Das tödliche Artefakt - Joachim Stahl - E-Book

Das tödliche Artefakt E-Book

Joachim Stahl

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Beschreibung

Man schreibt das Jahr 3169. Seit den verhängnisvollen Kriegen gegen die Frogs sind über hundert Jahre vergangen. Die erschöpfte Erde wurde von den Menschen weitgehend verlassen und fristet nur noch ein Schattendasein. In dem Machtvakuum ist eine Vielzahl neuer Reiche entstanden. Eines davon ist die Sternenlicht Vereinigung, in der sich zwölf von Menschen besiedelte Planetensysteme verbündet haben. Sie sehen sich in der politischen und kulturellen Nachfolge der Menschheit vor dem Erscheinen der Frogs, die plötzlich und geheimnisvoll auf der kosmischen Bildfläche erschienen und wieder verschwanden. Eine neue Phase der Expansion hat begonnen. Große Expeditionsschiffe stoßen in unerforschte Regionen der Galaxis vor. Eines davon ist die von Generalin Pamina Neyd befehligte GIORDANO BRUNO. Nachdem das Wrack einer unbekannten Rasse auf einem Eisplaneten entdeckt worden ist, erhalten die vier Erkundungskreuzern der ORION-Klasse den Auftrag, die Herkunftswelt des Schiffes zu finden. Die Besatzung des Raumkreuzers GB-I unter dem Kommando von Oberstleutnant Taunsend fliegt bei dieser Suche ein System an, in dem eine tödliche Gefahr für die gesamte Sternenlicht Vereinigung lauert.

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Seitenzahl: 262

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Joachim Stahl

Sternenlicht 16

Das tödliche Artefakt

Saphir im Stahl

Sternenlicht 16

Joachim Stahl - Das tödliche Artefakt

e-book Nr: 147

Erste Auflage 01.05.2023

© Saphir im Stahl

Verlag Erik Schreiber

An der Laut 14

64404 Bickenbach

www.saphir-im-stahl.de

Titelbild: Thomas Budach

Lektorat: Verlag Saphir im Stahl

Vertrieb: neobooks

Joachim Stahl

Sternenlicht 16

Das tödliche Artefakt

Saphir im Stahl

Prolog

Troilus umklammerte Cressidas linke Hand. „Was ist das nur? Wer hat das gebaut?“ Seine Stimme, sonst voller Selbstvertrauen, klang leiser als gewohnt, als fürchtete er, belauscht zu werden. Dabei waren sie die einzigen Menschen weit und breit. Die Häuser der großen Stadt hinter ihnen waren nur noch von Tieren bewohnt.

Etwa dreihundert Meter vor ihnen ragten aus dem steinigen Boden zwei dreifach gegliederte dunkle Metallstreben etwa fünfzig Meter gen Himmel. In der Mitte vereinigten sie sich, darüber führten zwei ebenfalls dreifach gegliederte antennenähnliche Streben mit weißleuchtenden Spitzen weitere 15 Meter empor. Zwei rote Symbole unbekannter Bedeutung leuchteten stetig an der Verbindungsstelle der Streben.

Cressida blickte zu Troilus auf. Er war fast einen Kopf größer als sie. Sein dunkles, welliges Haar wehte im warmen Wind. Er wirkte auf einmal nicht mehr wie der Sohn einer altehrwürdigen, wenngleich inzwischen recht verarmten corydalischen Adelsfamilie, sondern wie ein staunendes Kind. Ein Gefühl tiefer Zuneigung und Dankbarkeit durchströmte Cressidas Herz. Sie musste kichern. „Troi, du siehst gerade aus wie ein kleiner Junge, der auf die Bescherung durch den Erntebock wartet!“

Troilus wandte ihr das Gesicht mit der scharfgeschnittenen Nase zu und runzelte die Stirn. „Lachst du mich etwa aus? Ist das der Dank dafür, dass ich dir die Wunder des Weltalls zeige? Undankbares Luder!“ Er grinste spitzbübisch. „Du hast mir doch immer die Ohren vollgejammert, wie langweilig das Leben daheim ist. Und was bekomme ich als Dank dafür, dass ich dir den aufregendsten Ausflug deines Lebens ermöglicht habe? Hohn und Spott!“

Cressida boxte ihn spielerisch gegen die Rippen. „Sei du gefälligst lieber froh, dass ich dein Kindermädchen spiele! Ohne mich würdest du dich im All doch komplett verfliegen.“ Dann wurde sie ernst. „Komm, gehen wir näher ran. Ich will das Ding unbedingt berühren. Und vielleicht finden wir irgendwelche Hinweise auf die Erbauer.“

Troilus nickte, dann schritten die beiden jungen Entdecker über den steinigen Boden weiter auf das Artefakt zu. Diesmal war es Cressida, die Troilus’ Hand mit ihrer Linken umklammerte, als suchte sie Halt. Sie spürte ihr Herz heftig in der Kehle pochen.

Erst vor einigen Stunden waren sie im Tinged-System angekommen. Der Flug von ihrem Heimatplaneten Völz im Randgebiet der Corydalischen Föderation war exakt 157 Lichtjahre lang gewesen und hatte sieben Sprünge über die Einstein-Rosen-Brücke erfordert.

