Das Mädchen aus dem Föhrenwald - Gina von Reiherstein - E-Book

Das Mädchen aus dem Föhrenwald E-Book

Gina von Reiherstein

0,0

Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkrone" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Romane aus dem Hochadel, die die Herzen der Leserinnen höherschlagen lassen. Wer möchte nicht wissen, welche geheimen Wünsche die Adelswelt bewegen? Die Leserschaft ist fasziniert und genießt "diese" Wirklichkeit. "Fürstenkrone" ist vom heutigen Romanmarkt nicht mehr wegzudenken. Neumond! Die Nacht war schwarz, undurchdringlich und schwül. Die drei Insassen des Landrovers beobachteten schweigend, wie sich dessen Scheinwerfer langsam durch das Dunkel des steinigen, steilen Gebirgsweges fraßen. Da erfasste der Lichtkegel plötzlich etwas Fremdes. Es leuchtete ihnen rot entgegen. »Halt mal, Pierre«, rief Alexander Graf von Herrnau. »Bist du verrückt, mitten auf dem Steinstück?«, knurrte Pierre Chervy, brachte aber gleichzeitig den Wagen zum Stehen, weil auch ihm das Ungewöhnliche am Rand des Weges ins Auge sprang. »Da liegt ja jemand«, schaltete sich Monika, die auf dem Rücksitz saß, mit trägem Interesse ein. »Du merkst auch alles.« Pierre warf ihr einen gereizten Blick zu und sprang hinter dem Grafen aus dem Auto. Sie beugten sich zu der stillen, scheinbar leblosen Gestalt nieder, die in dem unbarmherzig grellweißen Licht der Scheinwerfer seltsam rührend wirkte. »Ein Mädchen«, murmelte Graf Herrnau, und sein Blick fiel auf das rote, halb zerfetzte Leinenröckchen, das lange nackte Beine bis übers Knie bedeckte, und auf einen formlosen weißen Pullover. »Wir drehen sie um, Pierre. Vorsichtig … Pass doch auf!«, fuhr er leise fort. Sie drehten den Körper behutsam herum, sahen fassungslos in ein durch Schmutz und Blutspuren fast unkenntliches Gesicht, in das struppiges dunkles Haar fiel.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fürstenkrone – 169 –

Das Mädchen aus dem Föhrenwald

Wer ist die Unbekannte, die Graf Alexander den Kopf verdreht?

Gina von Reiherstein

Neumond! Die Nacht war schwarz, undurchdringlich und schwül. Die drei Insassen des Landrovers beobachteten schweigend, wie sich dessen Scheinwerfer langsam durch das Dunkel des steinigen, steilen Gebirgsweges fraßen. Da erfasste der Lichtkegel plötzlich etwas Fremdes. Es leuchtete ihnen rot entgegen.

»Halt mal, Pierre«, rief Alexander Graf von Herrnau.

»Bist du verrückt, mitten auf dem Steinstück?«, knurrte Pierre Chervy, brachte aber gleichzeitig den Wagen zum Stehen, weil auch ihm das Ungewöhnliche am Rand des Weges ins Auge sprang.

»Da liegt ja jemand«, schaltete sich Monika, die auf dem Rücksitz saß, mit trägem Interesse ein.

»Du merkst auch alles.« Pierre warf ihr einen gereizten Blick zu und sprang hinter dem Grafen aus dem Auto.

Sie beugten sich zu der stillen, scheinbar leblosen Gestalt nieder, die in dem unbarmherzig grellweißen Licht der Scheinwerfer seltsam rührend wirkte. »Ein Mädchen«, murmelte Graf Herrnau, und sein Blick fiel auf das rote, halb zerfetzte Leinenröckchen, das lange nackte Beine bis übers Knie bedeckte, und auf einen formlosen weißen Pullover.

»Wir drehen sie um, Pierre. Vorsichtig … Pass doch auf!«, fuhr er leise fort.

Sie drehten den Körper behutsam herum, sahen fassungslos in ein durch Schmutz und Blutspuren fast unkenntliches Gesicht, in das struppiges dunkles Haar fiel.

»Was ist denn mit ihr? Ist sie tot?«, fragte Monikas dunkle Stimme hinter ihnen.

»Bitte, Kiki«, tadelte Graf Herrnau, nahm das schmale Handgelenk der Verletzten und fühlte nach dem Puls. Er war da, zwar schwach, aber regelmäßig.

