Das Syndrom - John Scalzi - E-Book + Hörbuch

Das Syndrom Hörbuch

John Scalzi

4,4

Beschreibung

Gefangen im eigenen Körper

Ein Virus geht um die Welt, und die Folgen sind katastrophal. Die meisten Opfer kommen mit einer Art Grippe davon, doch für einige wenige wird die Ansteckung zum Horror: Sie fallen in ein totales Wachkoma, das sogenannte Haden-Syndrom. Millionen von Menschen sind betroffen, und in den USA ist nichts mehr, wie es einmal war. Als der junge FBI-Agent Chris Shane auf einen mysteriösen Mordfall angesetzt wird, stechen er und seine Partnerin in ein Wespennest – ein brutales Versteckspiel beginnt, in dessen Zentrum möglicherweise die Antwort auf das Rätsel des Haden-Virus steht …

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Zeit:9 Std. 29 min

Sprecher:Matthias Lühn
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JOHN SCALZI

DAS SYNDROM

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Die nahe Zukunft. Ein neuartiges Virus, das um den Globus rast, löst eine weltweite Pandemie und eine gigantische medizinische Krise aus. Die nach einem der prominentesten Opfer, der Ehefrau des amerikanischen Präsidenten, »Haden-Syndrom« benannte Krankheit hat für die Infizierten höchst unterschiedliche Folgen: Während manche Opfer lediglich unter Fieber und Kopfschmerzen leiden, findet sich eine Vielzahl von Betroffenen in ihrem Körper eingeschlossen, bei vollem Bewusstsein, aber ohne jegliche Kontrolle. Die Pandemie löst in den USA gigantische Anstrengungen aus, den »Hadens« zu helfen. Dank nahezu unbegrenzter staatlicher Mittel haben Hadens schon bald die Möglichkeit, über Roboterkörper und besonders begabte Menschen, sogenannte »Integratoren«, die als Wirtskörper fungieren, mit ihrer Umwelt wieder in Kontakt zu treten. Chris Shane, Sohn eines ehemaligen Basketballstars und angehenden US-Senators aus Virginia, ist auch ein Opfer des Haden-Syndroms, und er ist ein frischgebackener FBI-Agent. Gerade hat er seinen Dienst angetreten, als er und seine Partnerin Vann mit einem mysteriösen Fall konfrontiert werden: Nicolas Bell, ein Integrator, wird völlig verwirrt neben der Leiche eines unbekannten Mannes gefunden. Bell hat keine Ahnung, wie er in diese Situation geraten ist, ob er den Mann umgebracht hat oder nicht. Der Fall scheint deutlich auf eine tragisch fehlgeschlagene Integration hinzuweisen, doch dann ereignen sich mehrere Anschläge, die alle mit Hadens und Integratoren zu tun haben – und für Shane und Vann beginnt eine atemlose Verbrecherjagd quer durch die Vereinigten Staaten und die virtuellen Welten. Irgendjemand mit enorm viel Einfluss und Geld scheint es auf die Hadens abgesehen zu haben …

Der Autor

John Scalzi, Jahrgang 1969, wuchs in Kalifornien auf. Nach dem College arbeitete er zunächst als Filmkritiker und später als Redakteur des Internet-Magazins America Online. Sein Debütroman Krieg der Klone war so erfolgreich, dass John Scalzi sich von da an hauptberuflich dem Schreiben von Science-Fiction widmete. Nebenbei unterhält er schon seit Jahren seinen viel besuchten Blog The Whatever. Der Autor lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Ohio.

Mehr über John Scalzi und seine Romane erfahren Sie auf: www.diezukunft.de

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LOCKIN

Deutsche Übersetzung von Bernhard Kempen

Deutsche Erstausgabe 08/2015

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2014 by John Scalzi

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Stardust, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-15084-6V002

www.diezukunft.de

Für Joe Hill −

ich hab dir doch gesagt, dass ich es machen werde.

Und für Daniel Mainz,

meinen sehr lieben Freund.

Das Haden-Syndrom

Als Haden-Syndrom wird ein Komplex dauerhafter körperlicher und geistiger Leiden und Beeinträchtigungen bezeichnet, die ursprünglich durch die »Große Grippe« hervorgerufen wurden, die influenzaähnliche globale Pandemie, die weltweit über 400 Millionen Todesopfer forderte, entweder durch die anfänglichen grippeartigen Symptome, durch das sekundäre Stadium der meningitisähnlichen Hirn- und Rückenmarkentzündung oder durch die Komplikationen während des dritten Stadiums der Erkrankung, das gewöhnlich eine vollständige Lähmung des willkürlichen Nervensystems auslöst und zu einem »Lock-in«, einer geistigen Isolation der Patienten führt. Das Haden-Syndrom ist nach Margaret Haden benannt, der früheren First Lady der Vereinigten Staaten von Amerika, die zum prominentesten Opfer der Erkrankung wurde.

Der biologische Ursprung der Großen Grippe ist unbekannt, doch erstmals wurde sie in London diagnostiziert. Unmittelbar darauf kam es zu weiteren Ausbrüchen in New York, Toronto, Amsterdam, Tokyo und Beijing. Eine lange Inkubationszeit vor dem Auftreten sichtbarer Symptome ermöglichte dem Virus eine weite Verbreitung, bevor es entdeckt werden konnte. Infolgedessen wurden während der ersten Welle der Pandemie weltweit mehr als 2,75 Milliarden Menschen infiziert.

Der Krankheitsverlauf äußerte sich bei jedem Individuum anders und war von verschiedenen Faktoren abhängig, unter anderem von Gesundheitszustand, Alter, Erbgut und den relativen hygienischen Umweltbedingungen. Das erste grippeartige Stadium war am gravierendsten und am weitesten verbreitet und war für über 75 Prozent aller Todesfälle im Zusammenhang mit dem Haden-Syndrom verantwortlich. Doch ein ähnlicher Prozentsatz der Erkrankten wies lediglich das erste Stadium der Symptomatik auf. Das zweite Stadium, von dem die übrigen betroffen waren, hatte oberflächliche Ähnlichkeit mit einer viralen Meningitis und führte außerdem zu tief greifenden und permanenten Veränderungen in der Hirnstruktur einiger Opfer. Dieses zweite Stadium betraf zwar weniger Menschen, führte jedoch zu einer wesentlich höheren prozentualen Sterblichkeitsrate.

Die meisten Erkrankten, die das zweite Stadium des Haden-Syndroms überlebten, wiesen keine langfristigen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen auf, aber eine beträchtliche Anzahl – mehr als 1 Prozent aller Menschen, die sich ursprünglich mit der Großen Grippe infizierten – litt unter dem Lock-in. Bei weiteren 0,25 Prozent waren aufgrund der Veränderungen in der Hirnstruktur geistige Fähigkeiten geschädigt, aber es gab keinerlei körperliche Auswirkungen. Eine noch kleinere Anzahl – weltweit nicht mehr als 100 000 Menschen – blieben ohne physische oder psychische Beeinträchtigungen, obwohl es zu erheblichen Veränderungen in ihrer Hirnstruktur kam. Einige Personen aus diesem Kreis wurden später zu den »Integratoren«.

In den Vereinigten Staaten waren 4,35 Millionen Staatsbürger und weitere Einwohner vom Lock-in infolge der Großen Grippe betroffen. In anderen Industrieländern war der Prozentsatz ähnlich. Das veranlasste die USA und ihre Verbündeten, 3 Billionen US-Dollar für den Haden Research Initiative Act zur Verfügung zu stellen. Mit diesem Forschungsprogramm sollte das Verständnis der Gehirnfunktionen und die Entwicklung von Prothesen und anderen Maßnahmen gefördert werden, die den Haden-Opfern die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. In den ersten 24 Monaten nach Unterzeichnung des HRIA durch Präsident Benjamin Haden wurden Innovationen wie die ersten eingebetteten neuronalen Netze, Personentransporter und der nur für Haden-Patienten gedachte Online-Raum realisiert, der als »die Agora« bekannt wurde.

