Das Tor - Basma Abdel Aziz - E-Book
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Das Tor E-Book

Basma Abdel Aziz

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Beschreibung

Im post-revolutionären Orient bestimmt das Tor über das Schicksal der Menschen

Ein nicht näher benanntes Land im Nahen Osten: Seit der Niederschlagung der Revolution brauchen die Bürger für jede noch so kleine Kleinigkeit in ihrem Leben – sei es die Überweisung zum Arzt oder die Erlaubnis, Brot zu kaufen – die Genehmigung des Staates. Um die zu erhalten, müssen sie sich vor einem riesigen Tor anstellen, das angeblich jeden Tag nur einer gewissen Anzahl an Anträgen stattgibt. In Wirklichkeit aber öffnet sich das Tor niemals, und die Schlange der Menschen, die in der glühenden Hitze warten, wird länger und länger, ihre Verzweiflung immer größer. Und doch will keiner von ihnen die Hoffnung aufgeben, dass das Tor eines Tages aufgehen wird ...

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Das Buch

Ein nicht näher benanntes Land im Nahen Osten: Seit den sogenannten »Schändlichen Ereignissen« wird die Bevölkerung massiv von der Regierung unterdrückt. Peinlich genau achtet die Sicherheitsgarde auf die Einhaltung der Gesetze, und wer gegen die Regeln verstößt, verschwindet spurlos in den dunklen Kellern der Behörden. Für alles brauchen die Bürger die Genehmigung des Staates, für die sie sich vor einem großen Tor anstellen müssen. Doch die Schlange der Menschen, die in der brütenden Hitze warten, wird von Tag zu Tag länger, denn das Tor öffnet sich nicht. Da ist zum Beispiel die junge Lehrerin Ines, die eine Unbedenklichkeitsbescheinigung braucht, nachdem sie den kritischen Aufsatz einer Schülerin in der Klasse vorgelesen hat. Oder der Regimekritiker Yahya, der die Erlaubnis benötigt, sich einer lebensnotwendigen Operation zu unterziehen. Oder die namenlose alte Frau, die einfach nur Brot kaufen möchte. Sie und viele andere warten Tag und Nacht vor dem Tor – vergebens, aber dennoch voller Hoffnung, dass es irgendwann aufgehen wird …

Klug, einfühlsam und mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor durchleuchtet Basma Abdel Aziz in Das Tor die Natur eines totalitären Staates.

Die Autorin

Basma Abdel Aziz wurde 1976 in Kairo, Ägypten, geboren. Sie arbeitet als Künstlerin, Schriftstellerin und Psychiaterin, wobei sie auf die Behandlung von Traumapatienten spezialisiert ist. In ihrer Heimat setzt sie sich unermüdlich für den Kampf gegen Unterdrückung und Verletzung der Menschenrechte ein. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet und 2016 vom Foreign Policy Magazine in die Liste der führenden Global Thinkers aufgenommen. Die Autorin lebt in Kairo.

BASMA ABDEL AZIZ

DAS TOR

Roman

Aus dem Arabischen übersetzt von Larissa Bender

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2020

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2013 by Basma Abdel Aziz

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25039-3V001

www.diezukunft.de

ERSTER TEIL

Erstes Dokument

Patientendaten

Name: Yahya Gad al-Rabb Said

Alter: 38

Familienstand: ledig

Wohnhaft: Neunter Bezirk, Gebäude Nr. 1

Beruf: Handelsvertreter

Als Tarik am Morgen ins Krankenhaus kam, bat er als Erstes die Oberschwester um die Akte. Sie brachte ihm eine Klarsichthülle, die an allen vier Seiten zugeklebt war. Darauf stand: »Ausstehend bis zum Eintreffen der Genehmigung durch das Tor«. Tarik starrte auf die großen, schräg in eine Ecke gesetzten tiefroten Wörter. Genau in der Mitte der Akte stand auf einer rechteckigen weißen Karte der Name »Yahya Gad al-Rabb Said« und ganz unten eine siebenstellige Zahl. Die eine Hälfte war Teil der Ausweisnummer des Patienten, die andere Hälfte ein Code, der auf die Kategorie der Akte schließen ließ und den nur die Mitarbeiter der Verwaltung verstanden, die für die Klassifizierung zuständig waren. Am Ende war dort noch der Name des behandelnden Arztes zu lesen: »Dr. Tarik Fahmi«, sein Name, von dem er sich schon Hunderte Male gewünscht hatte, ihn von dieser Akte löschen zu können. Aber es war nichts zu machen, er würde dort bleiben und ihm, Tarik, das Leben vergällen, solange es Gott gefiel.

Die Akte in der Hand ging er in sein Büro; Schwester Sabah folgte ihm mit einer Tasse Kaffee. Sie stellte die Tasse auf den alten Holzschreibtisch, wie sie es jeden Morgen tat, dann verschränkte sie die Finger vor ihrem dicken Bauch und gähnte. Ihre Trägheit war unübersehbar:

»Kann ich noch etwas für Sie tun, Doktor?«

»Bleiben Sie heute in der Nähe, Sabah, ich brauche Sie vielleicht noch«, entgegnete er in seiner ihm eigenen freundlichen und ruhigen Art, auch wenn er ihr heute unnatürlich ernst vorkam.

»Wie Sie wünschen, Doktor.«

Sie ging hinaus und schloss die Tür.

