Das Teemännchen - Heinz Strunk - E-Book
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Heinz Strunk

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Beschreibung

Heinz Strunks Geschichten. Lange, kurze, ganz kurze. Zum Teil knüpfen sie an bekannte Strunk'sche Themenwelten an, Einsamkeit, Sexualnot, Körperverfall, Alkohol, Übergewicht. Sie sind aber anders geschrieben als Strunks vorherige Bücher: immer pointiert, aber oft nicht komisch, manchmal absonderlich, traumlogisch, düster, grotesk, so zum Beispiel die Geschichte von dem DDR-Bürger, der durch politische Verfolgung so gebrochen wird, dass er die Wende als perfides Zersetzungsmanöver des Regimes missversteht und seine graue Zonenwohnung nie mehr verlässt. In anderen Stücken verabreden sich Kleinwagen zum Aufstand gegen die Menschen, erlebt Axl Rose von Guns n' Roses auf dem Hamburger Kiez seine Höllenfahrt, verwandelt sich eine Schönheitskönigin durch Arbeit im Schnellimbiss in eine alte Vettel, wird ein Mann an der Autobahn auf einem Windrad gekreuzigt, gerät eine Wilhelm-Busch-Expertin im Radio komplett aus der Fassung. Vor einigen Jahren hat Heinz Strunk eine Sammlung mit Erzählungen von Botho Strauss herausgegeben; die kurze Form liegt ihm am Herzen. Dies ist mithin kein Nebenwerk, keine Sammlung von Gelegenheitstexten, sondern ein Buch, in dem Heinz Strunk als Autor wieder ein Stück weiter zu sich kommt.

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Seitenzahl: 212

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Heinz Strunk

Das Teemännchen

Erzählungen

 

 

 

Über dieses Buch

Heinz Strunks Geschichten. Lange, kurze, ganz kurze. Zum Teil knüpfen sie an bekannte Strunk’sche Themenwelten an, Einsamkeit, Sexualnot, Körperverfall, Alkohol, Übergewicht. Sie sind aber anders geschrieben als Strunks vorherige Bücher: immer pointiert, aber oft nicht komisch, manchmal absonderlich, traumlogisch, düster, grotesk, so zum Beispiel die Geschichte von dem DDR-Bürger, der durch politische Verfolgung so gebrochen wird, dass er die Wende als perfides Zersetzungsmanöver des Regimes missversteht und seine graue Zonenwohnung nie mehr verlässt. In anderen Stücken verabreden sich Kleinwagen zum Aufstand gegen die Menschen, erlebt Axl Rose von Guns n’ Roses auf dem Hamburger Kiez seine Höllenfahrt, verwandelt sich eine Schönheitskönigin durch Arbeit im Schnellimbiss in eine alte Vettel, wird ein Mann an der Autobahn auf einem Windrad gekreuzigt, gerät eine Wilhelm-Busch-Expertin im Radio komplett aus der Fassung.

Vor einigen Jahren hat Heinz Strunk eine Sammlung mit Erzählungen von Botho Strauss herausgegeben; die kurze Form liegt ihm am Herzen. Dies ist mithin kein Nebenwerk, keine Sammlung von Gelegenheitstexten, sondern ein Buch, in dem Heinz Strunk als Autor wieder ein Stück weiter zu sich kommt.

Vita

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman «Fleisch ist mein Gemüse» hat er sieben weitere Bücher veröffentlicht. «Der goldene Handschuh» stand monatelang auf der Bestsellerliste und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Im Herbst 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Umschlagillustation: Marion Blomeyer

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00156-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Frau Käse

Tempo 100

Marion und Michael (M&M) gehören zu den Paaren, bei denen der Mann groß und hager, die Frau klein und dick ist. Beide tragen Schwarz, immer. Er, weil er Tontechniker ist und alle Tontechniker auf Gottes weitem Erdenrund ausschließlich Schwarz tragen, sie, um ihre abstehende Wampe zu kaschieren.