Obwohl das Forschungsprogramm wesentliche Erkenntnisse über die Entwicklung und den Aufbau des Gehirns erbrachte und zur Gründung verschiedener neuer Industrien zur Versorgung der von Haden betroffenen Individuen führte, regte sich mit der Zeit heftiger Widerspruch. Nach Ansicht der Kritiker hatte die Haden-Forschung einen zu großen Stellenwert und die intensive Konzentration auf die »Hadens« eine staatlich subventionierte Klasse erschaffen, die trotz ihres Lock-in-Status mehrere Wettbewerbsvorteile gegenüber der allgemeinen Bevölkerung besaß. Das veranlasste die US-amerikanischen Senatoren David Abrams und Vanda Kettering, einen Gesetzentwurf zu unterstützen, der die Kürzung von Subventionen und Programmen für die Hadens zum Ziel hatte, verbunden mit einer bedeutenden Steuersenkung. Die Abrams-Kettering-Bill wurde anfänglich abgelehnt, dann jedoch erneut mit verschiedenen Änderungen vorgelegt und schließlich mit knapper Mehrheit von beiden Häusern des Kongresses angenommen.

Trotz intensiver Erforschung des Virus, das das Haden-Syndrom auslöst, und der Entwicklung sozialer Hygieneprogramme zur Eindämmung der Infektionen gibt es bis heute keinen zuverlässigen Impfstoff gegen die Krankheit. Weltweit werden pro Jahr bis zu 20 Millionen Menschen infiziert, und in den USA kommt es jährlich bei 15 000 bis 45 000 Personen zu einem Lock-in-Syndrom. Dennoch gab es einige Fortschritte bei der Behandlung nach der Infektion, einschließlich vielversprechender neuer Therapien zur »Neuvernetzung« des willkürlichen Nervensystems. Diese Therapien befinden sich derzeit im Tierversuchsstadium.

»Das Haden-Syndrom«, Artikel auf HighSchoolCheatSheet.com

1

Zufällig fiel mein erster Arbeitstag auf den ersten Tag des Haden-Streiks, und ich gebe ehrlich zu, dass es ein ungünstiges Timing war. Ein Feed, wie ich in das FBI-Gebäude gehe, wurde recht oft auf den Haden-Nachrichtenseiten und -Foren wiederholt. So etwas konnte ich an meinem ersten Tag wirklich nicht gebrauchen.

Zwei Umstände hielten die Agora davon ab, sich wütend auf mich zu stürzen. Der erste war, dass anfangs nicht jeder Haden beim Streik mitmachte. Am ersten Tag war die Teilnahme bestenfalls sporadisch. Die Agora war in zwei Lager gespalten, die sich lautstark bekämpften: auf der einen Seite die Unterstützer des Streiks und auf der anderen die Hadens, die das Ganze für ein sinnloses Manöver hielten, da das Abrams-Kettering-Gesetz bereits verabschiedet war.

Der zweite Punkt hatte damit zu tun, dass das FBI streng genommen eine Strafverfolgungsbehörde ist, was es zu einer unerlässlichen Institution macht. Also war die Anzahl der Hadens, die mich als Streikbrecher bezeichneten, wahrscheinlich nur sehr klein.

Abgesehen vom Aufschrei in der Agora verbrachte ich meinen ersten Tag hauptsächlich in der Personalabteilung, mit dem Ausfüllen von Papierkram und einem todlangweiligen Vortrag über meine Zusatzleistungen und Pensionsansprüche. Dann bekam ich meine Waffe, ein paar Software-Updates und meine Dienstmarke ausgehändigt. Danach machte ich vorzeitig Feierabend, weil meine neue Partnerin als Zeugin bei einem Prozess aussagen musste und an diesem Tag nicht mehr ins Büro kommen würde. Und weil es sonst nichts für mich zu tun gab. Ich ging nach Hause und klinkte mich nicht in die Agora ein. Stattdessen schaute ich mir ein paar Filme an. Sie dürfen mich gern einen Feigling nennen, wenn Sie möchten.

Mein zweiter Arbeitstag begann mit mehr Blut, als ich erwartet hätte.

Ich erkannte meine neue Partnerin, als ich zum Watergate Hotel hinüberging. Sie stand ein Stück vom Eingang zur Lobby entfernt und saugte an einer elektronischen Zigarette. Als ich näher kam, ergoss der Chip in ihrer Dienstmarke Daten zu ihrer Person in mein Blickfeld. Auf diese Weise informierte das FBI seine Agenten darüber, wer sich am Tatort befand. Hätte meine Partnerin ihre Brille getragen, hätte sie einen ähnlichen Sturzbach an Informationen zu meiner Person gesehen, während ich auf sie zukam. Andererseits war es recht wahrscheinlich, dass sie das gar nicht brauchte. Sie erkannte mich auch so. »Agent Shane«, sagte meine neue Partnerin zu mir und streckte die Hand aus.

»Agent Vann«, erwiderte ich und schüttelte ihre Hand.

Dann wartete ich darauf, was als Nächstes aus ihrem Mund kommen würde. Es ist immer wieder ein interessanter Test, was Leute tun, wenn sie mir begegnen, sowohl hinsichtlich meiner Person als auch der Tatsache, dass ich ein Haden bin. Normalerweise kommentieren sie den einen oder anderen Punkt.

Vann sagte nichts weiter. Sie zog ihre Hand zurück und saugte wieder an ihrem Nikotinstäbchen.

Na gut. Also lag es an mir, das Gespräch in Gang zu bringen.

Ich blickte mich zum Wagen um, neben dem wir standen. Das Dach war von einem kleinen Sofa eingedrückt worden.

»Ist das unser Fall?«, fragte ich und deutete auf den Wagen und das Sofa.

»Indirekt schon«, sagte sie. »Zeichnen Sie auf?«

»Ich kann es tun, wenn Sie möchten«, antwortete ich. »Manchen Leuten ist es lieber, wenn ich es nicht tue.«

»Ich möchte es«, sagte Vann. »Sie sind im Dienst. Sie sollten alles aufzeichnen.«

»Wie Sie meinen«, sagte ich und startete die Aufzeichnung. Dann ging ich einmal um den Wagen herum, um ihn aus jeder Perspektive aufzunehmen. Das Sicherheitsglas in den Fenstern war zersplittert, und ein paar Körner waren herausgebrochen. Der Wagen hatte diplomatische Kennzeichen. Ich schaute mich um, und in etwa drei Metern Entfernung stand ein Mann, der in sein Telefon brüllte. Es klang wie Armenisch. Ich war in Versuchung, mir das Gebrüll übersetzen zu lassen.

Vann beobachtete mich dabei und sagte immer noch nichts.

Als ich fertig war, blickte ich auf und erkannte ein Loch in der Fassade des Hotels, im siebten Stock. »Ist das Sofa von dort gekommen?«, fragte ich.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit.« Vann nahm die Zigarette aus dem Mund und steckte sie in ihre Anzugjacke.

»Gehen wir rauf?«

»Ich hatte nur noch auf Sie gewartet.«

»Tut mir leid«, sagte ich und schaute ein weiteres Mal nach oben. »War die Polizei schon dort?«

Vann nickte. »Die Meldung habe ich aus ihrem Netz bekommen. Der mutmaßliche Täter ist ein Integrator, womit die Sache in unseren Zuständigkeitsbereich fällt.«

»Haben Sie das der Polizei schon gesagt?«, fragte ich.

»Ich hatte nur noch auf Sie gewartet«, wiederholte Vann.

»Tut mir leid«, sagte ich ein zweites Mal.

Vann deutete mit einer Kopfbewegung auf die Lobby.

Wir gingen ins Hotel und fuhren mit dem Lift zum siebten Stock hinauf, aus dem das Sofa gekommen war. Vann steckte sich ihre FBI-Dienstmarke ans Revers. Ich schob meine in mein Brust-Display.

