Kollaps - Das Imperium der Ströme 1 - John Scalzi - E-Book
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Kollaps - Das Imperium der Ströme 1 E-Book

John Scalzi

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Beschreibung

Der Auftakt von John Scalzis neuer, bisher größter Science-Fiction-Serie. Die Menschheit hat sich in der ganzen Galaxis ausgebreitet und ein gewaltiges Sternenreich errichtet – ein ebenso mächtiges wie fragiles Gefüge aus Planeten und Raumstationen, die alle aufeinander angewiesen sind, um zu überleben. Extra-dimensionale Sternenstraßen halten dieses Imperium zusammen, sogenannte »Ströme«, auf denen Raumschiffe in kürzester Zeit Lichtjahre zurücklegen können. Doch dieses feingesponnene Netz scheint gefährdet. Und nur drei Menschen können den endgültigen Zusammenbruch verhindern: Lady Kiva Lagos, die junge Erbin eines mächtigen Handelshauses; Cardenia Wu-Patrick, die als Imperiatox Grayland II. das schwere Erbe ihres Vaters antritt; und der Wissenschaftler Marce Claremont, der die gefährliche Reise ins Zentrum der Galaxis unternimmt, um die Imperiatox zu warnen. Die Zukunft der Galaxis liegt ihren Händen. »John Scalzi ist der unterhaltsamste und zugänglichste SF-Autor unserer Zeit.« Joe Hill

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Seitenzahl: 448

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John Scalzi

Kollaps

Das Imperium der Ströme

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kempen

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologErster Teil123456Zweiter Teil789101112ZwischenspielDritter Teil131415161718EpilogDanksagungen

Für Tom Doherty im Besonderen und für alle bei Tor im Allgemeinen.

Danke, dass ihr an mich glaubt.

Auf das nächste Jahrzehnt.

(Mindestens.)

Prolog

Auch die Meuterer wären, wenn die Ströme nicht kollabiert wären, damit durchgekommen.

Natürlich gibt es innerhalb der Gilde eine übliche, legale Vorgehensweise für eine Meuterei, ein Protokoll, das seit Jahrhunderten befolgt wird. Demzufolge überreicht ein hochrangiges Besatzungsmitglied, vorzugsweise der Obermaat oder Erste Offizier, vielleicht aber auch der Chefingenieur, Cheftechniker, Chefarzt oder in wahrlich bizarren Fällen der Vertreter des Eigentümers, dem Imperialen Assistenten eine förmliche »Liste mit Beschwerden im Sinne einer Meuterei«, die mit dem Gildeprotokoll übereinstimmt. Daraufhin berät sich der Imperiale Assistent mit dem Leitenden Seelsorger des Schiffs, ruft nötigenfalls Zeugen auf, und dann werden die beiden spätestens nach einem Monat entweder den Sachverhalt einer Meuterei feststellen oder die Verweigerung einer Meuterei bekanntgeben.

In ersterem Fall setzt der Sicherheitschef förmlich den Kapitän des Schiffs ab und nimmt ihn in Verwahrung, worauf sich dieser am nächsten Reiseziel des Schiffs einer förmlichen Anhörung durch die Gilde stellen muss. Die Bestrafung sieht den Verlust des Schiffs, des Dienstrangs und der Raumfahrtprivilegien vor, bis hin zu Zivilklagen und Strafanzeigen, die mit Gefängnisaufenthalt oder, in den allerschwersten Fällen, mit der Todesstrafe geahndet werden. In letzterem Fall ist es das beschwerdeführende Besatzungsmitglied, das vom Sicherheitschef für die förmliche Anhörung durch die Gilde mit allen weiteren Folgen gut verschnürt in Gewahrsam genommen wird.

Ganz offensichtlich wollte sich dieses Mal niemand an dieses Prozedere halten.

Im Gegensatz dazu steht der tatsächliche Verlauf einer Meuterei mit Waffen, Gewalt und plötzlichen Todesfällen, wenn sich die Offiziere wie wilde Tiere aufeinanderstürzen und die Besatzung herauszufinden versucht, was zum Teufel eigentlich los ist. Je nachdem, wie die Sache abläuft, wird der Kapitän ermordet und ins Vakuum geworfen, worauf alles zurückdatiert wird, damit es nett und legal aussieht, oder den meuternden Offizieren und Besatzungsmitgliedern wird die andere Seite einer Luftschleuse gezeigt. Der Kapitän schreibt eine Anzeige wegen unrechtmäßiger Meuterei, wodurch die überlebenden Meuterer ihre Ansprüche auf Vorsorgeleistungen und Pensionen verlieren, was bedeutet, dass ihre Ehepartner und Kinder verhungern und auf zwei Generationen von Anstellungen in der Gilde ausgeschlossen sind, weil die Neigung zur Meuterei offenbar in den Genen liegt, ähnlich wie die Augenfarbe oder die Neigung zum Reizdarm.

Auf der Brücke der Tell Me Another One war Kapitän Arullos Gineos mit den Folgen einer tatsächlichen Meuterei beschäftigt, also keiner Meuterei auf dem Papier, und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, sah die Sache nicht gut für sie aus. Genauer gesagt, sobald sich ihr Erster Offizier und seine Leute mit den Schneidbrennern durch diese Wand geschnitten hatten, würden Gineos und ihre Brückenbesatzung Opfer eines »Unfalls« werden, dessen genauen Ablauf man später bestimmen würde.

»Der Waffenschrank ist leer«, sagte der Dritte Offizier Nevin Bernus, nachdem er nachgeschaut hatte. Gineos nickte dazu nur; natürlich war er das. Der Waffenschrank war darauf codiert, sich genau fünf Personen zu öffnen: dem Kapitän, den Wachoffizieren und Sicherheitschef Bremman. Einer dieser fünf hatte während einer früheren Wache die Waffen herausgenommen. Die Umstände deuteten auf den Ersten Offizier Ollie Inverr, der sich derzeit gemeinsam mit seinen Freunden durch die Wand schnitt.

Gineos war nicht völlig unbewaffnet. Sie hatte einen Pfeilwerfer, der in ihrem Stiefel steckte, eine Gewohnheit aus ihrer Teenagerzeit, als sie sich mit ihrer Gang, den Rapid Dogs, in den Gassen von Grussgott herumgetrieben hatte. Er war mit einem einzelnen Pfeil bestückt, der keine hohe Geschwindigkeit erreichte und für den Einsatz aus kurzer Distanz gedacht war. Wenn man ihn aus einer Entfernung von mehr als einem Meter abschoss, hatte das lediglich zur Folge, dass der Getroffene stinksauer wurde. Gineos gab sich nicht der Illusion hin, dass sie damit ihren Kommandoposten retten konnte.

»Status«, sagte Gineos zu Lika Dunn, die sich damit beschäftigt hatte, die anderen Offiziere der Tell Me zu kontaktieren.

»Nichts Neues aus dem Maschinenraum, seit Chefingenieur Fanochi sich gemeldet hat«, sagte Dunn. Es war Eva Fanochi gewesen, die als Erste Alarm geschlagen hatte, als ihre Abteilung von bewaffneten Besatzungsmitgliedern unter der Führung des Ersten Offiziers übernommen worden war, woraufhin Gineos die Brücke abgeriegelt und die höchste Alarmstufe für das Schiff ausgerufen hatte. »Cheftechniker Vossni antwortet nicht. Dr. Jutmen auch nicht. Bremman wurde in seinem Quartier eingesperrt.« Damit meinte sie Piter Bremman, den Sicherheitschef der Tell Me.

»Was ist mit Egerti?« Lup Egerti war der Vertreter des Eigentümers, die meiste Zeit so nutzlos wie Zitzen an einem Keiler, aber wahrscheinlich war er nicht an der Meuterei beteiligt, da Meutereien im Allgemeinen schlecht fürs Geschäft sind.

»Nichts. Auch nichts von Slavin oder Preen.« Mit den letzten beiden meinte sie den Imperialen Assistenten und den Seelsorger. »Der Zweite Offizier Niin hat sich ebenfalls nicht zurückgemeldet.«

»Sie sind fast durch«, sagte Bernus und zeigte auf die Wand.

Gineos verzog das Gesicht. Sie war nie allzu glücklich mit ihrem Ersten Offizier gewesen, der ihr mit Unterstützung des Hauses Tois, des Eigentümers der Tell Me, von der Gilde aufgedrückt worden war. Der Zweite Maat Niin war Gineos’ erste Wahl für ihren Stellvertreter gewesen. Sie hätte mehr Druck machen sollen. Nächstes Mal.

Nicht dass es jetzt noch ein nächstes Mal geben wird, dachte Gineos. Sie war so gut wie tot, und auch ihre loyalen Offiziere würden tot sein, wenn sie es nicht bereits waren, und weil sich die Tell Me im Strom befand und es noch für einen weiteren Monat sein würde, gab es für sie keine Möglichkeit, die Blackbox des Schiffs abzusetzen, damit jeder erfuhr, was wirklich geschehen war. Bis die Tell Me in der Nähe von Ende aus dem Strom kam, würde man die Scherben zusammengefegt, die Beweise neu arrangiert und die Geschichten zurechtgebogen haben. Tragisch, was mit Gineos geschehen ist, würden sie sagen. Eine Explosion. So viele Tote. Und sie kehrte tapfer noch einmal zurück, um so viele Besatzungsmitglieder wie möglich zu retten.