Während Graf Herrnau mit Pierre einen besorgten Blick wechselte, schlug das Mädchen die Augen auf. Große, sehr helle furchtsame Augen, die sich plötzlich in panischer Angst weiteten.

»Sei ganz ruhig«, sagte der Graf und schaute in das angstverzerrte Gesicht. »Bist du gestürzt?«

Das Mädchen antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an.

»Wir wollen dir doch helfen. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Das Mädchen drehte ganz langsam den Kopf und blickte auf Pierre, der diese Worte sehr sanft gesprochen hatte. Und auf einmal ging eine Veränderung mit dem jungen Geschöpf vor. Die Angst verschwand aus dem kleinen Gesicht, das nur noch eine einzige stumme, ungläubige Frage auszudrücken schien.

»Bist du gestürzt?«, wiederholte Pierre die Frage des Grafen und griff nach der zarten Hand.

Das Mädchen nickte schwach.

»Wo tut’s dir denn weh? Im Kopf?«

Wieder stummes Nicken.

Pierre warf einen schnellen Blick auf den Grafen.

»Vermutlich eine kleine Gehirnerschütterung«, meinte er leise.

»Was machen wir mit ihr?«, gab Graf Herrnau ebenso leise zurück.

Sie schauten sich unschlüssig an. Dann beugte Pierre sich wieder nieder.

»Wir werden dich nach Hause bringen. Wo wohnst du denn?«

Die kleine Hand in der seinen zuckte wie ein verschreckter Vogel, und in den hellen Augen erschien wieder jener unerklärlicher Ausdruck von Angst.

»Willst du es denn nicht sagen?«, forschte Pierre sanft weiter. »Wir tun dir doch nichts. Wir wollen dir helfen.«

Das Mädchen schwieg beharrlich.

»Wir können doch nicht die halbe Nacht hier stehen«, sagte Monika etwas mürrisch hinter ihnen. »Nehmen wir die Kleine einfach mit hinauf. Morgen früh wird sie sich von ihrem Schock schon erholt haben.«

»Sie braucht einen Arzt«, warf Pierre ein.

»Es ist unmöglich, Pierre. Wir können unmöglich diesen holprigen Weg mit ihr zurückfahren. Kiki hat recht. Vielleicht ist es das Beste, wenn wir sie mit hinaufnehmen. Morgen früh fährst du dann, um den Arzt zu holen.«

Pierre schaute ihn einen Augenblick lang zweifelnd an, dann drückte er die Mädchenhand, die noch immer in der seinen ruhte, fest und beruhigend.

»Bist du einverstanden damit?«

Lange lag der Blick des Mädchens in dem seinen – fragend, zweifelnd, mit einer winzigen Spur Vertrauen, die es zu diesem dunkelhaarigen Mann gefasst hatte. Endlich folgte wieder ein zögerndes Nicken.

»Na also, siehst du«, gab Pierre sehr erleichtert zurück, selbst erstaunt über seine eigene Geduld und Sanftheit.

»Wir heben sie auf«, sagte Graf Herrnau. »Kommen Sie, Kiki …, so, ja! Gehen Sie voraus. Wir heben sie zu Ihnen auf den Rücksitz.«

Das Mädchen ließ willenlos den kleinen Transport über sich ergehen, und als sein Kopf in den Schoß der fremden jungen Frau gelegt wurde, schloss es einen Moment verzweifelt die Augen. Es kam alles anders, ganz anders, als sie es geplant hatte …

Der Landrover holperte wieder los, nahm die letzten Steigungen, folgte einem schmalen Weg, der über ein Hochplateau führte, und hielt endlich vor einem einstöckigen Holzhaus, das sich im Scheinwerferlicht aus der Dunkelheit schälte.

»So.« Pierre stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer aber brennen. »Da wären wir.«

»Da?«, zwitscherte Monika und tat eine unüberlegte Bewegung, die das Mädchen aufstöhnen ließ. »Oh, Verzeihung, ich habe dir doch nicht wehgetan?« Ihr Ton war gleichgültig.