Als sich die Lifttür öffnete, stand eine uniformierte Polizistin im Korridor. Sie hob die Hand, als wollte sie uns am Aussteigen hindern. Wir beide zeigten auf unsere Marken. Sie verzog das Gesicht und ließ uns passieren, während sie etwas in ihr Handgerät flüsterte. Wir gingen auf das Zimmer zu, vor dessen Tür sich mehrere Polizisten drängten.

Wir hatten etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als eine Frau den Kopf aus dem Zimmer streckte, sich umblickte und uns erspähte. Dann stapfte sie zu uns herüber.

Ich warf einen Seitenblick zu Vann, deren Gesicht ein verschmitztes Grinsen zeigte.

»Detective Trinh«, sagte Vann, als die Frau auf uns zukam.

»Nein«, erwiderte Trinh. »Auf gar keinen Fall. Das hat nichts mit Ihnen zu tun, Les.«

»Auch ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Vann. »Und Sie täuschen sich. Der Tatverdächtige ist ein Integrator. Sie wissen, was das bedeutet.«

»›Alle Straftaten, die mit Personentransportern oder Integratoren in Zusammenhang stehen, fallen in die bundespolizeiliche Zuständigkeit‹«, zitierte ich aus dem FBI-Handbuch.

Trinh bedachte mich mit einem säuerlichen Blick, dann ignorierte sie mich bewusst und wandte sich wieder an Vann. Ich speicherte diese persönliche Interaktion, um später noch einmal darauf zurückzukommen. »Ich weiß nichts davon, dass mein Tatverdächtiger ein Integrator sein soll«, sagte sie zu Vann.

»Aber ich«, erklärte Vann. »Als Ihr Mitarbeiter vom Tatort Meldung machte, gab er die ID des mutmaßlichen Täters durch. Es ist Nicholas Bell. Und Bell ist ein Integrator. Er steht in Ihrer Datenbank. Er pingte, sobald Ihr Kollege ihm über den Weg lief.«

Ich drehte mich wieder zu Vann um, als sie den Namen erwähnte, aber sie hielt den Blick unverwandt auf Trinh gerichtet.

»Nur weil er den gleichen Namen hat, muss er noch lange kein Integrator sein«, stellte Trinh fest.

»Kommen Sie schon, Trinh«, sagte Vann. »Wollen wir uns wirklich vor den Kindern streiten?« Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass Vann damit mich und die uniformierten Polizisten meinte. »Sie wissen, dass Sie bei diesem Wettpissen verlieren werden. Lassen Sie uns rein, damit wir unsere Arbeit machen können. Wenn sich herausstellt, dass sich alle Beteiligten zum Tatzeitpunkt in D. C. aufhielten, übergeben wir Ihnen alles, was wir haben, und lassen Sie in Ruhe. Also wollen wir jetzt nett und freundlich zueinander sein. Ich könnte auch unfreundlich werden. Sie erinnern sich, wie das enden kann.«

Trinh drehte sich um und stapfte ohne ein weiteres Wort ins Hotelzimmer zurück.

»Mir fehlt hier einiges an Kontext«, bemerkte ich.

»Sie haben ungefähr alles, was Sie brauchen«, sagte Vann und setzte den Weg zum Hotelzimmer mit der Nummer 714 fort. Ich folgte ihr.

Im Zimmer lag eine Leiche auf dem Boden, mit dem Gesicht im Teppich und durchschnittener Kehle. Der Teppich war mit Blut getränkt. Blutspritzer waren an den Wänden, auf dem Bett und auf dem noch vorhandenen Sessel. Die Fensterfront nahm die gesamte Wandbreite ein. Der Wind wehte durch das große Loch in der Scheibe, durch das das Sofa nach draußen gelangt war.

Vann betrachtete die Leiche. »Wissen wir schon, wer er ist?«

»Keine ID«, sagte Trinh. »Wir arbeiten daran.«

Vann schaute sich um und suchte nach etwas. »Wo ist Nicholas Bell?«, wollte sie von Trinh wissen.

Trinh lächelte dünn. »Auf der Wache. Der erste Polizist am Tatort konnte ihn überwältigen. Daraufhin brachten wir ihn weg, bevor Sie hier eintrafen.«

»Wer war der Polizist?«, fragte Vann.

»Timmons«, sagte Trinh. »Er ist nicht mehr hier.«

»Ich brauche seinen Feed von der Verhaftung.«

»Ich weiß nicht …«

»Sofort, Trinh«, sagte Vann. »Sie kennen meine öffentliche Adresse. Geben sie sie Timmons.«

Trinh wandte sich verärgert ab, aber sie zückte ihr Telefon und sprach hinein.

Vann zeigte auf den uniformierten Polizisten im Zimmer. »Wurde irgendetwas bewegt oder berührt?«

»Nicht von uns«, sagte er.

Vann nickte. »Shane.«

»Ja.«

»Erstellen Sie eine Karte«, sagte Vann. »Mit allen Details. Achten Sie auf das Glas.«

»Schon dabei.« Ich war bereits im Aufzeichnungsmodus. Ich legte ein dreidimensionales Gitter darüber und markierte alles, was ich sehen konnte, um die Dinge leichter identifizieren zu können, wo ich hinter oder unter etwas schauen musste. Vorsichtig ging ich durch den Raum und füllte alle Winkel und Ritzen aus. Ich ging in die Knie, als ich das Bett erreichte, und schaltete meine Scheinwerfer ein, um alle Einzelheiten auszuleuchten. Und unter dem Bett befanden sich in der Tat einige bemerkenswerte Einzelheiten.

»Hier ist ein Glas«, sagte ich zu Vann. »Es ist zerbrochen und blutig.« Ich stand auf und zeigte zum Schreibtisch, auf dem ein Tablett mit Gläsern und ein paar Wasserflaschen standen. »Auch neben dem Schreibtisch liegen Glasscherben auf dem Boden. Ich vermute, wir haben die Mordwaffe gefunden.«

»Sind Sie mit der Kartierung fertig?«, fragte Vann.

»Fast«, sagte ich und ging noch ein paarmal im Zimmer hin und her, um die Stellen aufzunehmen, die mir bislang entgangen waren.

»Ich vermute, Sie haben eine eigene Karte angefertigt«, sagte Vann zu Trinh.

»Unser Techniker ist unterwegs«, sagte Trinh. »Und wir haben die Feeds von allen Polizisten am Tatort.«

»Ich will sie alle haben«, sagte Vann. »Und ich schicke Ihnen Shanes Karte.«

»Gut«, sagte Trinh mürrisch. »Sonst noch etwas?«

»Das wäre vorläufig alles«, sagte Vann.

»Wenn Sie sich dann bitte von meinem Tatort entfernen würden«, sagte Trinh. »Ich habe hier noch einiges zu erledigen.«

Vann lächelte Trinh zu und verließ das Zimmer. Ich folgte ihr.

»Ist die Metropolitan Police immer so?«, fragte ich, als wir in den Lift stiegen.

»Niemand mag es, wenn die Bundespolizei im eigenen Revier herumschnüffelt«, sagte Vann. »Niemand freut sich, uns zu sehen. Die meisten sind allerdings etwas höflicher. Trinh hat ein paar unangenehme Sachen erlebt.«

»Mit uns oder mit Ihnen?«, fragte ich.

Vann lächelte wieder. Die Lifttür öffnete sich zur Lobby im Erdgeschoss.

»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte Vann. Sie fuhr manuell zur Polizeiwache und tastete nach einer Packung Zigaretten – in diesem Fall echte. Es war ihr Auto. Hier war es nicht gesetzlich verboten.

»Ich bin gegen Passivrauch immun, falls das Ihre Frage war«, sagte ich.

