Die Monster von Morgenblau - Joachim Stahl - E-Book

Die Monster von Morgenblau E-Book

Joachim Stahl

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Beschreibung

Man schreibt das Jahr 3167. Seit den verhängnisvollen Kriegen gegen die Frogs sind über hundert Jahre vergangen. Die erschöpfte Erde wurde von den Menschen weitgehend verlassen und fristet nur noch ein Schattendasein. In dem Machtvakuum ist eine Vielzahl neuer Reiche entstanden. Eines davon ist die Sternenlicht Vereinigung, in der sich zwölf von Menschen besiedelte Planetensysteme verbündet haben. Sie sehen sich in der politischen und kulturellen Nachfolge der Menschheit vor dem Erscheinen der Frogs, die plötzlich und geheimnisvoll auf der kosmischen Bildfläche erschienen und wieder verschwanden. Nach der verhängnisvollen Raumschlacht gegen die Maschinen von Maschina ist die Sternenlicht-Flotte massig geschwächt worden. Doch die Erkundung des Alls muss dennoch weiter vorangetrieben werden. Das große Expeditionsschiff GIORDANO BRUNO schickt seine vier Forschungskreuzer in einem bislang kaum erforschten Raumsektor auf Erkundungsfahrt. Einer dieser Kreuzer ist die GB-I unter dem Kommando von Major Taunsend. Nachdem der Kreuzer einen Dschungelplaneten angeflogen hat, stößt die Besatzung dort auf eine seltsame Wesenheit, deren Gefährlichkeit zu spät von ihr erkannt wird.

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Seitenzahl: 196

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Prolog

Die Wesen in dem dämmerigen Raum klammerten sich mit ihren dürren Ärmchen aneinander, um von den Luftströmen der Klimaanlage nicht in alle Richtungen verweht zu werden. Ihre äußerliche Gestalt wurde von dem großen ovalen Kopf dominiert, der etwa ein Viertel ihrer gesamten Körpergröße einnahm. Zwei Auswölbungen an beiden Seiten des von Furchen durchzogenen Schädels unterhalb seiner Spitze ähnelten Griffmulden. Unter dem Schädel befanden sich auf einer horizontalen Ebene an den Seiten zwei enganliegende Ohren, dazwischen zwei rundliche Augen mit dunkler Iris und in der Mitte die Nase, die fast nur aus zwei runden weit voneinander liegenden Nasenlöchern bestand. Unter der Nase war der breite Mund, der voller langer, scharfer Zähne steckte.

Deutlich schmaler als der Kopf und von diesem durch einen kurzen Hals getrennt war der Oberkörper. Links und rechts ragten aus den Schultern je zwei kurze, vielgelenkige Gliedmaßen, die den Ästen eines ungepflegten Obstbaumes ähnelten. Darunter befand sich der schlaffe Leib, der sich unten in zwei weitere Gliedmaßen unterteilte, die in ausgestrecktem Zustand ungefähr so lang wie der Kopf waren.

Die Wesen benutzten zur Fortbewegung nur selten ihre kaum entwickelte Muskulatur, meist schwebten sie wie Heißluftballons von einem Ort zum anderen. Ermöglicht wurde dies durch das Gas in ihrem schlaffen Körper, das leichter als die umgebende Luft war. Notwendige Richtungsänderungen erfolgten durch Bewegungen der Beine, doch gelang es ihnen nicht, komplett gegen den herrschenden Luftstrom zu schweben. Sie mussten ihre Bewegungen diesem daher stets anpassen.

Das aus insgesamt sieben sich aneinanderklammernden Wesen bestehende Nest war von tödlichen Feinden umgeben. Die Bestien, die sich Menschen nannten, waren groß und stark, und die scharfen Krallen an ihren Klauen konnten einen Körper der zierlichen Nestbewohner mit Leichtigkeit zum Platzen bringen. Doch glücklicherweise gab es eine Möglichkeit, die Bestien zu bekämpfen: Ihre große Schwäche war ihre mentale Beeinflussbarkeit. Geistig waren sie den großköpfigen Wesen hoffnungslos unterlegen. Ihre Gedanken ließen sich problemlos lesen und je nach Bedarf manipulieren.

