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Kinder spiegeln das Verhalten ihrer Eltern wider. Daran sollten Väter und Mütter denken, wenn sie sich von ihren Kindern provoziert oder überfordert fühlen. Bernhard Moestl, der erfolgreiche Vermittler asiatischen Denkens, sieht in Eltern Reisebegleiter, die ihre Kinder in die Welt führen. Doch Väter und Mütter müssen sich für diese verantwortungsvolle Aufgabe wappnen: Sie sollten wissen, woher sie selbst kommen und wo sie stehen. Sie sollten in der Lage sein, die Grenzen zwischen Freiheit und Führung sensibel zu ziehen. Und sie sollten spüren, wann es Zeit ist, sich voller Vertrauen in die Eigenständigkeit der Kinder zurückzuziehen. Mit diesem »Drei-Wege-Konzept« bietet Moestl all jenen Orientierung und Denkanstöße, die im Dickicht der Erziehungsrezepte den Überblick verloren haben – die ideale Vorbereitung, um kleine Menschen in ein glückliches Leben zu begleiten. Wer Grenzen zieht, kann Wege öffnen von Bernhard Moestl: als eBook erhältlich!
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Seitenzahl: 206
Bernhard Moestl
Das Shaolin-Buch für Eltern
Die drei Schritte zur erfolgreichen Erziehung.Wie Eltern und Kinder selbstbewusst durchs Leben gehen
Knaur e-books
Die drei Schritte zur erfolgreichen Erziehung
Eltern, die sich ehrlich hinterfragen, ihre eigenen Erfahrungen reflektieren und die eigene Position bestimmen, können Kinder gut durchs Leben begleiten. Sie geben Mut und Selbstbewusstsein mit. Diesen Eltern gelingt es, die Kinder vertrauensvoll in ihr Leben zu entlassen. Bernhard Moestl, der bei den Shaolin-Mönchen die asiatische Gelassenheit im Umgang mit Menschen gelernt hat, weist europäischen Eltern einen Weg aus der Unsicherheit in Erziehungsfragen. Ein erfrischend anderer und schlüssiger Blick auf das Verhältnis von Eltern und Kindern.
Für Heidi, ohne die es dieses Buch nicht gegeben hätte
als ich mich vor gar nicht langer Zeit entschlossen habe, ein Buch zum Thema Erziehung zu schreiben, geschah das unter dem Eindruck einer vor allem im deutschsprachigen Raum teilweise sehr emotional geführten Diskussion. Ausgelöst durch ein Buch, das die Kinder der Zukunft als Tyrannen sah, falls die Eltern nicht umgehend ihre zu partnerschaftlichen Erziehungsmethoden änderten, standen sich bald ein »autoritäres« und ein »antiautoritäres« Lager in erstaunlicher Feindseligkeit gegenüber. Und das ist, angeheizt durch weitere Bücher, seltsamerweise bis heute so. Beide Seiten preisen die eigene Vorgehensweise als die einzig mögliche an, und in der Mitte stehen teils fassungslose Eltern, die nicht mehr wissen, was sie glauben sollen.
Wer meine Bücher kennt, weiß, dass ich von der Idee des allumfassenden Ratschlages ganz grundsätzlich nichts halte. Denn so gerne manche Menschen das auch hätten: Weder können wir jemandem sagen, wie er sein eigenes Leben gestalten noch in welches er die eigenen Kinder führen soll. Denn wer trägt am Ende die Verantwortung? Doch wohl der Erziehende.
Auch wenn nichts dagegenspricht, jemandem die persönliche Sicht auf eine Sache oder eine mögliche Vorgehensweise darzulegen, muss die Antwort am Ende jeder in sich selbst finden. Dessen bin ich mir als Autor sehr bewusst. Doch was wir als Gesellschaft und ich als Autor tatsächlich dazu beitragen können, ist, die Eltern dabei zu unterstützen, einen Schritt zurückzutreten und die tatsächlichen Motive für ihr Handeln zu verstehen. Hat der Erziehende das Wohl des Kindes im Kopf – oder seine eigenen Prinzipien, Vorstellungen und Erfahrungen? Handelt er aus der Überzeugung, das Richtige zu tun, oder aus dem Wunsch, etwas vermutlich Falsches zu vermeiden? Erziehung ist immer ein Spagat zwischen vermeintlichen gesellschaftlichen Anforderungen und den tatsächlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen eines Kindes.