»Süß.« Sie zog eine Zigarette hervor und drückte auf den Anzünder des Wagens, während ich meinen Geruchssinn herunterregulierte. »Greifen Sie auf meine Box auf dem FBI-Server zu und sagen Sie mir, ob der Feed von der Verhaftung schon da ist.«

»Wie soll ich das machen?«

»Ich habe Ihnen gestern den Zugriff gewährt«, sagte Vann.

»Wirklich?«

»Sie sind jetzt mein Partner.«

»Vielen Dank«, sagte ich. »Aber was hätten Sie getan, wenn Sie bei unserer ersten Begegnung entschieden hätten, dass ich ein nicht vertrauenswürdiges Arschloch bin?«

Vann zuckte mit den Schultern. »Meine letzte Partnerin war ein nicht vertrauenswürdiges Arschloch. Ich habe ihr den Zugriff auf meine Box erlaubt.«

»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte ich.

»Sie hatte eine Schussverletzung.«

»Im Dienst?«

»Nicht direkt«, sagte Vann. »Sie war auf dem Schießplatz und jagte sich selbst eine Kugel in den Bauch. Man ist sich nicht ganz sicher, ob es ein Unfall war oder nicht. Sie beantragte Berufsunfähigkeit und setzte sich zur Ruhe. Kein Problem für mich.«

»Ich verspreche Ihnen, dass ich mir keine Kugel in den Bauch jagen werde.«

»Zwei Witze mit körperlichem Bezug in weniger als einer Minute«, sagte Vann. »Es klingt fast so, als wollten Sie damit irgendetwas beweisen.«

»Ich möchte nur, dass Sie sich in meiner Gegenwart wohlfühlen. Viele sind sich unsicher, wie man mit einem Haden umgehen soll.«

»Sie sind nicht mein erster«, sagte sie. Der Anzünder klackte, und Vann zog ihn heraus, um sich die Zigarette anzustecken. »Das sollte eigentlich klar sein, wenn man bedenkt, wie wir miteinander zurechtkommen. Haben Sie den Feed schon gefunden?«

»Moment.« Ich klinkte mich in den Beweismittel-Server des FBI ein und öffnete Vanns Box. Die Datei war vor Kurzem eingetroffen. »Da ist er.«

»Spielen Sie ihn ab«, sagte Vann.

»Soll ich ihn an die Wagenkonsole senden?«

»Ich fahre.«

»Es gibt so etwas wie Autodrive.«

Vann schüttelte den Kopf. »Dies ist ein FBI-Fahrzeug. Einem Autodrive vom preisgünstigsten Anbieter würde ich nicht so gern vertrauen.«

»Wohl wahr«, sagte ich und startete den Feed von der Verhaftung. Die Aufnahmen waren verwackelt und in geringer Auflösung. Wahrscheinlich kaufte die Metro Police genauso wie das FBI ihre Technik beim preisgünstigsten Anbieter ein. Die Perspektive war in Ego-Stereo, was vermutlich bedeutete, dass die Kamera an einer Schutzbrille befestigt war.

Die Aufnahme begann damit, wie der Polizist – Timmons – im siebten Stock mit gezogener Betäubungspistole aus dem Lift stieg. Vor der Tür zum Zimmer 714 stand jemand vom Sicherheitsdienst des Watergate in einer prächtigen, schlecht sitzenden, senfgelben Uniform. Während sich der Polizist näherte, kam der Taser des Wachmanns in Sicht. Er erweckte den Eindruck, als würde er sich jeden Moment in die Hosen machen.

Timmons ging um den Wachmann herum, dann zeigte das Bild einen Mann, der mit erhobenen Händen auf dem Bett saß. Sein Gesicht und sein Hemd waren mit Blut beschmiert. Die Aufnahme ruckelte, dann warf Timmons einen langen Blick auf die Leiche, die auf dem blutgetränkten Teppich lag. Der Blick ging zurück zu dem Mann auf dem Bett, der immer noch die Hände hochhielt.

»Ist er tot?«, fragte eine Stimme, vermutlich die von Timmons.

Der Mann auf dem Bett sah zum Mann auf dem Teppich. »Ja, ich glaube, das ist er«, sagte er.

»Warum zum Teufel haben Sie ihn getötet?«, fragte Timmons.

Der Mann auf dem Bett wandte sich wieder Timmons zu. »Ich glaube nicht, dass ich ihn getötet habe. Hören Sie …«

Dann zappte Timmons den Mann. Er zuckte und wand sich, bis er vom Bett und auf den Teppich fiel, wie ein Spiegelbild des Toten.

»Interessant«, sagte ich.

»Was?«, fragte Vann.

»Timmons hatte kaum das Zimmer betreten, als er auch schon unseren Tatverdächtigen zappte.«

»Bell«, sagte Vann.

»Ja. Apropos, kommt Ihnen dieser Name bekannt vor?«

»Hat Bell irgendetwas gesagt, bevor er gezappt wurde?«, wollte Vann wissen, ohne auf meine Frage einzugehen.

»Timmons fragte ihn, warum er den Kerl getötet hat. Bell antwortete, dass er nicht glaubt, es getan zu haben.«

Vann runzelte die Stirn.

»Was?«, fragte ich.

Vann warf mir einen weiteren Seitenblick zu, und an ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie nicht mich, sondern meinen PT musterte. »Das ist ein neues Modell«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte ich. »Ein Sebring-Warner 660XS.«

»Die 600er-Serie von Sebring-Warner ist nicht billig.«

»Stimmt.«

»Für ein Anfängergehalt beim FBI sind die Leasingraten ziemlich happig.«

»Wollen wir es wirklich auf diese Tour machen?«, fragte ich.

»Es war nur eine Feststellung von mir«, sagte Vann.

»Gut. Ich vermute, man hat Ihnen einiges über mich erzählt, als ich Ihnen als Partner zugewiesen wurde.«

»Ja.«

»Und ich vermute, dass Sie die Haden-Gemeinschaft kennen, da wir ansonsten ganz gut miteinander zurechtkommen.«

»Ja.«

»Dann überspringen wir den Teil, in dem Sie so tun, als wüssten Sie nicht, wer ich bin und wer meine Familie ist und warum ich mir einen Sebring-Warner 660 leisten kann.«

Vann lächelte und drückte ihre Zigarette am Seitenfenster aus. Dann öffnete sie das Fenster einen Spalt und schnippte die Kippe hinaus. »Ich habe gesehen, dass Sie in der Agora Prügel einstecken mussten, weil Sie gestern mit Ihrer neuen Arbeit begonnen haben«, sagte sie.

»Nichts, was ich nicht schon mehrmals erlebt habe, wegen anderer Dinge. Nichts, womit ich nicht zurechtkommen würde. Sehen Sie irgendein Problem?«

»Dass Sie Sie sind?«

»Ja.«

»Warum sollte das ein Problem sein?«, fragte Vann.

»Als ich an die Akademie ging, war mir klar, dass die Leute dort dachten, ich wäre nur eine Vorspiegelung. Dass ich nur herumfurze, bis mir der Treuhandfonds übertragen wird oder so.«

»Und?«, fragte Vann. »Wurde er Ihnen übertragen?«

»Noch bevor ich an die Akademie ging.«

Vann gluckste amüsiert. »Keine Probleme.«

»Sicher?«

»Ja. Außerdem ist es gut, dass Sie einen hochwertigen Threep haben«, sagte sie und benutzte den Slangbegriff für einen Personentransporter. »Das bedeutet, dass die Karte, die Sie erstellt haben, tatsächlich eine brauchbare Auflösung hat. Was gut ist, weil ich nicht glaube, dass Trinh mir etwas schickt, das uns wirklich weiterhilft. Der Feed von der Verhaftung war verwackelt und unscharf, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie verarschen uns«, sagte Vann. »Die Feeds der Metro Police sind autostabilisiert und zeichnen mit einer Auflösung von 4K auf. Trinh hat Timmons wahrscheinlich gesagt, dass er die Aufzeichnung versauen soll, bevor er sie uns schickt. Weil sie ein Arschloch ist, das genau so etwas tut.«

»Also benutzen Sie mich wegen meiner überlegenen technischen Fähigkeiten.«

»Genau«, bestätigte Vann. »Ist das ein Problem für Sie?«

»Nein. Es ist nett, für das wertgeschätzt zu werden, was ich bin.«

»Gut«, sagte Vann und bog auf den Parkplatz der Polizeiwache ab. »Weil ich nämlich eine ganze Menge von Ihnen verlangen werde.«

2

»Wer ist der Klonk?«, wollte der Mann von Vann wissen, als wir in der Wache eintrafen. Meine Gesichtsscan-Software identifizierte ihn als George Davidson, den Captain der Zweiten Polizeiwache der Metro.

