Das Spukbild  im Grafenschloss - Gina von Reiherstein - E-Book

Das Spukbild im Grafenschloss E-Book

Gina von Reiherstein

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Andrea tastete zum Tischchen neben dem Bett, wo sie die Nachttischlampe wußte, und fand den Schalter. Es gab einen knackenden Laut, der Andrea wie ein Donnerschlag in dieser Stille schien, aber es kam kein Licht. Die Leitung war tot. Noch tot oder schon wieder? Einen Augenblick nach diesem Knacks war es, als hielte der unheimliche Gast den Atem an. Dann vernahm Andrea einen leisen Seufzer, das hastige Geräusch eiliger Füße und dann ein Dröhnen und Krachen, das ihr entsetzlich in den Ohren hallte. Sie presste die Hände auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Aus vor Angst weit aufgerissenen Augen wartete sie. Als Andrea Holm in der Abenddämmerung mit ihren beiden Koffern den Zug verließ, faßte sie der Wind wie eine willkommene Beute und trieb ihr einen Wirbel stechender Schneekri­stalle ins Gesicht. Einen Moment lang stand das Mädchen unschlüssig im tiefen Schnee, der sich auf dem kleinen Bahnsteig angehäuft hatte. Dann knotete es sein Kopftuch fe­ster und stapfte zu dem niedrigen Gebäude, das so großzügig den Namen Bahnhof Aggstein trug. Der Bahnhofswärter gab gerade das Zeichen zur Weiterfahrt. Der Zug setzte sich schwerfällig in Bewegung, und bald verschwanden die wenigen Waggons hinter der nächsten Biegung. Mit unbewegtem Gesicht blickte das Mädchen in das Schneetreiben. Es schien der einzige Fahrgast gewesen zu sein, der den Zug auf dieser kleinen Station verlassen hatte. Der Bahnhofswärter kam heran, nahm die Mütze vom Kopf und fuhr sich durch das schüttere graue Haar. Sein prüfender Blick streifte die Fremde, die so seltsam verloren neben ihren Koffern stand. »Müssen Sie ins Dorf?« fragte er teilnehmend. »Ja, aber ich werde abgeholt«

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Gaslicht – 49 –

Das Spukbild im Grafenschloss

Unveröffentlichter Roman

Gina von Reiherstein

Andrea tastete zum Tischchen neben dem Bett, wo sie die Nachttischlampe wußte, und fand den Schalter. Es gab einen knackenden Laut, der Andrea wie ein Donnerschlag in dieser Stille schien, aber es kam kein Licht. Die Leitung war tot. Noch tot oder schon wieder? Einen Augenblick nach diesem Knacks war es, als hielte der unheimliche Gast den Atem an. Dann vernahm Andrea einen leisen Seufzer, das hastige Geräusch eiliger Füße und dann ein Dröhnen und Krachen, das ihr entsetzlich in den Ohren hallte. Sie presste die Hände auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Aus vor Angst weit aufgerissenen Augen wartete sie. Wartete auf eine dunkle, kalte, grausame Hand, die nach ihr greifen würde …

Als Andrea Holm in der Abenddämmerung mit ihren beiden Koffern den Zug verließ, faßte sie der Wind wie eine willkommene Beute und trieb ihr einen Wirbel stechender Schneekri­stalle ins Gesicht.

Einen Moment lang stand das Mädchen unschlüssig im tiefen Schnee, der sich auf dem kleinen Bahnsteig angehäuft hatte.

Dann knotete es sein Kopftuch fe­ster und stapfte zu dem niedrigen Gebäude, das so großzügig den Namen Bahnhof Aggstein trug.

Der Bahnhofswärter gab gerade das Zeichen zur Weiterfahrt. Der Zug setzte sich schwerfällig in Bewegung, und bald verschwanden die wenigen Waggons hinter der nächsten Biegung.

Mit unbewegtem Gesicht blickte das Mädchen in das Schneetreiben. Es schien der einzige Fahrgast gewesen zu sein, der den Zug auf dieser kleinen Station verlassen hatte.

Der Bahnhofswärter kam heran, nahm die Mütze vom Kopf und fuhr sich durch das schüttere graue Haar. Sein prüfender Blick streifte die Fremde, die so seltsam verloren neben ihren Koffern stand.

»Müssen Sie ins Dorf?« fragte er teilnehmend.