Tarik, ein Mann mittleren Alters, gehörte im Krankenhaus zu jener Gruppe von Ärzten, die für die Notaufnahme verantwortlich waren und ihre Arbeit ernst nahmen. Sabah kannte ihn schon, als er noch ein junger Arzt im Schichtdienst gewesen war, der die meiste Zeit bei den Patienten verbrachte und nur selten nach Hause ging. Er hatte nicht viele Freunde und ging auch nicht mit Kollegen aus. Und niemals hatte er sich wie die anderen vor einer Schicht gedrückt. Er war schweigsam und ein wenig sonderbar, schloss seine Bürotür sogar in den Pausen ab, plauderte nicht mit den Schwestern im Schwesternzimmer und sprach weder über sich noch über seine Familie. Aber alle wussten, dass er seine Arbeit gut machte und – vor allem – dass er ein gutes Herz hatte.

Tarik nahm einen Schluck Kaffee und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er sah auf die Klarsichthülle, setzte sich schließlich auf seinen Lederstuhl, öffnete die Hülle an einer Seite, zog die Akte ein Stück heraus und schob sie wieder zurück.

Es war eines der seltenen Male, dass er überhaupt eine Patientenakte in der Hand hielt. Ein Pfleger hatte alle Patientendaten vollständig notiert, was ungewöhnlich war. Alle Spalten waren komplett ausgefüllt, es gab keinen Platz mehr, um noch etwas hinzuzufügen, keine Frage war ohne Antwort geblieben, und sogar die Fragen, die den Arzt meist gar nicht interessierten und die in einer Patientenakte eher nicht gestellt wurden, waren beantwortet.

»Yahya Gad al-Rabb Said, achtunddreißig Jahre, ledig, wohnhaft im Neunten Bezirk, Gebäude Nr. 1, Beruf: Handelsvertreter …« Diese persönlichen Angaben interessierten ihn nicht besonders, auch wenn er sie schon so oft gelesen hatte, dass er sie auswendig kannte und sich mühelos ins Gedächtnis rufen konnte. Meistens enthielten diese Dokumente nur Informationen, die routinemäßig von allen Patienten abgefragt und mit großer Gleichgültigkeit notiert wurden, weil Ärzte und Pflegepersonal zu nachlässig waren, so viele Spalten auszufüllen. Gewöhnlich begnügten sie sich deshalb mit der Nennung des Namens und des Alters des Patienten.

Tarik schob das erste Blatt Papier zur Seite und zog das zweite heraus, bereit, sich auf die Informationen zu konzentrieren, doch ein mehrmaliges Klopfen an der Tür ließ ihn die beiden Blätter wieder zurückstecken. Er verschloss die Hülle und verstaute sie in der Schreibtischschublade, dann richtete er sich in seinem Stuhl auf. Sabah trat erneut ein, in der Hand eine weitere Akte: »Da ist ein Patient, der nach Ihnen fragt, Doktor. Soll ich ihm sagen, dass Sie beschäftigt sind?«

Er hatte keine Lust, sich jetzt mit einem anderen Fall zu befassen. Nachdem er mit der Prüfung der Akte von Yahya Gad al-Rabb Said begonnen hatte, fiel es ihm schwer, die Anwesenheit anderer zu ertragen. Aber er musste seinen Unmut herunterschlucken, um kein unnötiges Gespräch zu provozieren. Er gestattete Sabah, den Patienten in das Untersuchungszimmer zu führen, und bat sie, dort zu warten. Er überlegte, die Akte an ihren ursprünglichen Platz im Archiv zurückzubringen, bevor er das Büro verließ, doch er bemerkte, dass der Schlüssel auf dem Tisch lag. Er nahm ihn an sich, zog sich den weißen Kittel über, schloss leise die Tür hinter sich, drehte den Schlüssel zweimal herum und ließ ihn vorsichtig in seine Hemdtasche gleiten.

Die Untersuchung dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Er stellte dem Patienten nur ein paar kurze Fragen und untersuchte ihn in aller Eile. Auch bei der Diagnose und der Therapieanordnung hielt er sich kurz. Seine Gedanken kreisten um die Akte, die er zurückgelassen hatte. Er überlegte, eine Fotokopie anzufertigen und sie mit nach Hause zu nehmen, wo er Gelegenheit haben würde, sie aufmerksam und ungestört zu lesen, nahm aber aus Angst vor möglichen Konsequenzen sogleich von dem Gedanken Abstand. Ihm war bewusst, dass es nicht mehr nur um ihn ging und dass die Angelegenheit nicht mehr nur den eingeschränkten Machtbefugnissen der Verwaltung unterlag. Tarik war niemand, der Grenzen überschritt. In seinem ganzen Leben war er noch nie zum Tor gegangen, er hatte weder Ansprüche noch Probleme, sein Leben verlief monoton und vorhersehbar, er hatte das Medizinstudium beendet und sein Abschlusszeugnis erhalten, würde in Bälde seine Privatpraxis eröffnen, und seit Kurzem traf er sich mit einer Kollegin. Doch nun stand seinem seit Langem ruhigen und althergebrachten Leben diese Akte von Yahya Gad al-Rabb Said im Weg.