»Echt jetzt?«, sagte ich, bevor ich es mir verkneifen konnte.

»Ich habe das falsche Wort benutzt, nicht wahr?«, sagte Davidson und sah mich an. »Ich kann mir nie merken, ob ›Klonk‹ oder ›Threep‹ die Bezeichnung ist, die ich heute nicht benutzen sollte.«

»Ich gebe Ihnen einen Hinweis«, sagte ich. »Die eine Bezeichnung spielt auf einen liebenswürdigen Androiden aus einem der beliebtesten Filme aller Zeiten an. Die andere beschreibt das Geräusch einer kaputten Maschine. Jetzt raten Sie mal, was uns lieber ist.«

»Kapiert«, sagte Davidson. »Ich dachte, Sie alle würden heute streiken.«

»Mann!«, sagte ich verärgert.

»Zickiger Threep«, sagte Davidson zu Vann.

»Blöder Bulle«, sagte Vann zu Davidson, was dieser mit einem Lächeln quittierte. »Das ist Agent Chris Shane. Mein neuer Partner.«

»Echt?« Davidson sah mich wieder an. Offensichtlich kannte er meinen Namen.

»Überraschung«, sagte ich.

Vann winkte Davidson zu, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Sie haben hier jemanden, mit dem ich sprechen möchte.«

»Ja, richtig«, sagte Davidson. »Trinh deutete an, dass Sie vielleicht vorbeikommen werden.«

»Sie machen hoffentlich nicht so große Schwierigkeiten wie Trinh.«

»Oh, Sie wissen doch, dass ich schon immer für die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden war«, sagte Davidson. »Und mit Ihnen gab es nie Probleme. Kommen Sie.« Er winkte uns, ihm tiefer in die Polizeiwache zu folgen.

Ein paar Minuten später starrten wir Nicholas Bell durch eine Glasscheibe an. Er saß schweigend und wartend in einem Verhörzimmer.

»Sieht nicht wie jemand aus, der jemanden durch ein Fenster schubsen würde«, stellte Davidson fest.

»Nicht jemanden, sondern ein Sofa«, sagte Vann. »Der Tote befand sich immer noch im Zimmer.«

»Aber er sieht auch nicht wie jemand aus, der ein Sofa durch ein Fenster schubsen würde«, sagte Davidson.

Vann zeigte auf den Mann. »Das ist ein Integrator. In seinem Kopf verbringt er eine Menge Zeit mit anderen Leuten, und diese Leute wollen sehr unterschiedliche Dinge tun. Er ist besser in Form, als Sie glauben.«

»Wenn Sie es sagen«, erwiderte Davidson. »Sie müssen es besser wissen als ich.«

»Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«, fragte ich.

»Detective Gonzales hat es versucht«, antwortete Davidson. »Er saß nur da und sagte kein Wort, und das etwa zwanzig Minuten lang.«

»Er hat das Recht, die Aussage zu verweigern«, sagte ich.

»Aber er hat dieses Recht nicht eingefordert«, sagte Davidson. »Und er hat auch nicht nach einem Anwalt verlangt.«

»Und das hat nichts damit zu tun, dass Officer Timmons ihn am Tatort bewusstlos gezappt hat?«, fragte Vann.

»Ich habe den kompletten Bericht von Timmons noch nicht gesehen«, sagte Davidson.

»Sie sind ein Paradebeispiel für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze, Davidson.«

Davidson zuckte mit den Schultern. »Er ist schon eine Weile wach. Wenn er sich erinnert, dass er Rechte hat, in Ordnung. Bis dahin gehört er Ihnen, falls Sie Ihr Glück mit ihm versuchen wollen.«

Ich blickte zu Vann, um zu sehen, was sie tun würde. »Ich glaube, ich muss mal pinkeln«, sagte sie. »Und dann werde ich mir einen Kaffee holen.«

»Beides gibt es den Gang runter«, sagte Davidson. »Sie wissen noch, wo.«

Vann nickte und ging.

»Chris Shane, wie?«, sagte Davidson zu mir, als sie weg war.

»Der bin ich.«

»Ich kann mich an Sie erinnern, als Kind«, sagte Davidson. »Obwohl Sie eigentlich kein Kind mehr waren. Sie wissen schon, was ich meine.«

»Ja.«

»Wie geht es Ihrem Vater? Wird er für den Senat kandidieren oder was?«

»Er hat sich noch nicht entschieden«, sagte ich. »Aber diese Information ist noch nicht offiziell.«

»Ich habe ihn früher spielen gesehen«, sagte Davidson.

»Ich werde es ihm ausrichten.«

»Sind Sie schon lange mit ihr zusammen?«, fragte Davidson mit einem Blick in Vanns Richtung.

»Mein erster Tag als ihr Partner. Mein zweiter Tag im Job.«

»Sie sind Anfänger?«, fragte Davidson.

Ich nickte.

»Das ist schwer zu erkennen, weil …« Er zeigte auf meinen Threep.

»Schon klar«, sagte ich.

»Ist ein netter Threep.«

»Danke.«

»Tut mir leid wegen der ›Klonk‹-Sache.«

»Kein Problem«, sagte ich.

»Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie wenig schmeichelhafte Ausdrücke für uns haben«, sagte Davidson.

»›Dodgers‹«, sagte ich.

»Was?«

»›Dodgers‹«, wiederholte ich. »Das ist kurz für ›Dodger Dogs‹, die Hotdogs, die man im Dodger Stadion in L. A. bekommt.«

»Ich weiß, was ein Dodger Dog ist«, sagte Davidson. »Ich verstehe nur nicht, was das mit uns zu tun haben soll.«

»Es gibt da zwei Parallelen. Erstens, Sie bestehen im Prinzip aus Fleisch in einer Hülle. Genauso wie Hotdogs. Zweitens, Hotdogs bestehen hauptsächlich aus Lippen und Ärschen, genauso wie Sie.«

»Nett«, sagte Davidson.

»Sie haben gefragt.«

»Ja, aber warum Dodger Dogs?«, wollte Davidson wissen. »Fragt ein lebenslanger Fan der Nationals.«

»Da bin ich überfragt«, sagte ich. »Warum ›Threep‹? Warum ›Klonk‹? Slang kann man nicht immer erklären.«

»Haben Sie auch einen Slang-Begriff für ihn?« Davidson zeigte auf Bell, der immer noch völlig ruhig dasaß.

»Er ist ein ›Maulwurf‹.«

»Passt«, sagte Davidson.