Michael, Spitzname Mike, Jahrgang 64, sieht aus, wie man sich einen missgünstigen Nachbarn vorstellt, einen Blockwart, Privatsheriff, Brunnenvergifter: der Mann ein trauriges Gerippe in zu großen Sandalen und mit spindeldürren, haarlosen Waden, die wenigen grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er ist der Prototyp des unbelehrbaren, humorlosen, linken Spießers, Überbleibsel einer Post-68-irgendwas-Generation, aufgewachsen im Schatten der Anti-AKW-Demos (sein Lebenshöhepunkt war der 28.2.81, als er auf der seinerzeit größten Demo gegen das Atomkraftwerk Brokdorf durch die Wilstermarsch trabte) und der legendären Bonner Friedensdemos, erbitterter Gegner des Nato-Doppelbeschlusses, Startbahn West, Gorleben, Kapitalismus, Imperialismus, Amerika sowieso, heimlicher RAF-Sympathisant. Erbittert verteidigt er immer noch die DDR, wird fuchsteufelswild, wenn die Diktatur «schlechtgeredet» wird, und überhaupt, Diktatur, die Begrifflichkeiten müssen ja wohl noch mal geklärt werden.

 

Er ist angestellt beim Verleih von Just Music, einem der führenden Musikunternehmen Deutschlands mit Niederlassungen in Hamburg, Dortmund, Berlin und München. Dort hat er vor 24 Jahren Marion, die in der Firma als Telefonistin arbeitete und immer noch arbeitet, kennengelernt. 24 Jahre! Ein Jahr bis zur Silberhochzeit, wenn sie denn verheiratet wären. Ein Wahnsinn und kein Ende in Sicht. Seine Lebensabschnittsgefährtin, so nennt er sie, niemals Freundin, niemals Frau. Lebensabschnittsgefährte, schön wär’s; wie es aussieht, bleiben sie aneinander kleben, müssen sie für den Rest ihrer Tage miteinander vorliebnehmen. Eine Need-Company. Zu alt, zu leer, zu langweilig, zu dick, zu dünn, zu arm, zu uninteressant, zu alles Mögliche. Das wird schwierig, noch mal neue Lebensabschnittsgefährten zu finden.

Sie hat sich längst damit abgefunden, er nicht. Er nimmt ihr das übel, nutzt jede Gelegenheit, ihr eins reinzuwürgen. Als wäre es ihre Schuld. Nach Feierabend berichtet er beispielsweise sehr lange und sehr ausführlich von seinem Tontechnikeralltag (keine Rock- oder Popkonzerte, sondern fast ausschließlich Messen, Industriegeschichten, Events). Ödes Gefasel, mit näselnder, pfeifender Stimme vorgetragen, um sie zu bestrafen.

Eine Zeitlang gab es zwischen ihnen eine Art Wettbewerb, wer der größere Spießer ist. Es galt, den anderen mit noch ätzenderer Kleinkariertheit zu Boden zu ringen. Meist gewann er. Sie hat irgendwann aufgegeben, ihre endgültige Niederlage anerkannt, doch ihm ist das nicht genug, er setzt nach, jetzt erst recht, immer wieder, immer weiter, gnadenlos. Manche schwachen Menschen empfinden bekanntlich großes Vergnügen dabei, ihre Macht und Überlegenheit an noch Schwächeren zu demonstrieren. Manchmal kommt es ihr vor, als stiege ein geheimnisvoller Nebel von ihm auf. Sie fürchtet sich vor ihm. Mike ist ein schwarzes Loch, dessen Schwerkraft nicht das kleinste bisschen Licht mehr in ihr Leben dringen lässt.

 

12. Mai, für die Jahreszeit ist es viel zu kalt. Trübes, diffuses Regenwetter, grauer Himmel, aus dem unablässig Wasser fällt. Sie sind auf dem Weg nach Südtirol. Mikes ältester Freund heiratet in Bozen; warum ausgerechnet da, hat er vergessen, ist ja auch egal. Fast 1100 Kilometer sind das. In den Achtzigern fuhren als umweltbewusst geltende Leute nicht schneller als einhundert Stundenkilometer, auch nicht auf der Autobahn, gerade da! Mike hat das beibehalten, oft fährt es sogar noch langsamer. Ein elendes Verkehrshindernis, er hat Gefallen daran, die anderen Verkehrsteilnehmer zu nerven, es ist schließlich sein gutes Recht, so langsam und umweltbewusst zu fahren, wie er will. Dabei ist sein ungefähr hundert Jahre alter schrottreifer Passat eine Giftschleuder, die mehr Abgase hinausbläst als ein Audi A8 bei Tempo 240. Völliger Schwachsinn, die Tempo-Hundert-Schrubberei; wenn er der Umwelt wirklich einen Gefallen tun wollte, müsste er die Schüssel unverzüglich stilllegen. Wütende Brummifahrer zeigen ihm den Stinkefinger, während sie ihn überholen.