Warum nur war er an jenem Tag im Krankenhaus geblieben, wo er es sonst doch stets pünktlich zum Ende seiner Schicht verließ? Und warum hatte er unbedingt die Verletzten untersuchen müssen und insistiert, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihre Wunden zu versorgen und sie zusammenzuflicken, bevor der Notarztwagen sie ins staatliche Krankenhaus brachte? Und warum hatte er sich ausgerechnet Yahya ausgesucht, um ihn zu röntgen, und keinen anderen? Tarik schwirrte der Kopf, die Antworten und Details verflüchtigten sich in letzter Zeit, und jedes Mal, wenn er die Akte betrachtete, nahm seine Ratlosigkeit zu. Es schien, als hätten sich ganze Erinnerungsstücke an das, was passiert war, in Luft aufgelöst und waren verschwunden, vielleicht weil er sie sich in den letzten Wochen so oft ins Gedächtnis gerufen und ständig vor sich selbst wiederholt hatte.

Er ging an den benachbarten Untersuchungszimmern vorbei und sah, dass einige der neuen Ärzte Tee und Kaffee tranken; das Radio plärrte. Er blieb ein paar Minuten stehen und lauschte. Die Moderatorin des Jugendsenders sprach live mit einer Zuhörerin über Telefon und fragte die Frau, wie es um ihre Kinder bestellt sei, die noch Studenten waren, und erwähnte deren aufrechte und nachahmenswerte Moral. Diese Moral hatte die Jugendlichen davon abgehalten, das Haus zu verlassen, als die »schändlichen Ereignisse« begannen, und sie davor beschützt, sich von den Lügen mitreißen zu lassen oder sich sogar an den Vorgängen zu beteiligen. Die Frau war glücklich über die Anerkennung und das Lob, das ihr zuteilwurde, und erzählte begeistert, dass sie von Anfang an keine Mühe bei der Erziehung ihrer Kinder gescheut und sie immer auf den rechten Pfad geleitet habe. Deshalb wüssten sie, was gut für sie sei, und man müsse keine Angst haben, dass sie vom Weg abkamen. Tarik schüttelte den Kopf, unfähig, das Gespräch zu begreifen. Er verließ das Radiozimmer, ging zur Oberschwester und bat sie, ihn nicht zu stören, weil er in seinem Büro einige wichtige Dokumente lesen wolle. Sie versprach ihm, die Patienten zu den anderen Kollegen zu schicken, rief Sabah zu sich, die gerade ihr Frühstück beendet hatte, und trug ihr auf, die Akten gleichmäßig auf die anderen Ärzte zu verteilen.

Tarik kehrte wieder zu seinem Lederstuhl zurück. Er hatte immer noch die Worte der Radiomoderatorin im Ohr. Wie alle hatte auch er von den Schändlichen Ereignissen gehört, schon als sie begonnen hatten oder kurz danach. Aber er war niemals dort gewesen und wusste kaum etwas darüber. Er hatte nichts gesehen, nur das, was mit jenen geschehen war, die daran beteiligt gewesen waren oder das Pech gehabt hatten, sich zufällig an Ort und Stelle befunden zu haben. Er hatte einige Kommentare gehört, die in seiner Anwesenheit geäußert worden waren, sei es von Kollegen und Bekannten, manchmal auch von Nachbarn und Fahrgästen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Er hatte sich ein vages Bild von den Ereignissen gemacht, schemenhaft und ohne Details, aber das genügte ihm, um der Angelegenheit keine weitere Beachtung zu schenken. Nichts daran erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Er war nur zu dem Schluss gelangt, dass einige Leute ihrem Ärger darüber Luft gemacht hatten, dem strengen Regime folgen zu müssen, das das Tor ihnen kurz nach seinem Erscheinen auferlegt hatte. Sie wollten gegen die neuen Regeln, die nun für alle bindend waren, aufbegehren und ein anderes System installieren, das, so hatte er es sich von einigen Kennern der Situation erklären lassen, weniger autoritär und streng war, vielmehr toleranter und weitsichtiger. Aber seiner persönlichen Meinung nach würde das zu Unordnung und Instabilität führen.

Diese Leute hatten sich in der Nähe des Platzes versammelt, um dort zu protestieren und Unruhe zu stiften. Die Gruppe war nicht allzu groß gewesen, es waren Leute unterschiedlichen Alters. Sie waren laut, verkündeten die Rebellion und kritisierten die Übergriffe und die Willkür des Tors. Sie skandierten traumtänzerische, unrealistische Parolen – einer der Krankenhausärzte hatte sie kolportiert: Parolen, in denen sie zur Abschaffung des Tors und all seiner Vorschriften aufriefen. Dieser Arzt hatte ihm während einer ihrer gemeinsamen Nachtschichten erzählt, dass andere Leute, die mit der ganzen Sache nichts zu tun hatten, sich den Protestierenden später angeschlossen und die gleichen Parolen zu skandieren begonnen hätten. Die Leute waren ständig in Bewegung, sodass man hätte glauben können, es wären viele, aber die Einheiten der Sicherheitsgarde, die vor Kurzem gegründet worden war, stellten sich ihnen entschieden in den Weg, riefen Gegenparolen und machten schließlich deutlich, dass sie diesen Unsinn unterbinden würden. Sie bezichtigten die Protestierenden des Aufruhrs und begannen auf sie einzuprügeln, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Nachdem einige von ihnen schwer verletzt wurden, geriet die Gruppe in Panik, lief auseinander und zog sich zurück. Aber die Leute wurden beschuldigt, Chaos zu verbreiten, die Zeit zurückdrehen und zu jener bedauerlichen Phase zurückkehren zu wollen, die spurlos ausgelöscht worden war.

