und tippte auf den Touchscreen. Sirenen heulten überall im Schiff auf, um alle zu warnen, die in der Schwerelosigkeit dahintrieben, dass die Gravitation zurückkehren würde. Hiro tippte noch einige Mal gegen den Bildschirm, gab etwas über eine Tastatur ein, während seine Miene immer finsterer wurde. Er stellte ein paar Berechnungen an, bevor er laut seufzte, sich im Sessel zurücklehnte und sich die Hand aufs Gesicht legte.
»Oh Mann!«, sagte er. »Es ist alles viel schlimmer, als wir dachten.«
Maria hörte, wie der Gravantrieb hochgefahren wurde. Ein Ruck lief durch das Schiff, als die Motoren das Fünfhunderttausend-Bruttoregistertonnen-Schiff wieder in Rotation versetzten. Sie griff nach der Leiter an der Wand, um zur Bank zu gelangen und nicht abzustürzen, wenn die Schwerkraft wieder einsetzte.
»Was ist?«, fragte sie. »Sind wir nicht mehr auf Kurs?«
»Wir haben uns anscheinend vierundzwanzig Jahre und sieben Monate lang im Weltraum aufgehalten.« Er hielt kurz inne. »Und neun Tage.«
Maria rechnete nach. »Also haben wir das Jahr 2493.«
»Inzwischen müssten wir etwas mehr als drei Lichtjahre von zu Hause entfernt sein. Weit außerhalb des Ereignishorizonts für eine realistische Kommunikation mit der Erde. Und das sind wir auch. Aber wir sind außerdem zwölf Grad vom Kurs abgekommen.«
»Das … tut mir leid, ich verstehe nicht genau, was das bedeutet. Kannst du mir das in Wartungstechnikersprache übersetzen?«
»Wir werden langsamer, und wir kehren um. Ich freue mich nicht darauf, das der Kapitänin zu erklären«, sagte er und schnallte sich vom Sessel los. Er warf einen Blick hinauf zu seinem eigenen Körper, der wie ein gruseliger Drachen am Ende des Stricks dahintrieb. »Den können wir später abnehmen.«
»Was haben wir uns dabei gedacht? Warum sind wir vom Kurs abgewichen?«, überlegte Maria laut, während sie durch den Korridor zurückkehrten. Sie hielten sich am Boden, um auf die Schwerkraft vorbereitet zu sein, wenn die Schiffsrotation zunahm.
»Warum die Besatzung ermorden, warum den Gravantrieb abschalten, warum die Kapitänin verschonen, warum habe ich Selbstmord begangen, und warum hatte ich anscheinend das Bedürfnis, mir davor einen Schuh auszuziehen?«, sagte Hiro. »Setz auch das alles auf deine Liste, Maria. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir offiziell im Arsch sind, ganz gleich, wie die Antworten auf all diese Fragen lauten.«
Diamanten
Der einzige Teil der Mission der Dormire, der anscheinend nicht gescheitert war, war der Zustand der Fracht.
Während das Schiff mit einer Minimalbesatzung unterwegs war, schliefen im Frachtraum zweitausend Menschen in der Kryo. Auf den Servern im Frachtraum lagen über fünfhundert Klon-Mindmaps. Maria und die anderen fünf waren für über zweitausendfünfhundert Leben verantwortlich.
Maria wollte nicht allzu genau über diese Verantwortung nachdenken. Sie war einfach nur froh, weil Hiro bestätigen konnte, dass alle ihre Passagiere stabil und die Back-ups unbeschädigt waren.
Alle Menschen und Klone hatten ihre Gründe, auf diese Reise zu gehen: Abenteuer und Forschungsdrang waren der Antrieb für viele der Menschen, die Flucht vor religiöser Verfolgung der für viele der Klone. Neben diesen beiden Gruppen gab es noch eine gewisse Anzahl von politisch oder gesellschaftlich Verbannten, die durch die Reise dem Gefängnis, der Lohnsklaverei oder Schlimmerem entkommen wollten.