Wahrscheinlich fährt er nur so langsam, um seiner Freundin damit den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Die könnte gerade mal wieder schreien vor Verzweiflung und Langeweile und würde sich am liebsten auflösen, auflösen wie ein Rauchring. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie Kinder bekommen hätten. Aber seine Spermienqualität ist schlecht, sehr schlecht, da kommt nix bei raus, und schon gar keine Kinder. Nun kriechen sie langsam wie sein schlechter Samen Richtung Italien, die Scheißkarre qualmt und dampft und raucht und zischt, eine pechschwarze Fahne – mindestens eine Tonne Kohlenmonoxid pro Stunde – quillt aus dem verrosteten Auspuff. In einem fort wird er per Hupe oder Lichthupe darauf aufmerksam gemacht. Sofort rechts ran, raus aus dem fließenden Verkehr, verschrotten! Interessiert ihn aber nicht, eisern fährt er weiter. Jetzt sogar extra noch langsamer, Tempo 85. Sie sind bereits seit sechseinhalb Stunden auf der A7 unterwegs und erst auf Höhe Fulda. Ihr ist schlecht, eine brodelnde, sich über Stunden hebende und senkende Übelkeit. Sie kann seinen moschusartigen, zwiebeligen Schweißgeruch nicht mehr ertragen und das ewige Gerülpse. Immer wenn er aufstößt, riecht es nach verdorbener Hühnersuppe.

Sie hat keinen Führerschein, sonst würde sie bei einem Fahrerwechsel das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrücken und die verfickte Kackschüssel zum Glühen bringen, auf 170, 180, 190, was der Vierzylinder gerade noch hergibt, Volllast, bis die Reifen platzen, die Scheiben bersten, der Motor explodiert, Wagen und Insassen in hellen Flammen aufgehen. Das wäre ein schönes Ende.

Eine Druckwelle steigt in ihr auf und zieht durch den Oberkörper, kalt aufzuckende Angst, ihr Brustkorb wird hart und eng, ihr wird schwarz vor Augen, die Finger fieberheiß mit eiskalten Spitzen, Hände und Beine zittern.

Ihr Zerreißpunkt ist erreicht, genau jetzt. Sie muss dem hier, dem sinnlosen, schrecklichen gemeinsamen Leben, ein Ende setzen. Mit beiden Händen greift sie ins Steuer und reißt den Wagen nach links vor einen Laster, der gerade zum Überholen ansetzt. Sie will, dass ihr Wagen von dem Dreißigtonner überrollt, zermalmt, auf die Größe eines Schuhkartons zusammengequetscht wird. Mit aller Kraft umklammert sie das Lenkrad.

Mike, der ein paar Sekundenbruchteile braucht, um zu begreifen, was sie vorhat, haut ihr seine Faust mehrmals mit voller Wucht ins Gesicht. Marion muss loslassen, er bringt das Fahrzeug im letzten Moment zurück in die Spur. Sie blutet, wimmert und winselt wie ein sterbender Hund.

 

Der Regen hat aufgehört, die Sonne knallt auf die nasse Fahrbahn und glitzert in den Tropfen, die auf der Frontscheibe zittern. Mike fährt weiter, als sei nichts gewesen. Er reduziert das Tempo schrittweise bis auf 60. Das wird sie ihm büßen, lange, sehr lange, bis ans Ende aller Tage, ans Ende aller Zeit. Die kann sich gar nicht vorstellen, wie langsam er fahren wird, sie werden nie ankommen, weder in Südtirol noch sonst wo. Sie fahren und fahren und fahren, und durch ein Loch im Universum sickert jetzt die Dunkelheit wie flüssiger Teer.

Über den Wolken

Ende März, Frühmorgens um sechs. In Sichtweite der Autobahn A13 Berlin–Dresden, kurz vor der Ausfahrt Bronkow, steht eine einzelne 3-Megawatt-Onshore-Windkraftanlage, die weit in den Himmel ragt.