»Ja.«

»Haben Sie jemals einen benutzt?«

»Einen Integrator? Nur einmal. Ich war zwölf, und meine Eltern wollten mit mir zu Disney World fahren. Ich dachte, es wäre besser, es körperlich zu erleben. Also orderten sie mir für den Tag einen Integrator.«

»Wie war es?«

»Ich fand es furchtbar«, sagte ich. »Es war heiß, nach einer Stunde taten mir die Füße weh, und ich hätte mich fast bepisst, weil ich keine Ahnung hatte, wie man so etwas selbst macht. All das wird mir normalerweise abgenommen, und als ich Haden bekam, war ich so jung, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte, es anders gemacht zu haben. Der Integrator musste auftauchen, um es zu tun, und das sollte eigentlich nicht passieren, wenn er jemanden mit sich herumträgt. Nach einigen Stunden jammerte ich so laut herum, dass wir ins Hotelzimmer zurückkehrten und ich wieder in den Threep wechselte. Und dann hatte ich endlich Spaß. Trotzdem mussten sie den Integrator für den ganzen Tag bezahlen.«

»Und seitdem haben Sie es nie wieder gemacht?«

»Nein«, sagte ich. »Wozu der Stress?«

»Hm«, machte Davidson. Die Tür zum Verhörzimmer ging auf, und Vann betrat den Raum mit zwei Kaffeebechern. Er zeigte auf sie. »Sie ist auch so eine, wissen Sie.«

»Was für eine?«

»Eine Integratorin«, sagte Davidson. »Beziehungsweise war sie es, bevor sie zum FBI kam.«

»Das wusste ich nicht«, sagte ich und blickte zu ihr hinüber. Sie setzte sich und machte es sich bequem.

»Deshalb kommt sie so gut mit Ihnen klar«, sagte Davidson. »Sie versteht Sie viel besser, als wir es jemals können. Nichts für ungut, aber für uns ist es manchmal schwierig zu begreifen, was mit Ihnen los ist.«

»Das verstehe ich«, sagte ich.

»Ja.« Davidson schwieg für einen Moment, und ich wartete auf das, was als Nächstes kommen musste: die persönliche Verbindung zu einem Haden. Ich tippte auf einen Onkel oder eine Cousine.

»Ich hatte eine Cousine, die Haden bekam«, sagte Davidson, und für den Treffer schrieb ich mir mental einen Punkt gut. »Es war während der ersten Infektionswelle, als noch niemand wusste, was eigentlich los war. Noch bevor man überhaupt vom Haden-Syndrom sprach. Sie bekam eine Grippe, dann schien es besser zu werden, und dann …« Er zuckte mit den Schultern.

»Lock-in«, sagte ich.

»Richtig. Ich erinnere mich, wie wir sie im Krankenhaus besucht haben, und da gab es einen ganzen Flügel mit Patienten, die Lock-in hatten. Sie lagen einfach nur da und taten nichts, außer zu atmen. Es waren Dutzende. Und noch wenige Tage zuvor waren sie alle herumgelaufen und hatten ein normales Leben geführt.«

»Was passierte mit Ihrer Cousine?«, fragte ich.

»Sie drehte durch«, sagte Davidson. »Die geistige Isolation machte sie psychotisch oder etwas in der Art.«

Ich nickte. »Leider war das kein Einzelfall.«

»Richtig«, sagte Davidson noch einmal. »Sie vegetierte ein paar Jahre vor sich hin, bis ihr Körper aufgab.«

»Das tut mir leid.«

»Es war schlimm«, sagte Davidson. »Aber es war für alle schlimm. Verdammt, sogar die First Lady hatte es. Deshalb wurde die Krankheit Haden genannt.«

»Trotzdem ist es scheiße.«

»O ja«, stimmte Davidson mir zu und zeigte auf Vann. »Ich meine, auch sie hatte Haden, nicht wahr? Zumindest eine Zeit lang. Deshalb ist sie so, wie sie ist.«

»Sozusagen. Es gab einen kleinen Prozentsatz von Infizierten, deren Hirnstruktur verändert wurde, die aber nicht unter Lock-in litten. Und von diesen Leuten gibt es einen kleinen Prozentsatz, deren Gehirne so weit verändert wurden, dass sie zu Integratoren werden konnten.« Eigentlich war die Sache etwas komplizierter, aber ich dachte mir, dass Davidson es gar nicht so genau wissen wollte. »Auf dem ganzen Planeten gibt es vielleicht zehntausend Integratoren.«

»Hm«, machte Davidson wieder. »Wie auch immer. Sie ist eine Integratorin. Oder war es. Also kann sie vielleicht doch etwas aus diesem Kerl herausholen.« Er schaltete die Lautsprecher ein, damit wir hören konnten, was sie zu Bell sagte.

»Ich habe Ihnen Kaffee mitgebracht«, sagte Vann zu Bell und schob ihm einen Becher zu. »Da ich Sie überhaupt nicht kenne, dachte ich mir, Sie wollen ihn vielleicht mit Milch und Zucker. Tut mir leid, wenn ich falsch getippt habe.«

Bell blickte auf den Kaffee, aber ansonsten zeigte er keinerlei Reaktion.

»Bacon Cheeseburger«, sagte Vann.

»Was?«, sagte Bell. Vanns unerwartete Bemerkung schien ihn aus der Erstarrung gerissen zu haben.

»Bacon Cheeseburger«, wiederholte Vann. »Als ich Integratorin war, habe ich Bacon Cheeseburger regelrecht verschlungen. Vielleicht wissen Sie, warum.«

»Weil jeder, der einmal isoliert war und sich dann integriert, als Erstes einen Bacon Cheeseburger essen möchte«, sagte Bell.

Vann lächelte. »Also ist es nicht nur mir so gegangen.«

»Nein«, bestätigte Bell.

»Es gab ein Five Guys in der Nähe meiner Wohnung«, sagte Vann. »Irgendwann musste ich nur durch die Tür treten, und schon legten sie die Frikadellen auf den Grill. Sie warteten gar nicht auf meine Bestellung. Sie wussten Bescheid.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.«

»Nachdem ich aufgehört hatte, als Integratorin zu arbeiten, dauerte es anderthalb Jahre, bis ich überhaupt wieder den Anblick eines Bacon Cheeseburgers ertragen konnte.«

»Auch das kann ich mir vorstellen«, sagte Bell. »Ich würde sie nicht mehr essen, wenn ich es nicht mehr müsste.«

»Seien Sie stark«, sagte Vann.

Bell griff nach dem Kaffee, den Vann ihm gebracht hatte, roch daran und nahm einen kleinen Schluck. »Sie arbeiten nicht für die Metro«, stellte er fest. »Ich bin noch nie einem Integrator begegnet, der bei der Metropolitan Police ist.«

»Ich bin Agent Leslie Vann«, sagte sie. »Ich arbeite für das FBI. Mein Partner und ich ermitteln in Fällen, bei denen Hadens eine Rolle spielen. Sie sind nicht das, was wir typischerweise als Haden bezeichnen würden, aber Sie sind ein Integrator, was bedeutet, dass ein Haden in diese Sache verwickelt sein könnte. Wenn es so ist, wissen Sie genauso gut wie ich, dass man Sie vielleicht nicht dafür verantwortlich machen kann. Aber Sie müssen es mir sagen, damit ich Ihnen helfen kann.«

»Richtig«, stimmte Bell ihr zu.

»Die Polizisten sagten, dass Sie in dieser Angelegenheit bislang nicht gerade mitteilsam waren.«

»Sie dürfen dreimal raten, warum.«

»Wahrscheinlich weil dieser Polizist Sie sofort gezappt hat, ohne weitere Fragen zu stellen.«

»Volltreffer.«

»Nicht dass es viel zu bedeuten hätte, aber dafür möchte ich Sie um Entschuldigung bitten, Nicholas. Wenn ich dort gewesen wäre, hätte ich es anders gehandhabt.«

»Ich habe auf dem Bett gesessen«, erklärte Bell. »Mit erhobenen Händen. Sonst habe ich nichts getan.«

»Ich weiß«, sagte Vann. »Und wie gesagt, möchte ich mich dafür entschuldigen. Das war nicht richtig. Andererseits – und das soll keine Rechtfertigung sein, sondern nur eine Feststellung – saßen Sie zwar mit erhobenen Händen auf dem Bett und haben nichts getan, aber gleichzeitig lag ein Toter im Zimmer, und Sie waren mit seinem Blut beschmiert.« Sie richtete einen Zeigefinger auf ihn. »Genau genommen sind Sie immer noch mit seinem Blut beschmiert.«

Bell starrte Vann schweigend an.