»Ja, aber ich werde abgeholt«, erwiderte Adrea und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Der Zug war mit etwas Verspätung gekommen, und eigentlich hatte sie gehofft, daß der Wagen des Schloßherrn sie bereits erwartete.

»Bei dem Schnee wird nicht so leicht ein Fahrzeug durchkommen«, meinte der Mann. »Wenn Sie wollen, können Sie im Büro warten.«

»Das ist sehr freundlich. Ich danke Ihnen«, sagte Andrea und folgte ihm in einen kleinen Raum, der Fahrkartenschalter, Büro und Wohnraum zugleich zu sein schien. In einer Ecke gab ein Ofen behagliche Wärme von sich, und Andrea setzte sich in dessen Nähe. Sie legte den Pelzkragen ihres Mantels ab und nahm das Tuch vom Kopf.

Der Bahnhofswärter sah staunend zu, welch bezaubernd schönes Geschöpf sich da aus der Vermummung schälte.

»Ich möchte nicht neugierig sein, aber von wem werden Sie denn geholt?« fragte er.

»Von irgend jemand vom Schloß«, entgegnete Andrea und hielt die kalten Hände an den Ofen.

»Vom Schloß?« wiederholte er ungläubig und schaute sie zweifelnd an. »Da war ja schon eine Ewigkeit niemand mehr zu Besuch.«

Andrea lächelte und ließ zwei Reihen blitzender weißer Zähne sehen.

»Ein richtiger Besuch bin ich ja auch nicht.« Sie begegnete seinem interessierten Blick. Warum sollte sie ihm ihre Geschichte erzählen, die ihn ja eigentlich recht wenig anging.

Er erriet den Grund ihres Schweigens, kehrte ihr seinen gebeugen Rük­ken zu und stocherte in der Glut des Ofens.

»Sie wundern sich über meine Frage, und ich wundere mich über Sie. Ich meine, weil Sie aufs Schloß wollen. Die Grafen Aggstein kapseln sich ab, als hätten sie irgend etwas zu verbergen, und ich kann mich wirklich nicht entsinnen, daß in den letzten Jahren jemand dort eingeladen war. Es soll im Schloß nicht ganz mit rechten Dingen zugehen, seit die Gräfin gestorben ist.«

Andrea richtete ihre großen braunen Augen voll Argwohn auf das gefurchte Gesicht des Mannes.

»Ich habe von diesen Geschichten gehört«, sagte sie arglos. »Aber ich glaube sie nicht. Um alte Schlösser und Burgen ranken sich oft die unglaublichsten Märchen. Ich jedenfalls habe keine Angst.«

Er begegnete ihrem unbekümmerten Blick und trat ans Fenster. Sie wird ja sehen, dachte er. Sie wird es erleben. Denn etwas muß an den Geschichten schließlich wahr sein.

»Wie weit ist es von hier bis zum Schloß?« fragte das Mädchen in sein Schweigen.

»Zu Fuß?«

»Ja.«

»Eine halbe Stunde, bei diesem Schneetreiben noch länger.«

Andrea schüttelte unmutig den Kopf, daß die kastanienbraunen Locken flogen.

»Ich hoffe, man holt mich bald. Ich halte Sie sicher auf.«

»Nein, nein«, widersprach der Beamte eifrig.

Andrea schwieg und horchte auf das Heulen des Windes im Kamin. Vor dem Fenster nahm die Dunkelheit zu. Die Pendeluhr an der Wand tickte gleichmäßig und laut, und Andrea fühlte, wie eine sonderbare Erregung in ihr wuchs.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Sie schraken zusammen. Dann griff der Mann nach dem Hörer.

»Bahnhof Aggstein.«

Andrea vernahm, wie eine Männerstimme ihr unverständlich schnelle Worte sprach, sah, wie der Bahnhofswärter diese Worte mit zustimmendem Nicken begleitete, mit einem »Ja, ich werde es ausrichten, Herr Graf!« antwortete und den Hörer auf die Gabel legte.

»Das war Graf Peter«, sagte er aufgeregt. »Er kommt mit dem Auto nicht durch. Die Straße ist fast zugeweht.«

»Dann gehe ich eben zu Fuß«, sagte Andrea Holm entschlossen, erhob sich rasch und begann ihren Mantel zuzuknöpfen.