An eines der drei kreisenden Rotorblätter ist ein Mann gebunden, was ein bisschen aussieht wie Jesus am Kreuz. Der Mann ist vollkommen durchnässt, die Kleidung hängt ihm in Fetzen herunter, die Knöchel sind blau, an einigen Stellen schwarz, wer weiß, wie lange der da schon hängt. Sein Gesicht, von der Kälte aufgedunsen, rot wie eine Rübe, sieht aus wie das einer staunenden Puppe. Tot, der muss doch tot sein, das hält doch keiner lange aus. Wahrscheinlich fällt man bereits nach wenigen Umdrehungen in Ohnmacht, aus der man nicht wieder erwacht.

Doch der Mann ist nicht tot, immer wieder öffnet er kurz die Augen. Er kann nicht begreifen, was hier vor sich geht. Der Wind ist wie eine Mauer aus Eis. In der Nacht musste er sich immer wieder übergeben, bis nur noch eine schleimige, grünliche Flüssigkeit kam. Sein Kopf droht zu platzen, alles besteht aus flackernden Spiralen, grellen Lichtpunkten, wie Eisenspäne, die sich nach dem Magneten hin richten. Stundenlang hat er geschrien, gehofft, dass ein Autofahrer, ein Landwirt, ein Spaziergänger ihn hört. Nun kann er nur noch krächzen, seine Stimme klingt wie ein zersprungenes Instrument, eine Stimme nach dem zweiten Stimmbruch, ein Wunder, dass da überhaupt noch was rauskommt. Erbarmungslos dreht sich das Rotorblatt mit fünfzehn Umdrehungen pro Minute.

 

Wie haben die Täter (es müssen mehrere gewesen sein) ihn dort bloß hochgeschafft? Ob die sich irgendwo in der Nähe an dem schauerlichen Bild ergötzen? Oder sind sie längst über alle Berge? Wer macht so was? Drogenberauschte Jugendliche, Sadisten, Verrückte?

Es muss etwas anderes sein. Die Täter haben das doch extra so in Szene gesetzt, dass es aussieht wie die Kreuzigung. Eine echte Hölle ist das, wahrlich eine Strafe biblischen Ausmaßes. Was hat der Arme nur verbrochen, dass er so büßen muss?

 

Gegen 8.30 setzt dünner Schneefall ein, mit vereinzelten Flocken, die durch das Licht treiben und dann unsichtbar davonschweben. Seine Körpertemperatur beträgt nur mehr 28 Grad, das hält er nicht mehr lange durch. Noch einmal macht er die Augen auf, sein Blick wird weiß. «Dass ich auch immer in solch missliche Lagen geraten muss», denkt er noch und hat schon wieder vergessen, warum er hier hängt.

Borstelgrilleck

Im Borstelgrilleck angefangen hatte Anja mit Mitte zwanzig, kurz nach ihrer Scheidung, nach jahrelangem, zähem Kampf. Sie und Marcel hatten sich seit dem Sandkasten gekannt und geheiratet, sobald sie volljährig war. Doch nach fünf Jahren war die Ehe am Ende, es war wohl einfach zu früh gewesen. Ob es anders gelaufen wäre, wenn sich ihr Kinderwunsch erfüllt hätte? Darüber denkt sie oft nach.

Einen anderen hatte es nicht gegeben, sie war Marcel die ganzen Jahre treu gewesen. Dabei hatte es an Angeboten weiß Gott nicht gemangelt, so, wie sie aussah. Pin-up-Girl, hübsches Mädchen von nebenan/von Seite eins, Bauernkalenderschönheit, die eine oder andere Miss-Wahl hätte sie wohl gewonnen, wenn sie denn teilgenommen hätte. Es wollten wirklich alle mit ihr ins Bett, kein Mann, der es nicht wenigstens versucht hätte. Sie war so jung. Das Wichtigste an ihr.

