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Thomas Mann unternimmt hier den Versuch, die Faszination und die Wirkung des Theaters als einem symbolischen Ort zu ergründen, der für ihn in klarer Abgrenzung zur Gattung des Dramas steht. Obwohl der Essay ein halbes Jahr zuvor als eigenständige Publikation erschienen war, veröffentlichte Mann ihn Anfang des Jahres 1908 erneut, nun im Rahmen des Gesamtessays ›Versuch über das Theater‹ als dessen V. Kapitel. Dem Text kommt dennoch eine Selbständigkeit zu, die sich nicht nur in der späteren erneuten Einzelpublikation, sondern auch in inhaltlichen Redundanzen und Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit dem vollständigen Essay begründet.
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Seitenzahl: 14
Thomas Mann
Das Theater als Tempel
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Uns Deutschen ist eine Ehrfurcht vor dem Theater eingeboren und anerzogen, wie keine andere Nation sie kennt. Was dem übrigen Europa eine gesellige Zerstreuung ist, gilt uns zum mindesten ein Bildungsfaktor. Noch neulich hat der deutsche Kaiser gegen eine französische Schauspielerin geäußert: Wie die Universität die Fortsetzung des Gymnasiums sei, so sei uns die Fortsetzung der Universität das Theater. Das ist, wie gesagt, das Mindestmaß von Respekt. Nur bei uns konnte eine Schrift wie »Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet« ans Licht treten. Nur bei uns konnte »Bayreuth« konzipiert und verwirklicht werden. Daß das Theater als Tempel möglich sei, ist ein nicht zu entkräftender deutscher Glaube, und dieses tiefernste theatralische Ideal ist vielleicht schuld daran, daß die deutsche Bühne so arm an heiteren Meisterwerken geblieben ist. Selbst für den aber, der die künstlerische Hegemonie des Theaters aus guten Gründen bekämpft, wird jene Möglichkeit immer ein Problem von großem Reiz bedeuten.
Als der tragische Chor im Tanz um den Altar der Thymele schritt, da war das Theater ein Tempel. Und in Bayreuth hat es nach Jahrtausenden zum zweitenmal – wenigstens die Miene eines Nationalaktes und künstlerischen Gottesdienstes angenommen: wobei der Verdacht, daß dieses Bayreuth doch schließlich nur der Ausdruck höchsten Künstlerehrgeizes und nicht ein Nationalausdruck sei, freilich nicht ganz zu unterdrücken ist. Auf jeden Fall ist es dem hieratischen Genie Richard Wagners gelungen, ein Theater, ein bestimmtes, sein