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Die Welt, wie wir sie kennen, ist zusammengebrochen. Die Idee der Gleichheit wurde zugunsten einer brutalen Hierarchie aufgegeben und die Menschen in Quads und Pats unterteilt. Quads, das sind die Nachkommen der Flüchtlinge des letzten großen Krieges. Sie leben außerhalb der Städte in streng überwachten Quadranten, werden mit Brandzeichen markiert und sind außerhalb dieser Gebiete völlig rechtlos. Weil man ihnen einen Daumen abgetrennt hat, werden sie auch als "Neuner" verspottet. Die Pats, vollwertige Bürger*innen dieser namenlosen Nation, sind dagegen mit tödlichem Gas bewaffnet und können die Quads damit jederzeit ungestraft töten, wenn sie sich bedroht fühlen. Jesse Ball spürt in "Das Spiel des Tauchers" auf unnachahmliche Weisen den Spuren der seelischen Verwüstung nach, die diese Herrschaft in den Beteiligten anrichtet. Die unterschiedlichen Perspektiven, die er dabei einnimmt und die in starken Bildern einen Eindruck dieser Welt entstehen lassen, sind stets von großer Zärtlichkeit für die Nöte seiner Figuren erfüllt. Es ist eine unbarmherzige Gesellschaft, der jede Empathie abhandengekommen ist, die aber dennoch von ihrer eigenen Tugend überzeugt zu sein scheint – bis selbst bei den Unterdrückern die Fassade bröckelt. Eine eindringliche Parabel über Moral, Gesetz, Macht und Gewalt, die auch hart mit unserer eigenen Welt ins Gericht geht und sich trotzdem eindeutigen moralischen Urteilen entzieht.
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Seitenzahl: 185
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Die Welt, wie wir sie kennen, ist zusammengebrochen. Die Idee der Gleichheit wurde zugunsten einer brutalen Hierarchie aufgegeben und die Menschen in Quads und Pats unterteilt. Quads, das sind die Nachkommen der Flüchtlinge des letzten großen Krieges. Sie leben außerhalb der Städte in streng überwachten Quadranten, werden mit Brandzeichen markiert und sind außerhalb dieser Gebiete völlig rechtlos. Weil man ihnen einen Daumen abgetrennt hat, werden sie auch als „Neuner“ verspottet. Die Pats, vollwertige Bürger*innen dieser namenlosen Nation, sind dagegen mit tödlichem Gas bewaffnet und können die Quads damit jederzeit ungestraft töten, wenn sie sich bedroht fühlen.
Jesse Ball spürt in Das Spiel des Tauchers auf unnachahmliche Weisen den Spuren der seelischen Verwüstung nach, die diese Herrschaft in den Beteiligten anrichtet. Die unterschiedlichen Perspektiven, die er dabei einnimmt und die in starken Bildern einen Eindruck dieser Welt entstehen lassen, sind stets von großer Zärtlichkeit für die Nöte seiner Figuren erfüllt. Es ist eine unbarmherzige Gesellschaft, der jede Empathie abhandengekommen ist, die aber dennoch von ihrer eigenen Tugend überzeugt zu sein scheint – bis selbst bei den Unterdrückern die Fassade bröckelt. Eine eindringliche Parabel über Moral, Gesetz, Macht und Gewalt, die auch hart mit unserer eigenen Welt ins Gericht geht und sich trotzdem eindeutigen moralischen Urteilen entzieht.
JESSE BALL wurde in New York geboren. Er ist Autor von sechzehn Büchern und seine Werke wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Er ist Mitglied des Lehrkörpers der School of the Art Institute of Chicago, hat den Plimpton Prize for Fiction der Paris Review gewonnen und stand auf der Longlist für den National Book Award. Er wurde von Granta als einer der besten jungen Romanautoren ausgezeichnet und war Stipendiat der NEA, Creative Capital und der Guggenheim Foundation.
ALEXANDER LIPPMANN, wurde in St. Pölten geboren. Lebt und arbeitet als Autor, Musiker und Übersetzer aus dem Englischen in Wien.
Zuletzt erschienen:
Das Spiel des Tauchers (Roman, 2024)
Zensus, Roman (Roman, 2022)
JESSE BALL
Roman
aus dem amerikanischen Englisch von Alexander Lippmann
Luftschacht Verlag
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Divers’ Game
Copyright © 2019 by Jesse Ball.