Heldenhaft hatte sich die siebenköpfige Gruppe im Auftrag ihres Volkes an Bord eines der diskusförmigen Raumschiffe der Bestien geschmuggelt, das zu ihrem Heimatplaneten im Tyros-System zurückgeflogen war. Selbst hatten die Wesen keinerlei Technik entwickelt, weil diese für ihr Überleben bislang nicht notwendig gewesen war. Nach der Landung auf der Welt namens Mené hatten die Wesen aus den Gedanken der Bestien erfahren, wo die wichtigsten Entscheidungen getroffen wurden. Die Weltregierung befand sich in einem riesigen Gebäude im Zentrum von Menés Hauptstadt Neu-Paris, in der vierzig Millionen der brutalen Monster lebten. Es war den sieben todesmutigen Helden durch Gedankenmanipulation einzelner Menschen gelungen, sich in dieses Regierungsgebäude zu schmuggeln und dort einen Raum zu finden, in dem sie ungestört waren. Auch dort manipulierten sie einige der dort arbeitenden Bestien mental, sodass diese ihnen regelmäßig geeignete Nahrung brachten. So wurden sie mit der für ihre anstrengende Geistesarbeit notwendigen Energie versorgt.

Es hatte nicht lange gedauert, bis sie erfahren hatten, welches die führenden Mitglieder der Regierung waren. Die sogenannte Erste Vorsitzende trug den Namen Lukira Change. Noch rascher war es ihnen anschließend gelungen, diese mächtigen Bestien mental so zu beeinflussen, dass ihre Sternenlicht Vereinigung genannte Organisation in absehbarer Zeit hoffentlich keine Gefahr mehr für die Heimatwelt der Wesen darstellen würde. Aufgrund der gewaltigen Größe dieses feindlichen Sternenbundes und der Unmenge von Bestien, die darin lebten, war es bis dahin noch ein weiter Weg. Es war daher leider nicht möglich, mit der Vorsicht und Behutsamkeit vorzugehen, die beim Kampf gegen einen derart mächtigen Gegner eigentlich angemessen gewesen wäre. Die siebenköpfige Gruppe musste beträchtliche Risiken eingehen, um ihr Ziel in absehbarer Zeit erreichen zu können. Doch zumindest die ersten Schritte dorthin waren bereits erfolgreich eingeleitet worden, ohne dass die Bestien davon etwas ahnten.

I

„Petrus?“

Karins Stimme drang durch die dämpfende Watte des Traumes an seine Ohren. Als Major und Kommandant eines Raumkreuzers der Sternenlicht-Forschungsflotte war er darauf trainiert, auch im Schlaf auf jegliche alarmierenden Signale zu achten und darauf sofort zu reagieren. Petrus Taunsend schlug die Augen auf.

Karin lag wie üblich rechts neben ihm im Bett und hatte sich auf den linken Ellbogen gestützt, um ihren Oberkörper halb aufzurichten. Das Licht im Schlafzimmer leuchtete schwach. Ihr hübsches Gesicht mit den großen hellbraunen Augen unter den kurzgeschnittenen dunklen Haaren wirkte besorgt.

„Was ist denn, Schatz?“ Taunsend zwang sich zu einem Lächeln. Er hatte geträumt, doch er konnte sich schon nicht mehr genau an den Trauminhalt erinnern. Er wusste nur noch, dass er vom Weltall gehandelt hatte.

Karin strich ihm vorsichtig über die Schläfe, dann streckte sie die Zeigefingerspitze vor Taunsends Augen. Sie war rotgefärbt.

Taunsend runzelte die Stirn. „Was ist mit deinem Finger? Hast du etwa zu tief in der Nase gebohrt?“, versuchte er zu derb scherzen.

Karin blieb ernst. „Das ist dein Schweiß, Petrus. Du schwitzt Blut.“

Taunsend schüttelte benommen den Kopf, während er sich langsam aufsetzte. „Was redest du da?“ Er spürte, dass er schwitzte. Es war Winter auf der nördlichen Halbkugel Morans, doch ihr kleines Einfamilienhaus in der Provinz etwa zweihundert Kilometer entfernt von der Hauptstadt Toris war angenehm temperiert. Im Schlafzimmer herrschten nachts etwa sechzehn Grad Celsius, gerade genug, um gut schlafen zu können. Seltsam, dass seine Stirn dennoch schweißüberströmt war. Vorsichtig, als würde er eine offene Wunde untersuchen wollen, strich sich Taunsend über die Schläfe und betrachtete anschließend seine Hand. Die Fingerspitzen waren rot.