Die beiden Gruppen trafen aufeinander, es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, Menschen starben, bevor alles zugunsten des Tors und seiner Garden entschieden wurde, die beim ersten Zusammenstoß zeigten, dass sie durchaus in der Lage waren, ihre Macht unter Beweis zu stellen. Die Sondereinheit der Sicherheitsgarde, die ins Leben gerufen worden war, um diese Art von Unruhe im Keim zu ersticken, war mit besseren Waffen ausgestattet als je zuvor; sie konnte die Protestierenden in wenigen Stunden vernichtend schlagen und den Platz mühelos räumen. Tarik zweifelte nicht im Geringsten am überwältigenden Sieg des Tors, aber angesichts der Konsequenzen dieses Sieges, deren Zeuge er selbst geworden war, war er auch nicht allzu enthusiastisch. Die Art der Verletzungen, die er in der Notaufnahme gesehen hatte, ließ ihn vermuten, dass die häufigen Stürme des Protests, die vor dem Erscheinen des Tors getobt hatten und das Regime hätten hinwegfegen können, sich nicht wiederholen würden.

In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie für Geschichte interessiert, aber er erinnerte sich gut an die »erste Böe«, von der er gelesen hatte und die so heftig gewesen war, dass sie das ganze Land vom Osten bis zum Westen durchweht hatte. Sie hatte auf ihrem Weg die alte Garde vernichtet und die hohen Mauern niedergerissen, mit der sie sich geschützt hatte. Der Herrscher hatte abwägen müssen, ob er sich zurückziehen und ergeben sollte, aber bedauerlicherweise – oder vielleicht auch zum Glück – ging es nicht weiter. Während die Menschen in manchen Regionen damit beschäftigt waren, ihre Beute einzusammeln, zogen sie es in anderen Regionen vor, die Zerstörung der Mauer zu vollenden, während wieder andere Regionen befürchteten, der Herrscher könnte an der Macht bleiben, und verhandelten mit ihm.

Der Sturm legte sich, nachdem die Beteiligten sich gegenseitig des Verrats bezichtigt hatten. Sie bereiteten sich auf einen erneuten Angriff vor, bewaffneten sich, und dann begann ein langer Kampf zwischen den einzelnen Gruppierungen, bei dem sie den Herrscher vergaßen, der seinen Einfluss teilweise zurückerlangen konnte. Die alte Garde formierte sich zu einem Block und errichtete, unbemerkt von den im Streit liegenden Gruppen, die Mauer erneut.

Tarik stand auf. Er fühlte sich erschöpft, obwohl er seit Dienstbeginn nichts getan hatte. Er las noch einmal ein Blatt aus der Akte, dann schaute er nach einem Patienten, an dessen Problem er sich nicht mehr genau erinnern konnte, und bat schließlich um die Erlaubnis, früher nach Hause gehen zu dürfen, weil er angeblich seit Tagen an einer Erkältung litt.

DIE WARTESCHLANGE

Yahya stand in der sengenden Hitze inmitten der Warteschlange, die sich vom Beginn der breiten Straße bis zum Tor erstreckte. In einer geschlagenen Stunde hatte er sich nur zwei Schritte vorwärts bewegt, aber nicht etwa, weil einer der Wartenden sein Anliegen erfolgreich zu einem Abschluss gebracht hatte, sondern weil eine Person, die zum ersten Mal zum Tor gekommen zu sein schien und noch keine Erfahrung hatte, von Überdruss und Verzweiflung gepackt, ihren Platz verlassen hatte.

Die Sonne brannte auf seine linke Körperhälfte und teilte ihn, wie mittags immer, in zwei Hälften. Sein Körper fühlte sich schwer an, doch Yahya gab seinen Platz nicht auf. Vor ihm stand eine groß gewachsene Frau, die sich immer wieder umsah. Sie trug einen dünnen schwarzen Dschilbab und hatte ein schwarzes Tuch auf dem Kopf, das ihr zu beiden Seiten des unbedeckten Halses in Falten herunterhing und mit ihren Hautfalten und Runzeln harmonierte. Der junge Mann, der hinter Yahya stand, fragte, wann das Tor öffnen würde. Yahya zuckte nur mit den Schultern, um seine Ahnungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen, zog die Lippen in die Breite und sagte kein einziges Wort. Er wusste wirklich nicht, wann das geschehen würde. Noch immer verließ er jeden Morgen das Haus und schleppte seine Füße, seinen Bauch und sein schweres Becken vorwärts, um sich in die Schlange zu stellen, ohne das Tor je zu erreichen.