Eine Woche war es her, seit das junge Paar auf der Geburtstagsfeier einer gemeinsamen Freundin einem Mann begegnet war, der ihnen vom Tinged-System erzählt hatte und von den Spuren einer untergegangenen humanoiden Zivilisation, die dort auf dem zweiten Planeten zu finden wären. Die Koordinaten waren nur wenigen Abenteurern bekannt und wurden wie ein Geheimnis gehütet, hatte er behauptet. Er selbst sei vor etwa einem Jahr dort gewesen.

Um Cressidas Fernweh zu befriedigen, beschloss Troilus daraufhin spontan, den ersten Jahrestag ihrer Partnerschaft mit einer gemeinsamen Reise ins Tinged-System zu feiern. Cressida war von dem Vorschlag wie erwartet sogleich begeistert. Mit weiblichem Charme gelang es ihr, dem angetrunkenen Raumfahrer die Koordinaten des Ruinenplaneten zu entlocken. Am Tag nach dem Fest schwatzte Troilus dann seinen Eltern die bereits etwas betagte, aber noch voll flugtaugliche Raumjacht ab, die sich im Besitz der Familie befand und die meiste Zeit ungenutzt auf dem Raumhafen nahe der Stadt parkte.

Mit der Jacht hatten sie nach ihrer Ankunft den Ruinenplaneten umkreist und dabei zufällig dieses seltsame Artefakt entdeckt, das sich auf dem größten Kontinent der südlichen Hemisphäre am Rand einer weitläufigen Geisterstadt befand. Fünfhundert Meter jenseits des Stadtrands waren sie auf einer Ebene gelandet. Die Luft auf dem Planeten war problemlos atembar und sogar sauerstoffreicher als von Völz gewohnt, und so waren sie ohne Raumanzug ausgestiegen und zu Fuß in Richtung des Artefaktes gezogen.

Eines der zahlreichen Fluginsekten dieses Planeten hatte sich in Cressidas langem schwarzen Haar verfangen. Sie streifte es mit ihrer freien Rechten angeekelt weg. Insekten jedweder Art waren ihr zuwider und wurden von ihr grundsätzlich sofort getötet, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Troilus machte sich stets darüber lustig und nannte sie dann gerne Killerin.

„Cressi, das ist noch großartiger, als ich mir erträumt habe“, flüsterte Troilus, den Blick seiner braunen Augen gebannt auf das Artefakt vor ihnen gerichtet. „Und ich bin so froh, dass wir das zusammen erleben.“ Er lächelte sie zärtlich an.

„Ich auch, Troi. Und wem habe ich das zu verdanken? Nur dir! Bevor wir uns auf dieser sterbenslangweiligen Veranstaltung vorigen Herbst im Kultursaal kennen gelernt haben, hätte ich mir nie träumen lassen, auch nur jemals Völz verlassen zu können. Und nun so etwas! Es ist fast zu schön, um wahr zu sein, findest du nicht auch, Schatz?“

Troilus nickte mit einem seligen Gesichtsausdruck. Da erstarrte sein Blick plötzlich. Dampf stieg an der linken Kopfhälfte von seinem Haar auf. Sein Griff löste sich von Cressidas Hand und er sackte rücklings zu Boden, der Blick aus seinen geöffneten Augen leer und gebrochen.

Cressida sah ihn entsetzt an. „Troi? Was ist denn? Machst du Spaß? Hör auf damit! Bitte lass mich …“

Sie konnte den Satz nicht beenden. Ein zweiter Energiestrahl löschte auch ihr Leben aus.

I.

Die braunen Knopfaugen in Oberfähnrich Amadeus Buffons knabenhaftem Gesicht strahlten.

„Was grinst du denn wie Ben Nabuko beim Zählen seiner privaten Raumjachten?“ Leutnant Jon Entwissel, Astrogator des Raumkreuzers GB-I/DIANA, lehnte sich auf seinem Platz in der fast komplett gefüllten Messe des Expeditionsschiffes GIORDANO BRUNO zurück und wischte sich über den Mundwinkel, wo er noch einen Rest des soeben verzehrten tyrosischen Eintopfs zu spüren glaubte. Die tyrosische Küche galt wegen ihrer raffinierten Würzkunst bei vielen als die beste der Sternenlicht Vereinigung. Entwissel hingegen bevorzugte die schlichteren Gerichte seiner moranischen Heimat, bei denen die verschiedenen Zutaten noch eher ihren erdigen Eigengeschmack entfalten durften.

Der junge Kommunikationsspezialist reckte die dürre Brust unter der dunklen Borduniform. „Eben hat mir Major Rimski auf die Schulter geklopft und gemeint, wir von der DIANA seien wahre Helden.“

Leutnant Ronja Darlfrey, die auf der GB-I für die Ortung zuständig war, schmunzelte. „Wenn der Haudegen das sagt, wird es wohl stimmen.“

Buffons seliger Gesichtsausdruck erlosch wie ausgeknipst. „Findest du etwa, wir sind keine Helden, Ronja? Ich meine, ehrlich gesagt habe ich zu unserem Einsatz auf Kharak wirklich nicht viel beigetragen. Aber Jon hat uns immerhin aus dem Feuer von drei feindlichen Kampfkreuzern geflogen! Ich habe dir also mein Leben zu verdanken, Jon!“

Entwissel erhob sich und trat mit gemächlichen Schritten zum Ausgang der geräumigen Messe, in der fünf Reihen mit jeweils sechs Vierertischen standen. Die beiden anderen Besatzungsmitglieder der GB-I folgten ihm. „Dann danke mir doch bitte dadurch, indem du mich ohne tiefgründige Gespräche mein Essen verdauen lässt, Amadeus.“ Ronja kicherte, doch er bereute seine harschen Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Buffon war nun wieder sicherlich tief verletzt und verunsichert. Aber seine oftmals naive und unreife Art ging Entwissel umso stärker auf die Nerven, desto länger ihr gemeinsamer Einsatz dauerte. Erschwerend hinzu kam, dass Buffon in Stresssituationen zu unfreiwilligen Kalauern neigte und zu allem Überfluss abstruse Verschwörungstheorien verbreitete. Ein paar Tage war das mit viel gutem Willen zu ertragen, doch seit ihrem Abflug von Moran waren inzwischen bereits mehrere Wochen vergangen.