»Das würde ich Ihnen nicht raten«, erwiderte der Mann bedenklich. »Sie kennen die Straße nicht und könnten leicht vom Weg abkommen.«

Sie lachte – ein helles, unbekümmertes Lachen.

»Wenn Sie mir eine Taschenlampe leihen könnten.«

»Das könnte ich schon. Aber der Graf meint, Sie möchten hier übernachten. Ich habe einige Zimmer und würde Ihnen gern…«

»Nein, nein«, wehrte Andrea ab. »Wenn Sie erlauben, möchte ich nur einen Koffer hierlassen, denn beide sind mir zuviel.«

Er nickte und schaute ihr zu, wie sie das Tuch fest um ihren Kopf wand, die letzten widerspenstigen Löckchen zurückstrich und den Pelzkragen aufrichtete.

Wenige Minuten später schlug sie den Weg zum Dorf und Schloß Aggstein ein. Die Dunkelheit erschien Andrea nicht so undurchdringlich, wie es vom Zimmer den Eindruck erweckt hatte. Und obwohl ihr das Gehen durch die Schneewehen sehr viel Mühe bereitete, kam sie schneller voran, als sie gedacht hatte.

Das Schneetreiben ließ ein wenig nach, doch der Wind war eisig. Andrea blieb bald keuchend und nach Luft ringend stehen. Der Hügel vor ihr hob sich wie ein schwerer dunkler Leib vom Himmel ab, schien ihr unheimlich wie ein schwarzes fremdes Etwas, das ihr voll Abwehr begegnete.

Als sie ihn erklommen hatte, sah sie die Lichter des Dorfes vor sich, und die sonderbare Stimmung, die sie die letzten Schritte begleitet hatte, fiel von ihr ab.

Das war es also. Dorf und Schloß Aggstein, das Ziel ihrer dreistündigen Bahnfahrt.

Schloß Aggstein! Ein weiterer Abschnitt in Andreas Leben – oder, besser gesagt, in ihrem Buch, an dem sie arbeitete. Ein Buch über die Schlösser und Burgen des Landes.

Sie schritt voll neuen Mutes weiter, versank im knietiefen Schnee, raffte sich auf, um von neuem zu stolpern. Doch die Lichter kamen näher, und Andrea sah es mit Befriedigung.

Welche Mühe hatte es sie gekostet, um diesen Besuch auf Schloß Aggstein ausführen zu können! Wie viele Briefe waren hin- und hergegangen zwischen ihr und Markus Graf von Aggstein. Und trotz der lange währenden Abwehr seinerseits war es dank Andreas zähem Ausharren dann schließlich doch gelungen, seine Zustimmung zu einem dreitägigen Aufenthalt zu erreichen. Aber er hatte bereits brieflich eine Unzahl von Bedingungen gestellt, die Andrea etwas befremdeten. Doch jetzt – und das schien das Wichtigste – lag Aggstein vor ihr, und daß sie gewisse Teile des Schlosses nicht betreten sollte, berührte sie in diesem Augenblick herzlich wenig.

Andrea hastete weiter, schleifte den Koffer neben sich her und atmete erst auf, als die ersten Häuser auftauchten. Endlich! Auf der Dorfstraße lag der Schnee nicht hoch, und auch der Wind schien ein wenig gemäßigter, zahmer zu sein.

Andrea ging langsam durch die Häuserzeilen, begegnete einer fest eingepackten Gestalt und fragte sie nach dem Schloß.

Es wurde ihr bedeutet, daß dieses am Ende des Dorfes liege. Andrea umschloß den Griff ihres Koffers noch fe­ster und schritt weiter. Die Häuser hörten auf, das warme gelbe Licht, das aus ihren Fenstern auf die Straße gefallen war, verschwand, und der Weg vor Andrea versank wieder im Dunkel.

Doch ein Stück weiter vorn – Andrea sah es mit großer Erleichterung – ragte ein mächtig dunkler Schatten auf.

Andrea wußte, daß die aufragenden Schatten zu beiden Seiten der Straße riesige hohe Pappeln waren, die geradewegs auf eine Mauer zuführten, die im Licht des kalten Mondes weißgrau glänzte.