ISBN 978-0-06-267610-8
Published by Ecco – An Imprint of HarperCollinsPublishers
195 Broadway, New York, NY 10007.
Ecco® and HarperCollins® are trademarks of HarperCollins Publishers.
© Luftschacht Verlag – Wien
luftschacht.com
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.
1. Auflage März 2024
Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuss studio – matthiaskronfuss.at
Übersetzung: Alexander Lippmann
Lektorat: Teresa Profanter
Satz: Luftschacht
Gesetzt aus der Metric, der Noe, der Corbel und der Core Circus
Druck und Herstellung: Finidr s.r.o.
Papier: Holmen book cream 80 g/m2, Geltex glatt 115 g/m2
ISBN: 978-3-903422-36-0
ISBN E-Book: 978-3-903422-37-7
Der Verlag dankt Moritz Müller-Schwefe für die nachdrückliche Empfehlung von Jesse Ball.
DAS SPIEL DES TAUCHERS
Einst hörte ich ein Lied:
Im Augenblick meiner Verzweiflung
sang jemand auf der anderen Seite des
Zaunes, eine junge Stimme, eine Stimme, die
kaum hatte wissen können, was sie da sang,
was die Wörter bedeuteten
oder für wen sie gedacht waren.
Lethe! Wenn wir uns auf die Suche nach ihr machen, wenn wir die Stiegen hinaufstürmen, die Tür aufstoßen und in ihrem Bett nachschauen, ist sie nicht da. Wenn wir die Stufen hinuntersausen, einmal um die Ecke biegen, vorbei an ihrem verdutzten Vater (der uns nicht sehen kann) und zu dem kleinen Tisch hin, den sie so liebt, den beim Fenster, ist sie nicht da! Sie ist nicht da! Ein Teller mit ein paar Krümel, ein leeres Glas. Wir gehen hinaus auf die Straße, und da vorne – Ist das möglich? – sehen wir sie unter Lindenbäumen, sie wiegt sich, wie ein Kind sich wiegt, weil der Morgen sich wiegt, denn wiegt sich nicht alles, wenn es Morgen ist? Nur die Alten sind zu steif, um den leichten Hauch der Welt zu spüren.
Lethe! Sie schaut beim Gehen auf ihre Füße, beobachtet sie – wie unberechenbar sie doch sind, gehören sie zu ihr? – und denkt nach: Was wird sie heute unternehmen? Ihre Füße bewegen sich da unten, und wir mit ihnen, und plötzlich haben wir den Zug erreicht. Flink geht sie die Stufen hinauf, die Zugtüren öffnen sich und sie findet einen Platz zwischen zwei Männern, die geradeaus starren, als ob sie ins Nichts schauten. Sie sind nicht allein, der Zug ist voll mit ihresgleichen. Lethe nimmt ihren Platz unter ihnen ein. Sie schaut geradeaus, aber ihre Gedanken summen. Sie tritt diese Reise jeden Morgen an, aber währenddessen, immer währenddessen, ist sie woanders.
Die Türen schließen sich, der Zug schiebt sich vorwärts und aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme, die sie schon tausendmal gehört hat. Instinktiv greift sie nach dem grauen Gummi-Objekt an ihrem Gürtel und richtet sich auf. Sie starrt geradeaus, das Kinn erhoben, beinahe stolz. Eine tiefe, beruhigende Stimme, die stets vertraute Stimme, eine Stimme, die sie schon ihr ganzes Leben lang gehört hat, lässt die Lautsprecher erzittern, und alle im Wagon singen leise:
Ein Bürger
der um seinetwillen
oder ihretwillen oder für ihn oder sie
eine Maske mit sich führt
am Gürtel oder Arm
muss die Straßen niemals fürchten
Wenn Ärger droht
wie Quad-Abschaum –
setz deine Maske auf!
setz deine Maske auf!
Das Gas soll fließen
Die Wolke sprießen
Sie sollen kriechen
die Niedrigsten zu unseren Füßen
Ein Chor von Bläsern ertönt, und im Wagon ist es wieder still. Er fährt weiter, immer vorwärts. Das ist die Richtung der Gesellschaft: Vorwärts. Alle, die versuchen, das umzukehren, werden unter den Rädern zermalmt. War es nicht immer schon so?