Wehmütig dachte Entwissel an die Heimat, in der seine jüngere Schwester Mari vielleicht immer noch um das Leben ihrer Mutter Olivia bangte. Er hatte seit seinem Abflug von ihnen keine Nachrichten mehr erhalten. Olivia Sharaif, geschiedene Entwissel, hatte einen Schlaganfall erlitten und lag seitdem im Koma. Ihr ehemaliger Ehepartner, Vater der beiden gemeinsamen Kinder Jon und Mari, hatte sich schon vor über zehn Jahren von ihr getrennt und war seitdem irgendwo in der Sternenlicht Vereinigung verschollen. Anscheinend suchte er dort seine wahre Bestimmung.

Darlfrey wandte sich an Buffon, der sichtlich geknickt einen Schritt hinter ihr und Entwissel über den grauen Korridor zum Lift ging. „Wie würdest du den Begriff Held definieren, Amadeus?“

Buffon blickte seine ältere Kameradin überrascht an. „Held? Na, das ist jemand, der eine Heldentat vollbringt.“ Er runzelte die Stirn. „Tut mir leid, das ist eine krumme Klebreaktion.“

„Du meinst vermutlich, eine dumme Definition“, korrigierte ihn Entwissel. „Wenn du dir das Kalauern nicht endlich abgewöhnst, schmeiße ich dich eines Tages eigenhändig im All von Bord, das schwöre ich dir.“

Buffon blinzelte irritiert.

Darlfrey legte dem Oberfähnrich die Hand auf die schmale Schulter. „Du weißt natürlich, dass Jon das nicht wörtlich meint“, glaubte sie ihn mütterlich beruhigen zu müssen. „Das ist eben der raue Raumfahrerhumor. Wir sind nun mal keine sanftmütigen Teetrinker, die sich im Duft von Räucherkerzen über ihre seelischen Befindlichkeiten austauschen.“

Entwissel verzog das bärtige Gesicht zu einer gequälten Grimasse und versuchte, das von Darlfrey mit Worten gemalte Schreckensbild umgehend aus seinem Kopf zu verbannen. „Eben. Und nun beantworte mal Ronjas Frage. Es würde mich ehrlich interessieren, was du dazu zu murmeln hast.“

Buffon schien in sich hineinzulauschen. „Nun ja, ein Held, das ist jemand, der seine Angst überwindet und sich in tödliche Gefahr begibt, um das Leben anderer zu retten. Und genau das haben wir im Kharak-System getan, findet ihr nicht?“

„Mag sein“, brummte Entwissel. „Aber ich für meinen Teil habe nur einen Einsatzbefehl befolgt, weil mir als Mitglied der moranischen Raumflotte keine andere Wahl blieb.“

„Also ein Held wider Willen“, kommentierte Darlfrey. „Was gibt es Ehrenwerteres?“ Sie schob den zögerlichen Buffon vor sich in den Lift, der sie zum Deck mit der Landekammer I bringen würde.

Bei allen Göttern, Toni, wie siehst du denn aus?“ Oberstleutnant Petrus Taunsend starrte entsetzt die junge Armierungsspezialistin Toni Pinbol an, die mit schweren Schritten durch die Landekammer zu dem von Taunsend befehligten Raumkreuzer GB-I schlurfte. Ihr rechtes Auge war fast zugeschwollen, eine blutige Strieme lief über ihre Schläfe.

„Ich war nur ein bisschen trainieren“, flüsterte sie mit ihrer hellen Stimme und schob sich an Taunsend vorbei in den Zentrallift der DIANA. Ohne sich zu ihrem Kommandanten nochmals umzudrehen, betätigte sie die Sensoren. Die Tür schloss sich hinter ihr mit einem schmatzenden Geräusch.

Taunsend schüttelte den Kopf.

Leutnant Kio Mun, der neben ihm stand und die durch Roboter ausgeführten Wartungsarbeiten am Kreuzer überwachte, räusperte sich.

Taunsend blickte den Bordingenieur entnervt an. „Was ist? Willst du mir zu verstehen geben, dass ich mich besser um Toni kümmern sollte? Keine Sorge, das weiß ich schon selbst.“

Muns breites Gesicht verzog sich zu einem gutmütigen Lächeln. „Nun sei mal nicht so empfindlich wie ein tyrosischer Balletttänzer. Ich hatte nur eine kratzige Kehle, da brauchst du keine Vorwürfe hineinzuinterpretieren. Und was ist schon dabei, dass Toni hart trainiert? Als ich noch so jung wie sie war, habe ich mich auch brutal geschunden, um in möglichst guter Form zu sein. Wenn man mich heute so ansieht, wird man es kaum glauben, aber ich war mal richtig muskulös! Ist allerdings schon ein Weilchen her, wie ich zugeben muss.“