Dahinter lag das Schloß, das ein hoch aufragender gotischer Bau war, der romanische Mauerreste und Fresken aus dem dreizehnten und sechzehnten Jahrhundert barg. Ein Wissen, das ihr im Augenblick nichts oder fast nichts bedeutete. Denn jetzt fühlte sie wieder dieses sonderbare, rätselhafte Grauen, und sie wagte nicht, darüber nachzudenken, woher es kam. Lag es an diesem unfreundlichen, eiskalten Dezemberabend? Lag es an den grauen Mauern, die ihr so abweisend entgegentraten?

Andrea stapfte die letzten Meter durch den Schnee, gelangte an ein hochgiebeliges Tor und fand eine 
Gloc­ke, an der sie läutete. Sie hörte deren Schrillen, und die Stille, die darauf folgte, schien ihr um so unwirklicher. Wäre der Wind nicht gewesen, der über die Mauer pfiff und im Dachgestühl rüttelte, hätte Andrea glauben können, dies alles sei ein Gebilde ihrer Phantasie.

Sie wartete. Ein Warten, in dem Ungeduld, Erregung und Hoffnung sich mischten. Da – endlich! Irgendwo wurde eine Tür geöffnet, Hundegebell drang ins Freie, und schnelle Schritte kamen näher.

Als sich die Tür vor Andrea öffnete, fiel der Strahl einer Taschenlampe in ihr Gesicht. Sie bedeckte es unwillkürlich mit ihrer Hand und wich ein wenig zurück.

»Verzeihen Sie«, sagte eine angenehm klingende Männerstimme, und der Jemand nahm das blendende Licht aus ihrem Gesicht.

»Ich bin Andrea Holm«, stellte sie sich vor.

»Das habe ich befürchtet«, entgegnete die Stimme. »Sie sind also doch gekommen. Zu Fuß, nehme ich an.«

»Ja.«

»Sie haben Mut! Bitte, kommen Sie herein. Ich bin Peter von Aggstein. Sie müssen entschuldigen, daß alles im Dunkeln liegt. Anscheinend hat der Sturm eine Lichtleitung zerstört.«

Er nahm Andrea den Koffer aus der Hand.

»Ich darf vorausgehen, Fräulein Holm?«

Das Licht der Taschenlampe tanzte vor ihnen her, und Andrea ging hinter der sehr großen schlanken Gestalt, deren Gesicht sie nur einmal undeutlich wahrgenommen hatte.

»So…« Er sprang über einige Stufen und öffnete eine große schwere Tür, die vom Hof in eine Halle führte. »Da wären wir.« Er schloß die Tür hinter Andrea, blieb vor ihr stehen, sah auf die zierliche Gestalt hinab und lächelte, indem er mit einer weit ausholenden Geste in die Halle wies.

Andrea folgte seinem Blick und erwiderte sein Lächeln.

»Welch ein romantischer Empfang«, sagte sie und betrachtete die Kerzen, die an den Wänden flacker-ten.

Er beobachtete sie. Sie fühlte seine Augen auf sich gerichtet und nestelte an ihrem Kopftuch. Er sieht gut aus, stellte sie fest. Gewelltes blondes Haar, ein offenes, sympathisches Gesicht und große hellblaue Augen, die sie prüfend anblickten.

Endlich hatte sie den Knoten ihres Tuches gelöst und nahm es vom Kopf. Die Flut ihrer braunen Locken fiel um ihr Gesicht und rahmte es ein wie ein kostbares zartes Bild. Sie sah das erstaunte Aufblitzen seiner Augen, die die Bewunderung, die sich unverhohlen in seinen Zügen abzeichnete, widerspiegelten.

»Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?« fragte er.

Sie nickte und schlüpfte aus dem nassen Kleidungsstück.

»Danke, Graf.«

»Das werde ich mir lange nicht verzeihen, daß ich Sie durch den Schnee laufen ließ«, sagte er düster und warf den Mantel über seinen Arm. »Aber ich kam einfach nicht durch. Kurz vor dem Dorf saß ich mit dem Wagen fest, und wenn mir nicht einige Leute geholfen hätten, wäre ich vermutlich noch immer dort.«

»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, erwiderte Andrea frö­stelnd. Sie trug ein grünes Strickkleid, das ihre grazile Figur noch mehr betonte, und sah auf ihre nassen Pelzstiefel nieder.