„Wie fühlst du dich?“ Karin streichelte zärtlich über seinen Unterarm.

„Eigentlich ganz in Ordnung“, erwiderte Taunsend mit leicht zittriger Stimme. „Ich habe gut geschlafen, bis du mich geweckt hast, und ich habe auch nicht den Eindruck, dass ich krank wäre. Nur leicht schockiert, aber das ist wohl relativ normal, wenn man soeben erfahren hat, dass man Blut ausschwitzt.“

„Ich rufe trotzdem vorsichtshalber einen Krankengleiter. Du hast ganz unruhig geschlafen, davon bin ich wachgeworden.“ Karin wollte aufstehen, doch Taunsend hielt sie zurück.

„Denk bitte an meinen guten Ruf.“ Er lächelte gequält. „Du weißt doch, was für Lästermäuler meine lieben Kameraden sind. In ein paar Tagen schon muss ich mit denen wieder aufbrechen. Wenn sie dann durch einen dummen Zufall erfahren haben, dass ihr Kommandant sich wegen einer Lappalie im Krankenhaus behandeln ließ, machen die sich bis zum Ende unseres nächsten Einsatzes über mich lustig. Willst du mir das wirklich antun, Schatz?“

Karin erwiderte seinen Blick ernst. „Und woher willst du wissen, dass es sich hier wirklich um eine Lappalie handelt? Vielleicht ist das eine gesundheitlich brandgefährliche Spätfolge deines letzten Einsatzes!“

Bei diesen Worten seiner Frau wanderten Taunsends Gedanken unwillkürlich zurück zu seinen schmerzhaften Erlebnissen auf Tinged-II, die inzwischen etwa ein halbes Jahr zurücklagen. Er hatte dort buchstäblich den Verstand verloren, nachdem er lebendige Insekten verschluckt hatte, die durch eine unbekannte Strahlungsart behandelt worden waren. Glücklicherweise war es seinen Kameraden vom Forschungskreuzer DIANA noch während des Rückflugs von dem ausgestorbenen Ruinenplaneten gelungen, ihn wieder zu kurieren. „Das ist doch schon monatelang her“, versuchte er Karin zu beruhigen. „Und nach meiner Heilung war ich vollkommen in Ordnung. Warum sollten jetzt plötzlich irgendwelche Spätfolgen auftreten?“

„Das ist nun mal die Natur von Spätfolgen. Sie tauchen nicht unmittelbar nach dem Anlass auf, der sie ausgelöst hat, sondern viel später.“ Karin fixierte ihn prüfend. „Mir kommt es fast so vor, als hättest du Angst um deine Karriere in der Flotte. Wenn deine Vorgesetzten erfahren, dass du krank bist, werden sie dich nicht mehr ins All hinausschicken. Aber wenn du dir bei deinem letzten Einsatz wirklich eine schlimme Krankheit zugezogen hast, wird die nicht davon wieder verschwinden, indem du den Kopf in den Sand steckst und sie ignorierst. Im Gegenteil. Die Heilungschancen sind fast immer umso besser, je eher mit den therapeutischen Gegenmaßnahmen begonnen wird.“ Sie versuchte sich aus seinem Griff zu lösen.

„Karin, ich verstehe dich ja, ich bin schließlich kein ignoranter Idiot. Und ich finde es auch wirklich prima, dass du dich so um mich sorgst. Aber lass uns doch nicht gleich in Panik geraten.“ Er richtete den Blick auf die Decke. „Vesta, welche Ursachen kann es für blutigen Schweiß geben?“