Taunsend schnaubte. „Man kann auch hart trainieren, ohne sich dabei zu verletzen. Seit unserem Einsatz auf Kharak scheint sich Toni selbst bestrafen zu wollen. Ich habe schon mehrmals versucht, darüber mit ihr zu reden, aber sie streitet das immer ab und behauptet, ihr Training hätte damit nichts zu tun.“

Mun zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es auch wirklich so, wer weiß? Die Kleine ist nun mal sehr introvertiert. Aber die paar Schrammen werden ihr schon nicht schaden. Du kennst doch unseren alten Leitspruch: Gelobt sei, was hart macht!“

„Ja, und was uns nicht umbringt, macht uns stärker“, murmelte Taunsend. Doch im Gegensatz zu Mun, der während ihres letzten Einsatzes in der Baronie von Caltha Palustris nur mit den Schiffsaggregaten beschäftigt gewesen war, hatte Taunsend sich die Hände ebenso schmutzig gemacht wie Pinbol. Er hatte den Befehl erteilt, das dortige Drogenlabor gemäß ihrer Alphaorder zu vernichten, Pinbol als Armierungsoffizierin hatte ihn ausgeführt und die Rakete abfeuert. Doch nicht nur das Einsatzziel war dabei zerstört worden, sondern auch das große Krankenhaus über dem Untergeschoss mit dem Drogenlabor. Etliche tausend unbeteiligte Zivilisten mussten dabei ums Leben gekommen sein.

Fast jede Nacht hatte Taunsend Albträume von diesem Einsatz. Oftmals glaubte er in diesen Träumen, dass sich in der Geburtsabteilung der Klinik auch seine Frau Karin mit ihrer soeben zur Welt gekommenen Tochter Emma befunden hätten. Er hatte Pinbol einmal unter vier Augen davon erzählt, doch sie hatte nur wehmütig gelächelt und erwidert, dass es ja zum Glück nur Träume seien und nicht die Wirklichkeit.

Was mochte Toni träumen? Sie sprach nie darüber. Dass sie sehr sensibel war, hatte sich bei ihren vorigen Einsätzen bereits gezeigt. Sie war eine hochbegabte Armierungsoffizierin, doch einmal hatte sie Taunsend gestanden, dass sie sich für die Forschungsflotte entschieden hatte, weil sie geglaubt hatte, dort im Gegensatz zur Kampfflotte nicht auf Menschen schießen zu müssen. Ihre Hoffnungen waren jedoch brutal zerstört worden.

„So, alles erledigt“, unterbrach Muns muntere Stimme Taunsends Gedanken. „Gehen wir auch an Bord, Petrus. Vielleicht tut dir ein Entspannungstee in unserer gemütlichen kleinen Messe gut. Dein geliebter Whisky ist uns während der Dienstzeit ja leider verboten. Wobei ich finde, Helden wie wir sollten einen Ausnahmestatus haben. Aber mich einfachen Techniker fragt halt niemand.“ Er blickte zum Eingang des Landeschachts. „Oh, unsere kulinarischen Kostgänger kommen zurück.“

Jon Entwissel, Ronja Darlfrey und Amadeus Buffon schlenderten gemächlich auf den Erkundungskreuzer zu, der auf seinen Magnetkissen in der Landekammer des großen Expeditionsschiffes schwebte.

„Na, wie war das Essen?“, rief Mun ihnen entgegen.

„Ein Hochgenuss wie immer“, knurrte Entwissel zurück.

Mun grinste. „Los, Petrus, fahren wir schon mal vor ihnen nach oben. Womöglich hat Jon mal wieder seine geliebte Zwiebelsuppe verschlungen und bläht uns den Aufzug voll. Der ist da gnadenlos.“

Taunsend seufzte. „Und das ist also die Elite der moranischen Raumflotte“, sagte er leise zu sich selbst, bevor er dem Bordingenieur in den Lift folgte.

„Du hattest keinen Befehl erhalten, die beiden fremden Raumfahrer zu erschießen. Du hast eigenmächtig gehandelt.“ Claudio Fring, amtierender Kommissar der Station, musterte Rodion streng.

Der junge Wächter zupfte verlegen am Kragen der grasgrünen Uniformjacke, die sich straff über seinen muskulösen Körper spannte. „Das stimmt, aber ich wollte eben verhindern, dass sie uns entdecken. Unser Auftrag hier im Tinged-System ist schließlich strenggeheim, oder?“

Fring nickte, doch seine Miene blieb ernst. „Das ist er allerdings. Würde die Sternenlicht Vereinigung erfahren, was wir in dieser Station produzieren, könnte uns das gewaltigen Ärger bescheren.“

Rodion lächelte verstohlen die Computerspezialistin Sofja an, die an ihrem Arbeitsplatz in der Zentrale der Station saß und das Gespräch wortlos verfolgte. Womöglich hatte er gehofft, sie mit seiner vermeintlichen Heldentat zu beeindrucken. „Und ich habe dafür gesorgt, dass die beiden nichts mitbekommen und irgendwem verraten, was wir hier treiben. Das habe ich gut gemacht, oder? Auf zweihundert Meter Entfernung beide punktgenau getroffen wie ein Scharfschütze!“ Beifallheischend blickte er den Kommissar an.