»Ich sollte sie wohl ausziehen?«

Er warf ihr aus halbgesenkten Lidern einen amüsierten Blick zu, den sie auffing. Und plötzlich lachte er.

»Ich werde Ihnen gleich Ihr Zimmer zeigen.« Er übersah ihren erstaunten Blick und fügte schnell hinzu: »Wir haben im Winter immer etwas weniger Personal. Zur Zeit sind nur Nelly, das Stubenmädchen, und Anna, die Köchin, im Haus.«

Verwundert hob Andrea ihre großen dunkelbraunen Augen.

»Genügt denn das für diesen riesigen Gebäudekomplex?«

»Ja.« Es klang knapp, und Andrea wunderte sich über die plötzliche Zurückhaltung in seiner Stimme. »Sie dürfen nicht vergessen, daß große Teile des Schlosses nicht bewohnt sind. Aber darf ich Sie jetzt hinaufbitten?«

Er führte sie über eine breite Treppe, die aus dem Hintergrund der Halle hinaufführte. Obwohl auch hier Kerzen brannten, schienen Andrea die Gänge dunkel und endlos und die hohen Türen voll düsterer Geheimnisse. Als sie um eine Ecke bogen, stieß sie gegen etwas Weiches und fuhr mit einem Laut des Entsetzens zurück.

Der Graf wandte sich um.

»Es tut mir leid, daß Asta Sie erschreckt hat.« Er tätschelte den Kopf einer riesigen gelben Dogge, die Andrea aus bernsteinfarbenen Augen abwartend musterte.

Das Mädchen lachte erleichtert auf.

»Beißt sie?«

»Nein, sie ist nur mißtrauisch«, erwiderte der Graf und fuhr fort, die spitzen Ohren des Hundes zu kraulen. »Aber wen sie einmal ins Herz geschlossen hat, den liebt sie bedingungslos.«

»Komm her, Asta«, lockte Andrea sanft.

Das Tier bewegte sich nicht von der Stelle. Andrea ging langsam darauf zu, streckte die Hand vorsichtig aus und legte sie auf den langen schmalen Kopf. Die bernsteinfarbenen Augen schauten weiter voll Gelassenheit. Erst als Andrea das weiche Fell zu streicheln begann, kam ein Ausdruck von Ergebenheit in das große Gesicht des Hundes, und Andrea fühlte, daß sie 
Astas Herz gewonnen hatte.

Der Graf lachte.

»Mein Kompliment, Fräulein Holm. Es scheint mir Liebe auf den ersten Blick zu sein.«

Sie schauten sich einen Moment schweigend an, und wieder fühlte Andrea diese eigenartige Befangenheit, in die sein Blick sie versetzte.

»Ich habe Tiere sehr gern«, murmelte sie.

Er lächelte wieder. Sein Gesicht lag im Schatten, und eine Kerze hinter ihm warf zuckende Lichter über sein helles Haar.

Er besitzt eine unerhörte Ausstrahlung, dachte Andrea. Und er weiß es.

»Komm, Asta«, sagte sie dann und folgte dem Grafen, der sie mit einer stummen Geste zu folgen bat.

Der weiche rote Läufer verschluckte ihre Schritte, und es war Andrea, als schwebe sie, so lautlos glitten sie durch die Gänge.

»Ich fürchte, daß ich mich hier nie zurechtfinden werde«, seufzte sie, als der Graf endlich vor einer Tür stehenblieb.

»Es gibt auch einen kürzeren Weg«, sagte er und öffnete die Tür. »Außerdem sieht bei Nacht alles viel größer und weitläufiger aus. Ich habe dieses Zimmer für Sie gewählt, weil es am gemütlichsten und wärmsten ist.«

Der Strahl der Taschenlampe fand den Kerzenleuchter auf einer Kommode. Mit schnellen Handgriffen entzündete er ihn, und der kleine Raum tauchte in warmes gelbes Licht.

Andrea sah sich um. Ein Bett, ein Schreibtisch mit einem Sessel davor, eine Kommode und darüber ein großer venezianischer Spiegel.

»Gefällt es Ihnen?« fragte Graf Peter.

Andrea nickte dankbar.

»Es ist wunderschön.«

Sie stand im Kerzenlicht, und ihr Gesicht mit der geraden kurzen Nase, dem kleinen vollen Mund und dem zarten Kinn sah so lieblich aus, daß der Graf unwillkürlich den Atem anhielt.

