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Dieser Sammelband erschließt die kleineren Schriften von Leo N. Tolstoi (1828-1910) über die Verweigerung des Mordhandwerks sowie Darstellungen zur Geschichte der Gegner des Militärdienstes in Russland: "Wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen." (1901) In seinem Geleitwort zur Biographie des nach Gefängnisqualen umgekommenen Waffenverweigerers Jewdokim Nikitschitch Droschin (1866-1894) schreibt Tolstoi: "Wir sehen, dass Obrigkeiten, die sich für christlich halten, bei jeder Gelegenheit gegen Menschen, die sich weigern zu morden, in der offenkundigsten und feierlichsten Weise gezwungen sind, jenes Christentum und jenes sittliche Gebot zu verleugnen, auf welches sich ihre Gewalt allein stützt. ... Früher hatte ... nur selten jemand das Evangelium gelesen und die Leute kannten nicht dessen Geist, sondern glaubten alles, was ihnen die Priester sagten; aber auch schon früher ... hielten manchmal strenggläubige Menschen, die man Sektierer nannte, den Militärdienst für eine Sünde und weigerten sich, ihn zu leisten. Jetzt ... gibt es keinen Menschen, der nicht verpflichtet wäre, bewusst mit seinem Geld, und im größten Teile Europas unmittelbar an den Vorbereitungen zum Mord oder am Mord selber teilzunehmen; jetzt kennen fast alle Menschen das Evangelium und den Geist der Lehre Christi, alle wissen, dass viele Priester bestochene Betrüger sind ... jetzt ist es bereits so weit gekommen, dass nicht Sektierer allein, sondern Leute, die keine besonderen Dogmen bekennen ..., sich weigern zu dienen und ... offen erklären, dass die Menschentötung mit keinem Bekenntnis des Christentums zu vereinigen ist." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 3 (Signatur TFb_B003) Herausgegeben von Peter Bürger
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Seitenzahl: 459
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Vorwort des Herausgebers
I.
DER EINFÄLTIGE IWAN UND DIE SOLDATEN | 1885
Auszug aus dem „Märchen von Iwan dem Dummkopf“ (Сказка об Иване-дураке | Skaska ob Iwane-durake)
Leo N. Tolstoi
II.
DU SOLLST NICHT TÖTEN! | 1900
(НЕ УБИЙ – Ne ubij)
Aus Anlaß der Ermordung des Königs Humbert von Italien
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Albert L. Hauff
III.
DAS REICH GOTTES IN UNS | 1893
Leo N. Tolstoi
Übersetzung eines ersten Teils von Wilhelm Henckel
IV.
EINE RUSSISCHE REKRUTENAUSHEBUNG
Leo N. Tolstoi
Übersetzung von Wilhelm Henckel,1894
V.
SOLDATENPFLICHT | 1895
Leo N. Tolstoi
Nach dem russischen Manuskript übersetzt
VI.
CHRISTENVERFOLGUNGEN IN RUßLAND IM JAHRE 1895
(Gonenie na christian v Rossii)
Neue Schriften von Graf Leo N. Tolstoi
Aus dem Russischen übersetzt von L. Albert Hauff
VII.
AN DEN KOMMANDEUR EINES STRAFBATAILLONS | 1896
Ein Schreiben wegen der Militärdienstverweigerer Peter Olchowik und Kyrill Sereda
Leo N. Tolstoi
VIII.
KRIEG UND VERNUNFT
(Približenie konca – Das Ende naht, 1896)
Graf Leo Tolstoi
Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Alexis Markow
IX.
ZWEI KRIEGE
(Dve vojny, August 1898)
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Ilse Frapan
X.
BRIEF AN EINEN FELDWEBEL
(Pis'mo k fel'dfebelju, 1899)
Leo N. Tolstoi
XI.
ANTWORT AUF DEN BRIEF EINER SCHWEDISCHEN GESELLSCHAFT ÜBER DIE HAAGER KONFERENZ | 1899
Leo N. Tolstoi
XII.
WO IST DER AUSWEG?
(Gde vychod? – 1900)
Leo N. Tolstoi
XIII.
SOLDATENARTIKEL
(Denkzettel für Soldaten: Soldatskaja pamjatka, 1901)
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Otto Bueck
XIV.
DENKZETTEL FÜR OFFIZIERE
(Oficerskaja pamjatka, 1901)
Leo N. Tolstoi
XV.
DAS LICHT LEUCHTET IN DER FINSTERNIS
(I svet vo t'me svetit, 1896-1897, 1900, 1902)
Leo N. Tolstoi
Auszüge aus einem unvollendeten Drama über Christsein, den ungerechten Besitz und Militärverweigerung – Übersetzung von Adolf Heß
XVI.