Fring fixierte die dunkelbraunen Augen seines Gegenübers kalt. „Wusstest du, dass die beiden allein gekommen sind?“

Rodions Lächeln erlosch. „Sie sind mit so einer kleinen Raumjacht gelandet. Außer ihnen stieg niemand aus, wenn ich mich nicht täusche.“

Fring hatte Mühe, sich zu beherrschen. „Wenn du dich nicht täuschst, ganz genau. Aber hattest du Gewissheit? Was, wenn in der Raumjacht weitere Besatzungsmitglieder gewesen wären? Was, wenn diese beobachtet hätten, dass du die beiden erschießt, während sie sich auf das Artefakt zubewegen? Was, wenn die Überlebenden dann gestartet wären und in ihrer Heimat verkündet hätten, dass sich auf Tinged-II ein tödliches Artefakt befindet?“

Schweißperlen traten auf Rodions Stirn unter den kurzen, dunklen Haaren. „Das wäre schlecht gewesen. Aber es war doch niemand außer ihnen in der Jacht, hab ich recht?“

„Ja“, bestätigte Kommissar Fring. „Nachdem du die beiden erschossen hattest, wurde die Raumjacht sofort durchsucht. Sie war zum Glück in der Tat leer. Schon an dem blauen Hoheitssymbol auf ihrem Rumpf sieht man, dass sie aus der Corydalischen Föderation stammt. Sie hat also eine sehr weite Reise hinter sich.“

„Dann ist doch alles gut, oder?“ Rodion versuchte wieder Blickkontakt zu seiner Freundin Sofja herzustellen, aber diese hatte sich wieder ihrem Arbeitspult zugewendet.

„Ja, alles ist gut.“ Fring versuchte, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken. „Aber nur, weil du Dummenglück hattest. Rodion, dies ist nicht das erste Mal, dass du den Erfolg unserer Mission gefährdet hast. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass ich dir vor einigen Wochen den Auftrag erteilt habe, in der Umgebung der Station Stellen zu finden, die sich für die Aufstellung von Boden-Luft-Geschützen eignen. Du hast daraufhin Positionen vorgeschlagen, die kaum über eine natürliche Deckung verfügen.“

„Das stimmt schon“, versuchte Rodion sich zu rechtfertigen. „Aber dafür hätte man von denen das beste Schussfeld, und darauf kommt es bei Geschützen doch am meisten an, oder?“

„Ein Geschütz, das leicht zu entdecken ist, könnte vom Gegner ausgeschaltet werden, bevor es selbst zu feuern vermag“, erwiderte Fring. „Das habe ich nicht erst auf dem Offizierslehrgang gelernt, das weiß jeder einfache Soldat mit auch nur etwas klarem Verstand. Rodion, du bist meiner Überzeugung nach für diese Station ein Sicherheitsrisiko. Deine erwiesene Unfähigkeit gefährdet unseren Auftrag und damit die gesamte Fraktalkonföderation.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Sofja an ihrem Arbeitspult zusammenzuckte. Fring hob das linke Handgelenk mit dem Armcomputer und gab einen Code ein. „Rodion“, sprach er anschließend tonlos in das Mikrofon.

Der junge Wächter keuchte. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten, während er die Hände an die Schläfen presste. Wenige Sekunden später sackte er zu Boden und blieb bewegungslos liegen.

Fring wandte sich Sofja zu, die ihren toten Freund entsetzt anstarrte. „Es tut mir leid, dass du das mitansehen musstest.“ Das Bedauern in seiner Stimme erschien ihm aufrichtig zu klingen. „Aber es war notwendig, das wirst du sicher verstehen. Trauere nicht zu lange um diesen Kerl. Du hast etwas Besseres verdient als den. Und nun sorge bitte dafür, dass seine Leiche entfernt wird. Sie soll zu Insektenfutter verarbeitet werden. Dann ist er wenigstens im Tod zu etwas nütze.“

Kommissar Fring ging zum Ausgang der Zentrale. Vielleicht hätte ich Rodion weniger hart bestraft, wenn ich nicht kurz vorher von der Sache auf Kharak erfahren hätte, dachte er. Das Drogenlabor in der Baronie von Caltha Palustris war bei einem Angriff unbekannter Gegner komplett zerstört worden. Walther Weiss, der von Geheimagenten der Fraktalkonföderation kontaktierte baronische Pharmachemiker, war dabei ums Leben gekommen. Er hatte in den Monaten zuvor das Labor im Geheimauftrag der Konföderation im Untergeschoss einer Großklinik aufgebaut. Nun gab es vorerst keinen Abnehmer mehr für das in Frings Station produzierte Rohmaterial der Todesdroge Hi-Hat, die in den vergangenen Monaten im Bereich der Sternenlicht Vereinigung so großartig gewirkt hatte.

Doch fast jedes Problem war lösbar. Der Geheimdienst der Fraktalkonföderation war sicherlich schon aktiv geworden, um einen neuen geeigneten Vertragspartner in der Baronie zu finden, der Weiss’ Werk fortsetzen konnte. Und dann würde die Jugend in der Sternenlicht Vereinigung weiterhin in Scharen sterben.

Generalin Pamina Neyd, Befehlshaberin des 700 Meter durchmessenden Expeditionsschiffes GIORDANO BRUNO, trat müde aus der Hygienezelle ihrer Offizierskabine. Zwölf Stunden Dienst lagen hinter ihr, danach hatte sie in der Messe ein kohlehydratreiches Abendessen zu sich genommen, nun hatte sie elf Stunden Ruhepause. Sie streifte sich ein Nachthemd über und ließ sich auf ihre Schlafkoje sinken.