Die Künstliche Intelligenz des Hauses reagierte sofort auf den Sprachbefehl, der sie aktiviert hatte. „Blutschweiß wird in der medizinischen Fachsprache als Hämhidrose bezeichnet. Es handelt sich dabei um die Ausscheidung von Blut oder Blutpigment im Schweiß. Grund dafür kann eine körperliche Veranlagung sein, die zu einer leichten Verletzbarkeit der Gefäßwände führt. Möglich ist aber auch, dass große Angst durch die damit verbundene hohe innere und äußere Anspannung zum Platzen von Hautäderchen führt. Das Blut fließt dann zusammen mit dem sogenannten Angstschweiß über die Hautporen ab. In der Umgangssprache findet dieses Phänomen in der Redewendung ,Blut und Wasser schwitzen‘ Ausdruck.“

Taunsend atmete erleichtert auf. „Blutschweiß ist also kein Grund, um sich medizinisch behandeln zu lassen?“

„Zumindest kein zwangsläufiger“, erwiderte die KI. „Es ist zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, dass etwas anderes als psychische Anspannung und Angst die Ursache dafür ist. Aber zumindest ist bislang kein Fall bekannt, in dem beispielsweise gefährliche Krankheitserreger den Blutschweiß ausgelöst hätten.“

„Danke, Vesta.“ Taunsend lächelte Karin an, die immer noch besorgt wirkte. „Siehst du? Alles halb so wild. Natürlich ist mein letzter Einsatz nicht spurlos an mir vorübergegangen, vor allem mental. Ich bin zweifellos angespannt und muss das alles erst noch seelisch verarbeiten. Aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, dass ich morgen tot umfalle. Außerdem steht mir vor meinem nächsten Einsatz ohnehin noch eine gründliche medizinische Untersuchung bevor. Da werde ich das Thema Blutschweiß auch ansprechen, um auf Nummer sicher zu gehen, ich verspreche es dir hiermit hoch und heilig. Also leg dich wieder hin, Schatz. Es ist mitten in der Nacht, wir brauchen noch etwas Schlaf, bevor uns Emma morgen wieder in die Pflicht nimmt. Vor allem dich.“

Die Schlafzimmertür öffnete sich, als hätte ihre kleine Tochter ihren Namen gehört und sich davon herbeigerufen gefühlt. Emmas Haare waren vom Schlaf zerzaust. Sie wuselte auf ihren kleinen Füßen zum Ehebett ihrer Eltern und kletterte über Karin hinweg in die Mitte. Aus großen, ängstlichen Augen blickte sie ihren Vater an und klammerte sich an ihn. „Papa nicht weg. Papa hierbleiben.“

Taunsend spürte, wie ihm die Tränen kamen, während er seiner knapp zweijährigen Tochter zart das Köpfchen streichelte.

*

Petronia?

Generalin Pamina Neyd spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte. Sie schloss die Augen. Als sie die Lider wieder öffnete, war das Trugbild ihrer Tochter verschwunden. Im Rahmen der Tür stand eine junge Frau ungefähr in Petronias Alter und wie diese von mittlerer Größe, schlanker Gestalt und mit militärisch kurzem Haarschnitt. Am Kragenspiegel ihrer dunklen Flottenuniform war die silberne Raute der Leutnants zu erkennen.

„Entschuldigen Sie, Frau General, komme ich ungelegen?“, fragte die Ordonanzoffizierin. Ihr hellbraunes Gesicht mit den mandelförmigen Augen zeigte einen besorgten Ausdruck.

Neyd schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Treten Sie ein, Leutnant Wang. Ich war nur gerade etwas geistesabwesend. Sollte in meiner Position zwar nicht vorkommen, aber ich bin eben auch nur ein Mensch.“ Sie deutete einladend auf den Stuhl auf der anderen Seite ihres Arbeitspults.

Hinter Wang schloss sich die Tür zu Neyds Dienstbüro im zentralen Verwaltungsgebäude der moranischen Obersten Raumbehörde. „Ich will Sie auch nicht lange aufhalten“, sagte Wang, während sie Platz nahm und einen daumengroßen Datenträger auf Neyds Pult legte. „Hierauf finden Sie die in der von Ihnen gewünschten physikalischen Form die aktuelle Bestandsanalyse der Flotte. Außerdem benötige ich Ihre persönliche Autorisierung für diese Dokumente.“ Sie platzierte einen Ordner mit ausgedruckten und engbeschriebenen Folienblättern neben den Datenträger. „Könnten Sie die Schriftstücke bitte möglichst bis heute Mittag durchgehen? Es handelt sich dabei um recht eilige Vorgänge.“