»Wie gesagt, das soll keine Rechtfertigung sein«, bekräftigte Vann nach fünfzehn Sekunden Stille.

»Bin ich verhaftet?«, fragte Bell.

»Nicholas, Sie wurden zusammen mit einem Ermordeten in einem Zimmer gefunden, mit seinem Blut beschmiert. Sie verstehen sicher, dass wir an den genaueren Umständen interessiert sind. Alles, was Sie uns sagen können, wird uns weiterhelfen. Und wenn irgendetwas Ihre Unschuld beweist, umso besser, nicht wahr?«

»Bin ich verhaftet?«, wiederholte Bell.

»Sie sind in der Lage, mir zu helfen«, sagte Vann. »Ich bin recht spät dazugekommen. Ich habe das Hotelzimmer gesehen, aber erst, nachdem Sie weggebracht wurden. Also sollten Sie mich aufklären, was in diesem Zimmer geschehen ist, soweit es Ihnen möglich ist. Alles, was Sie sagen können, wäre sehr hilfreich. Und wenn Sie mir helfen können, bin ich besser in der Lage, Ihnen zu helfen.«

Bell reagierte darauf mit einem ironischen Grinsen. Dann verschränkte er die Arme und wandte den Blick ab.

»Sind wir jetzt wieder im Schweigemodus?«, fragte Vann.

»Wir können uns wieder über Bacon Cheeseburger unterhalten, wenn Sie möchten.«

»Sie könnten mir zumindest sagen, ob Sie integriert waren.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Bell.

»Ich frage Sie nicht nach Details, sondern nur, ob Sie gearbeitet haben oder nicht«, sagte Vann. »Oder wollten Sie gerade mit der Arbeit beginnen? Ich kannte Integratoren, die nebenbei freiberufliche Aufträge angenommen haben. Wenn ein Dodger etwas tun möchte, wobei er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen möchte. Auf dem grauen Markt gibt es diese Scanner-Caps, die für so etwas recht gut funktionieren. Und nachdem Abrams-Kettering verabschiedet wurde, hätten Sie einen guten Grund, nach Nebeneinkünften zu suchen. Die staatlichen Aufträge werden versiegen. Und Sie müssen an Ihre Familie denken.«

Bell, der von seinem Kaffee getrunken hatte, stellte den Becher ab und schluckte. »Jetzt reden Sie über Cassandra.«

»Niemand würde es Ihnen verübeln«, sagte Vann. »Der Kongress streicht die Subventionen für die Hadens zusammen, zumindest für die Zeit nach der Infektion und der Reha. Man sagt, die Technik, die ihnen hilft, wieder am Leben teilzunehmen, ist so gut geworden, dass die Sache nicht mehr als Behinderung betrachtet werden sollte.«

»Glauben Sie daran?«, fragte Bell.

»Mein Partner ist ein Haden«, antwortete Vann. »Wenn Sie mich fragen, ist das für mich ein Vorteil, weil Threeps in vielerlei Hinsicht besser als menschliche Körper sind. Aber es gibt viele Hadens, die durch das Raster fallen. Ihre Schwester zum Beispiel. Sie tut nicht das, was der Kongress von ihr erwartet, nämlich sich einen Job besorgen.«

Bell reagierte sichtlich gereizt. »Wenn Sie wissen, wer ich bin, dann wissen Sie auch, wer sie ist. Ich würde sagen, dass sie einen Job hat. Es sei denn, Sie glauben, eine treibende Kraft hinter dem Haden-Streik in dieser Woche und dem Demonstrationszug zu sein, der für dieses Wochenende geplant ist, wäre etwas, das sie in ihrer Freizeit erledigt.«

»Ich will Ihnen nicht widersprechen, Nicholas«, sagte Vann. »Man kann nicht behaupten, dass sie bei Subway arbeitet und Sandwiches belegt. Aber sie verdient auch kein Geld mit dem, was sie tut.«

»Geld ist für sie nicht so wichtig.«

»Nein, aber es wird für sie wichtiger werden. Abrams-Kettering bedeutet, dass die Hadens auf private Pflege angewiesen sind. Also muss irgendjemand die Kosten für sie übernehmen. Sie sind ihr einziger lebender Verwandter. Deshalb vermute ich, dass Sie für Ihre Schwester verantwortlich sind. Womit wir wieder bei diesem Hotelzimmer und dem Mann wären, der dort mit Ihnen war. Was mich wieder zu der Frage zurückbringt, ob Sie integriert waren oder sich integrieren wollten. Das muss ich wissen, wenn ich Ihnen helfen soll.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Bedürfnis, mir helfen zu wollen, Agent Vann«, sagte Bell. »Aber ich glaube, im Moment möchte ich eigentlich nur warten, bis mein Anwalt hier ist, damit er alles Weitere übernehmen kann.«

Vann blinzelte. »Mir wurde gesagt, dass Sie nicht nach einem Anwalt verlangt haben.«

»Richtig«, bestätigte Bell. »Ich habe ihn angerufen, als ich noch im Hotelzimmer war. Bevor ich von der Polizei gezappt wurde.« Bell tippte sich gegen die Schläfe, ein Hinweis auf die Hightech, die in seinem Schädel steckte. »Was ich natürlich aufgezeichnet habe, wie ich nahezu alles aufzeichne. Denn in einem Punkt sind Sie und ich uns einig, Agent Vann. Meine Anwesenheit in unmittelbarer Nähe einer Leiche verkompliziert die Sache. Mit einem Stromschlag außer Gefecht gesetzt zu werden, bevor ich meine Rechte in Anspruch nehmen konnte, verkompliziert sie noch viel mehr.«

Dann lächelte Bell und blickte auf, als würde er sich auf etwas Unsichtbares konzentrieren. »Und das war ein Ping von meinem Anwalt. Er ist hier. Ich denke, Ihr Leben wird von nun an erheblich interessanter werden, Agent Vann.«

»Dann sind wir hier vorläufig wohl fertig«, sagte Vann.

»Das denke ich auch«, sagte Bell. »Aber es war nett, ein kulinarisches Gespräch mit Ihnen zu führen.«

3

»Also rekapitulieren wir«, sagte Samuel Schwartz und hielt eine Hand hoch, um die Punkte an den Fingern abzuzählen. »Illegale Betäubung meines Klienten, während er keinerlei Widerstand leistete, Verwahrung in einer Arrestzelle ohne Grund, dann zwei Strafverfolgungsbehörden, die eine städtisch, die andere bundesstaatlich, die ihn befragen, ohne ihn über seine Rechte zu informieren und ohne dass sein Anwalt zugegen ist. Habe ich irgendetwas übersehen, Captain? Agent Vann?«

Captain Davidson rutschte unbehaglich auf seinem Schreibtischstuhl hin und her. Vann, die hinter ihm stand, sagte nichts. Sie sah Schwartz an, oder genauer gesagt seinen Threep, der vor dem Schreibtisch des Captains stand. Der Threep war ein Sebring-Warner, wie meiner, aber ein Ajax 370, was mich leicht überraschte. Der Ajax 370 war nicht billig, aber er war auch nicht das beste Modell, weder für einen Sebring-Warner noch für die Ajax-Reihe. Anwälte zogen für gewöhnlich die hochwertigen Modelle vor. Entweder hatte Schwartz keine Ahnung von Statussymbolen, oder er hatte es nicht nötig, seinen Status kundzutun. Ich beschloss, in den Datenbanken nachzuschauen, um herauszufinden, welches von beiden zutraf.

»Ihr Klient hat sich nie auf sein Recht auf Aussageverweigerung berufen oder nach einem Anwalt verlangt«, sagte Davidson.

»Ja, es ist schon seltsam, wie ein Stromschlag von fünfzigtausend Volt jemanden davon abhalten kann, solche Dinge in Worte zu fassen, nicht wahr?«, sagte Schwartz.