Einige der wichtigsten Einsichten zum Thema Erziehung verdanke ich den Mönchen des Klosters Shaolin. Hatte ich am Anfang noch Zweifel daran, dass es Kampfmönchen möglich sein sollte, Kinder zu friedfertigen Wesen zu erziehen, erkannte ich bald das Gegenteil. Denn Shaolin steht für die erstaunliche Einsicht: Nur die Fähigkeit zur bedingungslosen Selbstführung befähigt zur Führung anderer Menschen – und damit sind auch die Kleinsten gemeint. Den Mönchen zufolge hat der Weg zum kampflosen Sieg und so auch zu jedem Erfolg, der nicht auf Kosten anderer geht, seine Basis im Bewusstsein des eigenen Wertes. Nur wer sich selbst als wertvollen, besonderen Menschen wahrnimmt, kann gelassen damit umgehen, dass ein anderer das vielleicht nicht so sieht. Wer als Eltern Gelassenheit ausstrahlt, der kann auch mit der Kritik durch die eigenen Kinder leben, aber auch mit den Zweifeln der Umgebung und der Gesellschaft.
Auch wenn die Idee hinter dem ursprünglichen Titel »Wer Grenzen zieht, kann Wege öffnen« heute aktueller ist denn je, war es mir ein Anliegen, das Wort »Shaolin« in den Titel dieser Taschenbuchausgabe zu bringen. Denn die Mönche lehren uns, dass Grenzen keine Strafe sind, sondern ein lebenswichtiges Recht, in deren Schutz erst das gelingen kann, was sich wohl alle Eltern wünschen: Kinder zu glücklichen, selbstbewussten Menschen zu erziehen, die auch als Erwachsene noch gerne auf die Kinderzeit zurückblicken. Ich lade Sie dazu ein, mit mir den Weg der Shaolin zu gehen, um Erkenntnisse zu gewinnen für Ihren Umgang mit Kindern – und für Ihr Sein als Eltern.
Ihr
Bernhard Moestl
Brasov/Kronstadt, im November 2015
Jeder ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen.
(Bashò)
Wenn du das Leben begreifen willst, glaube nicht, was man sagt und was man schreibt, sondern beobachte selbst und denke nach.
(Anton Tschechow)
Zuerst einmal: ganz herzlich willkommen. Schön, dass Sie da sind. Schön auch, dass Sie sich mit einem Thema beschäftigen, das so einfach aussieht und doch oft so schwierig ist: mit der Kunst, Menschenkinder ins Leben zu führen.
Erziehung, und das sollen Sie von Anfang an wissen, bedeutet für mich nicht, ein Kind gesellschaftskonform heranwachsen zu lassen. Es heißt nicht einmal, es nach der eigenen Vorstellung zu formen.
Für mich ist das Ziel von Erziehung, Kinder in ein glückliches, gutes Leben zu führen und ihnen alle dazu erforderlichen Mittel mit auf den Weg zu geben. Nach meinem Verständnis sind Eltern nicht Bildhauer, die einen Menschen modellieren, sondern Reiseleiter, die ihn ins Leben begleiten. Vielleicht kommt mir dieser Vergleich auch deshalb, weil ich selbst fast zwanzig Jahre in dieser Branche tätig war. Dort habe ich gelernt, Grenzen zu ziehen, ohne einzuengen, Autorität auszustrahlen, ohne autoritär zu sein, und die beim Reisen unvermeidliche Disziplin durchzusetzen.
Was ein Kind für sein Leben benötigt, muss jeder Erziehende für seinen Sprössling selbst herausfinden. Ich kann Sie dabei lediglich unterstützen. Daher ist dieses Buch auch kein Ratgeber mit konkreten Handlungsanweisungen für verschiedene Situationen, ganz nach dem Motto: »Wenn dein Kind dieses macht, dann reagiere mit jenem.«
Verstehen Sie dieses Buch als sogenanntes Mutmachbuch, als Aufforderung, sich und Ihren Fähigkeit zu vertrauen, Kinder in Liebe zu leiten und zu führen. Sie werden mit Erstaunen feststellen, wie gut Sie das können.