»Na, dann fangen wir an«, sagte Graf Herrnau ruhig und stieg aus. »Gibt es Licht hier?«

»Ja, Moment, Alex …, da ist der Schlüssel. Sperre doch mal auf. Links neben der Tür ist der Schalter.«

Graf Herrnau fand ihn. Vor der Haustür und im Flur flammte Licht auf. Er stand einen Augenblick zögernd da und öffnete dann die Türen, die von dem langen Gang in verschiedene Zimmer führten.

Pierre kam mit einigen Koffern ächzend herein und stellte sie nieder.

»Gefällt es dir, Alex?«

Graf Herrnau warf ihm einen belustigten Blick zu.

»Ich glaube schon, Pierre. Bisher habe ich noch nicht viel gesehen. Lass es erst einmal Tag werden.«

»Bereust du es?«

»Nein, Pierre.« Der Graf trat vor die Haustür und blickte zum weiten, blitzenden Sternenhimmel hinauf. Eine Reise in die Vergangenheit, so hatte sein Freund Pierre Chervy, ein bekannter Modefotograf, diese abenteuerliche Fahrt in das Hochplateau hier in den Bergen genannt. Eine Reise in die Vergangenheit, über die er sich ausschwieg.

»Was machen wir mit der Kleinen?«, fragte Graf Herrnau leise über die Schulter zurück.

Pierre trat zu ihm, blickte sorgenvoll und unsicher auf das Auto, in dem die Verletzte noch immer lag.

»Oben im ersten Stock ist ein geräumiges Zweibettzimmer. Vielleicht … Ich schlage vor, dass wir das Mädchen dort hinaufbringen. Monika könnte bei ihr schlafen.«

Graf Herrnau stimmte zu, und gemeinsam gingen sie die paar Schritte zum Wagen, um Monika in leisen, knappen Worten ihren Entschluss mitzuteilen, dem sie nach einigem Zögern ungnädig zustimmte.

Pierre trat wieder ins Haus, stolperte über eine kurze hölzerne Stiege in den ersten Stock, wo er Licht machte, die Türen zu den drei Zimmern öffnete, aus denen ihm abgestandene, dumpfe Luft entgegenschlug, die ihm den Atem nahm.

Er riss die Fensterläden auf, ließ die Nachtluft herein und atmete in tiefen Zügen. Dann schloss er für einen Moment die Augen, als wolle er die Bilder, die dieser dunkle samtene Sternenhimmel in ihm erweckte, zum Erlöschen bringen. Mit einer jähen Geste wandte er sich um, öffnete einen Kasten, entnahm ihm Bettwäsche und begann, die beiden Betten im Raum zu beziehen. Etwas später ging er hinunter.

Graf Herrnau kam ihm gleichzeitig mit enttäuschtem Gesicht entgegen.

»Ist etwas, Alex?«

»Ja …, ich weiß nicht. Die Kleine hat einen ziemlich starken Schock erlitten, scheint mir«, erwiderte der Graf. »Wir haben versucht, ihr Gesicht ein wenig von Blut und Schmutz zu befreien, aber sie starrt uns an – speziell mich –, als seien wir Bestien.« Er zuckte resigniert die Schultern. »Ich gebe es auf. Du hast mehr Glück als ich.« Über sein markantes, gutgeschnittenes Gesicht lief ein Schatten.

Pierre Chervy legte eine Hand auf Graf Herrnaus Arm.

»Tut mir leid, Alex. Das ist ein Zwischenfall, mit dem wir nicht rechnen konnten.«

»Ich habe ein ziemlich unangenehmes Gefühl, Pierre. Das Mädchen verhält sich so sonderbar. Es würde mich nicht wundern, wenn wir noch eine Menge Schwierigkeiten mit ihr haben werden.«

Sie sprachen mit gedämpften Stimmen, die Gesichter ein wenig erhoben, dem wenig kühlenden Nachtwind, der von den Bergen herabstrich, zugewandt.

*

Es war kurz vor ein Uhr nachts, als sie endlich alle in ihren Betten lagen. Durch die geöffneten Fenster hörten sie das Rauschen des Windes, der die Schwüle milderte, und die ungewohnte Umgebung ließ sie lange noch keinen Schlaf finden.

Alexander von Herrnau lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und schaute blicklos auf die schwarze Decke über ihm. Obwohl er nicht verstand, was er eigentlich hier wollte, würde ihm die Abwechslung guttun. Pierre war nicht gern allein, und vielleicht war dies auch der Grund seiner Einwilligung zu dieser Fahrt gewesen. Denn Pierre gelang es stets, aus seinen Mitmenschen mit Leichtigkeit Zusagen zu entlocken, die sie hinterher bereuten.