Oder etwas in der Art.

Als die Wand aufgeschnitten war und kurz darauf eine Metallplatte auf den Boden krachte, kamen drei Besatzungsmitglieder mit Bolzenwerfern herein, die sie herumschwenkten und auf die Brückenbesatzung richteten. Niemand aus der Brückenbesatzung rührte sich. Wozu auch? Einer der Bewaffneten rief »Alles klar!«, und der Erste Offizier Ollie Inverr stieg geduckt durch das Loch in der Wand auf die Brücke. Er erspähte Gineos und ging zu ihr hinüber. Einer der bewaffneten Besatzungsmitglieder richtete seinen Bolzenwerfer ausdrücklich auf sie.

»Kapitän Gineos«, begrüßte Inverr sie.

»Ollie«, erwiderte Gineos die Begrüßung.

»Kapitän Arullos Gineos, gemäß Artikel 38, Abschnitt 7 der Einheitlichen Vorschriften der Merkantilen Transportgilde, erkläre ich hiermit …«

»Lassen Sie den Scheiß, Ollie«, sagte Gineos.

Inverr lächelte. »Wie Sie meinen.«

»Ich muss sagen, dass Sie mit der Meuterei ganze Arbeit geleistet haben. Als Erstes den Maschinenraum übernehmen, damit Sie, wenn alles andere schiefläuft, drohen können, den Antrieb in die Luft zu jagen.«

»Vielen Dank, Kapitän. Ich habe mich tatsächlich bemüht, die Übergabe mit einem Minimum an Verlusten über die Bühne zu bringen.«

»Heißt das, Fanochi ist noch am Leben?«

»Ich sprach von einem ›Minimum‹, Kapitän. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass Chefingenieur Fanochi nicht sehr entgegenkommend war. Ihre Assistentin Hybern wurde inzwischen befördert.«

»Wie viele der anderen Offiziere haben Sie in Ihrer Gewalt?«

»Ich glaube, deswegen müssen Sie sich keine Sorgen machen, Kapitän.«

»Immerhin tun Sie nicht so, als würden Sie mich nicht töten wollen.«

»Damit das klar ist: Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist, Kapitän. Ich bewundere Sie wirklich.«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie den Scheiß lassen sollen, Ollie.«

Wieder lächelte Inverr. »Sie haben sich noch nie was aus Schmeicheleien gemacht.«

»Wollen Sie mir sagen, warum Sie sich zu dieser Rebellion entschlossen haben?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Seien Sie so nett. Ich würde gern wissen, warum ich sterben soll.«

Inverr zuckte mit den Schultern. »Natürlich wegen Geld. Wir befördern eine große Ladung Waffen, die für die Soldaten auf Ende bestimmt sind, um die dortige Rebellion zu bekämpfen. Gewehre, Bolzenwerfer, Raketenabschussgeräte. Sie wissen das, schließlich haben Sie das Ladungsverzeichnis unterschrieben. Als wir auf Alpin waren, erhielt ich ein Angebot, alles stattdessen an die Rebellen zu verkaufen. Mit dreißig Prozent Provision. Das klang mir nach einem guten Geschäft. Also sagte ich zu.«

»Es würde mich interessieren, wie Sie die Waffen zu den Rebellen schaffen wollen. Der Raumhafen von Ende steht unter Kontrolle der Regierung.«

»Sie werden dort niemals ankommen. Wenn wir den Strom verlassen, werden wir von ›Piraten‹ überfallen, die unsere Fracht requirieren. Sie und andere Besatzungsmitglieder, die sich unserem Plan entgegenstellen, werden bei diesem Überfall sterben. Schlicht und ergreifend. Alle, die übrig bleiben, verdienen einen Haufen Geld und sind glücklich und zufrieden.«

»Das Haus Tois wird nicht glücklich und zufrieden sein«, brachte Gineos den Eigentümer der Tell Me ins Spiel.

»Es hat das Schiff und die Fracht versichert. Für das Haus ist es kein Problem.«

»Yanner Tois wird wegen Egerti unglücklich sein. Sie müssen ihn töten. Er ist sein Schwiegersohn.«

Inverr lächelte, als er den Namen des Patriarchen des Hauses Tois hörte. »Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass Tois sich nicht allzu sehr ärgern würde, wenn sein Lieblingssohn zum Witwer wird. Er hat noch einige andere Geschäftsbeziehungen, die sich durch eine Heirat festigen ließen.«

»Also haben Sie alles genau durchdacht.«

»Es ist nichts Persönliches, Kapitän.«

»Wegen Geld ermordet zu werden fühlt sich aber äußerst persönlich an, Ollie.«

Inverr öffnete den Mund zu einer Antwort, doch in diesem Moment fiel die Tell Me Another One aus dem Strom und löste eine Reihe von Alarmsignalen aus, die niemand an Bord des Schiffs – weder Gineos noch Inverr – jemals außerhalb einer Trainingssimulation gehört hatte.

Gineos und Inverr standen mehrere Sekunden lang fassungslos da und starrten auf die Alarmmeldungen. Dann gingen beide an ihre Stationen und machten sich an die Arbeit, weil die Tell Me unerwartet aus dem Strom gefallen war, und wenn sie es nicht schafften, wieder hineinzukommen, sah es für sie ohne jeden Zweifel verdammt übel aus.

Dazu brauchen Sie jetzt ein bisschen Kontext.

In diesem Universum gibt es keine »Raumfahrt mit Überlichtgeschwindigkeit«. Die Lichtgeschwindigkeit ist nicht nur eine gute Idee, sie ist ein physikalisches Gesetz. Man kann sie nicht erreichen, denn je mehr man sich ihr annähert, desto mehr Energie braucht man, um noch mehr zu beschleunigen. Außerdem ist es sowieso eine grässliche Vorstellung, so schnell zu fliegen, weil der Weltraum lediglich größtenteils leer ist, und alles, womit man bei einem nennenswerten Prozentsatz der Lichtgeschwindigkeit kollidiert, würde ein so zartes Gebilde wie ein Raumschiff in einen Haufen explodierender Metallstücke verwandeln. Und es würde trotzdem Jahre oder Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bis die Trümmer eines solchen Raumschiffs an der Stelle vorbeischießen, die ursprünglich das Ziel der Reise war.

Es gibt keine Überlichtgeschwindigkeit. Aber es gibt die Ströme.

Dieses System wird Laien für gewöhnlich als Fluss aus alternativer Raum-Zeit beschrieben, die Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit im Heiligen Imperium der Interdependenten Staaten und der Merkantilen Gilden, kurz auch »die Interdependenz« genannt, möglich machen. Die Ströme sind durch »Mündungen« zugänglich, die erzeugt werden, wenn die Gravitation von Sternen und Planeten auf geeignete Weise mit einem Strom interagieren, so dass Raumschiffe hineingleiten und auf der jeweiligen Strömung zu einem anderen Stern reisen können. Die Ströme ermöglichten das Überleben der Menschheit, nachdem ihr die Erde abhandengekommen war, und den florierenden Handel innerhalb der Interdependenz, um alle menschlichen Außenposten mit den lebensnotwendigen Ressourcen zu versorgen – Ressourcen, die fast keine dieser Welten in vollem Umfang zur Verfügung hat.

Es ist natürlich absurd, die Ströme auf diese Weise zu betrachten. Die Ströme haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit Flüssen. Das System ist eine multidimensionale, branenartige metakosmologische Struktur, die sich mit der lokalen Raum-Zeit auf topologisch komplexe Art überschneidet, partiell und chaotisch, aber nicht in erster Linie durch die Gravitation beeinflusst. Die in die Ströme eintretenden Schiffe bewegen sich dort nicht auf hergebrachte Weise, sondern nutzen lediglich seine vektorielle Beschaffenheit relativ zur lokalen Raum-Zeit aus. Da diese Bewegungsart nicht an die Geschwindigkeits- und Energiegesetze unseres Universums gebunden ist, erweckt sie für Beobachter in der lokalen Raum-Zeit den Anschein einer überlichtschnellen Bewegung.

Und selbst das ist eine ziemlich bescheuerte Beschreibung, weil menschliche Sprachen ziemlich schlecht darin sind, Dinge zu beschreiben, die komplizierter als der Bau eines Baumhauses sind. Für eine akkurate Erklärung der Ströme ist eine höhere Mathematik notwendig, die wahrscheinlich nur ein paar hundert Menschen von den Milliarden verstehen, die innerhalb der Interdependenz leben – und noch viel weniger können sie tatsächlich benutzen, um die Sache sinnvoll zu beschreiben. Vermutlich gehören Sie nicht zu diesen Menschen. Genauso wenig wie Kapitän Gineos oder der Erste Offizier Inverr.