Viele Erziehende haben zwar ganz genaue Vorstellungen von der vermeintlich einzig richtigen Methode, können diese aber oft nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Daher suchen sie nach Rechtfertigung und Bestärkung durch einen Experten, damit dieser ihnen die Verantwortung für ihr Verhalten abnimmt. Das funktioniert nicht. Selbst wenn Ihnen eine Million Spezialisten etwas rät: Für das, was Sie tun, bleiben am Ende Sie selbst verantwortlich. Ich glaube auch gar nicht, dass man Menschen etwas über Erziehung lehren kann.
In den Jahren, die ich in Asien unter anderem als Reiseleiter verbracht habe, habe ich vor allem eines gelernt: mir meiner Verantwortung für meine Gedanken, meine Gefühle und meine Wirkung auf andere Menschen bewusst zu werden. Nicht ein anderer, sagen die Mönche im Kloster Shaolin, fordert dich zum Kampf heraus. Vielmehr bist du selbst zu schwach, dem Kampf aus dem Weg zu gehen, und lässt dich daher zur Gewalt reizen. Nicht andere haben Schuld daran, wenn du dich schlecht fühlst, es ist deine eigene Entscheidung, nur das Schlechte einer Situation zu erkennen. Nicht andere sind es schließlich, die dich als aggressiv und unbeherrscht empfinden, du selbst bist es, der so auftritt und sie zu dieser Empfindung zwingt. So verhält es sich auch mit der Erziehung.
Gute Erziehung entsteht in der Bereitschaft, sich ehrlich mit sich selbst, seinem Kind und den echten Anforderungen des Lebens auseinanderzusetzen.
Ich kann und ich möchte niemandem einen Rat geben. Alles, was Sie in Wirklichkeit benötigen, ist schon in Ihnen vorhanden. Sie müssen es sich nur bewusst machen.
Damit Sie aus dem Buch den maximalen Nutzen ziehen, brauchen Sie zusätzlich ein leeres Notizheft. Denn Sie finden innerhalb des Textes und am Ende jedes Kapitels immer wieder Übungen und Fragen, die Sie bitte in Stichworten schriftlich beantworten. Natürlich hätten wir dafür auch in dem Buch Platz einräumen können. Was aber, wenn Sie dieses Buch einmal an jemand anderen weitergeben möchten oder eine fremde Person aus Neugierde einfach hineinschaut? Dann würde diese vielleicht etwas von Ihnen erfahren, was Sie gar nicht möchten. Dieses Notizbuch soll Ihr ganz persönlicher Begleiter sein und am Ende sehr viel von Ihnen wissen, was auch nur Sie etwas angeht. Notieren Sie die Antworten möglichst nicht irgendwann, sondern genau dort, wo ich Sie dazu auffordere. Oft brauchen wir die Ergebnisse im weiteren Verlauf.
Warum Sie überhaupt etwas aufschreiben sollen? Weil Erziehung sehr viel mit dem eigenen Bewusstmachen zu tun hat. Im Grunde geht es ja um nichts Geringeres als um Ihren Einfluss und Ihre Wirkung auf Ihre Kinder, aber auch um die Frage, warum Sie in einer Situation auf eine bestimmte Art und Weise reagieren. Daher kann ein Buch zu diesem Thema kein Lese-, sondern muss ein Arbeitsbuch sein. Wenn Sie eine Fremdsprache lernen wollen, lesen Sie ja auch nicht nur den Sprachführer. Abgesehen davon sollen Sie nicht meine Meinung lesen, sondern sich Ihre eigene bilden. Das Benutzen des Notizbuchs hat aber noch einen anderen Vorteil: Sie können darin sehen, wie die Beschäftigung mit der Thematik auch Ihre Ansichten und Ihr Verständnis verändert. Und seien Sie bitte bei der Beantwortung der Fragen ehrlich zu sich selbst. Schreiben Sie alles so auf, wie es wirklich ist. Niemand außer Ihnen wird Ihre Antworten erfahren, nicht einmal ich.