AUS DEM LESEZYKLUS FÜR ALLE TAGE
(Krug čtenija, 1904-1906)
Von Leo Tolstoi ausgewählte und selbst verfasste Texte
Drei Darstellungen zur Geschichte der Kriegsverweigerung in Russland
XVII.
LEO TOLSTOJ UND DIE SCHICKSALE DES RUSSISCHEN ANTIMILITARISMUS | 1928
Valentin Bulgakov
XVIII.
MÄRTYRER DER NEUEN ORDNUNG | 1929
Aus der Leidensgeschichte der Duchoborzen
Aufzeichnungen (Auszug)
XIX.
SIE STARBEN UM DES GLAUBENS WILLEN | 1929
Valentin Bulgakov
A
NHANG
Gesamtübersicht und Anmerkungen zu den ausgewählten Texten
Ausgewählte Literatur zu Leo N. Tolstoi, nonkonformen Christengemeinschaften, Antimilitarismus und Kriegsverweigerung
„[Es] ist nicht wichtig, wie viele Menschen sich weigern, an den Gewalttaten teilzunehmen, sondern warum sie das tun. Deshalb ist ein einziger Verweigerer unvergleichbar mächtiger als Millionen, die ihn quälen, gefangen halten, hinrichten werden. Und seine Tat ist wirkungsvoller und folgenreicher als sämtliche Parlamentsreden und Friedenskongresse, als Sozialismus und als alle möglichen Kinderspiele und Mittel, die Wahrheit vor sich selbst zu verbergen.“
LEO N. TOLSTOI: Fragment
„Über den Sozialismus“ (O socializme, 1910)1
Der vorliegende Band erschließt alle ‚kleineren Schriften‘ von LEO N. TOLSTOI (1828-1910) zur Verweigerung des militärischen Mordhandwerks – soweit von ihnen gemeinfreie Übersetzungen vorliegen, zwei Texte aus dem dichterischen Werk des Schriftstellers (→I und VX) sowie Darstellungen zur Geschichte der Gegner des Soldatendienstes in Russland (→XVII-XIX).2 Tagebuch- und Briefeditionen3 enthalten zahlreiche weitere Selbstzeugnisse zum Thema unserer Sammlung. Beispielhaft dargeboten werden hier jedoch aus diesem Quellensegment zunächst nur wenige, schon früh übersetzte Briefdokumente.
TOLSTOI betätigte sich gezielt als Wehrkraftzersetzer. Die unmissverständliche Botschaft in einer kleinen Flugschrift aus dem Jahr 1901 wider die offizielle ‚Dienstanweisung‘ der Armee richtet sich an die schon ‚unter den Waffen Stehenden‘ und lautet: „Wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen“ (→XIII; vgl. XIV). Indessen lässt sich in einer Gesamtschau aller Quellen aufzeigen, dass der ‚Alte von Jasna Poljana‘ nur solche angehenden Verweigerer ermutigt hat, die aus einer inneren Gewissheit heraus – ohne Blick auf Außenwirkung, Beifall oder fremde Erwartungen – bereit waren, Schritte zu gehen, die eine bittere Verfolgung bis hin zum Letzten nach sich ziehen können.
LEO NIKOLAJEWITSCH TOLSTOI – der weltberühmte Dichter von „Krieg und Frieden“ – kannte Militär und Krieg nur zu gut aus eigener Anschauung.4 Im Frühjahr 1851 hatte er seinen ältesten Bruder NIKOLAJ auf der Rückreise zu dessen Regiment in den Kaukasus begleitet, später dort und dann auch im Krimkrieg (1853-1856) als Soldat gekämpft, zuletzt wegen sogenannter Tapferkeit eine Beförderung zum Leutnant erhalten und erst im März 1856 sein im November des gleichen Jahres angenommenes Abschiedsgesuch vorbereitet. Die frühen literarischen Arbeiten lassen z. T. bereits eine nonkonforme – jedenfalls nicht staatstragende – Betrachtungsweise der Menschenschlächterei auf den ‚Feldern der Ehre‘ erkennen.
Als Zeugnis der Lösung einer mehrjährigen existentiellen Krise muss die Schrift „Meine Beichte“ (Ispoved', 1879-1882) gelesen werden, die dem Autor erstmalig das Verbot eines ganzen Werkes durch die Zensurbehörde beschert.5 Darin schreibt er im Rückblick kurz und bündig: „Ich bin im Kriege gewesen und habe gemordet.“ Die ‚theologische‘ Rechtfertigung des Krieges und anderer Tötungsakte6 des Herrschaftsapparates durch die orthodoxen Lehrautoritäten ist in jenen Jahren schon der maßgebliche Grund für TOLSTOISkompromisslose Absage an jenes Kirchentum7, das eine Symbiose mit dem Staat eingegangen ist.