„Neue wichtige Nachrichten?“ Sie wandte den Blick zur gegenüberliegenden Wand, wo sogleich der Bordcomputer der GIORDANO BRUNO die holografische Darstellung von Neyds Lieblingssänger Thom Petti entstehen ließ. Sie hatte den Computer entsprechend instruiert.

Thoms Simulation lächelte und entblößte dabei seine auffälligen Schneidezähne, deren Größe zwar dem gängigen Schönheitsideal widersprach, auf Neyd jedoch gerade deshalb charmant wirkten. Im wahren Leben war Thom schon vor mehreren Jahren und wie in Künstlerkreisen leider häufig recht früh gestorben. Doch die holografische Darstellung zeigte ihn in der Blüte seiner Jahre, als auch Pamina Neyd noch nicht in Ehren ergraut gewesen war. „Nichts, was nicht auch noch morgen Zeit hätte“, antwortete der etwa vierzigjährige langmähnige Thom. „Soll ich dir noch ein Schlaflied vorsingen?“

Neyd seufzte wohlig. „Das wäre schön.“ Sie streckte sich auf der Koje aus, die trotz ihrer Enge dank der perfekt eingestellten Liegefläche herrlich bequem war, und genoss die Klänge, die aus den Lautsprechern der Kabine ertönten. Thoms etwas näselnde Stimme setzte nach wenigen Takten mit der Gesangsmelodie ein. Neyd wusste nicht, wie oft sie dieses Lied schon gehört hatte, doch sie mochte es immer noch sehr. Und es war genau das Richtige, wenn sie Entspannung brauchte. Der Bordcomputer wusste das.

Doch es gelang ihr nicht, mental sofort abzuschalten. Wie so oft, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen war, gingen ihr die Ereignisse des Tages nochmals durch den Kopf.

Die zufällige Entdeckung eines Raumschiffs unbekannter Herkunft durch Major Rimski, Kommandant des Forschungskreuzers GB-II/MARS, hatte sicher auch schon die gesamte Riege der Obersten Raumbehörde in Aufregung versetzt. Die Nachrichtendrohne mit der entsprechenden Meldung war bereits vor mehreren Tagen zurück nach Moran geschickt worden und musste von dort inzwischen zur ORB nach Tyros gelangt sein, der Hauptwelt der Sternenlicht Vereinigung. Innerhalb des Sternenbundes existierten Funkbrücken, welche die interstellare Kommunikation erheblich vereinfachten und beschleunigten.

Morgen früh werde ich bei der ersten günstigen Gelegenheit wieder Dayan besuchen, dachte die Generalin. Ihr nach Hi-Hat süchtiger Sohn war auf ihren Wunsch hin von seinem Vater auf das Schiff geschickt worden, leider begleitet von seinen beiden Musikerfreunden, mit denen er gemeinsam in einer erfolglosen Band gespielt hatte. Im All war die Wirkung der Droge aus unbekannten Gründen weniger stark als auf Planeten, dennoch war Dayan bald nach seiner Ankunft ins Koma gefallen und lag nun in der Krankenstation.

Aber wenigstens hatte der von der GIORDANO BRUNO aus geleitete Einsatz in der Baronie dafür gesorgt, dass nun kein Hi-Hat mehr in die Sternenlicht Vereinigung transportiert wurde. Es konnten also nicht mehr wie in den vergangenen Monaten täglich tausende meist junger Menschen nach der tödlichen Droge süchtig werden. Doch leider gab es für die schon existierenden Süchtigen nach wie vor keine Heilungsmöglichkeit. Sie wandelten als lebende Skelette, die kaum noch Nahrung aufnehmen konnten, durch die Städte Morans und der anderen besiedelten Planeten des Sternenbundes und warteten mit dem seligen Lächeln des Schwachsinns im knöchernen Gesicht auf den viel zu frühen Tod.

Die Stimme des toten Sängers, der ihr ein wunderschönes Lied gesungen hatte, verstummte. Neyd schloss die Augen und hoffte, bald einschlafen zu können.

„Glückwunsch übrigens zu deiner Entdeckung, Zoltan!“

Major Zoltan Rimski blieb im Gang vor dem Besprechungsraum stehen. Er drehte sich zu Taunsend um und verzog das narbige Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Danke, Petrus. Aber bei aller mir angeborenen Unbescheidenheit: Viel habe ich nicht geleistet. Ein bisschen in der Gegend herumgeflogen, Planeten abgesucht und dabei durch puren Zufall eben dieses Wrack entdeckt. Und das, während ihr in der Baronie gleichzeitig Kopf und Kragen riskiert habt, um eine tödliche Gefahr für unseren Sternenbund aus dem All zu schaffen. Wenn hier jemand eine Gratulation und zugleich mal wieder eine Beförderung verdient hat, dann wohl eher du! Das habe ich auch schon deinem verpeilten Funker gesagt, als ich ihn neulich in der Messe getroffen habe.“

Taunsend erwiderte das Grinsen und wartete, bis die beiden anderen Kreuzerkommandanten der GIORDANO BRUNO den Besprechungsraum ebenfalls verlassen hatten und an ihnen vorbeigezogen waren. „Bei aller mir angeborenen Bescheidenheit: Da hast du verdammt noch mal recht. Das war ein heißer Tanz.“

Rimski nickte anerkennend. „Drei Kampfkreuzer haben euch aufs Korn genommen und ganz schön gerupft, habe ich gehört. Einerseits schadet es meinen eigenen Karriereaussichten, aber andererseits bin ich wirklich froh, dass du dem Schlamassel heil entkommen bist.“