Neyd runzelte die faltige Stirn. „Ein ganz schöner Batzen, den Sie mir da bringen, Frau Wang. Ich hatte während meiner Zeit im All ganz vergessen, was für ein Arbeitstier man hier in der ORB sein muss. Wenn ich mich daran besser erinnert hätte, wäre ich vielleicht im fliegenden Dienst geblieben und hätte auf der BRUNO weiterhin eine ruhige Kugel geschoben.“ Sie lächelte ironisch.

Wang schmunzelte zurück. „Rauben Sie mir doch nicht sämtliche Illusionen! Was für einen Sinn hätte es denn für mich, im Dienst immer alles zu geben, wenn ich am Ende der Karriereleiter unglücklicher als zuvor wäre?“ Sie stand wieder auf. „Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, Frau General?“

Ja, allerdings. Du könntest meine Tochter sein, statt ihr nur so frappierend zu ähneln, dachte Neyd, während sie stumm den Kopf schüttelte. „Nein, danke. Bis um zwölf Uhr werde ich hoffentlich alles durchgearbeitet haben, dann können Sie den Stapel wieder abholen.“

Wang nickte und wandte sich zurück zur Tür, die sich mit einem leisen Surren automatisch vor ihr öffnete und hinter ihr wieder schloss.

Neyd seufzte. Vor einigen Monaten noch hatte sie sich danach gesehnt, wieder hier im Verwaltungsgebäude der ORB zu dienen. Damals war sie als Kommandantin auf das moranische Expeditionsschiff GIORDANO BRUNO versetzt worden. Doch mitten während des letzten Einsatzes wurde sie als Befehlshaberin abgesetzt, weil sie Dienst und Privatleben nicht so streng getrennt hatte, wie es die Richtlinien der Flotte verlangten.

Neyd studierte das oberste Dokument. Die BRUNO benötigte wieder einmal einen neuen Kommandanten, schon zum dritten Mal binnen zweier Jahre. Doch Neyd kam dafür glücklicherweise nicht mehr in Frage, obwohl in der gesamten Sternenlicht-Flotte ein noch nie dagewesener Personalmangel herrschte. Dieser war auch der Grund dafür, dass die ORB Neyds persönliche Verfehlungen als Kommandantin der BRUNO entschuldigt hatte und ihr sogar wieder ihren früheren Posten als Leiterin der Behörde angeboten hatte. Das stellte im Grunde eine Beförderung dar.

Neyd setzte mit einem Laserstift ihre schwungvolle Unterschrift unter das Dokument, das den neuen Kommandanten der BRUNO bestätigte. Mit Major Rimski war eine gute Wahl getroffen worden. Selbst bei einer größeren Auswahl an geeigneten Kandidaten hätte man sich für ihn entscheiden können. Rimski war zwar noch recht jung, aber der bisherige Kommandant eines Forschungskreuzers der GIORDANO BRUNO hatte in den vergangenen Jahren mehrfach seine Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit bewiesen.

Im Gegensatz zu mir, dachte Neyd selbstkritisch, während sie das nächste Dokument durchsah. In einer sentimentalen Anwandlung hatte sie vor etwa einem halben Jahr ihren Sohn Dayan zu sich auf die BRUNO bringen lassen. Dayan war wie viele andere junge Menschen der Sternenlicht Vereinigung drogensüchtig und vom Tod bedroht gewesen. Durch einen glücklichen Zufall war es dem Forschungskreuzer GB-I unter dem Kommando Petrus Taunsends jedoch gelungen, auf der Ruinenwelt Tinged-2 im interstellaren Niemandsraum ein Gegenmittel zu entdecken, mit dem Dayan wie viele andere Drogenkranke geheilt werden konnte.

Wie glücklich und erleichtert ich danach war, dachte Neyd, während sie das nächste Dokument prüfend in die Hand nahm. Sie hatte damals nicht wissen können, was für ein grausames Los dafür bald danach ihrer Tochter Petronia bevorstand. Ob ihre Begnadigung und Beförderung zur Leiterin der ORB auch als eine Art Trost des Schicksals aufzufassen war?