Wenn Sie übrigens einmal bei etwas nicht meiner Ansicht sind, diskutieren Sie ruhig mit mir. Sagen Sie es, widersprechen Sie, formulieren Sie Ihre eigene Meinung. Sie sollen am Ende nicht denken wie ich, Sie sollen einfach einen Standpunkt haben, der Ihrer Überlegung entspringt und nicht einem Mangel an Alternativen. Oft erfordern Situationen im Elternalltag so schnelle Entscheidungen, dass keine Zeit mehr bleibt, über deren Konsequenzen nachzudenken. Da ist es dann gut, wenn man schon vorher einmal ohne Emotionen darüber nachgedacht hat, was zu tun ist. Genau dabei soll Ihnen dieses Buch helfen.
Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache: Sie werden weder davon lesen, dass Eltern in meine Sprechstunde oder Praxis gekommen sind, noch irgendetwas über meine eigenen Kinder. Ich habe nämlich keines von beiden. Der Inhalt dieses Buches beruht auf den Beobachtungen meines eigenen Verhaltens, dem von Erwachsenen und Kindern, den dazugehörigen Überlegungen und auf vielen Jahren professionellen Umgangs mit Menschen aller Altersgruppen.
Nicht zuletzt bin ich als Spross einer Lehrerfamilie mit dem Thema Erziehung gleichsam groß geworden. Diskussionen über Sinn und Unsinn von Strafen, fleißige und faule Schüler und nicht zuletzt die Frage, wie man Letztere dazu bringen könnte, zu tun, was die Lehrer von ihnen verlangen, waren fixer Bestandteil unserer allabendlichen Gesprächskultur. Und natürlich ein guter Nährboden für meine eigene kindliche Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Frage, wieso es in meinem Umfeld so viele Regeln gab, die aus meiner Sicht keiner anderen Quelle entsprungen waren als der Willkür eines Erwachsenen. Denn was konnte ein »Weil ich es sage!«-Verbot sonst anderes sein?
Mit der Distanz der Jahre verstehe ich heute manches vom Verhalten der damals Großen. Was aber nicht bedeutet, dass ich deren Meinung uneingeschränkt teile. Selbst wenn ich heute Menschen zum Thema Erziehung reden höre, frage ich mich oft, ob das, was sie da sagen, tatsächlich ihre Meinung ist. Ich meine, haben die sich das selbst überlegt, oder reden sie nur nach, was schon seit Jahrhunderten unüberlegt von Generation zu Generation weitergegeben wird? Erziehung an sich ist nicht greifbar und daher per se weder richtig noch falsch. Erziehung ist ein Weg, den Sie gemeinsam mit Ihrem Kind gehen. Dieser Weg, auf chinesisch »Tao«, führt vorbei an Ihnen selbst und an Ihrem Kind und hat sein Ziel in einem glücklichen Leben.
Was ich Ihnen in diesem Buch vermitteln möchte, ist ein Bewusstsein gegenüber Ihnen selbst und dem Wesen und den Bedürfnissen Ihres Kindes. Verstehen Sie es als eine Reise in das wunderbare Gebiet einer gelungenen Erziehung, vorbei an allem, was heutige Erziehende bewegt.
Kommen Sie mit? Dann lassen Sie uns gehen.
Wege zum Selbst
Bevor du dich daranmachst, die Welt zu verändern, gehe dreimal durch dein eigenes Haus.
(aus China)
Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest. Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden musst.
(Janusz Korczak)
Man erzieht durch das, was man sagt, mehr noch durch das, was man tut, am meisten durch das, was man ist.