Der Teint der betagten Frau war genauso dunkel wie ihre Kleidung. Sie war eine schlanke, aber kräftige Person. Ihrer zähen Konstitution und ihren milchweißen Augen nach schien sie aus dem tiefsten Süden zu kommen. Sie drehte sich halb nach hinten um und musterte Yahya mit einem durchdringenden Blick, um ihn einer raschen Beurteilung zu unterziehen. Offenbar fand sie sein Aussehen akzeptabel, und so begann sie unvermittelt zu reden. Sie sei gestern zum ersten Mal zum Tor gekommen, sagte sie, sie wolle eine Beschwerde einreichen und sich gleichzeitig eine beglaubigte Bescheinigung ausstellen lassen. Sie schwieg kurz, um ihm die Möglichkeit einer Nachfrage einzuräumen, aber Yahya blieb still. Sein Desinteresse brachte sie jedoch nicht zum Schweigen; sie erzählte weiter, dass es ihr zum ersten Mal nicht möglich gewesen war, staatliches baladi-Brot zu erstehen, das sie seit Jahren kaufte. Sie blickte ihn ein weiteres Mal an, in der Erwartung, dass er ein wenig neugierig geworden sei, doch Yahya war in Gedanken und hörte ihr überhaupt nicht zu. Da wandte sie verärgert den Kopf ab, blickte sich erneut um, und kaum hatte sie bei anderen Nachbarn offene Ohren gefunden, nahm sie das Gespräch wieder auf.

Die beleibte Frau, die vor der Alten stand, rückte sich mit beiden Händen ihr türkisfarbenes Kopftuch zurecht, dann trat sie näher, weil die Geschichte mit der Beschwerde ihr Interesse geweckt hatte. Sie hatte ein junges Gesicht und mochte wohl um die dreißig Jahre alt sein, hatte schmale Augenbrauen, eine scharfe Nase und eine gepflegte Haut. Mitfühlend fragte sie die Alte, ob Brot mittlerweile tatsächlich so schwer zu bekommen sei. Diese legte sofort in einem breiten Akzent los: »Dieser gemeine Hundesohn … Ich bin doch seine Kundin, seit zehn Jahren kaufe ich täglich mein Brot bei ihm, und was passiert dann? Als ich wie jeden Morgen zu ihm gehe, um meine zwei Fladen zu holen, fragt der mich doch glatt: ›Wen hast du gewählt?‹ Ich habe gesagt: ›Ich hab ein Kreuz bei der Pyramide gemacht.‹ Da wurde er wütend, fletschte die Zähne und meinte: ›Ich kenne euch, Leuten wie euch kommt man nur mit der Peitsche bei. Hab ich dir nicht die Veilchen-Liste gegeben, damit du einen Kandidaten davon auswählst?‹ Ich habe nichts darauf gesagt und ihm das Geld gereicht, doch er hat es auf den Boden geschleudert, mir die zwei Fladen aus der Hand gerissen und geschrien: ›Wir haben kein Brot! Und komm bloß nicht wieder!‹ Der Schuft hat nicht den geringsten Anstand! Ich bin dann zur europäischen Bäckerei gegangen, aber die hatte zu. Am nächsten Morgen ging ich früh los zum Bäcker im Suk. Der hatte schon Wind von der Geschichte bekommen, das Gleiche gesagt und mir auch das Brot verweigert. Eine Nachbarin aus meiner Straße meinte: ›Wenn das so ist, musst du beim Tor vorsprechen.‹ Und außerdem solle ich vorher noch ein Dokument beantragen, ich weiß nicht mehr, wie es heißt. Es muss einen offiziellen Stempel tragen, denn das würde man ganz sicher von mir verlangen, wenn ich meine Beschwerde einreiche.« Sie schob ihre Hand in den weiten Dschilbab und zog eine kleine Karte hervor, auf der geschrieben stand: »Bescheinigung über die Gültigkeit der Staatsangehörigkeit«.

Die junge Frau klopfte der Alten tröstend auf die Schulter. Die Lage habe sich verändert, und es sei wohl auch nicht so bald mit einer Besserung zu rechnen. Die Politik habe sich in die Köpfe der Menschen gefressen, und jetzt würden sie sich gegenseitig fressen. Sie selbst habe auch die Pyramide gewählt, aber bis jetzt habe sie noch keine so peinliche Situation erlebt wie diese, sonst wäre sie wohl vor Scham gestorben. Vielleicht weil sie niemandem gegenüber erzählt habe, wen sie gewählt hatte, so wie die alte Frau. Sie habe, ehrlich gesagt, Angst, und ihre gewohnte Achtsamkeit und Vorsicht hätten sie schweigen lassen. In den letzten Monaten habe sie sogar einen alten Trick angewandt, um sich selbst nicht in eine unangenehme Lage zu bringen und nicht auf die Frage antworten zu müssen, die sich wie die Pest unter den Menschen ausgebreitet habe: »Wen hast du gewählt?« Ihre immer gleiche Reaktion sei gewesen, die Frage zurückzugeben und dann auf die erhaltene Antwort mit einem augenzwinkernden Lächeln zu sagen: »Die habe ich auch gewählt.« Vor ein paar Tagen sei ihr allerdings ein Fehler unterlaufen, als eine Schülerin ihrer Arabischklasse ihr glücklich einen von ihr verfassten Aufsatz überreicht habe. Es hatte sich dabei um eine ganz normale Hausaufgabe gehandelt, für die alle Schülerinnen zusätzliche Punkte zu den Punkten der monatlichen Prüfungen erhielten. Das Mädchen hatte zunächst ausführlich und ganz hervorragend über den Bezirk geschrieben, in dem es lebte. Dann hatte es sich mit der Situation des Landes und der allgemeinen Entwicklung in der Region befasst. Tatsächlich habe das Mädchen genau das geschrieben, was sie, Ines, selbst auch denke, doch plötzlich seien ihr angesichts der Qualität des Textes Zweifel gekommen, ob das Mädchen ihn alleine verfasst hatte. Sie hatte geargwöhnt, eines der älteren Geschwister oder ein Elternteil hätte den Aufsatz geschrieben und die Gedanken ausformuliert. Doch das Mädchen beteuerte steif und fest, die Aufgabe ohne Hilfe erledigt zu haben. Sie habe dem Mädchen geglaubt und ihm eine sehr gute Note gegeben. In der Klasse habe sie die Mitschüler aufgefordert zu klatschen und das Mädchen gebeten, den Aufsatz vorzulesen. Daraufhin habe sie die Schülerin als ein Beispiel für überdurchschnittliche und vortreffliche Leistungen gelobt.