Aber es war keiner. Hinzu kam, dass sie sich um Dayan abermals Sorgen machen musste. Die vor etwa einem halben Jahr erfolgreich gekappte Zufuhr der hochgradig süchtig machenden Droge Hi-Hat hatte abermals eingesetzt, während das Gegenmittel durch die jüngsten militärischen Machtverschiebungen nicht mehr verfügbar war und auch nicht künstlich innerhalb der Sternenlicht Vereinigung produziert werden konnte. Insbesondere Menschen, die schon zuvor von Hi-Hat abhängig gewesen waren, griffen nun wieder vermehrt nach dieser Teufelsdroge, weil ihnen das einzigartige Erlebnis des Rausches wichtiger war als ihr eigenes Leben. Noch schien Dayan zwar nicht ebenfalls rückfällig geworden zu sein, doch wer mochte wissen, ob es dabei bleiben würde.

Und dann werde ich auch noch mein zweites Kind verlieren, dachte Neyd wie betäubt. Ich habe in meinem Leben schon wahrlich vieles ertragen, aber ich weiß schon jetzt, dass mich diese Last zerbrechen wird.

Sie rieb sich die Augen. Die Mittagsstunde rückte unaufhaltsam näher und es gab noch so viel zu tun. Sie setzte ihre Unterschrift unter das Dokument vor ihr auf dem Arbeitspult und ergriff das nächste.

*

„Oberstleutnant Taunsend?“

Taunsend erhob sich von dem Sessel im Wartezimmer der medizinischen Abteilung und räusperte sich leicht verlegen. „Nur Major bin ich, falls ich den Überblick nicht verloren haben sollte.“

Die junge Frau in der weinroten Uniform des medizinischen Personals runzelte irritiert die Stirn, während sie durch eine Handbewegung die Patientendatei auf ihrem Armcomputer erneut aufrief. „Aber hier steht, dass Sie kürzlich erst vom Major zum Oberstleutnant befördert worden sind.“

Taunsend nickte kurz, während er neben der Medizinerin über einen Gang zum Untersuchungsraum schritt. „Ja, wegen meiner Verdienste beim letzten Einsatz. Aber aufgrund eines von mir begangenen Fehlers bei der Mission davor wurde die Beförderung inzwischen wieder rückgängig gemacht. Man hatte wohl Angst, dass sich Teile der Öffentlichkeit darüber empören könnten.“

Die Frau blickte ihn fragend aus großen, dunklen Augen an. „Eine lange Geschichte, nehme ich an.“

„Allerdings. Und auch keine besonders angenehme. Ich will ihnen damit nicht die Ohren volljammern. Aber vielleicht können Sie dafür sorgen, dass meine Datei korrigiert wird. Es muss bei uns in der ruhmreichen Raumflotte schließlich alles seine Richtigkeit haben, nicht wahr?“

Nebeneinander betraten sie einen etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum mit weißen Wänden, in dem sich bereits zwei weitere Mediziner aufhielten, ein vollbärtiger Mann mit langen grauen Haaren und eine jüngere Frau mit tiefdunkler Haut und kurzgeschorenem Haar. Die beiden begrüßten Taunsend mit einem angedeuteten Lächeln, während Taunsends Begleiterin sich zu einem Arbeitspult an der Seitenwand begab.

„Mein Name ist Diarra, dies ist mein Kollege Doktor Meher. Bitte setzen Sie sich hierhin.“ Die Dunkelhäutige deutete auf den gepolsterten Behandlungssessel in der Mitte des Raumes, in dessen Rückenlehne sich ein Bedienungsfeld und mehrere Steckanschlüsse befanden.

Taunsend nahm Platz und streckte seine langen, dürren Beine aus, die in der enggeschnittenen Hose seiner dunklen Bordkombination steckten. „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, nachdem meine Patientendatei schon nicht auf dem aktuellen Stand gewesen ist.“

„Oh, tatsächlich?“ Meher hob die buschigen Brauen über seinen dunkelbraunen Augen. „Sehr peinlich. Entschuldigen Sie bitte, Herr Major. Aber bei uns geht es seit Monaten drunter und drüber. Die Computer arbeiten aus unbekannten Gründen auch nicht mehr so störungsarm wie früher. Es ist ein kleines Wunder, dass der Betrieb trotzdem noch halbwegs gut funktioniert und wir unseren Berg von Aufgaben bewältigen können.“ Seine junge Kollegin Diarra legte ein elastisches Band über Taunsends kragenlanges Haar und drückte auf einen Knopf am linken Schläfenbereich.