(Ignatius von Antiochien)
Viel ist in der letzten Zeit über Kinder diskutiert worden. Über ihre vielseitigen Entwicklungsmöglichkeiten, über ihre Probleme, über die immer größer werdenden Schwierigkeiten mit ihnen und über die Frage, wie das alles in den Griff zu bekommen sei. Experten wurden befragt, Eltern und Erzieher kamen als die sogenannten Betroffenen zu Wort. So vielfältig aber der Hintergrund der Diskutierenden und das Spektrum der möglichen Lösungen auch waren, in einem Punkt gab es erstaunliche Einigkeit: Das Problem liegt an und bei den Kindern. Auffallend selten wurde dabei die Welt der Erwachsenen erwähnt. Vielleicht geschah es ja aus Unverständnis, vielleicht aus Unwissenheit, immer aber geschah es so, als gäbe es darüber nichts zu reden. Sicherlich war es kein Desinteresse. Mehr als einmal statteten Vertreter der Erwachsenenwelt der Welt der Kinder einen Besuch ab, die ihnen so fremd und lebensfeindlich erschienen sein muss wie einem Arktisbewohner die Wüste. Vielleicht gab es aber auch einen ganz anderen Grund: den einfachen Wunsch, zu vergessen, wie sehr diese beiden Welten miteinander verwoben, wie sehr genau die diskutierten Kinder das Produkt und damit der Spiegel ebenjener Erwachsenenwelt sind.
»Lasst unsere Erziehung in Ruhe«, scheinen die Großen zu rufen, »die haben wir schon lange und gut hinter uns gebracht. Sorgen machen uns doch nur die Kleinen.«
In den Köpfen vieler Menschen entsteht nun ein sehr eigenartiges Bild. Auf der einen Seite sehen sie die Kinder: abhängig, ungeformt, unangepasst und voller vermeintlicher Fehler. Ihnen gegenüber stehen die Erwachsenen: unabhängig, geformt, angepasst und vermeintlich ohne alle diese Fehler. Schließlich haben sie den Prozess der Erziehung bereits abgeschlossen und treten nun an, ihr Lebenswissen an den unreifen Nachwuchs weiterzugeben, aus diesem sozusagen anständige Menschen zu machen.
Sehen Sie das Bild? Gut. Hier also die Kinder, die noch keine Moral kennen, keine Regeln beachten und die Fähigkeit zum Verzicht als eine der wichtigsten Tugenden erst erwerben müssen. Kinder möchten nämlich alles haben. Hier, jetzt und sofort. Ihnen gegenüber jene, die sie leiten sollen. Voller Reife, Disziplin und der Fähigkeit, zu entsagen. Ach so? Klar. Es sind doch Erwachsene. Niemals kämen diese auf die Idee, ein neues Handy, einen neuen Fernseher, einen neuen Computer oder ein neues Auto zu kaufen, das sie nicht wirklich unbedingt benötigen. Und viel weniger noch fiele ihnen jemals ein, sich das Geld zu borgen – sei es von Freunden, als Ratenkauf oder gar von der Bank –, nur um den Kauf auf der Stelle möglich zu machen. Erwachsene haben Verzicht gelernt. Die tun so etwas nicht. Sie gehorchen auch allen Regeln. Schneller als erlaubt mit dem Auto zu fahren käme ihnen genauso wenig in den Sinn, wie ohne vorherige Erlaubnis auch nur Lutschbonbons an sich zu nehmen. Es sei denn, andere täten vor ihnen das Gleiche. Aber das ist eine ganz andere Sache. Schließlich hat ihre Erziehung funktioniert! Ein komisches Bild, das ich Ihnen da zeige? Ich weiß. So wenig sie aber auch mit der Wirklichkeit zu tun hat, so sehr prägt diese Vorstellung seit langer Zeit das Erziehungsbild vieler Menschen und die Diskussionen darüber. Es ist so und nicht anders. Und es wird auch so bleiben. Wer nämlich den Mut hat, die heile Oberfläche der Erwachsenenwelt abzudecken und auch anzusprechen, worüber es nach Meinung so vieler nichts zu sprechen gibt, dem offenbart sich mit einem Schlag die gesamte, plötzlich ganz veränderte Szenerie. Mit ehrlichem Staunen muss der unvoreingenommene Betrachter nun erkennen, dass hier bei weitem nicht alles so ist, wie es sein sollte.
Viele Erziehende, so ist mit einem Mal ganz deutlich zu sehen, haben jenen Status, den sie von Kindern schon im frühen Alter erwarten, selbst nicht einmal annähernd erreicht.