Nach einer Studie zur ‚Kritik der dogmatischen Theologie‘, intensiver Bibelarbeit mit dem Evangelium, Darlegungen des eigenen Glaubens und dem Ringen um eine christliche Antwort mit Blick auf das seit Anfang der 1880er Jahre erkundete Leben der Armen im Land wird LEO TOLSTOI das 1890-1893 entstandene Buch „Das Reich Gottes ist in Euch …“ (1894) veröffentlichen.8 Dies ist im Gefolge aller Schriften ab der „Beichte“ sein grundlegendes Werk über die Unvereinbarkeit von Christentum und Soldatenhandwerk (bzw. staatlich-militärischer Gewalt). RAPHAEL LÖWENFELD fügt als Übersetzer „dem langen Werktitel den prägnanten Zusatz ‚Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht‘ an, den Tolstoj selbst in seiner Korrespondenz mit Löwenfeld zwar erwogen, aber schließlich verworfen hatte.“9 Im vorliegenden Band erschließen wir noch einmal Auszüge aus diesem Werk nach einer anderen frühen Übersetzung (→III und IV). – Aus heutiger Sicht ist mancher vielleicht geneigt, von einem ‚Kapitel politischer Theologie‘ zu sprechen. Doch dem Verfasser ging es nicht um Politik, sondern um Religion!
TOLSTOI war freudig erregt, wenn er seinen mit der ‚Bergpredigt des Nichtwiderstrebens‘ (Ergebung) untrennbar verknüpften Weg der Kriegsverweigerung (Nichtkooperation, Widerstand) wiederentdeckte bei viel früheren Lebenszeugen, so bei dem kaum bekannten tschechischen Laien PETR CHEL'ČICKIJ (ca. 1390-1460) im Umkreis der Böhmischen Brüder, ‚friedenskirchlichen Stimmen‘ aus Nordamerika oder Vertretern der wahren – d. h. die Einheit der Menschheit enthüllenden und somit gewaltfreien – Religion in allen Kulturkreisen.10 Er erhielt Anregungen und Zuspruch von ‚heterodoxen‘ Gemeinschaften11 in Russland, die man in großkirchlichen Kreisen verächtlich als Sekten abtat und wegen fehlenden Staatsgehorsams unbarmherzig verfolgte. Dazu zählen u. a. die Molokanen („Milchtrinker“), Duchoborzen („Geisteskämpfer“), die „Stundisten“ in der Ukraine oder Bauerndenker wie der Steinmetz WASSILIJ SUTAJEW (1819-1892). Am Schicksal der ob ihrer Militärdienstverweigerung brutal drangsalierten Duchoborzen, die ihm als Lehrmeister eines aktiven Widerstehens ohne Gewalt begegneten, nahm TOLSTOI großen Anteil (→VI und XVIII). Seine Versuche einer wirksamen Hilfe erschöpften sich keineswegs in der Bereitstellung der Erlöse aus der Veröffentlichung des Romans „Auferstehung“ (1899) für die Ausreise dieser „Geisteskämpfer“ nach Kanada.12
Kriegsdienstgegner wie der ehedem als Militärarzt fungierende Dr. ALBERT ŠKARVAN13 (1869-1926) aus Ungarn wurden bedeutsame Vermittler von TOLSTOIS Schrifttums (→XVI.B/C). Für verfolgte Verweigerer wie PETER OLCHOWIK und KYRILL SEREDA verfasste LEO N. TOLSTOI eigenhändige Bittschriften (→VII). Über Briefwechsel ihm bekanntgewordene Vorbilder aus dem Ausland machte er durch seine Veröffentlichungen in aller Welt bekannt (→VIII).