Am nächsten Tag sei das Mädchen der Schule ferngeblieben. Der Inspektor mit der leisen Stimme sei zum Verwaltungsbüro gekommen und habe mit finsterer Miene den Lebenslauf der Lehrerin Ines und ihre Einstellungsbegründung verlangt. Dann habe er der Rektorin mitgeteilt, die Papiere seien unvollständig und sie, Ines, müsse zum Tor gehen, um ebenfalls eine Bescheinigung über die »Gültigkeit der Staatsangehörigkeit« zu beantragen, andernfalls müsse er ihre Akte an das Verwaltungsbüro weiterleiten. Sie würde daraufhin einer erneuten Befragung und Beurteilung unterzogen werden, und man würde nochmals prüfen, ob es im allgemeinen Interesse sei, dass sie weiter unterrichtete. Bevor er die Schule verließ, habe er der Rektorin eine Kassette gegeben, von der Ines später erfahren hatte, dass darauf die Stimme des Mädchens zu hören gewesen war, wie es den Aufsatz vorlas.

Ines dachte darüber nach, dass sich, anders als bei anderen Menschen, ihr Lebenstraum seit ihrer Kindheit nicht geändert hatte. Sie hatte immer Lehrerin werden wollen. Zu Hause hatte sie die Puppen auf dem Bett aufgereiht, sich das Lineal geschnappt und begonnen, die Lektionen zu erklären. Einer Puppe nach der anderen hatte sie eine Frage gestellt und im Geist den Antworten gelauscht. Als sie etwas älter geworden war, hatte sie die Nachbarskinder im Treppenhaus aufgestellt, einen Stock in der Hand, den sie von einem herabhängenden Ast abgebrochen hatte, und wieder ihr Lieblingsspiel gespielt. Sie hatte ihren Schülern als Belohnung bunte Kieselsteine geschenkt oder ihnen zur Strafe für ihre Unaufmerksamkeit auf die Handflächen geschlagen. Und jetzt kam sie sich selbst wie eine Schülerin vor, die einen großen Fehler begangen hatte und nun auf das Urteil wartete. Vielleicht würde ihr unbedachtes Verhalten verhindern, dass sie in Zukunft die einzige Arbeit, die sie liebte, weiter würde ausüben dürfen. Verstohlen schaute sie zu den Umstehenden in der Schlange, bevor sie eine Weile das schmale Gesicht Yahyas betrachtete, der in Gedanken versunken war.

Yahya hatte sich kein einziges Mal eingemischt, seit die Alte zu reden begonnen hatte. Mit dem Rücken zu ihr nahm er gedankenverloren weder ihre Geschichten noch die Gespräche der anderen Wartenden wahr. Trotzdem hörte die Alte nicht auf, zu schnattern und zu versuchen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, gleichsam als sähe sie darin eine Herausforderung, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ines beobachtete die Szene und sagte leise: »Jeder hat genug eigene Probleme.«

Yahya war die Erschöpfung anzusehen, vor Müdigkeit hatte sich zwischen seinen Augenbrauen ein dicker Wulst gebildet. Nagi hingegen, der sich im Schneidersitz niedergelassen hatte, machte eher einen verdrossenen Eindruck und wollte nur noch weg. Als Yahya sich stöhnend ein wenig nach vorn beugte, sprang Nagi sogleich auf, packte ihn am Arm und forderte ihn auf, sich an seiner statt ein wenig unter das gelbe Stoffbanner zu setzen, das seinen Platz beschattete. Das Banner trug das verblasste Bild einer Person, ein großes rotes Herz und daneben ein eigentümliches veilchenfarbenes Zeichen. Yahya weigerte sich, sich zu setzen, einfach weil er sich vor Schmerzen gar nicht bis auf den Boden hinablassen konnte. Er suchte in seiner Tasche nach dem Blister mit den Schmerztabletten, die er immer bei sich trug, doch der war leer. Der attraktive junge Mann, der das Gespräch über Nagis Schulter hinweg belauscht hatte, schenkte ihm zwei Tabletten eines gebräuchlichen Kopfschmerzmittels und bot Yahya an, er könne nach Hause gehen und sich ein bisschen ausruhen, derweil er selbst Yahyas Platz in der Schlange frei halten würde. Nagi dankte ihm an Yahyas statt und erklärte, er habe gehört, dass das Tor mit großer Sicherheit heute öffnen würde, und diese Chance, die sich so schnell nicht wiederholen würde, dürfe man sich selbstredend nicht entgehen lassen.