Aber Gineos und Inverr wussten zumindest eins: Es war nahezu unmöglich – und es war in den Jahrhunderten seit Gründung der Interdependenz praktisch nie vorgekommen –, dass ein Schiff unerwartet einen Strom verließ. Eine zufällige Störung des Stroms konnte ein Raumschiff viele Lichtjahre vom nächsten menschlichen Planeten oder Außenposten stranden lassen. Schiffe der Gilde waren darauf vorbereitet, sich über Monate oder gar Jahre selbst zu versorgen – das musste so sein, denn die Reisezeit zwischen den Systemen der Interdependenz, die die Ströme nutzten, erstreckte sich über eine Dauer von zwei Wochen bis zu neun Monaten. Dennoch war es ein Unterschied, ob man sich fünf oder zehn Jahre selbst versorgen konnte, wie es bei den größten Gildeschiffen der Fall war, oder ob man es für immer tun musste.

Weil es keine Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit gibt. Weil es nur die Ströme gibt.

Und wenn man an einem beliebigen Punkt irgendwo zwischen den Sternen herausfiel, war man tot.

»Ich brauche Angaben, wo wir uns befinden«, sagte Inverr von seiner Station.

»Ich arbeite dran«, erwiderte Lika Dunn.

»Dann fahren Sie die Antennen aus«, sagte Gineos. »Wenn wir rausgeworfen wurden, gibt es eine Austrittsstelle. Wir müssen eine Eintrittsstelle finden.«

»Schon dabei«, sagte Bernus von seiner Konsole.

Gineos stellte die Verbindung zum Maschinenraum her. »Chefingenieur Hybern«, sagte sie. »Wir haben es mit einem plötzlichen Austritt aus dem Strom zu tun. Wir brauchen unverzüglich die Triebwerke, und Sie müssen dafür sorgen, dass wir genügend Stoßfeldenergie haben, um Manöver mit extrem hoher Schwerkraft abzufedern. Ich möchte nicht als matschiger Fleck an der Wand enden.«

»Äääähhhhh«, kam die Antwort.

»Verdammte Scheiße!«, sagte Gineos und blickte zu Inverr. »Er ist einer von Ihren Leuten, Ollie. Also reden Sie mit ihm.«

Inverr öffnete seinen eigenen Kommunikationskanal. »Hybern, hier spricht der Erste Offizier Inverr. Haben Sie irgendetwas an den Anweisungen des Kapitäns nicht verstanden?«

»Waren wir nicht mitten in einer Meuterei?«, fragte Hybern. Hybern war ein technisches Wunderkind, wodurch er schnell in der Hierarchie der Gilde aufgestiegen war. Aber er war noch sehr, sehr jung.

»Wir sind soeben aus dem Strom gefallen, Hybern. Wenn wir nicht möglichst bald wieder hineinkommen, sind wir alle erledigt. Also befehle ich Ihnen, Kapitän Gineos’ Anweisungen zu befolgen. Verstanden?«

»Jawohl, Sir«, kam nach kurzem Zögern die Antwort. »Bin dabei. Starte das Notfallprotokoll für die Triebwerke. Volle Energie in fünf Minuten. Äh, das wird den Maschinen wahrscheinlich gar nicht guttun, Sir. Und Ma’am.«

»Darum kümmern wir uns, wenn wir wieder im Storm sind«, sagte Gineos. »Melden Sie sich, sobald sie einsatzbereit sind.« Sie schaltete die Verbindung aus. »Sie haben sich einen sehr schlechten Zeitpunkt für eine Meuterei ausgesucht«, sagte sie zu Inverr.

»Wir haben jetzt eine Position«, sagte Dunn. »Wir sind etwa dreiundzwanzig Lichtjahre von Ende entfernt und einundsechzig von Shirak.«

»Irgendwelche Gravitationssenken in der Nähe?«

»Nein, Ma’am. Der nächste Stern ist ein roter Zwerg in etwa drei Lichtjahren Entfernung. Sonst gibt es nichts Nennenswertes in der Umgebung.«

»Wie sind wir dann rausgekommen, wenn es hier keine Gravitationssenke gibt?«, fragte Inverr.

»Darauf hätte Eva Fanochi vermutlich eine Antwort geben können«, sagte Gineos. »Wenn Sie sie nicht ermordet hätten.«

»Jetzt ist kein guter Zeitpunkt für eine solche Diskussion, Kapitän.«

»Hab’s gefunden!«, rief Bernus. »Eine Eintrittsstelle, einhunderttausend Kilometer von uns entfernt! Allerdings …«

»Allerdings was?«, fragte Gineos.

»Sie entfernt sich von uns«, sagte Bernus. »Und sie schrumpft.«

Gineos und Inverr sahen sich an. Soweit ihnen beiden bekannt war, waren Eintritts- und Austrittsstellen für einen Strom statisch, was die Größe und die Position betraf. Deshalb konnten sie überhaupt für den alltäglichen Handelsverkehr benutzt werden. Dass sich eine Mündung bewegte und schrumpfte, war nach ihrer Erfahrung etwas absolut Neues.

Das können wir später klären, dachte Gineos für sich. »Wie schnell bewegt sie sich relativ zu uns, und wie schnell schrumpft sie?«

»Sie entfernt sich mit etwa zehntausend Kilometern pro Stunde von uns weg, und wie es aussieht, wird sie jede Sekunde etwa zehn Meter kleiner«, erwiderte Bernus nach einer Weile. »Ich kann Ihnen jedoch nicht sagen, ob das konstante Raten sind, weder für die Bewegung noch für die Schrumpfung. Mehr sehe ich in diesem Moment einfach nicht.«

»Schicken Sie mir die Daten über die Mündung«, sagte Inverr zu Bernus.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Lakaien zu sagen, dass sie draußen warten sollen?«, wandte sich Gineos an Inverr und deutete auf die bewaffneten Besatzungsmitglieder. »Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, wenn Bolzenwerfer auf meinen Kopf gerichtet sind.«

Inverr blickte zu seinen Leuten auf und nickte. Sie gingen zum Loch in der Wand hinüber und traten hindurch. »Bleiben Sie in der Nähe«, rief Inverr ihnen nach.

»Und können Sie uns auf einen Kurs zur Mündung bringen?«, fragte Gineos. »Bevor sie sich schließt?«

»Geben Sie mir einen Moment«, sagte Inverr. Es war still auf der Brücke, während er arbeitete. Dann: »Ja. Wenn Hybern in den nächsten paar Minuten die Triebwerke bereithat, müssten wir es ganz knapp schaffen.«

Gineos nickte und öffnete die Verbindung zum Maschinenraum. »Hybern, wo sind meine Triebwerke?«

»Noch dreißig Sekunden, Ma’am.«

»Wie steht es mit den Stoßfeldern? Wir werden uns sehr schnell bewegen.«

»Das hängt davon ab, wie viel sie aus den Triebwerken rausholen wollen, Ma’am. Wenn Sie alles brauchen, um das Schiff anzutreiben, müssen sich die Stoßfelder den letzten Rest Energie von irgendwoher besorgen. Ich werde die Energie zuerst von allem anderen abziehen, aber am Ende kann ich sie nur noch von den Feldern nehmen.«

»Ich würde lieber schnell als langsam sterben. Sie nicht auch, Hybern?«

»Ähhhh«, kam die Antwort.

»Triebwerke sind bereit«, sagte Inverr.

»Das sehe ich.« Gineos tippte auf ihren Bildschirm. »Sie haben die Navigation«, sagte sie zu Inverr. »Bringen Sie uns hier raus, Ollie.«

»Wir haben ein Problem«, meldete Bernus.

»Wir haben viele Probleme«, sagte Gineos. »Welches meinen Sie?«

»Die Mündung bewegt sich mit erhöhter Geschwindigkeit und schrumpft schneller.«

»Bin dran«, sagte Inverr.

»Werden wir es trotzdem schaffen?«, fragte Gineos.

»Wahrscheinlich. Zumindest ein Teil des Schiffs.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Das heißt, dass je nach Größe der Mündung ein Teil des Schiffs zurückbleiben könnte. Wir haben den Stiel und den Ring. Der Stiel ist eine lange Nadel. Der Ring hat einen Durchmesser von einem Kilometer. Mit dem Stiel könnten wir durchkommen. Mit dem Ring vielleicht nicht.«

»Das würde das Schiff zerstören«, sagte Dunn.

Gineos schüttelte den Kopf. »Wir prallen schließlich nicht gegen ein physisches Hindernis. Alles, was sich nicht innerhalb der Ausdehnung der Mündung befindet, wird ganz einfach zurückbleiben. Wie mit einer scharfen Messerklinge abgeschnitten. Wenn wir die Schotten zu den Ringspeichen schließen, überleben wir.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Inverr zu. »Das heißt, wenn wir die Blase ausbilden können.« Die Blase war die kleine Hülle aus lokaler Raum-Zeit, von einem Energiefeld umgeben, das von der Tell Me erzeugt wurde und das Schiff in den Strom begleitete. Strenggenommen gab es keinen Raum innerhalb des Stroms. Jedes Schiff, das keine Hülle aus Raum-Zeit in den Strom mitnahm, hörte in praktischer Hinsicht einfach auf zu existieren.