Eine Reise in die Vergangenheit! Der Graf lächelte. Trotz seiner Fassade von Weltgewandtheit und kühler Ironie war Pierre ein Mensch, der leicht verletzlich war und zur Sentimentalität neigte. Ein Zwiespalt, der ihn den Frauen seiner Umgebung außerordentlich begehrenswert machte. Und er hatte mit vielen Frauen zu tun – beruflich natürlich, mit den schönsten, elegantesten Fotomodellen, deren Reize Pierre aber völlig unberührt ließen. Er schien nur Interesse für seine Arbeit zu haben.

Graf Herrnau machte Licht, suchte nach seinen Zigaretten und steckte sich eine zwischen die Lippen. Dann löschte er das Licht wieder und rauchte im Dunkeln.

Er hatte Pierre vor etwa fünfzehn Jahren kennengelernt, als er Modeaufnahmen in seinem Gestüt machen wollte. Aus dieser anfänglich nur oberflächlichen Bekanntschaft hatte sich im Verlauf der Jahre eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, und wenn Pierre von seinen weiten Reisen aus aller Welt zurückkehrte, fand er auf Gut Herrnau einen ruhenden Pol.

Der Graf drückte seine Zigarette aus. Mit der festen Absicht, nicht länger als eine Woche in diesem von Pierre gemieteten Haus zu bleiben, schlief er ein.

*

Als sehr früh die Sonne aufging und durch die grauen handgewebten Leinenvorhänge fiel, wachte Pierre Chervy auf. Ohne sich auch nur eine Sekunde besinnen zu müssen, wo er war, glitt er sofort aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und blickte hinaus auf die Landschaft, auf das wundervolle Bild, das sich ihm bot.

Ein weiter grüner, ebener Kessel, von zahlreichen kleinen Wasserläufen durchbrochen, eingerahmt von bewaldeten Felsstücken, die zu hohen Bergen emporwuchsen, lag vor ihm. Ein friedliches Tal, scheinbar fernab jeder Zivilisation. Weiter drüben, am anderen Ende des Hochtales, gab es nur einige kleinere, jetzt nicht mehr bewirtschaftete Hütten.

Einige Minuten später betrat er leise summend die Küche und begann Feuer zu machen. Ungewohnte Handgriffe, und doch noch vertraut aus einer längst vergangenen Zeit … Er richtete sich auf und horchte hinaus, als müsse er Schritte hören …, leichte, beschwingte Schritte, schnell, kaum hörbar und flüchtig wie der Wind.

Er riss die Tür auf, und das Sonnenlicht stürzte wie ein greller goldgelber Vorhang in den Flur, fiel über Pierre, der an der Schwelle stehen blieb, den Blick unverwandt auf den Weg gerichtet, der vom Haus zu einem nahen Waldstück führte. Plötzlich schüttelte er heftig den Kopf und kehrte in die Küche zurück, um den Teekessel aufzusetzen. Er hasste es, allein zu sein, und er hasste die Gedanken, die ihn dann überfielen.

Man hätte ihn, sah man ihn nur von hinten, für einen jungen Mann halten können. Er war sehr schlank, mittelgroß und bewegte sich mit lässiger Eleganz. Erst wenn man sein Gesicht sah – ein sehr schmales, interessantes Gesicht mit dunkelbraunen wachen Augen – erriet man sein Alter. Er war achtundvierzig.

So ganz in seine Beschäftigung versunken, schrak er auf, als die Tür hinter ihm aufflog und Monika hereinstürmte. Ihr apartes, katzenhaftes Gesicht mit den grünen Augen zeigte alle Zeichen höchster Erregung.

»Pierre … Sie ist nicht mehr da, sie ist fort!«

Er starrte sie verständnislos an.

»Wer ist fort?« Und auf einmal begriff er. »Die Kleine? Das Mädchen?«

Monika schüttelte ihre rote Haarmähne.