Der junge Mann trat einen Schritt vor und fragte im Flüsterton, was sie vom Tor wollten. Yahya stieß daraufhin seinem Freund leicht in die Seite und beeilte sich zu antworten: »Nur eine Behandlungsgenehmigung. Ich habe leichte Bauchschmerzen, die mich nicht schlafen lassen. Ich brauche ein bestimmtes Medikament, das mir der Arzt verschrieben hat, als ich im Krankenhaus war. In den Apotheken gab es das nicht. Leute, die es nehmen, sagten mir, dass man es in staatlichen Kliniken bekomme, und wie Sie wissen, benötigt man die Genehmigung des Tors, damit diese Kliniken ein Medikament ausgeben.« Der junge Mann nickte verständnisvoll. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, doch er änderte seine Meinung und stellte sich wieder an seinen Platz. Da mischte sich die Alte mit ihrer schrillen Stimme ein und verkündete, dass Tabletten krank machten, dass ein Glas warmer Pfefferminztee ihn von den Schmerzen befreien und gesund werden lassen würde. Yahya kniff die Augen zusammen. Die Alte rieb die Lippen aufeinander und neigte sich, ein paar trockene Pfefferminzstängel in der Hand, zu der Lehrerin Ines: »Morgen besorge ich heißes Wasser aus dem Café hier in der Nähe und koche Ihnen einen Tee daraus.«

Nagi beugte sich zu Yahya und flüsterte ihm ins Ohr, wenn er selbst nur über halb so viel Selbstbewusstsein und Überzeugungskraft verfügte wie diese Frau, wäre schon viel gewonnen.

»Und wenn du nur die Hälfte ihrer Überzeugung hättest, hättest du längst aufgehört herumzuschwafeln«, spottete Yahya.

UMM MABROUK

Umm Mabrouk war kaum mit dem Aufräumen des letzten Zimmers fertig, als bekannt gegeben wurde, dass es Zeit zum Aufbruch sei. Sie schloss sich in der Toilette ein, wechselte ihre durchnässte Kleidung, wusch sich das Gesicht und zog einen sauberen Dschilbab und Schuhe mit einem niedrigen Absatz an. Sie versicherte sich, alles dabeizuhaben, und befühlte zum dritten Mal den Umschlag in ihrer Handtasche, den sie mitgenommen hatte. Dann grüßte sie die übrigen Angestellten, eilte hinaus und zwängte mit Mühe ihren Körper in einen Kleinbus, bevor er abfuhr. Als sie zum Tor kam, war die Straße davor voller Menschen. Sie stieg an der Ecke aus und riss sich dabei den Strumpf an einem vorstehenden Metallstück am unteren Teil der Wagentür auf. Als sie die Schleppe des Dschilbabs hochhob, sah sie das Teil deutlich vorstehen und erinnerte sich sogleich, dass das Nagellackfläschchen bis auf den letzten Tropfen leer war. Trotzdem lächelte sie ohne ersichtlichen Grund. Sie stellte sich neben die Schlange und beteuerte den Wartenden, sich nicht vordrängeln zu wollen, sondern nur gekommen zu sein, um nach einem Verwandten zu suchen. Sie lief an Dutzenden Menschen vorbei, bis sie Yahya fand. Sie erkannte ihn von hinten, setzte ein noch breiteres Lächeln auf und streckte ihm die Hand hin: »Guten Abend, Herr Yahya, ich habe einen Brief von Ihrer Firma dabei.«

Yahya schien ihr unangemeldetes Auftauchen zu beunruhigen. Trotzdem versuchte er ein freundliches Gesicht zu machen, als hätte er sie erwartet: »Hallo, wie geht es, Umm Mabrouk? Schön, dass Sie es geschafft haben herzukommen.«

Noch immer lächelnd, händigte sie ihm den Umschlag aus: »Ich weiß nicht, was da drin ist. Ich hoffe, es ist etwas Gutes. Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Nein, danke. Ich habe Ihnen schon genug Mühe bereitet.«

Umm Mabrouk zog sich rasch wieder zurück. Yahya hatte das Gefühl, sein Herz würde zu zittern beginnen und heftige Stiche in seine linke Seite schicken, sodass er von einer weiteren Schmerzattacke heimgesucht wurde. Auch seine Hand, die den Umschlag hielt, zitterte leicht. Nagi drängte ihn, diesen auf der Stelle zu öffnen. In dem Umschlag war nichts als ein weißes Blatt Papier, auf dem einige Worte standen: »Lieber Yahya, ich hoffe, es geht dir gut. Ich wollte dir Bescheid geben, dass gestern ein Arzt in die Firma gekommen ist und nach dir gefragt hat. Er trug Uniform und sagte, er arbeite im Militärkrankenhaus. Sonst wollte er nichts wissen. Wir sehen uns bald. Amani.«