Bei jeder Haltestelle erschallt der fröhliche Chor. Wenn man so daran gewöhnt ist, etwas Bestimmtes zu sagen – ist es nicht eine Art Freude, es einfach von den Lippen perlen zu lassen, ohne darüber nachzudenken? Sie verharrten in dieser Tinktur, einer wahrlich dünnen Freude – man konnte sie niemals greifen, oder wirklich fühlen, bis der Zug seine Türen am Zentralbahnhof öffnete und die Passagiere hinausströmten, so viele – man würde nie auf die Idee kommen, dass so viele in den Zug passen. Sie waren nicht in grelle Farben gekleidet, diese Bürger, auch wenn sie natürlich die neueste Mode trugen. Und alle, bis zum Letzten, trugen eine sorgfältig gearbeitete Maske an der Hüfte. Hast du schon jemals so viele Gasmasken an einem Ort gesehen? Und jede von ihnen durch den Gebrauch ganz ordentlich abgenutzt, jede das Werkzeug eines Experten. Es wirkte ein wenig wie ein modernes Sparta, meinst du nicht? Bist du nicht auch dieser Meinung?
Und heute war der Tag vor dem Ogias-Tag. Es hatte lange keinen Ogias-Tag mehr gegeben, nicht in den vergangenen fünfzig Jahren. Also wusste niemand, was passieren würde.
LETHE BAHNTE SICH IHREN WEG VOM BAHNSTEIG DIE STIEGEN hinunter und duckte sich unter einem Geländer durch, um eine Abkürzung zu nehmen, entlang eines grünen Ufers zu einer Seitenstraße, die vom Gleiskreuz wegführte. Das war ihr Schulweg, denn sie war nun erwachsen, sechzehn oder siebzehn, und auch in der Lage, ein College zu besuchen, wo man ihr alles beibringen würde, was der Mensch wissen will, alles über alles. Lethe war klug, auf zurückhaltende Weise. Sie wurde gemocht, gelobt und in Ruhe gelassen. Ihre Zukunft war ihr sicher. Aber heute war sie zu spät in die Schule gekommen, nur ein bisschen zu spät, und rannte bei der Eingangstür durch eine Art Leere – das Gewimmel hatte sich drei Augenblicke davor hier durchgedrängt. Sie konnte es dort beinahe spüren, eine wilde Menge aus Armen und Beinen, von Schieben und Nähe. Eins, zwei, drei – und dann sie!
Sie schlüpfte in den Hörsaal und suchte nach Lois. An der Tür sah sie Lois vor ihrem inneren Auge, stellte sie sich in einem Sessel vor, einen leeren Platz neben sich. Dann, hinein in den Hörsaal, und Lois war da, genau wie sie es sich vorgestellt hatte, so wie Lois immer war, sie winkte mit einem dünnen Arm, einem Arm, der beinahe exakt so aussah wie der von Lethe. Ich konnte sie nicht auseinanderhalten, obwohl sie keine Schwestern waren. Hast du jemals jemanden getroffen und gespürt, dass dieser Mensch eine Reflexion von dir ist? Hast du dich gespiegelt gefühlt? Lethe und Lois saßen da und hielten einander unter den Tischen an der Hand, sie waren identisch in ihren grauen Röcken und gelben Pullovern, die Schultern frei. Das Licht am Podium ging flackernd an und ihr Vortragender, Mandred, stand dort. Seine alten Augen durchstreiften den Raum und er lächelte dünn.
Sollen wir anfangen?
IHR ERINNERT EUCH ALLE DARAN, DASS WIR VERGANGENE Woche über die Umstände gesprochen haben, die zur Umgestaltung unserer Gesellschaft geführt haben. Der berühmte Zustrom an Flüchtlingen – es waren so viele, dass sie gar nicht anders konnten, als uns zu verändern. Wir wurden von ihnen zu dieser Verwandlung gezwungen. Erinnern sich alle an diese Einheit? Wie haben wir uns verwandelt?