Sie wären erschrocken, ja erzürnt, müssten sie ihr eigenes Verhalten bei Kindern beobachten. Schnell deckt unser Beobachter die Szene also wieder zu, und um seine eigenen Ansichten nicht zu gefährden, beschließt er, das soeben Gesehene im gleichen Moment auch wieder zu vergessen. In gewisser Hinsicht scheint dieses Verhalten natürlich notwendig und sogar gerechtfertigt zu sein. Ist doch Erziehung am Ende nichts anderes als die Nachahmung und die Weitergabe von vermeintlich richtigem Verhalten. Genau hier liegt aber das Problem. Der menschliche Geist ist träge und übernimmt lieber Fertiges, als selbst etwas Neues zu schaffen. Und so entspringt die Antwort auf die Frage, was nun richtig und was nun falsch ist, viel mehr anerzogenen, unreflektiert übernommenen Werten als eigenem Nachdenken und persönlicher Reflexion. Mit oft schlimmen Folgen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben.
Lange Zeit wurden Kinder, die als Linkshänder auf die Welt gekommen waren, zu Rechtshändern umerzogen. Das hatte weder medizinische noch psychologische Ursachen. Die linke Hand galt einfach in vielen Kulturen als unrein, und man war der Meinung, dass gesellschaftskompatible Rechtshänder es später einmal leichter hätten. Erwachsene hatten also als Kinder gelernt, dass das bevorzugte Benutzen der linken Hand falsch und das der rechten eben richtig wäre. Keiner der so Erzogenen hätte zwar jemals sagen können, warum dem so war, aber jeder von ihnen wusste, dass die für ihn getroffene Entscheidung die einzig richtige war. Und so wurde ungeachtet all der Nachteile, die viele »Umerzogene« am eigenen Leib verspürt hatten, dieser vermeintliche Fehler auch beim Nachwuchs behoben.
Wäre übrigens damals die Meinung der sogenannten Gesellschaft aufseiten der Linkshänder gestanden, würden die meisten von uns wohl heute mit der linken Hand schreiben. Reflexion und Nachdenken hätten hier mehr geholfen als blindes Nachahmen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Nachahmung an sich ist nicht das Problem. Jedes Lernen in der Natur beruht auf diesem wunderbaren Prinzip. Die Frage ist am Ende aber nicht, ob, sondern was wir nachahmen und warum wir es tun. Und genau bei dieser Überlegung gibt es einiges nachzuholen.
Wenn ich mit Menschen über die Themen Erziehung und Kindheit spreche, habe ich oft das Gefühl, man könne die Befragten in zwei Gruppen einteilen. Die Mitglieder der ersten Gruppe hatten die beste, schönste und wunderbarste Kindheit, die vorstellbar ist. Umsorgt von gleichwohl gütigen wie strengen Eltern, die reichlich zu geben, aber auch hart zu strafen wussten, erlebten sie eine Erziehung, bei der alles richtig und nachahmenswert war.
Die Angehörigen der zweiten, nach eigenem Empfinden nicht so glücklichen Gruppe verbinden weder Gutes mit der eigenen Kindheit noch mit dem Erziehungsstil der Eltern. Sie würden nichts, aber auch gar nichts selbst genauso tun, wie es an ihnen getan wurde.
Sehr selten begegne ich Menschen, die ihre Gefühle gegenüber den Eltern und ihre Erinnerungen an die Kindheit von der Frage trennen können, wohin ihre Erziehung sie am Ende geführt hat. Genau diese Fähigkeit ist es aber, die uns in die Lage versetzt, unseren Kindern als reflektierte Erwachsene zu begegnen und ihre Erziehung nicht aus Nachahmung, sondern aus Überzeugung entstehen zu lassen.
Schließlich ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass den Erziehenden mit allem, was sie sind, und mit allem, was sie zu dem gemacht hat, das sie sind, eine viel größere Rolle im Erziehungsspiel zukommt als den immer diskutierten Kindern. Zeit also, uns einmal genauer mit diesen Erwachsenen auseinanderzusetzen.