In seinem Geleitwort zur Biographie des nach Gefängnistorturen umgekommenen Militärdienstverweigerers JEWDOKIM NIKITSCHITCH DROSCHIN (1866-1894) schreibt TOLSTOI: „Wir sehen, dass Obrigkeiten, die sich für christlich halten, bei jeder Gelegenheit gegen Menschen, die sich weigern zu morden, in der offenkundigsten und feierlichsten Weise gezwungen sind, jenes Christentum und jenes sittliche Gebot zu verleugnen, auf welches sich ihre Gewalt allein stützt. … In früheren Zeiten bildeten das von den Herrschern gemietete Heer ausgesuchte, verwahrloste, unchristliche und unwissende Leute oder Freiwillige und Söldlinge. Früher hatte Niemand oder nur selten Jemand das Evangelium gelesen und die Leute kannten nicht dessen Geist, sondern glaubten alles, was ihnen die Priester sagten; aber auch schon früher – wenn auch selten – hielten manchmal strenggläubige Menschen, die man Sektierer nannte, den Militärdienst für eine Sünde und weigerten sich, ihn zu leisten. Jetzt dagegen gibt es keinen Menschen, der nicht verpflichtet wäre, bewusst mit seinem Geld, und im größten Teile Europas unmittelbar an den Vorbereitungen zum Mord oder am Mord selber Teil zu nehmen; jetzt kennen fast alle Menschen das Evangelium und den Geist der Lehre Christi, alle wissen, dass viele Priester bestochene Betrüger sind und Niemand mehr – außer den ungebildeten Leuten – glaubt ihnen; und jetzt ist es bereits so weit gekommen, daß nicht Sektierer allein, sondern Leute, die keine besonderen Dogmen bekennen, gebildete, freidenkende Menschen, sich weigern zu dienen und nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern offen erklären, dass die Menschentötung mit keinem Bekenntnis des Christentums zu vereinigen ist.“ (→V; vgl. auch XVI.A)
Am 23. März 1980 wird der salvadorianische Erzbischof OSCAR ROMERO den aus den Armen rekrutierten Sicherheitskräften seines Landes, die im Dienste eines Herrschaftssystems der reichen Minderheit das Volk unterdrücken, zurufen: „Kein Soldat ist gezwungen, einem Befehl zu folgen, der gegen das Gesetz Gottes verstößt!“ (Mit dem landesweit öffentlichen Aufruf zur Befehlsverweigerung hat er gleichsam sein eigenes Todesurteil ‚unterschrieben‘; der Militärbischof des Landes und die Kardinäle einer um sich selbst kreisenden Priesterreligion versagten ihm – wie zu erwarten – jegliche Solidarität.) An diesem Beispiel lässt sich TOLSTOIS Anliegen gut beleuchten. Mit ihrer Teilnahme an Repressionsapparaten wie Militär und Polizei stützen die Unterdrückten die Macht der Besitzenden (d. h. ihrer Unterdrücker), wobei sie sogar einwilligen, Ihresgleichen zu quälen oder zu töten. Erst wenn die Menschen an den Angelpunkten der Macht konsequent Gehorsam und Mitwirkung verweigern, ist eine Veränderung der traurigen Weltverhältnisse zu erhoffen (→XII). Die Herrschenden, machtgläubige Revolutionskader eingeschlossen (→XVII und XIX), fürchten indessen nichts mehr, als dass entsprechende Konzepte eines gewaltfreien Widerstehens ins allgemeine – öffentliche – Bewusstsein gelangen.
TOLSTOIS Schriften haben den ersten Weltkrieg nicht verhindert, jedoch viele tausend Kriegsdienstverweigerer auf den Weg des ‚frommen Ungehorsams‘ geführt und in gnädigen Zeiten das Antlitz der Erde durchaus mit verändert. Sie waren eine Inspiration für GANDHI14 in Indien und für jene religiösen Sozialisten bzw. Anarchisten15 in Europa oder Nordamerika, die dem irrationalen Heilsversprechen der Gewaltgottheit widersagt haben. Zu den Unterzeichnenden des Manifests ‚Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend‘ von 1930 gehörten die Tolstoi-Vertrauten PAVEL BIRJUKOV und VALENTIN BULGAKOV.16 Nahezu unmöglich erscheint es, dass ein einzelner Forscher so etwas wie eine globale Wirkungsgeschichte der Friedenswerke TOLSTOIS schreiben könnte.
Die aus einer Hinwendung zu JESUS AUS NAZARETH kommende Botschaft des weltweit verehrten Russen, ohne die heute eine Zukunft der menschlichen Familie auf der Erde – ohne grenzenlose Barbarei – schier unvorstellbar erscheint, ist nicht verstummt. Bisweilen wagen sich auch in unseren Gegenwart Vorboten eines Frühlings ohne Blutvergießen und täglich höher werdende Leichenberge ans Tageslicht. Im Jahr 2022 – während des russischen Angriffskrieges in der Ukraine – haben Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten aus der Ukraine, Russland, Belarus und Finnland einen Film gemacht, der inzwischen unter dem Titel „Make Art, Not War“17 (2023) im Internet abgerufen werden kann – wahlweise auch mit Untertiteln in Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Eingerahmt von Dichtungen aus der Ukraine und Weißrussland steht das unvollendete Drama „Das Licht leuchtet in der Finsternis“ (→XV) von LEO N. TOLSTOI im Mittelpunkt dieses künstlerischen Votums: Verweigert das Töten!