»Wir können die Blase ausbilden«, sagte Inverr.

»Sind Sie sich ganz sicher?«

»Wenn nicht, spielt es sowieso keine Rolle.«

Dazu brummte Gineos nur und wandte sich dann an Dunn. »Geben Sie Alarm und sagen Sie allen, dass sie den Ring verlassen und sich in den Stiel begeben sollen.« Sie drehte sich wieder zu Inverr um. »Wie lange noch, bis wir die Mündung erreichen?«

»Neun Minuten.«

»Ein wenig länger«, sagte Bernus. »Die Mündung entfernt sich weiter mit zunehmender Geschwindigkeit.«

»Sagen Sie den Leuten, dass ihnen fünf Minuten bleiben«, sagte Gineos zu Dunn. »Danach riegeln wir den Ring ab. Wer sich dann auf der falschen Seite der Schotten befindet, bleibt möglicherweise zurück.« Dunn nickte und gab die Anweisungen durch. »Ich gehe davon aus, dass Sie einige der Leute freilassen, die Sie in ihre Quartiere gesperrt haben«, sagte sie zu Inverr.

»Piter haben wir in seinem eingeschweißt«, erwiderte Inverr. Er blickte auf seinen Monitor und nahm winzige Änderungen am Kurs der Tell Me vor. »Die Zeit dürfte nicht reichen, das rückgängig zu machen.«

»Reizend.«

»Sie wissen, dass es sehr knapp werden wird.«

»Bis wir die Mündung erreichen?«

»Ja. Aber ich meinte, wenn wir den Ring zurücklassen müssen. Wir sind zweihundert Leute an Bord dieses Schiffs. Fast alle Lebensmittel und sonstigen Vorräte befinden sich im Ring. Wir sind immer noch einen Monat von Ende entfernt. Selbst unter den günstigsten Bedingungen werden es nicht alle von uns schaffen.«

»Nun«, sagte Gineos, »vermutlich planen Sie bereits, zuerst meine Leiche zu verspeisen.«

»Wir alle werden Ihr edelmütiges Opfer zu schätzen wissen, Kapitän.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das scherzhaft meinen oder nicht, Ollie.«

»Im Moment bin ich mir dessen selbst nicht sicher, Kapitän.«

»Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber ich möchte Ihnen trotzdem sagen, dass Sie mir noch nie besonders sympathisch waren.«

Inverr lächelte, doch ohne seine Aufmerksamkeit vom Monitor abzuwenden. »Das weiß ich, Kapitän. Das war einer der Gründe, warum ich mit einer Meuterei einverstanden war.«

»Das und das Geld.«

»Das und das Geld, ja«, stimmte Inverr ihr zu. »Und jetzt lassen Sie mich meine Arbeit machen.«

In den nächsten paar Minuten bewies Inverr, dass er trotz seiner Unzulänglichkeiten als Erster Offizier wahrscheinlich der beste Navigator war, den Gineos jemals erlebt hatte. Die Eintrittsstelle zog sich nicht linear von der Tell Me zurück, sie schien zu springen und auszuweichen, hierhin und dorthin, wie ein unsichtbarer Tänzer, der sich nur durch ein feines Summen auf den Funkfrequenzen aufspüren ließ, und zwar dort, wo der Strom gegen die Raum-Zeit drückte. Bernus verfolgte die Mündung und gab die neuesten Daten bekannt; Inverr passte den Kurs an und brachte die Tell Me unaufhaltsam näher heran. Es war eine der herausragendsten Leistungen der gesamten Raumfahrt, vielleicht sogar der Menschheitsgeschichte. Trotz aller Umstände empfand Gineos es als großes Privileg, das miterleben zu dürfen.

»Ääääähhh, wir haben ein Problem«, meldete Chefingenieur Hybern über den Kommunikationskanal. »Wir haben den Punkt erreicht, wo die Triebwerke Energie von anderen Systemen abziehen müssen.«

»Wir brauchen die Stoßfelder«, sagte Gineos. »Alles andere ist verhandelbar.«

»Ich brauche die Navigation«, sagte Inverr, auch diesmal, ohne aufzublicken.

»Wir brauchen die Stoßfelder und die Navigation«, korrigierte Gineos. »Alles andere ist verhandelbar.«

»Wie sieht es mit der Lebenserhaltung aus?«, fragte Hybern.

»Wenn wir es in den nächsten dreißig Sekunden nicht schaffen, wird es keine Rolle mehr spielen, ob wir danach noch weiteratmen können«, sagte Inverr zu Gineos.

»Schalten Sie alles bis auf die Navigation und die Stoßfelder aus«, sagte Gineos.

»Verstanden«, sagte Hybern, und schon im nächsten Moment fühlte sich die Luft in der Tell Me kühler und abgestandener an.

»Die Mündung hat sich fast auf zwei Kilometer zusammengezogen«, sagte Bernus.

»Das wird knapp«, stimmte Inverr zu. »Fünfzehn Sekunden bis zur Mündung.«

»Durchmesser eins Komma acht Kilometer.«

»Alles in Ordnung.«

»Eins Komma fünf Kilometer.«

»Bernus, halten Sie bitte die Klappe.«

Bernus hielt die Klappe. Gineos stand auf, rückte ihre Kleidung zurecht und trat neben ihren Ersten Offizier.

Inverr zählte die letzten zehn Sekunden herunter, unterbrach den Countdown bei sechs, um anzukündigen, dass er die Raum-Zeit-Blase generierte, und machte bei drei weiter. Bei null konnte Gineos von ihrem Standort schräg hinter ihm erkennen, dass er lächelte.

»Wir sind drin. Wir alle. Das ganze Schiff«, sagte er.

»Das war hervorragende Arbeit, Ollie«, sagte Gineos.

»Ja, das finde ich auch. Nicht dass ich mich selbst beweihräuchern möchte oder so.«

»Beweihräuchern Sie sich nur. Dass die Besatzung am Leben ist, haben wir Ihnen zu verdanken.«

»Danke, Kapitän«, sagte Inverr. Er drehte sich zu Gineos um, wobei er noch immer lächelte, und in diesem Moment stieß sie den Lauf des Pfeilwerfers, den sie soeben aus ihrem Stiefel gezogen hatte, in seine linke Augenhöhle und drückte ab. Der Pfeil wurde mit einem leisen Plopp in sein Auge getrieben. Inverrs rechtes Auge blickte äußerst überrascht, dann sank der Erste Offizier tot zu Boden.

Von der anderen Seite der Wand schrien Inverrs Lakaien erschrocken auf und richteten ihre Bolzenwerfer auf den Kapitän. Gineos hob eine Hand, und Gott sei Dank hielten sie tatsächlich inne. »Er ist tot«, sagte sie und legte dann die andere Hand auf den Monitor von Inverrs Station. »Und jetzt habe ich den Befehl aktiviert, jede Luftschleuse, über die dieses Schiff verfügt, in die Blase zu schießen. Sobald meine Hand den Monitor loslässt, werden alle an Bord sterben, Sie eingeschlossen. Also können Sie jetzt entscheiden, wer heute tot sein soll: Ollie Inverr oder alle. Wenn Sie mich erschießen, werden wir alle sterben. Wenn Sie nicht in den nächsten zehn Sekunden Ihre Waffen fallen lassen, werden wir alle sterben. Treffen Sie Ihre Wahl.«

Alle drei ließen ihre Bolzenwerfer fallen. Gineos gab Dunn einen Wink, die hinüberging und sie einsammelte, dann Bernus einen überreichte und einen weitere ihrem Kapitän. Gineos hob die Hand vom Monitor, um sie entgegenzunehmen. Einer der Lakaien keuchte auf, als er das sah.

»Heilige Scheiße, sind Sie leichtgläubig«, sagte Gineos, schaltete den Bolzenwerfer auf »nicht tödlich« und schoss in schneller Reihenfolge auf alle drei. Sie sackten bewusstlos zu Boden.

Sie drehte sich zu Dunn und Bernus um. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung«, sagte sie zu ihnen. »So. Und jetzt müssen wir uns um ein paar Meuterer kümmern. Also sollten wir uns an die Arbeit machen.«

Erster Teil

1

In der Woche vor Batrins Tod hielt sich Cardenia Wu-Patrick die meiste Zeit am Bett ihres Vaters auf, der, als ihm mitgeteilt wurde, dass sein Zustand an die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten gelangt war, so dass ihm nur noch mit Palliativpflege geholfen werden konnte, beschlossen hatte, zu Hause in seinem Lieblingsbett zu sterben. Cardenia, der seit einiger Zeit bewusst gewesen war, dass das Ende bevorstand, hatte bis auf weiteres alle ihre Termine abgesagt und sich einen bequemen Sessel neben das Bett ihres Vaters stellen lassen.

»Hast du nichts Besseres zu tun, als hier herumzuhocken?«, zog Batrin seine Tochter und sein einziges überlebendes Kind auf, als sie Platz nahm, um mit ihrer Morgensitzung an der Seite ihres Vaters zu beginnen.

»Im Moment nicht«, sagte sie.