Nachdem Yahya den Brief gelesen hatte, versank er in Gedanken. Er hatte ein ungutes Gefühl. Er wollte nichts mit diesem Krankenhaus und den Leuten, die dort arbeiteten, zu tun haben. Und er hatte Amani eine ganze Woche nicht gesehen. Sie hatten einen Termin vereinbart, um über die Ereignisse zu sprechen, doch nun war er in dieser Warteschlange gefangen, in der er die meiste Zeit des Tages und manchmal sogar der Nacht verbrachte, genau wie viele andere auch. Nagi hatte ihm angeboten, sein Zelt mitzubringen, damit sie nachts dort hineinschlüpfen könnten, doch Yahya hatte abgelehnt. Er wollte die Nacht lieber wie die anderen verbringen und ein oder zwei Stunden an seinem Platz schlummern. Außerdem standen die Leute um ihn herum die meiste Zeit aufrecht, er hatte in den letzten Tagen kaum einmal jemanden sitzen oder schlafen sehen. Alle rechneten damit, dass sich die Schlange jeden Augenblick weiterbewegte, und wollten darauf vorbereitet sein. Er machte genau das, was die anderen taten, obwohl er nicht daran glaubte, was sie sagten, nämlich dass das Tor möglicherweise am frühen Morgen oder sogar tief in der Nacht öffnen würde.

Auf dem Rückweg fand Umm Mabrouk dank ihrer Geschicklichkeit einen Platz in der alten Metro. Ein Moment der Ruhe nach der Anstrengung eines langen Tages. Sie überlegte, dass sie sich nicht mehr so abrackern konnte wie in ihrer Jugend, als sie sich guter Gesundheit erfreut hatte. Umm Mabrouk dachte an ihre Arbeit bei der älteren Dame, Amanis Mutter, und daran, dass Amani bei dem Besitzer der Firma, in der sie selbst arbeitete, ein gutes Wort für sie eingelegt hatte. Er war einverstanden gewesen, sie drei Tage die Woche einzustellen, damit sie die Putzarbeiten und das Buffet übernahm und überall ihre helfende Hand ausstreckte, wo Not am Mann war. Nachdem die alte Dame gestorben und Amanis Vater ihr gefolgt war, wurden ihre Dienste dort nicht mehr gebraucht, und so übernahm sie in der Firma eine volle Stelle, fünf Tage die Woche. Von morgens bis nachmittags war sie dort, und es war ihr in dieser Zeit kaum gestattet hinauszugehen. Als ihr die Kosten für den Haushalt und die Kinder über den Kopf wuchsen, nahm sie an ihren freien Tagen noch zwei weitere Putzstellen an. Der Kummer war ihr anzusehen. Wären die Umstände nicht so hart, dann müsste sie nicht von Haus zu Haus ziehen und wäre nicht gezwungen, mehr als einer Arbeit nachzugehen.

Ein schmuddeliger Mann von beachtlicher Größe, der in den Metrowaggon stieg, unterbrach ihre Gedanken genau in dem Moment, als die ihr gegenübersitzende Frau von ihrem Platz aufstand. Der Riese eilte in seinen Lumpen darauf zu, stieß dabei Umm Mabrouk gegen das Knie und setzte sich auf den leeren Platz. Er steckte den Kopf aus dem Fenster und begann mit heiserer Stimme zu singen, wobei er an seinen staubigen langen Haarsträhnen kaute. Umm Mabrouk schwor sich insgeheim, trotz des widerlichen Gestanks, den er verbreitete, erst an ihrer Station auszusteigen, auch wenn sie sich jetzt nicht mehr in Gedanken ihrer Lebensgeschichte hingeben konnte, die sie schon so oft durchgegangen war. Sie beobachtete den Mann argwöhnisch und zog ihre Beine ein Stück von ihm zurück, aber das hinderte den Mann, der verrückt zu sein schien, nicht daran, neugierig seine Hand nach ihrer fülligen Brust auszustrecken. Umm Mabrouk sprang entsetzt auf, schrie und schimpfte und schlug mit ihrer Handtasche auf ihn ein. Die Tasche ging auf, und das kaputte Telefon, das sie aus der Firma mitgenommen hatte, um es reparieren zu lassen, fiel heraus. Der Mann geriet wegen des Aufruhrs, der durch das Herunterfallen der Tasche verursacht wurde, in Panik, floh Richtung Tür und sprang, noch bevor die Metro an der nächsten Station zum Halten kam, hinaus.

Die Frauen in ihrer Nähe hatten vor Aufregung zu kreischen begonnen, und Umm Mabrouk hörte einige Fahrgäste murmelnd Gott anrufen oder sie tadeln. Sie bemerkte einen alten Mann, der den Blick starr zu Boden gerichtet hatte und flüsterte, dass der beste Platz für Frauen zu Hause sei. Einer der Passagiere zitierte einen Koranvers, und auch wenn sie nicht genau verstehen konnte, welcher es war, so spürte sie doch an der Art, wie er sie verstohlen ansah, dass der Vers gegen sie gerichtet war. Ein Junge, nicht älter als zwölf Jahre, kam zu ihr. Er trug eine ordentliche, aber alte Schuluniform und fragte sie, ob sie sich verletzt habe. Sie legte ihm eine Hand auf den geschorenen Kopf und sagte: »Möge Gott dich beschützen, mein Junge«, dann fing sie wieder an zu schimpfen, bückte sich, um das Telefon aufzuheben, legte den Hörer wieder darauf und setzte sich an ihren Platz zurück. Was der Mann getan hatte, hatte sie in Panik versetzt. Sie machte sich Vorwürfe, sitzen geblieben zu sein, ganz nah bei ihm, obwohl die anderen Fahrgäste einen Bogen um ihn gemacht hatten, als sie ihn sahen.