Düsseldorf, im März 2023 Peter Bürger
1 Die Übersetzung der Passage stammt von Dirk Falkner (FALKNER: 2021*, S. 181). – Alle mit *Sternchen gekennzeichneten Kurztitel im vorliegenden Buch verweisen auf das Literaturverzeichnis im Anhang auf →S. 289-291.
2 Mit Ausnahme des Textes „Du sollst nicht töten“ von 1900 (→II) erfolgt die Darbietung in chronologischer Reihenfolge.
3 BIRUKOF 1906*, BIRUKOF 1909*, BIRUKOFF 1925*, NÖTZEL 1923*, TOLSTOI-BRIEFAUSWAHL 1848-1910*, TOLSTOI-BRIEFE 1844-1885*, TOLSTOI-BRIEFE 1881-1910*, TOLSTOI-TAGEBÜCHER 1847-1919*.
4 Vgl. SCHKLOWSKI 1984*, S. 104-161 und 175-212; KJETSAA 2001*, S. 57-99.
5 Leo N. TOLSTOI: Meine Beichte. Das Bekenntnisbuch in den Übersetzungen von H. von Samson-Himmelstjerna und Raphael Löwenfeld. Neu ediert durch Ingrid von Heiseler, mit einem Hintergrundtext von Pavel Birjukov. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 1). Norderstedt: BoD 2023.
6 Vgl. Leo N. TOLSTOI: Texte gegen die Todesstrafe. Über die Unmöglichkeit des Gerichtes und der Bestrafung der Menschen untereinander. Mit einem Geleitwort von Eugen Drewermann. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 1). Norderstedt: BoD 2023.
7 Vgl. Leo N. TOLSTOI: Staat – Kirche – Krieg. Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 2). Norderstedt: BoD 2023.
8 Leo N. TOLSTOI: Das Reich Gottes ist in Euch, oder: Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. (Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht). Vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Raphael Löwenfeld 1894. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 9). Norderstedt: BoD 2023.
9 SANDFUCHS 1995*, S. 238.
10 Verwiesen sei summarisch auf den ausgezeichneten Überblick zu „Quellen und Einflüssen“ in FALKNER 2021*, S. 19-46.
11 Vgl. u. a. neben den einschlägigen Werken zur Biographie Tolstois: ANONYM 1901*, DONSKOV 2015*, GRASS 1907/1966*, GRASS 1914/1966*, ZHUK 2015*.
12 SCHKLOWSKI 1984*, S. 600-607.
13 Er hat 1895 nach Lektüre der Schrift „Das Reich Gottes ist in Euch“ seinen Militärdienst aufgegeben, worauf die österreichisch-ungarischen Staatsorgane u. a. mit seiner mehrmonatigen Inhaftierung reagierten.
14 BIRUKOFF 1925*; BARTOLF 2006*; UDOLP 2015*.
15 Beispielhaft sei genannt die tolstojanische Bewegung in den Niederlanden (DE LANGE 2016*). Zur anarchistischen Tolstoi-Rezeption vgl. auch FALKNER 2021*, HANKE 1993*, KALICHA 2013*, KALICHA 2017*, KLEMM 2008*, SANDFUCHS 1995*, SCHMID 2015*. – Speziell zu den religiösen Sozialisten in der Schweiz: MÜNCH 2015*.