»Das bezweifle ich sehr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir jedes Mal, wenn du dieses Zimmer verlässt, um die Toilette aufzusuchen, irgendwelche Untergebene auflauern, die deine Unterschrift auf irgendeinem Dokument benötigen.«

»Nein«, sagte Cardenia. »Derzeit liegt alles in den Händen des Exekutivkomitees. Für die absehbare Zukunft befindet sich alles im Wartungsmodus.«

»Bis ich sterbe«, sagte Batrin.

»Bis du stirbst.«

Batrin lachte darüber, wenn auch schwach, wie es seinem gegenwärtigen Allgemeinzustand entsprach. »Was, wie ich befürchte, allzu absehbar sein dürfte.«

»Versuch lieber, nicht darüber nachzudenken«, riet Cardenia ihm.

»Das sagst du so leicht.« Darauf verfielen beide für eine Weile in geselliges Schweigen, bis Batrin stumm das Gesicht verzog und sich seiner Tochter zuwandte. »Was ist das?«

Cardenia legte den Kopf schief. »Du meinst den Gesang?«

»Hier wird gesungen?«

»Da draußen hat sich eine Menge versammelt, die dir gute Besserung wünscht«, sagte Cardenia.

Darüber musste Batrin lächeln. »Bist du dir sicher, dass die Leute das wirklich tun?«

Batrin Wu, Cardenias Vater, wurde offiziell Attavio VI. genannt, Imperatox des Heiligen Imperiums der Interdependenten Staaten und der Merkantilen Gilden, König von Nabe und der Assoziierten Nationen, Oberhaupt der Interdependenten Kirche, Nachfolger der Erde und Vater von Allem, 87. Imperatox des Hauses Wu, der seine Abstammung auf die Prophetin-Imperatox Rachela I. zurückführte, die Gründerin der Interdependenz und Retterin der Menschheit.

»Wir sind uns sicher«, sagte Cardenia. Die beiden befanden sich in Brighton, der Imperialen Residenz in Nabenfall, der Hauptstadt von Nabe und der Lieblingsresidenz ihres Vaters. Der offizielle Sitz des Imperiums lag mehrere tausend Kilometer höher in der Gravitationssenke, in Xi’an, der weitläufigen Raumstation, die über der Oberfläche von Nabe schwebte und von Nabenfall aus als riesiger spiegelnder Teller zu sehen war, den man in die Dunkelheit hinausgeworfen hatte – beziehungsweise zu sehen gewesen wäre, wenn sich der größte Teil von Nabenfall in Oberflächennähe befunden hätte. Wie alle Städte von Nabe war auch Nabenfall zuerst in den Fels des Planeten gesprengt und dann herausgemeißelt worden, während nur vereinzelte Wartungskuppeln und andere Bauten die Oberfläche sprenkelten. Von diesen Kuppeln ging der Blick in ein ewiges Zwielicht hinaus, das auf einen Sonnenaufgang wartete, den der rotationsgebundene Planet niemals erleben würde, und falls es doch einmal geschehen sollte, würden die Bürger von Nabe schreiend wie Kartoffeln in einer Fritteuse gebacken werden.

Attavio VI. hasste Xi’an und hielt sich dort nie länger auf als unbedingt nötig. Auf gar keinen Fall beabsichtigte er, dort zu sterben. Brighton war sein Zuhause, und draußen vor dem Tor hatten sich tausend oder mehr Anhänger versammelt, die ihn bejubelten und gelegentlich die Imperiale Hymne oder auch »Was sagst du?« anstimmten, das Anfeuerungslied für die Imperiale Fußballmannschaft. Sämtliche Anhänger waren, wie Cardenia wusste, gründlich überprüft worden, bevor man ihnen erlaubt hatte, sich dem Tor zu Brighton auf weniger als einen Kilometer zu nähern, in Hörweite des Imperatox. Einige mussten nicht einmal bezahlt werden, um sich dort einzufinden.

»Wie viele mussten wir dafür bezahlen?«, fragte Batrin.

»Kaum jemanden«, sagte Cardenia.

»Ich musste alle dreitausend Leute bezahlen, die kamen, um meine Mutter auf ihrem Totenbett zu bejubeln. Ich musste ihnen sogar sehr viel zahlen.«

»Du bist wesentlich beliebter, als deine Mutter es war.« Cardenia war ihrer Großmutter, der Imperatox Zetian III., niemals begegnet, aber was in den Geschichtsbüchern stand, ließen einem das Blut in den Adern gefrieren.

»Jeder Stein wäre beliebter als meine Mutter«, sagte Batrin. »Aber du solltest dich keinen Illusionen hingeben, mein Kind. Kein Imperatox der Interdependenz war jemals beliebt. Diese Eigenschaft steht nicht in der Stellenbeschreibung.«

»Du warst zumindest beliebter als die meisten«, erwiderte Cardenia vorsichtig.

»Deshalb musstest du nur einigen der Leute draußen vor dem Fenster etwas bezahlen.«

»Ich könnte sie wegschicken lassen, wenn du möchtest.«

»Lass nur. Vielleicht nehmen sie ja Musikwünsche entgegen.«

Bald war Batrin wieder eingenickt, und als Cardenia sich sicher war, dass er schlief, stand sie von ihrem Sessel auf und ging in das Privatbüro ihres Vaters hinüber, das sie bis auf weiteres in Beschlag genommen hatte und das ohnehin bald ihres sein würde. Als sie das Schlafzimmer ihres Vaters verließ, sah sie, wie sich eine Schwadron professioneller Mediziner, angeführt von Qui Drinin, dem Imperialen Arzt, auf ihren Vater stürzte, um ihn zu waschen, seine Werte zu überprüfen und dafür zu sorgen, dass er es bequem hatte – so bequem, wie es jemandem möglich war, der mit einer schmerzhaften und unheilbaren Krankheit zu tun hatte, von der er sich niemals erholen würde.

Im Privatbüro befand sich Naffa Dolg, Cardenias vor kurzem ernannte Stabschefin. Naffa wartete, bis Cardenia in den kleinen Kühlschrank des Büros gegriffen und sich eine Limonade genommen, sich gesetzt und den Behälter geöffnet, zwei Schlucke daraus genommen und ihn auf dem Schreibtisch ihres Vaters abgestellt hatte.

»Untersetzer«, sagte Naffa zu ihrer Chefin.

»Wirklich?« Cardenia lehnte sich zurück.

Naffa zeigte darauf. »Das war ursprünglich der Schreibtisch von Turinu II. Er ist sechshundertfünfzig Jahre alt. Er wurde ihm vom Vater von Genevieve N’don geschenkt, die seine Frau wurde, nachdem …«

Cardenia hob eine Hand. »Es reicht.« Sie griff nach einem kleinen, in Leder gebundenen Buch, zog es über den Schreibtisch zu sich heran und stellte ihren Drink darauf ab. Dann bemerkte sie Naffas Gesichtsausdruck. »Was ist jetzt?«

»Ach, nichts weiter«, sagte Naffa. »Nur dass es sich bei deinem ›Untersetzer‹ um eine Erstausgabe von Zhaos Kommentaren zu den Rachelinischen Doktrinen handelt, was bedeutet, dass er fast eintausend Jahre alt und praktisch unbezahlbar ist, und wahrscheinlich ist allein der Gedanke, darauf etwas abzustellen, bereits eine Blasphemie höchsten Grades.«

»Ach, verdammt.« Cardenia nahm einen weiteren Schluck und stellte den Behälter dann auf dem Teppich neben dem Schreibtisch ab. »Zufrieden? Ich meine, sofern nicht auch der Teppich praktisch unbezahlbar ist.«

»Genau genommen …«

»Sind wir uns darin einig, dass alles in diesem Zimmer, uns beide ausgenommen, wahrscheinlich jahrhundertealt ist, dass es ursprünglich einer meiner Vorfahren von einer anderen außerordentlich berühmten historischen Persönlichkeit zum Geschenk erhalten hat und dass es unbezahlbar oder zumindest mehr wert ist, als die meisten Menschen in ihrem Leben jemals verdienen? Gibt es in diesem Zimmer irgendetwas, auf das diese Beschreibung nicht zutrifft?«

Naffa zeigte auf den Kühlschrank. »Ich denke, das ist einfach nur ein Kühlschrank.«

Cardenia fand schließlich irgendwo auf dem Schreibtisch einen Untersetzer, hob ihren Drink vom Teppich auf und stellte ihn ab. »Dieser Untersetzer ist wahrscheinlich vierhundert Jahre alt und ein Geschenk des Herzogs von Ende«, sagte sie und sah ihre Assistentin an. »Aber ich will es gar nicht wissen.«

»Schon gut«, erwiderte Naffa und zog ihr Tablet hervor.

»Aber du weißt es, nicht wahr?«

»Dir liegen Anfragen vom Exekutivkomitee vor«, sagte Naffa, ohne auf die letzte Bemerkung ihrer Chefin einzugehen.