»Verstehst du das, Pierre? Heute Nacht war sie noch halb tot, und jetzt ist so fort – von selbst, aus eigener Kraft.« Sie zog den Gürtel ihres blauen Seidenpyjamas enger und trat ans Fenster. »Ihr werdet mir doch keine Vorwürfe machen«, fuhr sie heftig fort. »Man kann bei Gott nicht verlangen, dass ich die halbe Nacht an ihrem Lager sitze und …«

»Kein Mensch macht dir Vorwürfe, Kiki«, beschwichtigte Pierre sie. In seiner Stimme schwang ein leiser Unterton von Enttäuschung mit.

»Es gibt auch andere Modelle.« Dann versank er in düsteres Schweigen.

Monika schwang sich aufs Fensterbrett und baumelte mit den langen, mageren Beinen.

»Was tun wir also?«, fragte sie schließlich nervös.

»Was?«

»Mit dem Mädchen?«

»Wenn sie fort ist, ist der Fall erledigt …«

»Wer ist fort?« Alexander von Herrnau stand im Türrahmen, ein Handtuch um seinen Hals geschlungen. Er war auf dem Weg zum Waschraum.

»Das Mädchen«, antwortete Pierre ruhig und wandte sich ab, um den Ausdruck seines Gesichtes zu verbergen.

Graf Herrnau blickte ihn nachdenklich an, dann schaute er auf Monika, die noch immer ungeniert in ihrem Nachtgewand am Fenster hockte.

»Irgendsowas habe ich mir ja gedacht«, murmelte er endlich.

Pierre drehte sich abrupt um.

»Die Leichtigkeit, mit der ihr diese Sache nehmt, ist empörend«, sagte er. »Immerhin war dieses Mädchen verletzt, sie blutete und …«

»… sie verschwand mitten in der Nacht«, ergänzte Monika gehässig. »Mein lieber Pierre, du gefällst dir wohl in der Rolle des Samariters.« Ein spöttisches Funkeln in ihren Augen erhob sie sich und kam langsam auf ihn zu, bis sie ganz nahe vor ihm stand. Sekundenlang starrten sie sich an, dann lachte Monika hellauf und huschte an Graf Herrnau vorbei auf den Gang über die Treppe in ihr Zimmer hinauf.

Der Graf schaute ihr halb belustigt, halb befremdet nach.

»Ich habe dich gewarnt, Pierre. Monika wird hier nichts unversucht lassen, dich endlich in den Hafen der Ehe zu lotsen. Du hättest sie nicht mitnehmen dürfen.«

»Bitte, Alex, fang jetzt nicht auch noch an«, gab Pierre hitzig zurück. »Ich werde ihr diese Absicht schon aus dem Kopf schlagen. Darauf kannst du dich verlassen. Aber«, und jetzt wurde sein Ton versöhnlicher und ruhiger, »es würde mir leidtun, wenn unser Aufenthalt nicht so harmonisch würde, wie, ich es mir dachte.«

»Lass nur, Pierre.« Alexander von Herrnau fuhr sich mit allen zehn Fingern durch sein dichtes blondes Haar und lächelte. »Ich genieße es bereits, hier zu sein. Du glaubst nicht, wie gut mir diese Abwechslung tut.« Er hielt einen Moment inne und setzte dann nachdenklich hinzu: »Aber was ist jetzt wirklich mit diesem Mädchen?«

»Nachmittags fahre ich ins Dorf. Dort wird sicher jemand Bescheid wissen.«

»Schön. Und ich entschwinde in den Waschraum.«

»Frühstück in einer halben Stunde auf der Veranda«, rief Pierre ihm nach und widmete sich weiter seinen Vorbereitungen.

Später saßen sie dann gemeinsam auf der Veranda, die ebenerdig über die ganze Vorderfront des Hauses lief.

»Ich werde die Gegend ein wenig ergründen«, sagte Graf Herrnau.

»Dort hinter dem Felsen liegt ein kleiner See, Alex. Sieh ihn dir an, er ist wunderschön.« In Pierres Stimme schwang leise Melancholie.

Graf Herrnau nickte.

»Danke für den Tipp, Pierre.«

Monikas grüne Katzenaugen öffneten sich ganz weit.

»Das tut er gern«, sagte sie anzüglich. »Nicht wahr, Pierre, du kennst dich hier ja gut aus?«

»Ja«, gab er knapp zurück, und sein barscher Ton ließ Monikas böses Gelächter verstummen. »Wenn es dir recht ist, würde ich gern in einer Stunde mit der Arbeit beginnen.«

Sie nickte stumm und stand auf.