Ganz richtig, der Erstrangige Vorschlag. Das war das Thema unseres Tests vergangene Woche. Kann mir jemand den Inhalt des Erstrangigen Vorschlags erläutern? Du?
Das ist falsch. Es ist nicht ganz richtig, und wir sagen, nur was ganz richtig ist, das stimmt, alles andere ist falsch. Der Erstrangige Vorschlag wurde, wenn ich euch daran erinnern darf, von Eavan Garing gemacht. Zu dieser Zeit war er ein kleiner Beamter, später wurde er Kanzler. Er sagte, wir heißen sie willkommen, solange wir sie auseinanderhalten können. Solange wir sie auseinanderhalten können. Viele von ihnen, wo auch immer sie herkamen, trugen rote Mützen, eine Art lange gestrickte Mütze, eine rote Mütze, niemand erinnert sich warum, also sagte Garing, Das ist ihr Zeichen. Wir tätowieren ihnen die rote Mütze auf die Wangen und dann wissen wir, wer wer ist. Dann sind sie uns willkommen.
Hat das funktioniert?
Ja, es hat funktioniert, die Flüchtlinge wurden eingelassen und sie konnten auseinandergehalten werden. Was bedeutete das noch? Was bedeutete die rote Mütze noch?
Ganz genau: Sie sollen die rote Mütze tragen, damit ihr sie erkennen könnt, und sie sollen daher über keinerlei Rechtsstellung als Personen verfügen. Sie einzulassen war das Beste, was man tun konnte, weil sie nirgendwo sonst hinkonnten, aber sie waren anders als wir, und das durfte man nie vergessen.
Sie waren also unter uns und trugen ihre roten Mützen, aber es gab Probleme. Wer erinnert sich daran, welche Probleme es gab?
Ja. Sie waren nicht sicher; sie verfügten ja über keinen Personenstand, also konnte man alles mit ihnen anstellen. Gewisse zwielichtige Elemente, zwar Staatsbürger, aber zwielichtige Elemente, nun, die nutzten das aus. Das führte zu Problemen und das war kein schöner Anblick, schon gar nicht innerhalb der Nation. Und natürlich sorgte das dafür, dass sich andere auf ihre Seite schlugen. Manche hatten wirklich Verständnis für die Neuankömmlinge. Es formierten sich Gruppen, eine Art Bürgerwehr, um sie zu beschützen, um die Flüchtlinge vor anderen Bürgern zu schützen. Erinnert ihr euch an ihre Namen? Das war Stoff der vergangenen Stunde. Das sollte jemand wissen.
Ganz richtig: Lambert Ma. Er gehörte zu den Ersten. Bevor er festgenommen und hingerichtet wurde, hatte er mehrere Bürger ermordet. Es wurde eine ganze Menge Blut vergossen, das Blut vollwertiger Staatsbürger, und es gab eine hohe Fluktuation bei den Flüchtlingen. Ihre Zahl nahm während dieser Zeit merklich ab. Aber sie verschwanden nicht.
Was passierte dann?
Ja, die Regierung unterdrückte diejenigen, die Partei ergriffen hatten, und unterstützte damit welche Position?
Dass man mit denen, die über keine Rechte verfügen, alles anstellen konnte. Es gibt da einen philosophischen Standpunkt, der in Mode kam, in der Philosophie nennen wir so etwas ein Erwachen, eine Verschiebung von Glaubenssätzen im großen Maßstab: Die Dinge, die wir Untergebenen antun, sind keine echte Gewalt. Das war eine neue Definition von Gewalt, die dazu beitrug, eine lebendige Moral zu entwickeln, die unsere Nation bis heute durchdringt. Unsere Moral zeigt sich darin, was wir tun. Versteht ihr das alle? Aber wenn das, was wir tun, aufhört, Gewalt zu sein, es ist zwar noch das Gleiche, aber es ist nicht länger Gewalt: Dann sind wir nicht gewalttätig, wir üben keine Gewalt mehr aus.
Trotzdem haben wir ein Herz, wir sind eine gute und gerechte Gesellschaft. Es war klar, dass die Flüchtlinge nicht ohne Probleme unter uns leben konnten. So erdachte jemand den ersten Quad, den ersten Quadranten. Die Regierung hatte zu dieser Zeit Gebiete im Besitz, die sie Quadranten nannte, außerhalb der Städte, und was passierte in diesen Quadranten mit denjenigen, die keine Rechte hatten, den Flüchtlingen? Hatten sie Rechte? Es war eine neue Art Land, eines, das nie zuvor existiert hatte, eine neue Bestimmung. Hatten sie dort Rechte?