Sie alle wurden zum Teil davon angetrieben, dass die Erde durch den Anstieg des Meeresspiegels bewohnbares Land verlor, und von den Kriegen um Territorien und Wasser, die weltweit ausgebrochen waren. Also setzten sich wie immer die Reichen ab, weil sie es konnten.
Es waren jedoch etwas andere Gründe, aus denen die Besatzung an Bord gegangen war. Jeder von ihnen hatte das simple Motiv, dass sie als Kriminelle versuchen wollten, eine weiße Weste zu bekommen.
Ihr Flugziel, der Planet Artemis, war uneingeschränkt bewohnbar, ein wenig kleiner als die Erde und ein echtes Paradies. Er kreiste um Tau Ceti im Sternbild Walfisch.
Maria hatte Zweifel, ob dieses Paradies bewirken konnte, dass Menschen und Klone viel besser als auf der Erde zusammenlebten, aber die Leute hatten nun einmal ihre rosaroten Träume und großartigen Ideen.
»Hast du jemals versucht, dich umzubringen?«, fragte Hiro, während sie mit den Overalls und dem Rollstuhl zum Klonraum zurückkehrten.
»Das ist eine ziemlich persönliche Frage«, sagte Maria und strich mit einer Hand durch ihr langes Haar. Sie verzog das Gesicht, als ihre Finger in der verfilzten Masse hängen blieben.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast gerade meine Antwort gesehen, sie hing über uns. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn all die Arbeit erledigt ist, wird Wolfgang entscheiden, was wegen dieses kleinen Details der heutigen Unglücksfälle unternommen werden sollte. Die Klongesetze der Erde sollen hier draußen nicht ignoriert werden – das wurde recht deutlich klargestellt, bevor wir aufgebrochen sind.«
Maria überlegte, wie seine kriminelle Vergangenheit aussehen mochte. Dann seufzte sie. »Ich habe es tatsächlich einmal versucht. Einmal.«
»Was hat dich davon abgehalten?« Er fragte nicht, ob der Versuch erfolgreich gewesen war, denn in diesem Fall hätte sie nicht das Recht gehabt, in einem neuen Klon aufzuwachen.
»Ein Freund hat es mir ausgeredet«, sagte sie. »Läuft es nicht meistens so ab?«
»Ich wünschte, ich hätte vor ein paar Stunden einen solchen Freund gehabt«, sagte er.
»Wahrscheinlich wärst du dann trotzdem gestorben, da drüben«, sagte sie und zeigte in Richtung Klonraum.
»Aber es wäre kein Selbstmord gewesen. Ich kann mir vorstellen, dass Wolfgang jeden abklopfen wird, um ihm die Schuld geben zu können.«
»Aber du bist jetzt hier. Kümmern wir uns lieber um die unmittelbaren Probleme. Dann finden wir heraus, was mit uns allen passiert ist«, sagte Maria.
Die Stimme der Kapitänin hallte durch den Korridor, ein Schrei der Abscheu.
»Wessen Idee war es, den Gravantrieb wieder einzuschalten?«, rief sie.
»Ihre, Kapitänin«, sagte Hiro, als sie eintraten. »Sie wollten wieder auf festem Boden stehen können.«
Der Klonraum sah immer noch aus wie ein Albtraum, aber zumindest herrschte nun die Schwerkraft über den Albtraum. Maria wollte nie wieder gezwungen sein, Leichen und biologisch gefährlichen menschlichen Abfällen ausweichen zu müssen. Sie und Hiro hatten versucht, sich auf den veränderten Anblick des Gemetzels vorzubereiten, aber die Leichen, die am Boden herumrollten – weil die Schwerkraft noch nicht stark genug war, sie irgendwo festzuhalten –, bereiteten ihnen auf andere Weise Übelkeit. Das Blut und die sonstigen Flüssigkeiten waren an die Wände und auf den Boden gespritzt – und ein Teil davon auch auf die Besatzungsmitglieder. Vielleicht war es sehr klug von Paul gewesen, in seinem Tank bleiben zu wollen.