»Ich kümmere mich um die Kleider«, sagte sie plötzlich überraschend gefügig. »Es wird schwer sein ohne Assistentin … Pierre, komm, komm, küss mich!«

*

Alexander von Herrnau hörte Pierres Antwort nicht mehr. Taktvoll entfernte er sich schnell vom Haus, schritt rasch mit weit ausholenden Schritten über die saftigen Wiesen jenem Punkt zu, den Pierre ihm vorgeschlagen hatte.

Die Sonne stieg höher und höher. Der Himmel war blassblau und seidig und spiegelte sich trunken im Morgentau.

Graf Herrnaus Blicke hingen entzückt an dieser Pracht. Aber plötzlich blieb er jäh stehen. Die Wiese senkte sich und führte zu einer kleinen Gruppe von Bäumen. Er ging langsamer, durchquerte ein Wäldchen und verharrte. Dicht vor ihm stürzte eine steile Felswand etwa zwanzig Meter hinunter zu einem kleinen See, der wie ein rundes dunkelgrünes Auge dalag. Und dort unten am Rande dieses kleinen Sees lag etwas Rotes, Leuchtendes, etwas, das ihm bekannt war.

Graf Herrnau griff sich an die Stirn, und ein Gefühl des Grauens beschlich ihn. Er lief die letzten Meter wie gehetzt und blieb schließlich stehen, um dieses rote Röckchen aufzuheben. Er starrte es an, starrte auf die dunkle grüne Fläche des Wassers.

»Sie ist ertrunken«, murmelte er und blickte noch immer, wie um Bestätigung heischend, ins Wasser. Ehe er sich noch klar wurde, was zu tun sei, ließ ihn ein schwacher, unterdrückter Laut herumfahren.

Hinter einem Felsblock erhaschte er noch eine kleine flüchtige Bewegung, etwas Weißes.

Ohne sich zu besinnen, lief er zu diesem Felsen und blieb keuchend stehen.

Zwei riesige hellgraue Augen unter langen seidigen Wimpern, das war das Erste, was er wahrnahm. Riesige Augen in einem schmalen ebenmäßigen Gesicht mit feiner, gerader Nase, einem wunderbar geformten Mund, der – wie halb geöffnet zu einem Schrei – mitten in seiner Bewegung erstarrt war. Und dieses Gesicht war umrahmt von einer Flut langer schwarzer und vom Bad im See noch feuchten Haare, die sich an Stirn und Schläfen zu kleinen Löckchen ringelten.

Graf Herrnau schluckte und löste sich aus der Verzauberung dieses Augenblickes. Er versuchte ein schwaches Lächeln, das keinen Widerhall auf dem schönen Gesicht des Mädchens erweckte. Schließlich sagte er mit spröder Stimme: »Verzeihen Sie … Ich – ich wollte Sie nicht stören … Ich dachte – ich wusste nicht …« Der Satz, den er begonnen hatte, endete in zusammenhanglosem Gestammel.

Das Mädchen schaute ihn, eng an den Fels gedrückt, noch immer schweigend an. »Sind Sie …? Ich meine, ich hätte Sie kaum wiedererkannt«, fuhr er verlegen fort. »Wenn nicht dieser Rock gewesen wäre …«

Der Blick des Mädchens wanderte auf das Kleidungsstück in Graf Herrnaus Hand. Sie zögerte noch eine Sekunde, dann streckte sie die Hand aus und griff danach, um es gegen die langen Beine zu pressen.

»Ich habe gebadet«, sagte sie, und die Plötzlichkeit, mit der sie zu sprechen begonnen hatte, überraschte den Grafen. Einen Augenblick lauschte er der hellen Stimme, den wenigen Worten nach. Ja, sie hatte gebadet. Und das, was unter Schmutz und Blut verborgen gewesen war, ließ ihm das Herz höherschlagen.

Welche Schönheit, welch eigenartiger Zauber ging von diesem Wesen aus, das sie gestern noch alle für ein Kind gehalten hatten. Aber es war kein Kind. Sein Blick glitt, ohne es zu wollen, über den weißen Pullover, der die sanft geschwungenen Hüften ahnen ließ. Es war kein Kind. Es war eine sehr junge Frau, ein rätselhaftes, scheues Wesen, das Angst hatte. Aber Angst wovor?