Cardenia warf die Hände in die Luft. »Natürlich.« Das Exekutivkomitee bestand aus drei Geschäftsführern der Gilden, drei Repräsentanten des Parlaments und drei Erzbischöfen der Kirche. Zu anderen Zeiten war das Komitee die direkte Verbindung des Imperatox zu den drei Zentren der Macht innerhalb der Interdependenz. Im Augenblick hatten diese Leute die Aufgabe, die Kontinuität des Regierungsbetriebs in den letzten Tagen der Herrschaft des Imperatox zu gewährleisten. Sie neigten dazu, Cardenia ein wenig in den Wahnsinn zu treiben.

»Erstens, sie möchten, dass du im Kommunikationsnetz auftrittst, um, wie sie es formulieren, ›die Befürchtungen des Imperiums hinsichtlich der Situation Ihres Vaters zu beschwichtigen‹.«

»Er stirbt und wird sehr bald tot sein«, sagte Cardenia. »Ich weiß nicht genau, ob das beschwichtigend wirkt.«

»Ich denke, sie würden eine etwas inspirierendere Ansprache vorziehen. Sie haben einen Redetext geschickt.«

»Es hätte keinen Sinn, das Imperium zu beruhigen. Wenn meine Rede bis Ende vorgedrungen ist, wird er schon seit neun Standardmonaten tot sein. Selbst Bremen ist noch zwei Wochen entfernt.«

»Da wären immer noch Nabe und Xi’an und die Assoziierten Nationen innerhalb des Systems. Bis zur am weitesten entfernten sind es lediglich fünf Lichtstunden.«

»Sie wissen längst, dass er im Sterben liegt.«

»Es geht nicht darum, dass er stirbt. Es geht um Kontinuität.«

»Die Wu-Dynastie reicht eintausend Jahre zurück, Naffi. Niemand macht sich allzu große Sorgen um die Kontinuität.«

»Das ist nicht die Kontinuität, wegen der sie sich Sorgen machen. Sie sorgen sich um ihr alltägliches Leben. Ganz gleich, wer Imperatox wird, einige Dinge werden sich ändern. Innerhalb des Systems leben dreihundert Millionen imperiale Untertanen, Cardenia. Du bist die Erbin. Die Menschen wissen, dass sich nichts an der Dynastie ändern wird. Es geht um alles andere.«

»Es bestürzt mich, dass du in diesem Punkt auf der Seite des Exekutivkomitees stehst.«

»Ich habe sie vertröstet. Zweimal pro Tag.«

»Hast du diese Rede gelesen?«

»Ja. Sie ist furchtbar.«

»Wirst du sie umschreiben?«

»Schon geschehen.«

»Was sonst noch?«

»Sie möchten wissen, ob du deinen Standpunkt bezüglich Amit Nohamapetan geändert hast.«

»Welchen Standpunkt? Ob ich mich mit ihm treffe oder ob ich ihn heirate?«

»Ich glaube, sie hoffen, Ersteres wird zu Zweiterem führen.«

»Ich habe mich bisher nur ein einziges Mal mit ihm getroffen. Das ist der Grund, warum ich mich kein zweites Mal mit ihm treffen möchte. Und ich werde ihn definitiv nicht heiraten.«

»Das Exekutivkomitee scheint dein Widerstreben vorhergesehen zu haben und möchte dich daran erinnern, dass dein Bruder, der verstorbene Kronprinz, sich prinzipiell einverstanden erklärt hatte, Nadashe Nohamapetan zu heiraten.«

»Ich würde lieber sie als ihren Bruder heiraten.«

»Das Exekutivkomitee hat auch diese Antwort vorhergesehen und möchte dich daran erinnern, dass diese Option für alle Beteiligten vermutlich ebenso akzeptabel wäre.«

»Ich werde auch sie nicht heiraten«, sagte Cardenia. »Ich mag sie beide nicht. Sie sind schreckliche Menschen.«

»Sie sind schreckliche Menschen, deren Familie in den Reihen der Merkantilen Gilden aufsteigt, und ihr Wunsch nach einer Allianz mit dem Haus Wu würde dem Imperium einen Einfluss auf die Gilden verschaffen, den es seit vielen Jahrhunderten nicht mehr hatte.«

»Sind das deine Worte oder die des Exekutivkomitees?«

»Zu achtzig Prozent die des Exekutivkomitees.«

»Du stimmst zu zwanzig Prozent damit überein?« Cardenia reagierte schockiert, was jedoch größtenteils gespielt war.

»Diese zwanzig Prozent sind meine Einsicht, dass politische Heiraten eine gewisse Bedeutung für Personen wie dich haben, die kurz vor der Ernennung zur Imperatox stehen und die trotz einer Jahrtausende währenden Dynastie, die ihnen Glaubwürdigkeit verleiht, Verbündete benötigen, um die Gilden unter Kontrolle zu halten.«

»Das ist der Moment, wo du mir erklären wirst, dass die Herrscher aus der Wu-Dynastie in den letzten tausend Jahren im Prinzip nur Marionetten waren, die die Interessen der Gilden durchgesetzt haben, nicht wahr?«

»Das ist der Moment, wo ich dich daran erinnern möchte, dass ich meine berufliche Stellung nicht nur persönlichen Freundschaften und meinen Erfahrungen in der Politik am Hof zu verdanken haben, sondern der Tatsache, dass ich meinen Doktor in der Geschichte der Wu-Dynastie gemacht habe und mich viel besser mit deiner Familie auskenne als du«, sagte Naffa. »Aber selbstverständlich könnte ich auch diese andere Antwort geben.«

Cardenia seufzte. »Aber uns droht keine Gefahr, zu Marionetten der Gilden zu werden?«

Naffa sah ihre Chefin nur schweigend an.

»Du willst mich auf den Arm nehmen«, sagte Cardenia.

»Auch das Haus Wu ist eine Familie mit merkantilen Interessen, und es hat das Monopol auf den Raumschiffsbau und die militärische Waffenproduktion«, sagte Naffa. »Zugleich untersteht das Militär der Kontrolle des Imperatox und nicht der Gilden. Das heißt, nein, es wäre sehr schwierig für die Gilden oder irgendeine andere Familie, kurzfristig größeren Einfluss auf das Haus oder das Imperium zu gewinnen. Allerdings war dein Vater recht lax, was die Kontrolle der merkantilen Familien betraf, und er hat zugelassen, dass mehrere von ihnen, einschließlich der Nohamapetans, Machtzentren ausbauen konnten, wie es sie in den letzten zweihundert Jahren nicht mehr gegeben hat. Wobei wir natürlich die Kirche völlig unberücksichtigt lassen, die ein eigenes Machtzentrum bildet. Und du musst damit rechnen, dass all diese Parteien versuchen werden, mehr Macht zu gewinnen, weil man erwartet, dass du eine schwache Imperatox sein wirst.«

»Danke«, entgegnete Cardenia trocken.

»Das ist nicht persönlich gemeint. Dein Aufstieg zur Thronfolgerin kam unerwartet.«

»Was du nicht sagst.«

»Niemand weiß, was man von dir halten soll.«

»Abgesehen vom Exekutivkomitee, das mich verkuppeln möchte.«

»Es möchte eine bestehende potientielle Allianz bewahren.«

»Eine Allianz mit schrecklichen Menschen.«

»Richtig nette Menschen gewinnen für gewöhnlich nicht allzu viel Macht.«

»Damit willst du sagen, dass ich so etwas wie ein Sonderfall bin«, erwiderte Cardenia.

»Ich kann mich nicht erinnern, behauptet zu haben, du seist nett«, gab Naffa zurück.

 

»All das hätte eigentlich gar nicht dein Problem sein sollen«, sagte Batrin später zu Cardenia. Sie war in sein Schlafzimmer zurückgekehrt und saß im Sessel. Die Mediziner, die ihn umsorgt hatten, während er geschlafen hatte, hatten sich in die benachbarten Räume zurückgezogen. Jetzt waren die beiden, von diversen medizinischen Gerätschaften abgesehen, wieder miteinander allein.

»Ich weiß«, sagte Cardenia. Darüber hatten sie bereits gesprochen, aber sie wusste, dass sie es noch einmal tun würden.

»Es war dein Bruder, der auf all das vorbereitet wurde«, fuhr Batrin fort, und Cardenia nickte, während er langsam weiterredete. Ihr Bruder Rennered Wu, eigentlich ihr Halbbruder. Er war der Sohn der Imperialen Gemahlin Glenna Costu, während Cardenia das Resultat einer kurzen Affäre zwischem dem Imperatox und Cardenias Mutter Hannah war, einer Professorin für alte Sprachen. Hannah Patrick lernte den Imperatox kennen, während sie ihn durch die Sammlung seltener Bücher in der Spode-Bibliothek an der Universität von Nabenfall führte. Danach korrespondierten die beiden über akademische Themen, und nach dem plötzlichen Tod der Imperialen Gemahlin wurde Hannah Patrick vom Imperatox zuerst mit einer seltenen Ausgabe des Qaṣīdat-ul-Burda beschenkt und nach nicht allzu langer Zeit, was beide ein wenig überraschte, mit Cardenia.