»Er hat auch keine Rechte beansprucht, nachdem er hierhergebracht wurde«, bemerkte Vann.

Schwartz drehte sich zu ihr um. Der stilisierte Kopf des Ajax 370 hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Oscar-Statuette, allerdings mit einigen Abweichungen im Bereich der Augen, der Ohren und des Mundes, zum einen, um Urheberrechtsprobleme zu vermeiden, und zum anderen, um Menschen, die mit dem Threep interagierten, etwas zu geben, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten konnten. Die Köpfe ließen sich individuell anpassen, was viele jüngere Hadens nutzten. Doch Erwachsene mit seriösen Jobs hielten das für würdelos, was ein weiterer Hinweis auf Schwartz’ mutmaßliche gesellschaftliche Stellung war.

»Das musste er auch gar nicht, Agent Vann«, sagte Schwartz. »Weil er mich anrief, bevor die Polizei ihn betäubte und zum Schweigen brachte. Die Tatsache, dass er einen Anwalt anrief, ist ein klarer Hinweis darauf, dass er seine Rechte kannte und beabsichtigte, sie in dieser Angelegenheit in Anspruch zu nehmen.« Er wandte sich wieder Davidson zu. »Die Tatsache, dass Ihre Polizisten ihm die Fähigkeit nahmen, seine Rechte zu beanspruchen, bedeutet nicht, dass er darauf verzichtete, auch wenn er diesen Umstand hier nicht noch einmal ausdrücklich betonte.«

»Darüber ließe sich streiten«, sagte Davidson.

»Ja, tun wir es«, sagte Schwartz. »Gehen wir jetzt sofort zum Richter, um genau das zu tun. Aber wenn Sie das nicht tun, müssen Sie meinem Klienten erlauben, nach Hause zu gehen.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Vann.

»Sie können nicht sehen, ob ich über diese Bemerkung lächle, Agent Vann«, sagte Schwartz. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich lächle.«

»Ihr Klient befand sich mit einer Leiche in einem Zimmer und war mit dem Blut des Toten beschmiert«, sagte Vann. »Das deutet nicht gerade auf zweifelsfreie Unschuld hin.«

»Aber es ist auch kein Beweis für irgendeine Schuld«, erwiderte Schwartz. »Agent Vann, Sie haben es hier mit einem Mann zu tun, der polizeilich nie zuvor aktenkundig geworden ist. Nicht einmal, weil er bei Rot über die Straße gegangen wäre. Sein Beruf verlangt von ihm, dass er die Kontrolle über seinen Körper an andere Personen abgibt. Infolgedessen trifft er von Zeit zu Zeit Klienten, die er nicht persönlich kennt, die mit anderen Personen in Kontakt treten, die er ebenfalls nicht persönlich kennt. Zum Beispiel den Toten im Watergate Hotel.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Klient zum Zeitpunkt des Mordes integriert war?«, fragte ich.

Schwartz drehte sich um und betrachtete mich vermutlich zum ersten Mal während dieser Unterhaltung. Genauso wie der Threep von Schwartz hatte auch meiner einen starren Kopf ohne Mimik. Aber für mich gab es keinen Zweifel, dass er mein Modell auf die gleiche Weise einzuschätzen versuchte, wie ich es mit seinem gemacht hatte, und dass er nach Hinweisen suchte, wer ich war und welche Rolle ich in dieser Angelegenheit spielte. Und er scannte meine Dienstmarke, die immer noch im Schlitz meines Brust-Displays steckte.

»Ich sage nur, dass mein Klient beruflich in diesem Hotelzimmer zu tun hatte, Agent Shane«, antwortete er nach einer Weile.

»Dann verraten Sie uns, wen er integriert hatte«, sagte Vann. »Wir kümmern uns dann um alles Weitere.«

»Sie wissen, dass ich das nicht tun kann«, sagte Schwartz.

»Vann spürt immer wieder Schurken in Threeps auf«, sagte Davidson und zeigte auf Vann. »Das ist ihre Hauptaufgabe, soweit ich es verstanden habe. Es gibt kein Gesetz, das verbietet, eine Person mithilfe von Informationen aufzuspüren, die von ihrem Threep stammen.«

Reflexartig wollte ich Davidsons unpassenden Vergleich korrigieren, doch ein Blick von Vann ließ mich innehalten.

Schwartz schwieg für einen Moment, dann pingte Davidsons Tablet. Er hob es auf.

»Ich habe Ihnen soeben Präzedenzfälle aus den letzten zehn Jahren geschickt, bei denen es um den Status von Integratoren geht, Captain«, sagte Schwartz. »Das habe ich getan, weil Integratoren relativ selten sind und Sie daher – im Gegensatz zu den Agenten Vann und Shane, die derzeit absolut unaufrichtig sind – möglicherweise aus bloßer Unwissenheit urteilen und nicht Ihre übliche Verschleppungstaktik anwenden.«

»Also gut«, sagte Davidson, ohne auf sein Tablet zu blicken. »Und?«

»Oberflächlich betrachtet erfüllen Integratoren die gleiche Rolle wie Personentransporter«, sagte Schwartz. »Sie erlauben jenen von uns, die durch das Haden-Syndrom isoliert wurden, mobil zu sein, zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Aber das hier …« Schwartz tippte mit den Fingerknöcheln auf die Brust seines Threeps. »… ist eine Maschine. Ohne einen menschlichen Anwender ist sie nur ein Haufen von Bauteilen. Sie hat nicht mehr Rechte als ein Toaster – sie ist Eigentum. Integratoren hingegen sind Menschen. Trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit zu dem, was Threeps tun, ist die Tätigkeit der Integratoren eine Profession, die auf Können basiert. Sie durchlaufen eine harte Ausbildung, wie Agent Vann Ihnen zweifellos bestätigen kann.« An dieser Stelle wandte er sich Vann zu. »Und wo wir gerade dabei sind, können Sie Captain Davidson jetzt sagen, worauf ich damit hinauswill.«

»Er beruft sich darauf, dass es ein Rechtsprivileg im Verhältnis zwischen Integratoren und Klienten gibt«, sagte Vann zu Davidson.

»Ähnlich der Schweigepflicht, die für Anwälte, Ärzte oder Beichtväter gilt, wenn es um ihre Klienten, Patienten oder Gemeindemitglieder geht«, sagte Schwartz und zeigte auf Davidsons Tablet. »Und über diesen Punkt müssen wir nicht weiter debattieren, weil es die Gerichte bereits getan und übereinstimmend bestätigt haben, dass die Schweigepflicht für Integratoren in Klientenangelegenheiten ein reales und geschütztes Recht ist.«

»Ohne Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs«, sagte Vann.

»Und genau das sollte Ihnen zu denken geben«, sagte Schwartz. »Nämlich dass die Vorstellung einer auch für Integratoren geltenden Schweigepflicht so unumstritten ist, dass sich niemand die Mühe gemacht hat, sie von ganz oben anerkennen zu lassen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Fall Wintour gegen Graham, der vom Berufungsgericht in Washington, D. C. bestätigt wurde. Er ist hier direkt anwendbar.«

»Also wollen Sie damit sagen, dass Ihr Klient niemanden ermordet hat, sondern dass es sein Klient war«, fasste Davidson zusammen. »Und dass Sie uns nicht sagen können, wer dieser Klient ist.«

»Er kann Ihnen nicht sagen, wer der Klient ist, das ist richtig«, sagte Schwartz. »Und wir behaupten nicht, dass es ein Mord war. Wir wissen es nicht. Da mein Klient bislang weder von der Polizei noch vom FBI des Mordes angeklagt wurde, vermute ich, dass auch Sie es nicht tun werden, zumindest jetzt noch nicht.«

»Aber Sie wissen es sehr wohl«, wandte Vann ein. »Bell hat gesagt, dass er alles aufgezeichnet hat. Er hat Aufnahmen vom Mord.«