»Das war eine rhetorische Frage«, sagte die Kapitänin, die sich an der Wand festhielt und gegen den Boden stemmte. »Mir war nicht klar, dass es so schlimm sein würde. Was haben Sie also herausgefunden? Gab es ohne IAN irgendwelche Probleme? Oder konnten Sie von der Brücke aus auf ihn zugreifen?«
»IAN ist immer noch ausgefallen, Kapitänin«, sagte Hiro. »Wir haben das Glück, dass die Pilotenkonsole im unwahrscheinlichen Fall einer Fehlfunktion IANs entsperrt wird. Sonst wäre es Selbstmord. Oder Massenmord. Ist es Massenmord, wenn wir alle an Bord töten?«
Maria zuckte zusammen.
»Apropos, alle unsere Kryo-Passagiere sind vollzählig und wohlauf. Immerhin eine gute Neuigkeit, nicht wahr? Juhu!« Hiro riskierte ein Lächeln.
Die Kapitänin erwiderte es nicht. Sie wandte sich an Maria. »Geben Sie mir einen weniger chaotischen Bericht.«
Maria schluckte. »Ich bin mir nicht sicher, was Hiro getan hat, aber er brauchte nicht allzu lange, um den Gravantrieb wieder in Betrieb zu nehmen und auf den Navigationscomputer zuzugreifen und alles zu überprüfen. Jedenfalls haben wir weitere wichtige Neuigkeiten.«
»Ich übernehme das.« Hiro hob eine Hand und zählte die Punkte an den Fingern ab. »Wir sind seit knapp fünfundzwanzig Jahren im Weltraum. Wir sind zwölf Grad vom Kurs abgewichen und fliegen langsamer als vorgesehen. Ganz zu schweigen …«
»Haben Sie den Kurs korrigiert?«, fiel Katrina ihm ins Wort.
»Ja, Ma’am«, sagte er. »Es wird natürlich eine Weile dauern, bis wir wieder auf dem alten Kurs sind, aber ich habe unsere Flugrichtung angepasst.«
Während Hiro die Kapitänin über ihre Situation informierte, verteilte Maria stumm die Overalls. Wolfgang schnappte sich zwei, ohne sie anzusehen, und warf Paul einen zu – der sich jedoch mit einer Hand an Joannas Rollstuhl und mit der anderen an seinem Tank festhielt. Joanna fing Pauls Anzug ab, um ihn mit einem freundlichen Lächeln gegen ihren Rollstuhl einzutauschen. Dr. Glass nahm ihren Overall lächelnd entgegen, schlüpfte mit geübten Bewegungen hinein und setzte sich dann in ihren neuen Rollstuhl. Sie hielt sich an einem Klontank fest, bis die Schwerkraft stark genug war, um sie auf dem Boden zu halten. Die untere Hälfte ihres Anzugs hing schlaff von ihren winzigen Beinen herab.
»Brauchen Sie etwas, um sie abzubinden, damit sie nicht herumschleifen?«, fragte Maria mit einem Blick auf die herabbaumelnden Hosenbeine.
»Danke, nicht nötig«, sagte Dr. Glass, raffte sie zusammen und verstaute sie ordentlich unter ihrem Körper. »Ich werde später meine anderen Prothesen aus meinem Quartier holen. Oder meine Krücken. Wenn sich alles beruhigt hat.« Sie deutete mit einer Handbewegung auf die Horrorkulisse des Klonraums.