16 Vgl. zu den Manifesten gegen die Wehrpflicht: BARTOLF/MIETHING 2020*.
17 Alle Angaben zu diesem beeindruckenden pazifistischen Kunstprojekt im Anhang auf →Seite 287.
Auszug aus dem „Märchen von Iwan dem Dummkopf“
(Сказка об Иване-дураке | Skaska ob Iwane-durake, 1885/86)18
Leo N. Tolstoi
Übersetzung von Raphael Löwenfeld, 1907
Im Jahr 1885 schrieb Leo N. Tolstoi „Das Märchen von Iwan dem Dummkopf“, eine verdeckte Kritik an Zarenherrschaft, Militarismus und Weltgefüge im Dienste der Reichen. Dieses ‚politische Märchen‘ wider die Symbiose von Münze, Macht und Militär, das – aufgrund eines klugen Vorgehens – 1886 unerwartet die russische Zensur passieren konnte und erst 1892 den Behörden mit Blick auf die populäre Verbreitung missliebig war, erzählt die Geschichte der drei Söhne eines durchaus begüterten Bauern: Der Krieger Semjon und der wohlhabende Kaufmann ‚Dickwanst Taras‘, die im weltlichen Sinn als erfolgreich gelten, handeln so rücksichtslos, dass der Familienfrieden leicht zerbrechen könnte. Doch Iwan, der als einfältig geltende dritte Sohn, hindert dies. Er bestellt mit Zähigkeit den elterlichen Bauernhof, versorgt den Vater sowie eine stumme Schwester und fügt sich gutmütig gar den ungerechten Ansprüchen der gierigen Brüder. Diesen Familienfrieden wider alle Erwartung kann ein alter Satan nicht ertragen. Er schickt zunächst drei nur bedingt erfolgreiche Unterteufel, um die Brüder zu entzweien. Sodann geht der Oberteufel selbst ans Werk. Am Ende werden Semjon (Militär, Waffenindustrie) und Taras (Kapital), die im Zusammenspiel beide zum Zarenstatus (politische Macht) aufgestiegen sind, zugrunde gerichtet sein. Der dritte Sohn Iwan erweist sich jedoch durchgehend als immun gegenüber den zerstörerischen Verführungen der Teufel. Soldaten sind in seinen Augen allein nützlich, wenn sie den Menschen lustig zur Musik aufspielen (danach muss man sie sofort wieder zurück in ‚Stroh‘ verwandeln). Goldmünzen verschaffen ihm nur ein Gaudi, wenn er sie in die Luft werfen und unter die Leute verschenken kann (sobald das Geldsystem den Leuten Not bringt, muss man es sabotieren). Seine allerletzte, von einem der Unterteufel überlassene Heilwurzel gebraucht der ehrliche „Dummkopf“, der sich nicht korrumpieren lässt, zugunsten eines kranken Bettelweibs. Die Königstochter kann er merkwürdigerweise auch ohne das Zaubermittel heilen, was ihm den Königsthron einbringt. Der folgende Auszug aus dem Märchen handelt davon, wie der alte Satan erfolglos versucht, endlich auch den ebenfalls zur Königswürde gelangten Bauern Iwan zu ruinieren.
[…] Mit zwei Brüdern war der alte Teufel fertig und ging nun zu Iwan. Der Teufel verwandelte sich in einen Feldherrn, kam zu Iwan und beredete ihn, ein Heer zu bilden. Ein König, sagt er, kann nicht ohne Soldaten leben. Gib du mir den Befehl, so nehme ich aus deinem Volk Soldaten und bilde ein Heer.
Iwan hörte ihm ruhig zu. Schon recht, sagt er, bilde nur eins und laß die Soldaten hübsche Musik machen. Das hab' ich gern.
Da ging der alte Teufel in Iwans Reich umher und berief Freiwillige. Er verkündete, alle sollten sich die Stirn rasieren lassen – dann bekäme jeder ein Maß Branntwein und eine rote Mütze.
Da lachten die Narren. Branntwein, sagen sie, ist bei uns frei, wir brennen selbst welchen, und Mützen nähen uns unsere Frauen alle möglichen, sogar bunte und noch dazu mit Fransen.
So kam denn niemand. Geht der alte Teufel zu Iwan.
Deine Narren, sagt er, kommen nicht freiwillig, muß sie mit Gewalt zusammentreiben.
Schon recht, meint Iwan, so treib sie mit Gewalt zusammen.
Und der alte Teufel verkündete, alle Narren sollten sich in die Stammrolle eintragen lassen; wer aber nicht käme, den würde Iwan hinrichten lassen.
Da kamen die Narren zum Feldherrn und sprachen: Du sagst uns, wenn wir keine Soldaten werden, so wird uns der König hinrichten lassen; du sagst uns aber nicht, was geschieht, wenn wir Soldaten werden. Es heißt, auch Soldaten werden getötet.
Ja, ohne dem geht's nicht ab.
Als die Narren das vernahmen, widersetzten sie sich. Wir kommen nicht, sagen sie. Mag man uns schon lieber zu Hause töten. Dem Tode entrinnen wir ja doch nicht.
Narren seid ihr, Narren! sagt der alte Teufel. Ein Soldat wird entweder getötet oder aber nicht getötet; wenn ihr euch aber nicht stellt, so überliefert euch König Iwan sicherlich dem Tode.
Da überlegten die Narren, kamen zu dem einfältigen Iwan und fragten:
Da ist ein Feldherr erschienen, sagen sie, der befiehlt uns allen, wir sollen Soldaten werden. Wenn ihr Soldaten werdet, sagt er, so werdet ihr entweder getötet oder werdet nicht getötet; wenn ihr aber nicht kommt, so überliefert euch König Iwan sicherlich dem Tode.