Als es dann endlich überstanden war mit Marcel (nach einer Stalking-Phase direkt im Anschluss an die Trennung, in der er sie so schlimm terrorisierte, dass sie das Schlimmste befürchten musste, hatte er sich zum Glück neu verliebt und von ihr abgelassen), hätte sie die freie Auswahl gehabt. Sie hätte sich austoben, das Versäumte nachholen oder sich eine gute Partie angeln können. Aber das wollte sie auf keinen Fall: sich gleich wieder in die Abhängigkeit zu einem Mann begeben. Also zurück in ihren alten Beruf als Bäckerin, lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, und dann in aller Ruhe weitersehen. Doch schon nach ein paar Tagen bekam sie allergisches Asthma. Eine Mehlstaubunverträglichkeit, wie sich herausstellen sollte, die hatte sich unbemerkt entwickelt oder so, kann man nix machen. Und nun? Ihre Eltern unterstützen sie, gerne, natürlich, sie bezieht ihr altes Zimmer, ist ja nicht für lange.

 

Montag zieht sie ein. Donnerstag besucht sie zum ersten Mal das 200 Meter entfernte Borstelgrilleck, das vor knapp zwei Jahren in den Räumlichkeiten der «Schlachterei Bruhn» eröffnet hat. Seit Ewigkeiten hat sie kein Schaschlik mit Pommes oder Wurst mit Pommes oder Grillhähnchen mit Pommes oder Salat mit extra viel Ascorbinsäure gegessen, da hätte sie mal wieder richtig Lust drauf. Sie kommt gleich mit dem Chef ins Gespräch, klagt ihr Leid mit der Allergie, und der weiß prompt die Lösung: Den dummen Wassilij, die Aushilfe aus Weißrussland, hat er gerade rausschmeißen müssen, unzuverlässig, faul, frech, Russe eben. Wie wär’s, wenn du, darf ich du sagen? – Ja klar! – hier anfängst? Vielleicht keine schlechte Idee, denkt sie, die Arbeitszeiten sind zwar doof, dafür ist der Stundenlohn ganz okay, und für lau essen kann sie auch. Wär ja sowieso nur für den Übergang, alt werde ich hier nicht. Also schlägt sie ein, high five.

So eine wie sie im Borstelgrilleck, das ist eine kleine Sensation, da weiß man gar nicht, wo man zuerst hingucken soll. Schon gehört, da arbeitet jetzt diese Sexbombe im Borstel, die Blonde in den engen Jeans, den engen Blusen, mit der schmalen Taille, Brüste, Hintern, Mund, alles, die reine Versuchung, der dralle Braten, ja leck mich am Arsch. Umsatzsteigernd, imagesteigernd, der Laden läuft gut wie nie.

 

Aus ein paar Wochen werden Monate, ein Jahr, zwei, drei. Irgendwie schafft sie den Absprung nicht. Wenn man sie fragt, sagt sie, dass sie so bald wie möglich aufhören möchte, dafür sei sie nicht gemacht. Wofür sie gemacht ist, scheint sie allerdings auch nicht so genau zu wissen.

 

Anja sieht nach vier Jahren zwar immer noch gut aus, zwei, vielleicht zwei minus, aber den lieben langen Tag im Pommesmief, Schaschlikmief, Wurstmief, Frikadellenmief, das ohrenbetäubend laute Gezischel des siedenden Fetts, die Luft gesättigt mit Sorbinsäure, Benzoesäure, Milchsäure, Geschmacksverstärkern, Natriumnitrit, Farb-, Antioxidations- und Konservierungsmitteln, das Frittierfett, das die Poren verstopft, die Nachstellungen des Chefs, die anzüglichen Sprüche der Kunden, die ungünstigen Arbeitszeiten, die Kälte in den immer schwerer werdenden Beinen, das tiefgefrorene Grillgut, das sie allein aus dem Keller wuchten muss, ihr fehlen Sonne, Luft, Natur, Land und Leute. Der Laden oder sie, so viel ist bald klar, darauf läuft es hinaus.

 

Doch das Borstelgrilleck erweist sich auf längere, auf lange Sicht als unbezwingbarer Gegner. Er wirkt auf sie wie Gift, schwach dosiert zwar, aber dafür in regelmäßigen Gaben. Nach fünf, sechs Jahren sieht sie gar nicht mehr so geil aus. Der Chef verliert das sexuelle Interesse an ihr, das findet sie an sich prima, aber dafür ist es um die Kundenzufriedenheit bald nicht mehr gut bestellt. Sie macht immer häufiger Fehler, die Pommes sind versalzen oder nicht salzig genug, das Schnitzel oder Hähnchen ist nicht durch, der Salat vergoren, Majonäse ranzig, irgendwas ist immer. Sie vergisst Bestellungen oder bringt sie durcheinander, verrechnet sich, lässt dauernd was fallen; zu oft die immer gleichen Handgriffe, Kopf und Körper kommen ganz durch den Tüddel. An manchen Tagen wollen ihre Beine nicht aufhören zu zittern, selbst dann nicht, wenn sie die Hände auf die Schenkel presst. Solange sie noch jung und schön war, hat man ihr das durchgehen lassen, jetzt nicht mehr.