Taunsend hob fragend die Augenbrauen. „Das verstehe ich nicht ganz. Von was für Karriereaussichten redest du?“

„Na, willst du etwa auf Ewigkeiten Kommandant eines Forschungskreuzers bleiben? Die gute Pamina ist nicht mehr die Jüngste, irgendwann wird sie in den Ruhestand gehen. Träumst du etwa nicht davon, eines Tages Kapitän der GIORDANO BRUNO zu sein? Und du hättest dabei als Serienheld Morans vermutlich die besten Karten.“

Lachend klopfte Taunsend seinem Kameraden auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, meine schon erwähnte Bescheidenheit verbietet mir solche Karriereträume. Außerdem kommandiere ich die DIANA gerade mal ein paar Jährchen, da muss ich nicht schon wieder an berufliche Veränderung denken. Und zu guter Letzt macht mir die Arbeit auf meinem Kreuzer jede Menge Spaß.“

Zoltan legte seinen muskulösen Arm um Taunsends schmale Schulter. „Wirklich? Ich erinnere mich da aber an einige abendliche Gespräche in der Messe mit dir, in denen du angedeutet hast, wie sehr du deine beiden Mädels vermisst. Vielleicht wird für dich ja mal eine Stelle im planetarischen Bodendienst auf Moran frei. Dann könnest du jeden Tag nach Feierabend heim zu Frau und Töchterlein und dich von ihnen anhimmeln lassen.“

Taunsend lachte trocken. „Man merkt, dass du noch ledig bist, Zoltan. Als Ehemann wird man eher herumgescheucht als angehimmelt. Und meine Tochter ist leider noch zu klein, um ihren Papa so zu bewundern, wie er es für sein heldenhaftes Windelwechseln verdient.“

„Na, immer wieder schön, wenn sich meine beiden Lieblingskommandanten so amüsieren!“ Unbemerkt hatte auch Generalin Neyd den Besprechungsraum verlassen und gesellte sich zu den beiden Offizieren. „Darf ich mitlachen? Täte mir sicher gut.“ Ein wehmütiger Zug entstand auf ihrem faltigen Gesicht.

„Machen Sie sich etwa Sorgen wegen unserer neuen Mission?“, fragte Rimski. „Eben bei der Einsatzbesprechung klangen Sie noch sehr zuversichtlich.“

„Ach, mein lieber Zoltan, Sie wissen doch, dass ich dienstvertraglich dazu verpflichtet bin, Optimismus zu verbreiten“, lächelte Neyd. „Aber im Ernst, der Einsatz an sich bereitet mir wirklich keine großen Kopfschmerzen.“

„Verstehe“, murmelte Taunsend. „Ihr Sohn in der Krankenstation …“

„Und Sie wissen genau, dass private Sorgen nichts im Dienst zu tun haben“, widersprach Neyd mit gespielter Strenge. „Nein, ich kann das während der Arbeit durchaus zur Seite schieben. Es reicht ja, wenn es mich am abendlichen Einschlafen hindert. Was mich eher beschäftigt, sind die späteren Folgen unseres neuen Einsatzes. Natürlich geht es erst mal darum, die Erbauer dieses Wracks zu finden. Aber leider waren unsere bisherigen Begegnungen mit fremden Intelligenzformen meist extrem unerfreulich. Die Frogs, die Vlock, dann diese Roboter-Zivilisation, die alles biologische Leben auslöschen will … eine feindseliger und gefährlicher als die andere. Aber natürlich gibt es immer ein erstes Mal. Vielleicht wollen die Erbauer dieses unbekannten Schiffes, sollten wir ihnen eines Tages begegnen, uns Menschen ausnahmsweise mal nicht versklaven oder auslöschen. Das wäre eine schöne Abwechslung.“

Taunsend vergrub die Hände in den Hosentaschen seiner Bordkombination. „Wenn man Ihnen so zuhört, könnte man glauben, die Menschheit hätte lieber gar nicht erst mit der Raumfahrt anfangen sollen. Je weiter wir ins All vorstoßen, umso mehr Gefahren setzen wir uns aus.“

Rimski schnaubte. „Und du glaubst, wären wir immer noch und ausschließlich auf der legendären Erde, wäre unser Leben friedlicher? Da täuschst du dich aber gewaltig, alter Freund! Schon die Höhlenmenschen schlugen ihren Nachbarstämmen die Köpfe ein, um selbst zu überleben. Und ohne ständigen Konkurrenzkampf hätte es kaum einen nennenswerten Fortschritt gegeben. Ansonsten würden wir immer noch als kleine Säugetiere durchs Dickicht wuseln. Und was wäre dann? Wir wären die Beute von größeren Fleischfressern! Nein, lieber immer weiter vorstoßen und an den neuen Aufgaben wachsen!“

Neyd nickte anerkennend. „Zoltan, ich habe es schon lange geahnt und sehe mich darin bestätigt: Sie werden eine glänzende Zukunft in der Flotte haben. Es würde mich überraschen, wenn Sie nicht eines Tages ein richtig großes Schiff kommandieren würden.“

Taunsend feixte und boxte seinem verblüfften Kameraden freundschaftlich gegen die Rippen.

Verstohlen blickte sich Pamina Neyd um, als sie vor der Tür der Krankenstation stand. Niemand beobachtete sie. Sie betätigte den Sensor des Türöffners und betrat die Abteilung dahinter mit dem seit der präkosmischen Zeit typischen sterilen Geruch.