Ein kurzes Scharren riß ihn unsanft aus dieser Verzauberung. Er wandte sich rasch um und schaute durch die halbgeöffnete Tür.

»Asta!« Seine Stimme klang wie ein Peitschenknall, und Andrea fuhr zusammen.

Er drehte sich verlegen lächelnd um.

»Das Tier hat einen unbändigen Bewegungsdrang, und vor allem verschlossene Türen haben es Asta angetan. Ich darf Sie bitten, Asta nie diese Tür am Ende des Ganges zu öffnen. Sie führt in den unbewohnten Flügel, und wir haben schon einmal wie verrückt nach Asta gesucht, als sie sich dort eingeschlichen und dann verlaufen hatte.«

Er beendete seine Erklärung mit einer vagen Geste, und Andrea spürte, daß irgend etwas in seinem Ton unecht klang. Sie sah ihn an. Er stand noch immer im Türrahmen, eine Hand in der Tasche seiner beigefarbenen Flanellhose vergraben, die andere am Kopf des Hundes.

»Wir essen um zwanzig Uhr«, sagte er plötzlich kühl. »Sie brauchen sich nicht umzuziehen. Es ist alles ein wenig formlos. Mein Bruder Markus haßt jede Etikette.« Er hielt inne und sah Andrea forschend an. »Ich hoffe, Sie kommen mit ihm aus. Er ist – hm, sagen wir, er ist ein wenig schwierig.« Er biß sich auf die Lippen und fuhr dann rasch fort: »Sollten Sie was brauchen, bitte klingeln Sie. Nelly wird Ihnen gerne und jederzeit behilflich sein.«

*

Erstaunlicherweise fand Andrea später allein durch die vielen Gänge zurück und erreichte die große Treppe, als die Uhr in der Halle acht samtene Schläge von sich gab. Der große Raum selbst war leer, aber aus einer nur angelehnten Tür fiel Licht, und Andrea nahm an, daß es sich um das Speisezimmer handelte.

Sie durchquerte die Halle und näherte sich jener Tür, aus der jetzt der entschiedene Ton einer scharfen Stimme klang.

»Wir können nicht vorsichtig genug sein. Sie darf nichts, aber auch nicht das geringste bemerken.«

Eine zweite Stimme – Andrea erkannte in ihr die des Grafen Peter – lachte auf.

»Wie stellst du dir das vor, Markus? Sie ist drei Tage hier und hat Gelegenheit genug, sich zu informieren.«

»Informieren! Ja, ja!« rief die andere Stimme wieder erregt. »Natürlich kann sie das. Aber es war deine Idee, das Mädchen hierherkommen zu lassen. Ich war von Anfang an dagegen. Und ich sage dir, wenn sie auch nur den geringsten Verdacht schöpft, sind wir…«

Impulsiv stieß Andrea die Tür auf und trat in den Raum. Was immer auch hier geschah, es ging sie nichts an. Für sie gab es nur eines, und das war die Beschaffung der Unterlagen für ihr Buch.

Die Herren erbleichten bei Andreas Eintritt und sprangen auf.

Graf Peter kam ihr entgegen, ein unsicheres Lächeln um den schön geschnittenen Mund.

»Sie sind sehr pünktlich, Fräulein Holm. Darf ich Sie mit meinem Bruder bekannt machen?«

Markus Graf von Aggstein kam ihr nicht mehr als einen halben Schritt entgegen.

Andrea blickte ihn an. Er war größer, noch muskulöser als Peter, auch um einige Jahre älter – vielleicht vierzig mochte er sein. Aber die Ähnlichkeit zwischen den Brüdern war unverkennbar. Aber im Gegensatz zu Peter war Markus’ Haar an den Schläfen bereits ergraut, was ihm, zusammen mit den tiefen Kerben um Nase und Mund, den Ausdruck eines müden älteren Mannes gab.

Er nahm Andreas ausgestreckte Hand in die seine, drückte sie flüchtig und ließ sie schnell wieder los.

»Guten Abend, Fräulein Holm.« Es klang kühl, und Andrea wußte, daß sie ihm nicht willkommen war.

»Ich danke Ihnen, Graf Aggstein, daß Sie die Freundlichkeit hatten, meiner Bitte zu entsprechen.«

Er zwang sich zu einem Lächeln.