Dem Chef kann das harte Imbissleben anscheinend nichts anhaben. Er ist sechzig, aber immer noch voll da. Wie Skilehrer oder Bergführer oder Fitnesstrainer oder Senioren-Bodybuilder, gesund, kernig, bombig drauf, dem Leben zugewandt. Wie macht der das bloß?

Dann kommt der auf die bauernschlaue Idee, die Putzfrau einzusparen. Anja macht das bestimmt auch noch mit, denn sie ist, wie es scheint, hier endgültig hängengeblieben, eine Wahl hat sie wohl nicht. Nach Geschäftsschluss um zehn muss sie also auch noch den Laden picobello auf Vordermann bringen; sie ist jetzt die Erste, die kommt, und die Letzte, die geht. Der Chef lehnt sich zurück, aber er kann es sich ja erlauben, zu kommen und zu gehen, wann es ihm passt. Dafür trägt er schließlich die Verantwortung, er muss sich um den Einkauf, die Buchhaltung kümmern, strategische, taktische, alle möglichen Entscheidungen treffen, usw. In der freien Wirtschaft, klärt er Anja auf, zählen Ideen. Wenn ihr das hier nicht passt, soll sie doch ihr eigenes Grilleck aufmachen, Deutschland ist schließlich ein freies Land. Viel Spaß, viel Glück und alles Gute schon mal. Seine sanft raunende Stimme ist schleimig, im wahrsten Sinne des Wortes. Darauf fällt ihr nichts ein, was soll sie da schon sagen. Also tut und macht und schuftet sie sich dumm und dümmer und krumm und krümmer, elf, zwölf Stunden täglich, sechs Tage die Woche.

 

Und wie sie mittlerweile aussieht! Dauernd lösen sich ihre Haare und hängen im heißen Fett, das Gesicht ist schrundig, faltig, seltsam starr, dreifach gestaffelte Tränensäcke, Haut gedunsen und rotfleckig, Wasser in den Beinen, Figur ruiniert vom Imbissfraß. Ihr Anblick ist den Kunden auf Dauer nicht zuzumuten, entscheidet der Chef, die muss weg vom Verkauf, vom Tresen, hinter die Frontlinie. Also wird sie verbannt, versetzt, zu Grill und Fritteuse, mit dem Rücken zur Kundschaft Pommes braten, Würste braten, Frikadellen, Schaschlik, Jäger- und Paprikaschnitzel, Hähnchen drehen. In ihrer Ecke herrschen mörderische Temperaturen, 40, 50, 60 Grad, vielleicht mehr. Als sie sich einmal umdreht, dem Chef die fertigen Portionen zu reichen, bekommt der einen Schrecken. Mein Gott, die sieht ja noch mal anders aus: rote, zitternde Nasenlöcher, verhedderte Augenbrauen, Wimpern, zwischen denen winzige Tuscheklümpchen haften. Ein dickes schmutziges Pflaster um die Daumen, blauschwarz aufgewölbter Nagel. Schlimm sieht das aus! Eklig. Wenn sich der Chef, der ihren Anblick ja gewohnt ist, schon erschrickt, wie soll es dann den Kunden gehen?

Auch hinten ist sie nicht mehr tragbar, die Leute können sie ja sehen. Jetzt ist guter Rat teuer. Entlassen will der Chef sie aber auch nicht. Die treue Seele, hat sich nun schon fast zwanzig Jahre aufgeopfert, aufgerieben, die kann er nicht rausschmeißen wie seinerzeit Wassilij oder die anderen Taugenichtse, trotz Chefsein ist er Mensch geblieben, harte Schale, weicher Kern. Aber er muss auch – und dann doch in erster Linie – ans Geschäft denken. Unten, der Keller, das wäre eine Lösung, das könnte man als letzte Chance mal probieren. Vorbereiten könnte sie alles: den hausgemachten Kartoffelsalat, Dressing anrühren, Ware stapeln, verschieben, kühlen, haltbar machen, Frikadellen und Schnitzel für den Ansturm am nächsten Tag anbraten, vorbraten, nach Ladenschluss sauber machen ja sowieso, danach, nachts, Ware in der Auslage mit Petersilienstengeln und Tomatenachteln appetitlich anrichten.