Diarra studierte die holografische Datei, die sich vor ihm aufgebaut hatte. Auch Taunsend betrachtete die farbigen Symbole, Ziffern und Zeichen, doch er konnte mangels entsprechender Ausbildung darin nichts Brauchbares erkennen.

„Bei Ihrem letzten Einsatz wurden Sie mental verändert“, bemerkte Diarra. „Sie nahmen ungewollt die Substanz zu sich, die auch in der Hi-Hat-Droge enthalten ist.“ „Erzählen Sie mir etwas Neues“, versuchte Taunsend zu witzeln. Doch tief im Innern spürte er, wie sich etwas in ihm beim Gedanken an die Geschehnisse auf Tinged-2 verkrampfte. Er hatte versehentlich lebendige Insekten verschluckt, die durch den Strahlungssender einer unbekannten raumfahrenden Rasse behandelt worden waren. Daraufhin hatte er sich eins mit dem Universum gefühlt. Es handelte sich dabei nicht nur um eine Illusion, das stand fest. Es war ein reales Erlebnis gewesen. Und äußerst beängstigend.

„Ich weiß, Sie haben das alles schon der Raumbehörde berichtet, doch vielleicht hat sich an Ihrer Erinnerung inzwischen etwas geändert.“ Diarra musterte ihn ernst. „Sie wissen, dass Sie nicht lügen können, ohne dass unsere Geräte dies registrieren. Ihnen ist zugleich klar, dass wir paranormale Phänomene ausgiebig untersuchen müssen. Sollten Sie noch immer über entsprechende Fähigkeiten verfügen, wäre das für unseren Sternenbund wichtiger als Ihr weiterer Dienst in der Flotte.“

Taunsend seufzte. „Nachdem ich diese Insekten verschluckt hatte, was übrigens alles andere als ein Hochgenuss war, konnte ich tatsächlich wie ein Telepath in die Köpfe anderer Menschen blicken. Das half uns auch entscheidend dabei, unsere Mission erfolgreich zu beenden. Aber nach meiner Heilung war es damit auch wieder komplett vorbei. Inzwischen ist mir meine eigene Gattin wieder häufig ein Rätsel, wie es wohl in recht vielen Ehen der Fall ist.“

Diarra lächelte kurz pflichtschuldig. „Es ist nur seltsam, dass Sie, wie Sie sagten, in die Köpfe anderer Menschen blicken konnten. Es gab bis zu Ihrem Einsatz und es gibt inzwischen leider wieder zunehmend viele Personen, die Hi-Hat als Droge konsumierten und sich eins mit dem Universum fühlten. Doch telepathische Fähigkeiten wie Sie entwickelte unseres Wissens sonst niemand. Haben Sie sich darüber selbst schon Gedanken gemacht, Herr Major?“

„Aber sicher. Ich vermute, es lag daran, dass ich die Insekten lebendig verzehrte und bereits in der Mundhöhle teilweise verdaute. Die Droge wurde zwar auch aus lebendigen Tieren produziert, aber sie wurde danach in einem Drogenlabor pharmazeutisch verarbeitet, bevor sie durch Raumpiraten in die Sternenlicht Vereinigung geschmuggelt wurden. Dabei ging offenbar ein Teil der mentalverändernden Wirkung verloren. Frische Rohkost hat bekanntlich auch mehr Inhaltsstoffe als verarbeitete Nahrungsmittel.“

„Oder aber der Unterschied hat seinen Grund in Ihnen“, erwiderte Diarra mit ernster Miene. „Möglicherweise schlummern in Ihnen versteckte telepathische Fähigkeiten, die durch die Droge nur noch verstärkt werden mussten, um voll zum Tragen zu kommen.“