Da lachte Iwan. Wie kann ich allein, sagt er, euch alle dem Tode überliefern? Wäre ich nicht zu einfältig, so würde ich euch das erklären, so aber versteh' ich's selber nicht.
So gehen wir also nicht zu den Soldaten, sagen sie. Schon recht, meinte Iwan, geht nicht.
Da gingen die Narren zum Feldherrn und weigerten sich, Soldaten zu werden.
Der alte Teufel sieht ein, daß die Sache so nicht geht; er zieht also zum König von Tarakan und beredet den.
Laß uns in den Krieg ziehen, sagt er, König Iwan bekriegen. Er hat zwar kein Geld, aber Korn und Vieh und alle Güter in Hülle und Fülle.
Da zog der König von Tarakan in den Krieg. Er sammelte ein großes Heer, setzte Flinten und Kanonen in stand, zog an die Grenze und brach in Iwans Reich ein.
Kommen Boten zu Iwan und melden: Der König von Tarakan überzieht uns mit Krieg.
Ei was, meint Iwan, laß ihn nur kommen.
Der König von Tarakan überschritt mit seinem Heere die Grenze und schickte Kundschafter aus, um Iwans Heer aufzuspüren. Man suchte und suchte – da war kein Heer. Man wartete und wartete, ob es sich nicht irgendwo zeigen würde. Aber es fand sich keine Spur von einem Heer, und war niemand da, um Krieg zu führen. Da schickte der König von Tarakan Soldaten aus, Dörfer zu besetzen. Als die Soldaten im ersten Dorf ankommen, springen die Narren und ihre Frauen heraus und schauen die Soldaten verwundert an. Die Soldaten nehmen den Narren Getreide und Vieh; die Narren geben es her, und niemand verteidigt sich. Zogen die Soldaten in das nächste Dorf – genau das selbe. So zogen die Soldaten einen Tag und noch einen umher – überall dasselbe. Man gibt alles her, niemand verteidigt sich, die Narren laden die Soldaten sogar ein, bei ihnen zu wohnen. Ihr lieben Freunde, sagen sie, wenn ihr in eurem Lande ein schlechtes Leben führt, kommt doch ganz zu uns. Die Soldaten marschierten und marschierten – nirgends waren Truppen; dabei führt das ganze Volk ein gutes Leben, ernährt sich und andere, verteidigt sich nicht, sondern ruft noch Fremde ins Land.
Das wurde den Soldaten langweilig, und sie zogen zu ihrem König von Tarakan.
Wir können keinen Krieg führen, sagen sie, führ uns an einen anderen Ort; Krieg führen ist eine schöne Sache, aber das ist ja hier gerade als wenn man Brei schneidet. Hier können wir nicht länger bleiben.
Da wurde der König von Tarakan böse und befahl den Soldaten durchs ganze Land zu ziehen, die Dörfer, Häuser und das Korn zu verbrennen und das Vieh zu schlachten. Hört ihr nicht auf meinen Befehl, sagt er, so lasse ich euch alle hinrichten.
Die Soldaten erschraken und begannen nach dem Befehl des Königs zu handeln. Sie verbrannten die Häuser und das Korn und schlachteten das Vieh. Die Narren wehrten sich noch immer nicht, sondern weinten nur. Es weinten die alten Männer und alten Weiber, es weinten auch die kleinen Kinder.
Warum, sagen sie, tut ihr uns weh? Warum, sagen sie, verderbt ihr mutwillig unser Hab und Gut? Wenn ihr etwas braucht, so nehmt es euch doch lieber. Da merkten die Soldaten, wie abscheulich sie handelten. Sie zogen nicht weiter, und das ganze Heer lief auseinander.
[…]
18 Textquelle | Das Mährchen vom einfältigen Iwan. In: Leo N. TOLSTOI: Volkserzählungen. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. Mit Buchausstattung von J. W. Ciffarz. Jena: Eugen Diederichs Verlag 1907 (hier geringfügig geändert anhand anderer Übersetzungen, u. a. den Namen „König von Tarakan“ statt „König der Kakalaken“; Titel des Auszugs in diesem Band redaktionell hinzugefügt, pb).