Nein, das ist korrekt, sie bekamen keine Rechte innerhalb ihrer Quadranten, nein, die Quadranten waren von Mauern umgeben, so wie heute, mit Wachen, die darauf achten, dass es keine organisierten Revolten gibt. Aber die Wachen halten niemanden dort fest. Jeder kann dort ein und aus gehen, wie ihr wisst, aber innerhalb der Mauern, und das ist der Punkt – deshalb war es plötzlich sicher, auf eine gewisse Art –, innerhalb dieser Mauern hat niemand Rechte, nicht einmal Staatsbürger. Dieser Bereich wurde als vorzivilisierter Raum betrachtet.
Und so wurden die mit den roten Mützen umgangssprachlich als Quads bekannt. Und sie dürfen herauskommen und Jobs in unserem Staat annehmen, aber sie können auch in ihren Quadranten bleiben, wenn sie wollen. Die Regierung versorgt sie mit Essen und Kleidung, sie müssen also noch nicht einmal arbeiten. Und wir Staatsbürger, die wir diese Nation ausmachen, können gehen, wohin wir wollen, sogar in die Quads, aber wenn uns in einem der Quadranten etwas zustoßen sollte, was würde das bedeuten? Wenn ich in einen Quad ginge und mich jemand dort umbrächte, was würde das bedeuten?
Ganz richtig – es würde gar nichts bedeuten. Es wäre im vorzivilisierten Raum geschehen. Dort gibt es keine Rechtsordnung. Natürlich können die Wachen reingehen und Durchsuchungen durchführen, Festnahmen, aber das ist etwas anderes, eine militärische Angelegenheit. Jedenfalls frage ich euch, wie wird diese Ordnung aufrechterhalten – wie sorgen die Staatsbürger für ihre Sicherheit? Wie kann es sein, dass wir die Quads beherrschen, wenn sie ins Land kommen, egal, wie viele es sind, egal, welche Absichten sie haben? Was ist unser Werkzeug? Was ist es?
Er hielt seine Maske hoch, die Maske, die an seinem Gürtel hing. Es war eine altmodische Maske von der Art, wie sie oft auf Plakaten gezeigt wird.
Ja, ja, das Gas. Das war auch Gartings Idee. Vier unterschiedliche Farben Gas, jede mit einem bestimmten Anwendungsbereich, und die Staatsbürger sind immer geschützt, immer vor dem Gas geschützt. Ihr alle habt euer ganzes Leben in der Behaglichkeit des Gases verbracht – mit all den Freiheiten, die es euch verschafft. Ihr seid Straßen gefolgt, die neben funktionierenden Gas-Leitungen verlaufen, alle zehn Fuß steht ein Kreuzungskopf. Ihr seid mit den Übungen aufgewachsen: die Maske aufsetzen, zum Gehweg laufen, der mit K markiert ist. Ihr kennt das wundervolle Gefühl der Sicherheit. Ihr versteht das Gas. Trotzdem, am Anfang war es nicht so einfach. Es gab viele, die dagegen waren.
Heute geht es nicht um den Erstrangigen Vorschlag, nicht um das Gas, sondern um den Zweitrangigen Vorschlag. Kennt ihn jemand?
LETHE KANNTE DEN ERSTRANGIGEN VORSCHLAG. SIE WUSSTE, was das Gas war, sogar etwas über die chemische Zusammensetzung. Ihr Vater war Wissenschaftler. Sie kannte den Zweitrangigen Vorschlag, die Geschichte der Nation. Aber Lois neben ihr wusste nichts von alldem. Sie waren sehr unterschiedlich aufgewachsen. Während Lois sich also nach vorne lehnte, begierig darauf zu erfahren, was der Zweitrangige Vorschlag war, klopfte Lethe mit ihrem Knöchel nervös gegen den Sessel und malte Windspielkreise auf ein Blatt Papier. Keiner von ihnen war perfekt. Sie dachte an den groben Rand des Holztisches und drückte ihren Daumen dagegen. Da war eine scharfe Kante, sie fand sie und spielte damit herum, drückte ihren Arm dagegen, machte Druck, bis sie sich beinahe daran schnitt. Hast du dieses Spiel als Kind auch gespielt? Um jede Empfindung des Körpers auszutesten? Lethe drückte und biss die Zähne zusammen.