Marias Blick folgte ihrer Geste, nahm noch einmal das Durcheinander aus Leichen, verspritzten Flüssigkeiten und traumatisierten Besatzungsmitgliedern in sich auf. »Ich bin mir nicht sicher, wann sich das alles beruhigen wird. Hier ist gerade eine Menge los.«
Joanna hob eine Augenbraue. »Sie meinen, da ist noch mehr im Gange?«
Maria verzog das Gesicht und zeigte auf die Kapitänin, die sich Hiros Geschichte anhörte, wie sie seine Leiche gefunden hatten. Sie trat an seine Seite. Die Schwerkraft normalisierte sich Stück für Stück, während der Antrieb das Schiff immer schneller rotieren ließ.
»Es sieht ganz nach einem Selbstmord aus«, sagte Hiro, während er dem Blick der Kapitänin auswich.
»Aber im Moment wissen wir noch nichts mit Bestimmtheit«, fügte Maria hinzu. »Außerdem ist er jünger als alle anderen Klone von uns.«
Joanna hielt einen Finger hoch. »Das muss zunächst einmal kein Grund zur Besorgnis sein. Er könnte vor Kurzem aus irgendeinem anderen Grund gestorben sein.«
»Wir können nicht sagen, ob es Selbstmord war, bevor wir die Leiche untersucht haben«, warf Wolfgang ein.
Hiro sah ihn mit überraschtem Ausdruck an. Auch Maria hatte nicht erwartet, dass er sich im Zweifelsfall für ihn einsetzte.
»Da ist noch etwas«, sagte Hiro und sah Maria an.
Also war es ihre Aufgabe, die schlechte Neuigkeit zu überbringen. Sie seufzte und straffte die Schultern. »Die große Überraschung ist«, sagte sie zu Katrina, »dass Ihr vorheriger Klon nicht tot ist. Ihr Körper liegt in der Krankenstation im Koma.«
Die Kapitänin sagte nichts, aber ihr Gesicht verlor jede Farbe, und sie presste die Lippen fest zusammen. Sie sah Paul an, als wäre das alles seine Schuld. »Genug. Sie machen sich an die Arbeit. Hiro, Joanna, Sie begleiten mich zur Krankenstation. Wolfgang, Sie haben hier das Kommando.«
Paul erhob sich, inzwischen vollständig bekleidet, und starrte Katrina an. Er schluchzte nicht mehr, aber er zitterte noch ein wenig. Die zähe Synth-Amneo-Flüssigkeit lief ihm aus dem Haar, als die Schwerkraft langsam zurückkehrte. Er rührte sich nicht.
»Doktor, das ist nicht normal, oder?«, fragte Maria und zeigte mit dem Daumen auf den verängstigten Mann.
»In seltenen Fällen kann es bei einem Klon nach dem Aufwachen zu schlimmen Reaktionen kommen«, sagte Joanna. »Es ist so ähnlich, als würde man aus einem Albtraum aufwachen. Man ist desorientiert und weiß nicht, was real ist und was nicht.«
»Nur dass er diesmal in einem Albtraum aufgewacht ist. Armer Kerl«, sagte Maria.
»Kapitänin, einen Moment, bitte«, sagte Joanna und bewegte ihren Rollstuhl vorsichtig auf Paul zu.
Einer der größten Vorteile des Klonens war, dass jeder Klon, selbst wenn keine Modifikationen an den Genen vorgenommen wurden, im idealen Alter und in bester körperlicher Verfassung aktiviert wurde. Maria hatte Paul als Weißen Mitte vierzig kennengelernt, mit beträchtlichem Bauch und schlecht gekämmtem blondem Haar. Seine Arme waren mit dunklen Flecken überzogen, die wie Moskitostiche aussahen, an denen er nervös kratzte, sodass sie nie verheilten. Er hatte einen Vollbart getragen und konnte die (für ihn) viel zu engen Overalls nicht ausstehen, die sie als Uniform tragen mussten.
Von diesem Paul war nichts mehr vorhanden. Die einzige erkennbare Ähnlichkeit waren die großen, wässrigen blauen Augen, die aus einem kräftigen Gesicht starrten. Die Haut war sauber, mit nur wenigen Muttermalen und Sommersprossen, und der Körper war straff. Nicht wie der eines Bodybuilders, aber der neue Paul war auf jeden Fall jemand, den Maria nicht von der Bettkante schubsen würde. Wenn er nicht ausgesehen hätte, als würde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen.