Warum fühlte sie sich schuldig? Weil sie vor wenigen Minuten erst den beiden Kreuzerkommandanten gegenüber behauptet hatte, sie könnte das Private problemlos vom Dienstlichen trennen? Aber sowohl Taunsend wie auch Rimski waren Realisten. Ihnen war vollauf bewusst, dass zwischen Theorie und Praxis große Lücken klafften. Neyd dachte auch während der Dienstzeit häufig an ihren im Koma liegenden Sohn und wünschte sich nichts sehnlicher, als ihm zu helfen und wieder zu dem gesunden, jungen Mann werden zu lassen, der er vor seiner Suchterkrankung gewesen war.

Wehmütig erinnerte sie sich an die Vergangenheit. Dayan war so ein aufgewecktes und lernbegieriges Kind gewesen. Ein wahrer Wirbelwind, der ständig Fragen stellte und die Welt zu verstehen versuchte. Während seiner späten Schulzeit hatte er sich außerdem stark für die Musik zu interessieren begonnen. Pamina hatte ihm ihren Lieblingsmusiker Thom Petti vorgespielt, ihr Ehepartner Lee die von ihm so geschätzte Gruppe Rollstein, aber Dayan hatte wie fast jedes Mitglied der jungen Generation sich seine musikalischen Vorbilder lieber in der Gegenwart gesucht.

Pamina erstarrte, als sie das Zimmer betrat, in dem Dayan lag. Am Rand des Bettes hockte ein zerzauster junger Mann Mitte zwanzig. Es war der stets mürrisch aussehende Digitarrist der Musikgruppe Abendblau, in der Dayan zuletzt gespielt hatte. Daneben stand der schlaksige Bassist. Sie waren auf Dayans Wunsch hin zusammen mit ihm an Bord der GIORDANO BRUNO geflogen und lungerten seitdem aufgabenlos herum. Bevor Dayan ins Koma gefallen war, hatte der Bassist ihr frecherweise vorgeschlagen, dass ihre Gruppe in irgendeinem Lagerraum des Schiffes ein Konzert geben könnte. Sie hatte ihm daraufhin sehr direkt zu verstehen gegeben, dass die Besatzung des von ihr befehligten Expeditionsschiffes Wichtigeres zu tun hatte, als einer drittklassigen Amateurband zuzuhören.

„Oh! Hallo, Frau Neyd“, sagte der Bassist, als er sie bemerkt hatte. „Wollen Sie auch Dayan besuchen?“

„Schlau kombiniert. Wie waren gleich noch mal eure Namen?“

„Ich bin Yoyo und das da ist Hansi“, erwiderte der Bassist eifrig.

„Aha. Und was habt ihr hier verloren?“, fragte sie in einem Tonfall, der schärfer als beabsichtigt war.

„Wir leisten Dayan nur ein bisschen Gesellschaft.“ Yoyo grinste unsicher. „Wir reden mit ihm und so. Angeblich bekommen Leute im Koma mehr von ihrer Umwelt mit, als man glauben könnte.“

„Außerdem haben wir hier sonst ja nichts zu tun“, ergänzte Hansi mit seinen wie immer hängenden Mundwinkeln.

„Tja, sehr bedauerlich, dass ihr euch an Bord langweilen müsst, während meine Besatzungsmitglieder sich über jede Ruhephase freuen“, erwiderte Neyd sarkastisch. „Aber soviel ich weiß, hat euch niemand gezwungen, hierher zu fliegen. Könnte ich nun bitte ein paar Minuten mit meinem Sohn allein verbringen?“

Gehorsam verließen die beiden jungen Musiker das Krankenzimmer. Neyd seufzte leise. Es war ungerecht, ihre eigene Frustration an ihnen auszulassen. Sie waren nicht an Dayans Schicksal schuld und waren nur auf dessen Wunsch hin gemeinsam mit ihm zur GIORDANO BRUNO geflogen. Aber sie wollte nicht, dass die beiden bemerkten, wie ihr beim Anblick ihres Sohnes die Tränen kamen.

Hansi nippte unglücklich an dem Tee in der großen Messe, in der um diese Zeit fast alle Plätze frei waren. Viel lieber hätte er ein Bier getrunken, aber es gab an Bord der GIORDANO BRUNO keinerlei alkoholische Getränke. Zumindest nicht offiziell. Was die Besatzungsmitglieder vor dem Abflug in ihre Kabinen geschmuggelt hatten, stand in einer anderen Datei. Seit ihrem Abflug von Moran hatte er zum ersten Mal seit Jahren zwangsläufig tagelang keinen Tropfen Alkohol getrunken. Das Trinken war für ihn mit der Musik gekoppelt – er trank, wenn er Lieder hörte, weil sie dann schöner klangen, er trank, wenn er selbst musizierte, weil er dann lockerer und bis zu einem gewissen Pegel besser spielte, und er trank, wenn er Lieder schrieb, weil ihm dann mehr und kreativere Einfälle kamen. Seit ihrer Ankunft auf der GIORDANO BRUNO hatte er nicht viele Möglichkeiten gehabt, sich in irgendeiner Weise mit Musik zu beschäftigen. Er konnte zwar Lieder über seinen Armcomputer hören, aber er verzichtete meist darauf, weil die Tonqualität nicht so gut war, wie er es von seiner heimischen Musikanlage her gewohnt war. Alkoholbedingte Entzugserscheinungen hatte er erfreulicherweise nicht. Er war also nicht wie zuvor insgeheim befürchtet bereits trunksüchtig wie so viele andere Musiker.