Lois dagegen beobachtete Mandred und ihr Ausdruck war sanft, mondentrückt, aber einladend. Sie mochte den Unterricht und war eine gute Schülerin, aber hatte noch nie etwas schon davor gewusst, so wie Lethe. Vielleicht könnte man sagen, dass sie besser als Lethe darin war, Dinge zu lernen, die sie noch nicht wusste.
Was sagte er?
Mandred sagte, es sei wahr, dass Kriminelle früher an Orte geschickt worden waren, die man Gefängnisse nannte. Gefängnis, wie schreibt man das? Ein f oder zwei? Lois spitzte die Ohren.
Der Professor blieb bei seiner Leier:
Der Zweitrangige Vorschlag, nun, also, er folgte nicht sofort auf den Ersten; das war erst Jahre später, aber er war der Zweitrangige, weil er ebenfalls von Garing gemacht wurde. Ihm wurde klar, dass man die Quads erweitern könnte, weil sie so gut funktionierten. Warum sollten wir Kriminelle zu Tausenden und Millionen in Zuchthäuser, Gefängnisse und Besserungsanstalten stecken, wenn wir sie einfach der Bevölkerungsgruppe der Quads zuführen können? Also wurde es so gemacht. Das Problem, das die Nation Hunderte Jahre geplagt hatte, wurde auf einen Schlag beseitigt. Die Gefängnisse wurden aufgelöst. Jedem Insassen wurde die rote Mütze eingebrannt und jedem Insassen wurde der rechte Daumen abgetrennt, damit der Unterschied offensichtlich wäre, immer offensichtlich. Konsequenterweise musste man denen in den Quads auch die Daumen abtrennen. Das war die Ursache für jede Menge Unruhen, aber die konnten natürlich leicht niedergeschlagen werden. Gegen das Gas kamen sie nicht an.
Mandred drückte einen Knopf auf dem Podium und hinter ihm wurde eine Leinwand heruntergelassen.
Jetzt sehen wir uns die Prozedur an, bei der die Daumen abgetrennt werden – so wie es auch heute noch gemacht wird, in genau dieser Stadt.
Er setzte sich in die erste Reihe und das Licht am Podium verdunkelte sich. Auf der Leinwand erschien eine Zahlenreihe, die rückwärts herunterzählte, und das Bild einer Einrichtung tauchte auf, ein langes, schmales schwarzes Gebäude, draußen waren Schienen, wie bei einem Messegelände. In den Gleisreihen standen Tausende Menschen. Es war ein Film des Ersten Tages und niemand in der Reihe wusste, was passieren würde. Aber in der Klasse wussten es alle. Da war etwas Erwartungsvolles, ein Ausbruch von Freude. Wie sehr wir es doch genießen, von denen unterschieden zu werden, die uns nicht ebenbürtig sind.
Währenddessen hatte Lethe die Klasse verlassen. Sie ging hinaus und setzte sich unter einen Baum. Der Tag war keineswegs kalt; es war warm und die Sonne machte sich über die Wolken lustig, war mal vor ihnen, mal dahinter. Die Schatten auf dem Boden bewegten sich mal hierhin, mal dahin, als würden sie darauf reagieren. Ein Junge setzte sich zu ihr. Sie kannte ihn von irgendwo, so ein dünner, athletischer Typ mit einem schmalen Mund. Wie hieß er noch mal? Gerard?
Hey Lethe.
Sie nickte.
Du bist bei Mandred.
Sie nickte.
Er ist ein Säufer, wusstest du das?
Sie schüttelte den Kopf.
Ja, seine Frau ist letztes Jahr gestorben. Seitdem … (der Junge machte eine Person mit einer Flasche nach).
Woran ist sie gestorben?
Weiß nicht.
Sie saßen für ein paar Minuten da und die Lieferwagen fuhren die Straße entlang, an der die Schule lag.