»Paul, Sie müssen sich zusammenreißen und Ihren Job machen«, sagte Joanna ruhig. »Wenn es irgendein Problem mit Ihrem aktuellem Körper oder Ihrer Mindmap gibt, müssen Sie es mir sofort sagen. Ansonsten brauchen wir Sie, um IAN wieder in Betrieb zu nehmen.«
Wolfgang hob eine weiße Augenbraue. »Glauben Sie, ich hätte ihm das nicht schon längst gesagt?«
»Sie haben einen anderen Wortlaut benutzt«, erwiderte Joanna, ohne ihn anzusehen. Vorsichtig berührte sie Pauls Hand.
Er zuckte vor ihr zurück. »Sie alle hätten mir ruhig etwas Privatsphäre lassen können«, sagte er heiser.
»Privatsphäre?«, schnaufte Wolfgang.
»Das ist lächerlich. Wenn Sie irgendwann Hilfe brauchen, müssen Sie sich daran gewöhnen, von mir untersucht zu werden«, sagte Joanna.
Paul betrachtete seine Leiche und wurde etwas grün im Gesicht. Die Leiche, die zusammen mit den anderen auf dem kalten Boden lag, die mit den mehrfachen Verletzungen im Genick, sah eher so aus, wie Maria sich an ihn erinnerte, nur älter. Er wirkte verschlissen, anscheinend hatten Raum und Zeit es nicht gut mit ihm gemeint, und er wog sogar noch mehr als früher. Er trug ein schäbiges T-Shirt mit dem Logo einer Band, die längst nicht mehr existierte, und sein Overall war nur bis zur Taille geschlossen. Die obere Hälfte des Anzugs lag hinter ihm, wie eine Kapuze für seinen Hintern.
Der lebende Paul schluckte schwer und blickte auf. »Was …?«
»… passiert ist? Das wissen wir genauso wenig und versuchen gerade, es herauszufinden. Deshalb müssen Sie nachsehen, was mit unserer KI nicht stimmt.«
Er nickte einmal und konzentrierte sich auf die Konsole im Klonraum. »Das kann ich schaffen.« Wankend ging er an ihnen vorbei und machte einen großen Bogen um die Leichen, um zum Terminal zu gelangen, von dem aus er auf IAN zugreifen konnte.
Wolfgang beugte sich hinab, um die Leichen zu untersuchen.
Joanna nickte. »Bereit, Kapitänin.«
Katrina ging durch den Korridor voraus, Hiro schob Joannas schlingernden Rollstuhl hinterher. Er vermutete, es wäre der Ärztin lieber gewesen abzuwarten, bis wieder die volle Schwerkraft im Schiff herrschte, bevor sie sich auf den Weg machten, aber sie beklagte sich nicht.
Als sie in den Korridor abbogen, der zur Krankenstation führte, rief Joanna Katrina zu, dass sie anhalten sollte. »Sammeln Sie sich kurz, bevor Sie da reingehen. So etwas kann ziemlich verstörend sein.«
»Auf welche der vielen Situationen, die wir heute schon erlebt haben, wollen Sie damit anspielen?«, fragte Katrina mit bissigem Unterton.
»Die Begegnung mit Ihrem vorherigen Klon«, sagte Joanna.
»Wie viele Male ist so etwas schon passiert? Sofern es keine neuen rechtlichen Bestimmungen gibt, ist es höchst illegal, einen zweiten Klon zu haben, nicht wahr?«
»Nun, auch Mord ist illegal, und trotzdem tun die Leute es immer wieder«, sagte Hiro so locker wie möglich.