Sie fragen sich, warum das, wenn es doch so wichtig ist, bis jetzt noch nicht passiert ist? Vielleicht weil viele Erwachsene daran gar nicht interessiert sind. Die meisten Menschen sind nämlich der Meinung, dass jede Kritik an der Pädagogik der Eltern gleichzeitig eine Kritik an diesen persönlich ist. Und Eltern haben schließlich mehr für uns getan, entbehrt oder sonst wie erlitten, als dass man als Kind irgendein Recht hätte, sie zu kritisieren. Mag sein. Tatsächlich aber geht es hier weder um unsere Eltern noch um Kritik.
Technik und Wirkung von Erziehung sind nicht untrennbar mit den Erziehenden verbunden, und Eltern, mit deren Erziehungsstil wir nicht übereinstimmen, sind deswegen weder schlecht noch böse.
Das Unvermögen oder auch der Unwille, diese beiden Themen zu trennen, führt aber in weiterer Folge zu der sehr unangenehmen Unfähigkeit, objektiv und ohne Emotionen über das Thema Erziehung und schließlich über sich selbst nachzudenken. Das ist wie bei vielem im Leben. Nehmen wir als Beispiel ein Kochbuch. Verfasst hat es ein sehr berühmter Fernsehkoch, den Sie sehr schätzen. Natürlich besorgen Sie das Buch umgehend und beginnen, die einzelnen Rezepte nachzukochen. Doch sosehr Sie den Verfasser auch schätzen, der in seiner wöchentlichen Fernsehshow immer so freundlich auf alle Fragen eingeht und der Ihnen auch sonst ein begeisternder Mensch zu sein scheint, das Essen, das Sie nach seiner Anleitung produzieren, schmeckt Ihnen überhaupt nicht. Nie würden Sie die Zutaten auf diese Art zusammenstellen. Wäre dieser Autor jetzt einer Ihrer Elternteile, und wären seine Rezepte Ihre Erziehung, würden Sie vielleicht sagen: »Irgendetwas muss ich beim Nachkochen falsch gemacht haben. Ich finde zwar überhaupt nicht, dass die Zutat Z hier passt, aber er ist der Koch, und er wird wohl wissen, warum er sie dazugibt. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass er sich beim Zusammenstellen der Zutatenliste die größtmögliche Mühe gegeben hat. Der Fehler kann auf jeden Fall nur an mir liegen.« Vor Ihren Freunden würden Sie das Buch in höchsten Tönen loben.
Ist Ihnen umgekehrt der Autor aber nicht sympathisch, weil Sie ihn für arrogant und überheblich halten, werden Sie zu der Meinung kommen, dass er entweder gar nicht kochen könne, schlampig gearbeitet habe oder einfach sein Wissen über das Thema nicht weitergeben wolle. In ersterem Fall werden Sie also den Grund für Ihre Enttäuschung ausschließlich bei sich selbst suchen und das Buch allen Freunden und Bekannten mit großer Begeisterung empfehlen.
Im zweiten Fall werden Sie Ihrem Ärger über das überteuerte Buch so laut Luft machen, dass auch Ihr Umfeld von dem Buch die Finger lässt. Tatsächlich gefragt war aber keine der beiden Antworten. Schließlich waren Sie weder mit der Qualität der Rezepte unzufrieden, noch ist der Autor ein besonders liebenswerter oder ein besonders böser Mensch. Alleine das Essen hat Ihnen nicht geschmeckt. Sie aber beurteilen am Ende nicht das Produkt, sondern den Menschen dahinter. Einzig für den Fall, dass Sie den Autor überhaupt nicht kennen, er also für Sie nichts weiter ist als ein unbedeutender Name, kommen Sie ganz plötzlich in die Lage, Fakten von Emotionen zu trennen. Sie sagen: »Das Rezept ist nicht mein Geschmack«, ändern es gegebenenfalls ab, und die Sache ist für Sie erledigt. Sehr ähnlich verhält es sich auch bei Kindern, wenn diese erwachsen werden.
Erziehende müssen irgendwann erkennen, dass nicht alles, was ihre Eltern behaupten, erzwungen oder verleugnet haben, sich im Leben auch bewahrheitet.