Taunsend zuckte mit den Schultern. „Denkbar ist das schon. Aber wie ich schon sagte, jetzt bin ich jedenfalls kein Telepath mehr, nicht einmal ansatzweise.“

„Die Analyse der Gehirnwellen bestätigt diese Aussage“, schaltete sich die junge Frau ein, die Taunsend in das Untersuchungszimmer begleitet hatte. „Die Elektroenzephalografie wie auch die Elektromyografie zeigen keinerlei pathologische oder sonstige Auffälligkeiten.“

„Danke, Joanna“, sagte Meher, bevor er sich wieder Taunsend zuwandte. „Haben Sie seit Ihrer Rückkehr und Heilung sonstige Besonderheiten an Ihrem Geist oder Körper festgestellt? Wie ich Ihrer Datei entnehme, sind Sie bald wieder für einen Einsatz in der Flotte vorgesehen. Es ist wichtig, dass Sie beim Dienstantritt voll belastbar sind. Insbesondere als Kommandant eines Kreuzers dürfen Sie nicht einmal ansatzweise fehleranfällig sein.“

„Gestern Nacht habe ich Blut geschwitzt“, gestand Taunsend mit ruhiger Stimme. „Aber das ist offenbar nicht so unüblich, wie ich anfangs glaubte, und kein Grund zu großer Beunruhigung.“

„Hämhidrose?“ Diarra schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre nicht mal ein Grund, Sie dienstuntauglich zu schreiben, wenn unsere Raumflotte derzeit nicht diese schreckliche Personalnot hätte. Nach all Ihren extrem strapaziösen Erlebnissen der letzten Dienstjahre ist es kein Wunder, dass Sie starke Stresssymptome zeigen. Dagegen hilft meist schon ein guter Schluck Alkohol. Aber da der während des Dienstes strikt verboten ist, werde ich Ihnen ein pflanzliches und völlig harmloses Beruhigungsmittel verschreiben. Außerdem empfehle ich möglichst lange Spaziergänge an der frischen Luft.“

„Das dürfte etwas schwierig werden, wenn ich wieder meinen Dienst an Bord angetreten habe“, grinste Taunsend. „Aber ich werde schauen, was sich da draußen im All machen lässt. Es gibt ja zum Glück Raumanzüge.“

II

Generalin Neyd ließ den Blick über die Menschenmenge wandern, die halbkreisförmig rings um sie im Innenhof der Obersten Raumbehörde angetreten war. Die 330 Dunkeluniformierten bildeten die Besatzung des derzeit an die große Raumwerft Morans zur Überholung angedockten Expeditionsschiffes GIORDANO BRUNO. „Major Rimski, bitte treten Sie vor!“ Ihre Stimme war auch ohne elektronische Hilfsmittel noch immer kräftig genug, um über den ganzen Innenhof zu dringen.

Ein stämmiger Mann Ende dreißig löste sich aus der vordersten Reihe. Sein kantiges Gesicht unter dem gescheitelten braunen Haar war stark vernarbt.

Als Rimski vor der Generalin und ihren vier Begleitern aus dem Kommandostab der moranischen Raumflotte stand, blickte sie ihm in die grauen Augen, die unter buschigen Brauen lagen und häufig spöttisch funkelten. Diesmal jedoch wirkte Rimski sehr ernst. „Herr Major, Sie haben als Kommandant des Forschungskreuzers GB-II während der vergangenen Jahre Herausragendes geleistet. Hätten Sie in dem nach Ihnen benannten Sternensystem im interstellaren Niemandsraum nicht das Wrack eines fremden Schiffes entdeckt, wären wir nicht auf den Planeten gestoßen, auf dem der Rohstoff für die tödliche Droge Hi-Hat produziert wurde. Die Oberste Raumbehörde hat angesichts Ihrer Verdienste für die Sicherheit der gesamten Sternenlicht Vereinigung beschlossen, Sie zum Oberst zu befördern.“ Sie ließ sich von dem Adjutanten zu ihrer Rechten ein metallenes Kästchen überreichen, in dem sich eine kleine rechteckige Platte mit drei Rauten in der Mitte befand. Sie streckte das silbrige Rangabzeichen Rimski entgegen, der dieses sichtbar ehrfürchtig ergriff.