Die Kapitänin versteifte sich, als sie sich zwang, langsamer zu werden, damit Hiro und Joanna sie einholen konnten. Unter anderen Umständen hätte es Hiro amüsiert, ihren inneren Kampf zu beobachten, aber jetzt war er damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie es ihm in einer solchen Situation ergehen würde. Zumindest in dieser speziellen Situation.
Er bezweifelte, dass er sich besser gehalten hätte, wenn er an seine Reaktion dachte, als er seine eigene Leiche nach einem offensichtlichen Selbstmord auf der Kommandobrücke gefunden hatte.
Die Kapitänin musste sich jetzt damit auseinandersetzen, dass ein Klon von ihr lebte, der andere Erinnerungen als sie hatte. Das warf juristische und moralische Fragen auf, wer das Recht hatte, die wahre Katrina de la Cruz zu sein. Ein Kampf um den Anspruch auf die Schiffsführung wäre unvermeidlich, aber das wäre vermutlich nur die erste von verschiedenen Auseinandersetzungen.
Oder sie interpretierten das Gesetz einfach buchstabengetreu und terminierten den älteren Klon. Auch das geschah manchmal.
IAN hätte ihnen bei dieser Entscheidung helfen können, aber auch diese Möglichkeit führte derzeit noch in eine Sackgasse.
Sie traten in die Krankenstation. Die Kapitänin ging direkt zum Bett hinüber und blickte auf ihren älteren, komatösen Körper. Ihre Haut wurde blass, dann dunkel, und ihre Lippen verloren jede Farbe. Sie sog scharf den Atem ein und drehte sich dann zu Hiro und Joanna um. »Recyceln Sie diesen Körper.«
Joanna sah sie erstaunt an. »Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen? Das ist eine Person, die hier liegt.«
»Juristisch wurde sie in dem Moment, als ich aufwachte, zu einer bloßen Hülle«, erwiderte Katrina. »Recyceln Sie den Körper.« So zielstrebig, wie es ihr in der geringen Schwerkraft möglich war, verließ sie die Krankenstation wieder.
»Sehen Sie? Ich hatte schon zu Maria gesagt, dass sie exakt so reagieren würde«, sagte Hiro und sah Joanna an. »Aber ich glaube, wir brauchen sie.«
Joanna nickte. »Unsere einzige Zeugin.« Sie bewegte sich näher heran, um die Werte vom Terminal neben dem Bett abzulesen.
»Außerdem würde ich es als unethisch betrachten.«
Die Ärztin rieb sich das Gesicht. »Ich hasse diese Probleme. Es gibt nie eine gute Antwort. Könnten Sie nachsehen, ob meine Ersatzprothesen hier sind?«
»Wie oft hatten Sie schon mit einem solchen Problem zu tun?«, fragte Hiro sie, während er sich in der Krankenstation umsah.
Joanna kramte in einer Schublade. Schließlich zog sie ein Tablet hervor und schaltete es ein. »Im Medizinstudium mussten wir uns mit verschiedenen Fragen beschäftigen, die sich auf Klone beziehen«, sagte sie. »Das ist eine davon. Bei anderen ging es darum, wie man mit Mindhackern umgeht, die bei ihrer Arbeit Mist gebaut oder einen zu guten Job gemacht haben. Wie man beurteilt, ob der frühe Tod eines Klons vielleicht ein Selbstmord ist. Wer ist schuld, wenn jemand gegen seinen Willen oder zum falschen Zeitpunkt geklont wird? Wir haben ein ganzes Jahr lang Ethik studiert.«
»Nur ein Jahr?«, fragte Hiro. »Das kann nicht genug sein. Ich habe schon mehrere Leben hinter mir und verstehe es selbst manchmal nicht so richtig.«
Im Schrank der Krankenstation gab es mehrere Overalls, einen kleinen umgekippten Plastiktisch und eine Sammlung von Schuhen. Die Beine, die diese Schuhe tragen sollten, waren nirgendwo aufzufinden.
»Wo könnten die Beine sein?«, fragte er.