 

Ihre Eltern, beide schwerkrank, müssen ins Pflegeheim. Jetzt lebt sie ganz alleine in der großen, renovierungsbedürftigen Wohnung. Sie weiß, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, sie beobachtet jeden Tag im Spiegel, wie ihr Körper, nachdem er zunächst dicker und breiter wurde, nun den umgekehrten Weg nimmt und allmählich verschrumpelt. Wie ein Regenwurm, der beim Überqueren der glühend heißen Straße vertrocknet. Sie mag auch kaum noch was trinken, auf der Arbeit nimmt sie aus ihrer kleinen Mineralwasserflasche während der Schicht nur ein paar Schlucke. Trocken, trocken wie ein Schmetterlingsflügel, knochentrocken auch zwischen den Beinen, das früher so dichte Haar brüchig wie getrocknetes Gras und fein wie Spinnweben.

Wie lange hat sie mit niemandem mehr gesprochen? Drei Wochen, vier Wochen? Und, vermisst sie was? Nein. Ihr Mitteilungsbedürfnis ist gleich null. Auch benötigt sie weder Zuspruch noch Bestätigung. Schmerzfreie Schicksalsgleichgültigkeit.

 

Das Modell oben/unten bewährt sich. Der Chef ist zufrieden, mit allem, zufrieden mit ihr, die er allerdings schon lange nicht mehr gesehen hat. Außer ihren gummibehandschuhten, verkrüppelten Händen, wenn sie etwas heraufreicht, zusammen mit einer Wolke schwach urinösen Geruches.

Nur vor ihrer Stimme fürchtet er sich, dem heiseren Flüstern, das da manchmal von unten kommt.

Andersrum

Als er Mitte Oktober den Prozess zum ersten Mal wahrnahm, hielt er ihn für eine optische oder sonstige Täuschung; zu unwahrscheinlich war, was er da sah. Na ja, erst nur eine kleine, kaum sichtbare Veränderung, die keiner Beachtung wert schien. Genauer gesagt bemühte er sich, ihr keine Beachtung zu schenken. Guckt man nicht hin, verschwindet es von alleine wieder, so wie in der Kindheit ein schlimmer Traum, der aus dem Blut gelöscht wird, sobald man die Augen aufschlägt.

Ruhig, ruhig, denkt er, erst mal ’ne Nacht drüber schlafen, am nächsten Morgen ist sicher wieder alles an seinem Platz. Er betrinkt sich und pennt auf dem Sofa ein. Als er um die Mittagszeit mit einem mörderischen Kater erwacht, kann er erst mal an gar nichts denken. Nachmittags überfällt ihn siedend heiß die Erinnerung. Irgendwie fühlt es sich auch seltsam an. Keine Schmerzen, nur ein kleines, wanderndes Ziehen, wie bei einem Muskelkater. Oder was? Er traut sich nicht nachzuschauen. Er weiß auch nicht, ob er fühlt, was er fühlt, oder ob er es nur zu fühlen meint. Er verfällt in einen unangenehmen Dämmerzustand, seine Gedanken beginnen sich zu verwirren. Sie rasen im Kreis wie Hunde, die einer Hasenattrappe hinterherhetzen. Er wälzt sich hin und her, in allen erdenklichen Haltungen der Angst, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung. Fest steht jedenfalls, dass da etwas Beunruhigendes vor sich geht. Plötzlich wird ihm schlecht, er stürzt ins Bad und übergibt sich. Dann legt er sich ins Bett, schließt die Vorhänge und zieht das Deckbett über beide Ohren. Hat er ewig nicht mehr gemacht. Als die Dunkelheit über ihm zusammenschnappt, gerät er in Panik, er tritt die Decke weg und bleibt bewegungslos auf dem Rücken liegen, die Augen starr an die Decke gerichtet. Gegen Mitternacht erlöst ihn endlich der Schlaf.