Gerard stand auf.
Ich glaube, ich glaube es war … Jemand hat mir erzählt, sie hat sich mit Gas umgebracht. Sie wollte nicht mehr leben, Mandred hat sie gefunden und seitdem ist ihm nichts anderes mehr geblieben als die Flasche. Er ist ein Säufer.
Gerard lachte.
Na gut, tschüss.
Er ging hinein und Lethe saß noch eine Weile da. Sie dachte darüber nach, wie es wohl wäre, das Gas zu spüren, und ihr schauderte. Sie glaubte, man würde es gar nicht besonders mitbekommen, und sie hatte recht, teilweise. Sie dachte daran, wie es wäre, allein in einem Zimmer zu sein und diese alles verschlingende Wildheit zu spüren, die das Leben auslöschen möchte. Menschen kommen, um dir zu helfen, aber sie sind auf der Treppe, sogar schon auf der anderen Seite der Tür, aber haben keine Zeit mehr, sie zu öffnen, weil du die Kartusche geöffnet, das Gas eingeatmet hast – wie ein Flügelschlag hat sich dein Leben ausgestreckt und ist dann verstrichen, es gibt kein Zurück.
DRINNEN SETZTE SICH LETHE ZU LOIS. DER FILM LIEF IN DER Mindestgeschwindigkeit der Illusion ab. Sie hielten sich wieder an den Händen und schauten zu. Wer kann schon sagen, was es bedeutet, sich so einen Film anzusehen? Die Augen der Mädchen waren davon erfüllt – die Oberfläche der Augen empfing alles, ließ alles hinein: eine Menagerie aus flackerndem Licht, als Männer in weißen Uniformen – sie sahen aus, als würden sie in einer Molkerei arbeiten oder wie die Männer an der Fleischtheke – alle möglichen Leute einfingen und fixierten, jede Sorte Mensch, Männer, Frauen, Jungen, Mädchen, Menschen jeder Hautfarbe, Form, Größe. Der Daumen-Abtrenn-Raum wirkte sehr sauber und kahl. Es handelte sich um eine Art Theater. Es gab immer eine Person, die man festhalten musste, und viele Menschen, um diese Aufgabe zu übernehmen, also lief alles so, wie es sollte, auch wenn jede einzelne Person Widerstand leistete. Es wirkte fast komisch. Eine Tür öffnete sich. Die Nächste betrat das Zimmer, erstarrte, versuchte, die Arme zu heben, dann hielt man ihr die Arme fest, sie riss sich los, wurde wieder eingefangen, man presste sie in eine Art Ambossklotz, und dann war der Widerstand gebrochen. Es gab keinen Ton, wenn also jemand brüllte, ist das im Dunkel der Geschichte verlorengegangen. Der Film dauerte lange und sie schauten sich alles an, wie ein Daumen nach dem anderen abgetrennt, eine Wange nach der anderen mit einem Brandzeichen versehen wurde. Als es noch Bauernhöfe gab, war das Schlachten der Tiere auch so. Man führte sie zur Schlachtbank. Aber hier wurde niemand geschlachtet, nur ein wenig verändert. Da war insbesondere dieser eine Junge. Lois sah ihn und fand, er sah wie ihr Bruder aus. Sie hatte keinen Bruder, aber sie hatte sich schon immer einen Bruder gewünscht und hier, in diesem Film, da war er. Sie schaute zu, wie sie ihn fixierten und ihm den Daumen abtrennten. Es war ein schlanker, dunkler Daumen, der genauso gut ihrer hätte sein können. Das Gesicht des Jungen wurde vom Brandeisen zusammengedrückt, und es passierte, es passierte etwas Seltsames – bei vielen, die gebrandmarkt wurden, zeigte sich der Ausdruck ihrer Schmerzen als eine Art Grinsen. Warum war das so? Warum grinsten sie alle so schrecklich? Sie versuchte es mit ihrem Gesicht, dasselbe Grinsen und sah, dass Lethe neben ihr ebenfalls grinste.
Der Film hatte sein Ende erreicht und wo die Bilder gewesen waren, flackerte nun graue Schwärze.
IHR MÜSST ZUR EINSICHT GELANGEN, SAGTE MANDRED,