Rennered war bereits der Erbe, und Hannah Patrick beschloss nach einiger Überlegung, dass sie lieber durch eine Luftschleuse treten würde, als zum festen Inventar des Imperialen Hofs zu gehören. Infolgedessen wurde Cardenia in ihrer Kindheit verhätschelt, allerdings weit entfernt von den Insignien tatsächlicher Macht. Cardenia wurde als Kind des Imperatox anerkannt, erhielt anstandshalber einen Titel und sah ihren berühmten Vater regelmäßig, aber nicht allzu häufig. Gelegentlich wurde sie von ihren Klassenkameraden aufgezogen, die sie »Prinzessin« nannten, aber nicht allzu oft oder allzu bösartig, denn wie sich herausstellte, war sie tatsächlich eine Prinzessin, und ihre Leibwache reagierte recht empfindlich auf Beleidigungen.

Ihre Kindheit und ihre frühen Erwachsenenjahre verliefen so normal, wie es der Tochter des mächtigsten Menschen im bekannten Universum möglich war, was bedeutete, dass sie immerhin einen fernen Blick auf das hatte werfen können, was als normal galt. Sie besuchte die Universität von Nabenfall, machte Abschlüsse in Moderner Literatur und Erziehung, und nach der Promotion dachte sie ernsthaft darüber nach, zur professionellen Schirmherrin irgendeines Programms, das mit Kunst zu tun hatte, und verschiedener Initiativen zur Förderung der Unterprivilegierten zu werden.

Doch dann brachte Rennered sich um, als er während eines Wohltätigkeitsrennens unter Beteiligung echter Rennfahrer mit seinem charmanten altertümlichen Automobil gegen eine Wand raste und sich dabei praktisch selbst enthauptete. Cardenia hatte sich das Video des Unfalls nie angesehen – schließlich war es ihr Bruder –, doch sie las anschließend die forensischen Berichte, die zwar jeden Verdacht auf falsches Spiel ausschlossen, aber auf die Sicherheitstechnik des Automobils und die Unwahrscheinlichkeit eines tödlichen Unfalls hinwiesen, ganz zu schweigen von einem, der mit einer Enthauptung endete.

Später erfuhr Cardenia, dass Rennered bei der Wohltätigkeitsauktion im Anschluss an das Wettrennen eigentlich seine Verlobung mit Nadashe Nohamapetan hatte bestätigen sollen. Die Verbindung dieser beiden Ereignisse setzte sich daraufhin untrennbar in ihrem Kopf fest.

Cardenia hatte Rennered nie allzu nahe gestanden, da Rennered bereits ein Teenager war, als sie geboren wurde, und sich ihre Kreise niemals berührt hatten, aber er hatte sie stets freundlich behandelt. Als Kind hatte sie aus der Ferne für ihn und sein Playboydasein geschwärmt, und als sie älter wurde, hatte sie erkannt, wie viele der Bürden des imperialen Ruhms an ihr vorübergegangen waren, um stattdessen auf seinen Schultern zu landen, und sie war im Stillen erleichtert, dass er es war, der sie schulterte. Er schien es mehr genossen zu haben, als sie es jemals könnte.

Dann war er tot, und plötzlich brauchte das Imperium einen neuen Thronerben.

»Ich glaube, ich habe deine Aufmerksamkeit verloren«, sagte Batrin.

»Entschuldigung«, sagte Cardenia. »Ich habe an Rennered gedacht. Ich wünschte, er wäre noch am Leben.«

»Ich ebenfalls. Aber bestimmt aus anderen Gründen.«

»Ich wäre glücklicher, wenn er dein Nachfolger geworden wäre. Eine Menge Leute wären dann glücklicher.«

»Daran besteht kein Zweifel, mein Kind. Aber hör mir zu, Cardenia. Ich bedaure es nicht, dass du mir nachfolgst.«

»Danke.«

»Ich meine es ernst. Rennered hätte einen perfekten Imperatox abgegeben. Er wurde buchstäblich für diese Rolle geboren, genauso wie ich. Du nicht. Aber das ist gar nicht schlecht.«

»Ich finde es schlecht. Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand Cardenia.

»Keiner von uns wusste, was wir tun sollten«, sagte Batrin. »Mit dem Unterschied, dass du das weißt. Wenn Rennered an deiner Stelle wäre, wäre er genauso ratlos, aber wesentlich selbstbewusster. Weshalb er einfach drauflosmarschieren würde, genauso wie ich es getan habe, genauso wie meine Mutter und mein Großvater. Vielleicht kannst du mit dieser Familientradition brechen.«

Darüber musste Cardenia lächeln.

Batrin legte den Kopf schief, eine fast unmerkliche Geste. »Du weißt immer noch nicht, was du von mir halten sollst, nicht wahr?«, fragte er.

»Nein«, räumte Cardenia ein. »Es freut mich, dass wir uns in diesen letzten paar Monaten etwas besser kennengelernt haben. Aber.« Sie hob die Hände mit den Innenflächen nach oben. »Alles andere …«

Batrin lächelte. »Du möchtest deinen Vater kennenlernen, aber stattdessen musst du dich darauf vorbereiten, das Universum zu regieren.«

»Es klingt völlig absurd. Aber so ist es.«

»Das ist meine Schuld. Du weißt, dass du nicht geplant warst. Zumindest nicht von meiner Seite.« Cardenia nickte dazu. »Alle Leute, einschließlich deiner Mutter, sagten mir, dass es besser wäre, dich auf Abstand zu halten. Und ich habe ihren Rat nur zu gern befolgt.«

»Ich weiß. Ich habe es dir niemals zum Vorwurf gemacht.«

»Nein, das hast du nicht, aber du musst zugeben, dass es schon seltsam war«, sagte Batrin.

»Wie meinst du das?«

»Du bist buchstäblich eine Prinzessin, aber du hast nicht wie eine gelebt. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die meisten Menschen in deiner Situation mir das übelgenommen hätten.«

Cardenia zuckte mit den Schultern. »Es hat mir gefallen, dass es mir freigestellt war. Als ich acht war, hat es mich ein wenig geärgert. Als ich alt genug war, um zu verstehen, was es bedeutet, eine Prinzessin zu sein, war ich froh, dass mir das meiste davon erspart blieb.«

»Trotzdem hat es dich irgendwann eingeholt.«

»Ja«, stimmte Cardenia ihm zu.

»Du möchtest auch jetzt nicht Imperatox werden, nicht wahr?«

»Nein. Es wäre mir lieber gewesen, du hättest den Job einer Cousine oder einem Neffen oder irgendjemand anderem gegeben.«

»Hätte Rennered früher geheiratet und ein Kind bekommen, hätte das dein Problem gelöst. Aber es ist anders gekommen. Und wenn er diese Nohamapetan-Tochter geheiratet und sie ihm einen Erben geschenkt hätte, wäre sie die Regentin gewesen. Und die Vorstellung, dass sie ungehindert den Laden übernimmt, gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Du hast ihn gedrängt, sie zu heiraten.«

»Das war Politik. Ich vermute, du wirst bereits gedrängt, ihren Bruder zu heiraten.«

»Ja.«

»Das wäre politisch vorteilhaft.«

»Möchtest du, dass ich es tue?«

Batrin hustete ausgiebig. Cardenia goss ihm ein Glas Wasser ein und hielt es an seine Lippen, damit er davon nippen konnte. »Danke. Und nein. Nadashe Nohamapetan ist herzlos und bösartig, aber auch Rennered war kein Unschuldsengel. Was das betrifft, hat er mich an meine Mutter erinnert. Er hätte sie in Schach gehalten, und er hätte Spaß an der Herausforderung gehabt, genauso wie sie. Du bist nicht wie Rennered, und Amit Nohamapetan hat nicht den Vorteil der Genialität, den seine Schwester hat.«

»Er ist ein Schwein.«

»Du hast es etwas prägnanter ausgedrückt.«

»Aber du hast gerade gesagt, es wäre eine politisch vorteilhafte Verbindung.«

Batrin antwortete mit einem winzigen Schulterzucken. »So ist es, aber was kümmert es dich? Du wirst schon sehr bald Imperatox sein.«

»Und dann kann mir niemand mehr sagen, was ich tun soll.«

»O nein!«, erwiderte Batrin. »Alle werden dir sagen, was du tun sollst. Aber du musst nicht immer auf sie hören.«

 

»Wie viel Zeit bleibt ihm noch?«, wollte Cardenia beim Abendessen von Qui Drinin wissen. Genauer gesagt fand das Abendessen im privaten Speisezimmer der Wohnungsresidenz statt, das nur auf haarsträubend luxuriöse statt auf entsetzlich luxuriöse Weise dekoriert war, was ein angenehmer Kontrast zu den übrigen Gemächern der Wohnungsresidenz darstellte. Drinin aß jedoch nicht, sondern stand eigentlich nur da und wartete darauf, seinen Bericht vorzutragen. Cardenia hatte ihn gefragt, ob er etwas essen wollte, doch er hatte so hastig abgelehnt, dass sie sich fragte, ob sie damit unwissentlich irgendein imperiales Protokoll verletzt hatte.