 

Am nächsten Morgen hält er es nicht mehr aus. Er stellt sich im Badezimmer nackt vor den großen Spiegel. Sicher fünf Minuten begutachtet er sich gründlich, von allen Seiten. Entsetzlich. Um etwa zwei Zentimeter, schätzt er, ist es vorangeschritten. Kein Zweifel möglich. Ein Albtraum. Er ruft in der Firma an und meldet sich krank, trinkt durcheinander Rotwein, Sekt, Schnaps, schaut fern, Anrufe und Nachrichten ignoriert er. Kurz vor acht Uhr abends verlässt er im Schutz der Dunkelheit die Wohnung, um einzukaufen, genug für zwei oder drei Wochen.

Um den fünften Tag herum verschwindet das Ziehen. Vielleicht, hofft er, hat sich das verlangsamt, ist zum Stillstand gekommen, hat sich gar umgekehrt, und in einer Woche ist alles wieder beim Alten. Wieder zieht er sich nackt aus und stellt sich vor den Spiegel, was er in der Zwischenzeit vermieden hat. Von wegen gestoppt! Es sind jetzt sicher sieben oder acht Zentimeter. Ein Ende ist nicht in Sicht. Nichts ist in Sicht. Etwas Grundsätzliches ist verschwunden, das Leben fällt auseinander.

 

Seine Recherchen ergeben, dass es offenbar keinen einzigen anderen Fall gibt, der seinem auch nur ähnelt. Zumindest ist keiner dokumentiert. Er googelt Arzt, gentechnische Veränderungen, Erbschädigungen, Mutationen und bekommt noch am gleichen Tag einen Termin bei dem als Koryphäe auf seinem Gebiet anerkannten Dr.v.L. Doch noch im Wartezimmer verlässt ihn der Mut; er weiß, dass ihm kein Arzt der Welt helfen kann. Als sein Name aufgerufen wird, hat er schon das Weite gesucht.

Wie soll die Diagnose lauten von etwas, das es (noch) nicht gibt? Seltene Syndrome werden in der Regel nach ihrem Entdecker benannt: Gaucher-Syndrom. Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom. Morbus Recklinghausen. Er würde darauf bestehen, dass es in diesem Fall nach dem Leidtragenden benannt wird. Das Pohl-Syndrom (er heißt Rainer-Peter Pohl). Wäre ja noch schöner, wenn der Arzt die Lorbeeren einheimst.

 

Schicksalsergeben wartet er, bis der Vorgang (er nennt es jetzt Vorgang) abgeschlossen ist. Er weiß genau, wie und wo es enden wird. Die Fenster seines Schlafzimmers lässt er nachts offen, das gleichbleibende, dumpfe Rauschen des Verkehrs übt eine außerordentlich beruhigende Wirkung auf ihn aus. Wie lange hat er eigentlich mit niemandem mehr ein Wort gewechselt? Es kommt ihm vor, als habe er noch niemals mit einem anderen Menschen gesprochen. Er fühlt sich wie ein Toter, einer, der schon als Leichnam zur Welt gekommen ist. Er verflüchtigt sich und verliert seine Konturen. Auch seine Vergangenheit verflüchtigt sich und verliert ihre Konturen. Nach drei Monaten ist es so weit.

Rainer-Peter Pohl ist nun der einzige Mensch, bei dem der Arsch vorn und der Schwanz hinten ist.

 

Er arbeitet wieder beim KFZ Gutachter und Sachverständigen Büro Hamburg. Den Schwanz bindet er ab, und seinen Hintern könnte man auch für einen besonders tief sitzenden Bauch halten. Er hat sich ziemlich schnell dran gewöhnt, dass auf der Toilette alles umgekehrt ist. Gelegentlich, sehr selten, befriedigt er sich, das ist ziemlich anstrengend. Natürlich hat er sich mit dem Gedanken getragen, an die Öffentlichkeit zu gehen, den Fall publik zu machen, er wäre ein gemachter Mann; aber den Rummel und die Aufmerksamkeit würde er nicht ertragen.

Als KFZ-Sachverständiger trägt er schon von Berufs wegen weite Sachverständigenkittel, was von Vorteil ist, die Tarnung