»Nicht mehr als ein Tag, würde ich sagen, Ma’am«, antwortete Drinin. »Seine Nieren arbeiten praktisch nicht mehr, und obwohl wir ihm damit helfen können, geht es hier im Grunde nur ein wenig schneller als mit allem anderen. Die Lungen und andere Organe haben einen kritischen Punkt erreicht. Ihr Vater hat verstanden, dass heroische Maßnahmen ergriffen werden könnten, aber sie würden sein Leben bestenfalls um einige Tage verlängern. Er hat sich entschieden, darauf zu verzichten. Zum jetzigen Zeitpunkt machen wir es ihm wirklich nur so angenehm wie möglich.«

»Er ist immer noch bei klarem Verstand«, sagte Naffa. Auch sie aß nicht.

Drinin nickte dazu und wandte sich wieder an Cardenia. »Sie sollten nicht erwarten, dass das so bleibt, Ma’am, vor allem, da sich die Toxine in seinem Blut immer mehr anreichern. Auch auf die Gefahr hin, vermessen zu klingen, möchte ich Ihnen raten: Wenn Sie noch irgendetwas Wichtiges mit Ihrem Vater zu besprechen haben, sollten Sie es lieber früher als später tun.«

»Vielen Dank, Doktor«, sagte Cardenia.

»Selbstverständlich, Ma’am. Und dürfte ich auch danach fragen, wie es Ihnen geht?«

»Persönlich oder medizinisch?«

»Beides, Ma’am. Ich weiß, dass Ihnen vor ein paar Wochen Ihr Netzwerk eingepflanzt wurde. Ich möchte ganz sicher sein, dass es keine Nebenwirkungen gibt.«

Mit der Hand, mit der sie im Augenblick kein Besteck hielt, griff Cardenia an die Stelle in ihrem Nacken, gleich unter der Schädelbasis, wo ihr die Saat des Imperialen Neuralen Netzwerks implantiert worden war, damit es es wuchs und sich innerhalb eines Monats in ihrem Gehirn ausbreitete. »In der Woche nach der Implantation hatte ich gelegentlich Kopfschmerzen«, sagte sie. »Sonst ist alles bestens.«

Drinin nickte. »Sehr gut. Medizingeschichtlich sind Kopfschmerzen nichts Ungewöhnliches. Wenn Sie irgendwelche anderen Nebenwirkungen bemerken, lassen Sie es mich wissen. Inzwischen müsste es vollständig ausgebildet sein, aber man kann nie wissen.«

»Vielen Dank, Doktor«, sagte Cardenia.

»Ma’am.« Drinin nickte und wandte sich zum Gehen.

»Doktor Drinin.«

Drinin hielt inne und drehte sich um. »Ma’am?«

»Es wäre mir eine Freude, wenn Sie und Ihr Personal nach der Übergabe im imperialen Dienst bleiben könnten.«

Drinin lächelte und verbeugte sich tief. »Selbstverständlich, Ma’am«, sagte er und ging.

»Du weißt, dass du nicht sämtliche Mitglieder des imperialen Personals fragen musst, ob sie bleiben möchten«, sagte Naffa, nachdem er fort war. »Dann würdest du den ersten Monat zu nichts anderem mehr kommen.«

Cardenia deutete auf die Tür, durch die der Arzt hinausgegangen war. »Dieser Mann wird mich über mehrere Jahrzehnte immer wieder untersuchen«, sagte sie. »Also finde ich es völlig in Ordnung, wenn ich ihn persönlich frage.« Sie blickte zu ihrer Assistentin auf. »Es ist schon seltsam, weißt du. Dass du nicht mit mir isst. Du stehst nur mit deinem Tablet da und wartest darauf, mir Sachen berichten zu können.«

»Das Personal isst nicht mit dem oder der Imperatox.«

»Es sei denn, er oder sie sagt den Leuten, dass sie es tun sollen.«

»Willst du mir befehlen, das widerliche Zeug zu essen, das du da isst?«

»Es ist nicht widerlich, es ist Zimtfisch-Bouillabaisse. Und nein, ich befehle es dir nicht. Ich sage dir nur, dass du, wenn du möchtest, gern zusammen mit deiner Freundin Cardenia etwas davon essen darfst.«

»Danke, Car«, sagte Naffa.

»Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, wäre, wenn du die ganze Zeit meine Untergebene spielst. Ich brauche wirklich weiterhin ein paar Freunde. Freunde, die nicht ins Schwitzen kommen, weil ich die bin, die ich bin. Als wir aufwuchsen, warst du das einzige Kind, das keine große Sache daraus gemacht hat, dass ich eine Prinzessin bin.«

»Meine Eltern sind Republikaner«, rief Naffa ihrer Freundin ins Gedächtnis. »Würde ich dich wegen deines Vaters anders behandeln als andere, würden Sie mich sofort enterben. Sie sind immer noch ein wenig empört, dass ich jetzt für dich arbeite.«

»Dabei fällt mir ein: Wenn ich die Imperatox bin, kann ich dir einen Titel verleihen.«

»Wage es nicht, Car«, sagte Naffa. »Dann könnte ich in meinen Ferien nie mehr nach Hause zurückkehren.«

»›Baroness‹ klingt doch richtig nett.«

»Ich werde dir deine Fischsuppe über den Kopf gießen, wenn du damit weitermachst«, warnte Naffa, worauf Cardenia nur lächelte.

 

»Ich habe dein Video gesehen«, sagte Batrin, nachdem er wieder einmal aufgewacht war. Cardenia hatte festgestellt, dass Drinin recht behalten hatte. Die Gedanken ihres Vaters waren jetzt wirrer und schweiften leichter ab. »Das, in dem du über mich gesprochen hast.«

»Wie fandest du es?«, fragte Cardenia.

»Es war nett. Der Text wurde vom Komitee geschrieben, nicht wahr?«

»Nein.« Das Exekutivkomitee hatte sich über die von Naffa umgeschriebene Rede beschwert, worauf Cardenia erwidert hatte, dass sie entweder Naffas Worte oder gar keine benutzen würde. Sie genoss ihren ersten Sieg über die dreigeteilten politischen Mächte, die das Gegengewicht zum Thron bildeten. Sie machte sich keine Illusionen, dass sie, wenn sie erst an der Macht war, noch allzu viele weitere Siege erringen würde.

»Gut«, sagte Batrin. »Du solltest deine eigene Imperatox sein, meine Tochter. Nicht die von jemand anderem.«

»Ich werde es mir merken.«

»Tu das.« Batrin schloss für einen Moment die Augen und schien wegzudämmern. Dann öffnete er sie wieder und sah Cardenia an. »Hast du schon deinen imperialen Namen gewählt?«

»Ich dachte mir, dass ich meinen eigenen behalte«, sagte Cardenia.

»Was? Nein«, sagte Batrin. »Dein eigener Name ist für deine private Welt. Für Freunde und Ehepartner und Kinder und Geliebte. Du wirst deinen privaten Namen brauchen. Verschwende ihn nicht an das Imperium.«

»Mit welchem deiner Namen hat meine Mutter dich angesprochen?«

»Sie nannte mich Batrin. Zumindest solange es eine Rolle spielte. Wie geht es deiner Mutter?«

»Gut.« Vor drei Jahren hatte Hannah Patrick eine Anstellung als Pröbstin am Guelph-Institut für Technologie angenommen, über die Ströme zehn Wochen von Nabe entfernt. Inzwischen mussten die Nachrichten über den schlechten Gesundheitszustand des Imperatox sie erreicht haben. Sie würde erst lange Zeit später erfahren, dass ihre Tochter Imperatox geworden war. Cardenia wusste, dass ihre Mutter eine äußerst zwiespältige Einstellung zu ihrem Aufstieg hatte.

»Ich hatte überlegt, sie zu heiraten«, sagte Batrin.

»Das hast du mir erzählt.« Von ihrer Mutter hatte Cardenia eine ganz andere Geschichte gehört, aber jetzt war nicht der richtige Moment, um das anzusprechen.

Der Imperatox nickte und wechselte das Thema. »Dürfte ich dir einen Namen vorschlagen? Als deinen imperialen Namen.«

»Ja, bitte.«

»Grayland.«

Cardenia runzelte die Stirn. »Diesen Namen kenne ich nicht.«

»Wenn ich sterbe, schlag ihren Namen nach. Und dann komm und sprich mit mir darüber.«

»Das werde ich tun.«

»Gut, sehr gut. Du wirst eine gute Imperatox sein, Cardenia.«

»Danke.«

»Du musst es sein. Das Imperium wird dich brauchen.«

Cardenia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, also nickte sie nur und griff nach der Hand ihres Vaters. Es schien ihn zu überraschen, doch dann antwortete er mit einem ganz leichten Druck.

»Ich glaube, ich werde jetzt schlafen«, sagte er. »Ich werde schlafen, und dann wirst du Imperatox sein. Ist das in Ordnung?«

»Alles bestens.«

»Okay. Gut.« Batrin drückte Cardenias Hand so leicht, dass sie es kaum bemerkte. »Lebewohl, Cardenia, meine Tochter. Es tut mir leid, dass ich mir so wenig Zeit genommen habe, dich zu lieben.«

»Schon gut«, sagte Cardenia.

Batrin lächelte. »Komm mich besuchen.«