НЕ УБИЙ – Ne ubij
Aus Anlaß der Ermordung des Königs Humbert von Italien 1900
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Albert L. Hauff19
Wenn Könige durch gerichtliche Urteile hingerichtet werden, wie Karl I., Ludwig XVI., Kaiser Maximilian von Mexiko, oder wenn sie in Palastrevolutionen ermordet werden, wie Peter III., Kaiser Paul und verschiedene Sultane, Schahs und Bogdüchane, so schweigt man gewöhnlich darüber. Aber wenn sie ohne Urteile und ohne Palastrevolutionen ermordet werden, wie Heinrich IV., Alexander II., die Kaiserin von Österreich20, oder der Schah von Persien21, und jetzt König Humbert, so erregen solche Mordthaten unter Königen und Kaisern und denen, die ihnen nahe stehen, die höchste Verwunderung und Entrüstung, als ob diese Herrscher nicht selbst an Hinrichtungen und Kriegen teilgenommen, sich nicht derselben für ihre Zwecke bedient und sie befohlen hätten. Und dabei waren auch die besten der ermordeten Souveräne, wie z. B. Alexander II. und König Humbert, dessen schuldig, daß sie, abgesehen von einzelnen Hinrichtungen, den Tod von Zehntausenden von Menschen veranlaßt haben, welche auf den Schlachtfeldern fielen. Andere Könige und Kaiser aber, welche nicht zu den guten gezählt werden können, machten sich mitschuldig am Tod von Hunderttausenden und Millionen.
Die Lehre Christi hat das Gesetz Auge um Auge, Zahn um Zahn abgeändert. Diejenigen Menschen aber, welche sich immer an dieses Gesetz halten und es auch jetzt noch in schrecklichem Maße anwenden, in den Hinrichtungen und in den Kriegen, wenden es überdies nicht nur einfach Auge um Auge an, sondern ohne jede Herausforderung befehlen sie, Tausende zu erschlagen, wie sie es selbst thun, indem sie Krieg erklären, und diese haben keine Ursache, empört zu sein, wenn dieses Gesetz auch auf sie angewendet wird, in so geringem, unbedeutendem Maße, daß kaum ein ermordeter König oder Kaiser auf Hunderttausende oder vielleicht Millionen Menschen kommt, welche auf den Befehl und mit der Einwilligung von Königen und Kaisern getötet wurden. Könige und Kaiser können nicht empört sein über solche Ermordungen, wie die des Kaisers Alexander II. oder des Königs Humbert; sie sollten sich im Gegenteil darüber wundern, daß solche Mordthaten so selten bleiben, nachdem sie den Menschen beständig und allgemein das Beispiel des Mordes gegeben haben.
Die große Masse der Menschen ist so hypnotisiert, daß sie die Bedeutung dessen nicht begreifen, was beständig vor ihren Augen vorgeht; sie sehen die eifrige Sorgfalt von Königen, Kaisern, Präsidenten um das disciplinierte Heer, und sie sehen diese Musterungen, Paraden, Manöver, welche sie veranstalten und mit denen diese voreinander prahlen, und die Menschen laufen zum Vergnügen dahin, um zuzusehen, wie ihre Brüder, gekleidet in eine einfältige, bunte, glänzende Tracht, unter Pauken- und Trompetenschall sich in Maschinen verwandeln, und auf den Ruf eines Menschen alle zugleich dieselbe Bewegung machen. Und die Masse begreift nicht, was das bedeutet! Aber das ist doch klar und einfach. Das alles bedeutet nichts anderes, als Vorbereitungen zum Mord!
Das ist die Bethörung der Menschen zu dem Zweck, daß sie mit ihren Waffen Mordthaten begehen. Und Könige, Kaiser und Präsidenten thun das, befehlen das und sind stolz darüber. Und sie selbst, die speciell mit dem Mord sich beschäftigen und ihren Beruf daraus machen, indem sie beständig kriegerische Uniformen und Mordwaffen tragen, sind entsetzt und empört, wenn man einen der Ihrigen ermordet.
Der Königsmord, wie auch die neuliche Ermordung des Königs Humbert, ist entsetzlich nicht nur wegen seiner Grausamkeit. Was auf Befehl von Königen und Kaisern geschieht, nicht nur in vergangener Zeit, wie die Bartholomäusnacht, die Ermordungen des Glaubens wegen, die schreckliche Niederwerfung der Bauernaufstände, das Blutbad der Versailler, sondern auch heutzutage die staatlichen Hinrichtungen, das Hinschmachten in Einzelhaft, und in den Strafbataillonen, das Aufhängen, das Kopfabschlagen, das Erschießen und Erschlagen in den Kriegen, das ist unvergleichlich grausamer als die Mordthaten, welche die Anarchisten begehen. Schrecklich sind diese Mordthaten, nicht deshalb, weil sie nicht verdient sind; wenn Alexander II. und König Humbert den Tod nicht verdient haben, so haben ihn noch weniger die Tausende von Russen verdient, welche vor Plewna fielen, und die Italiener, die in Abessinien umgekommen sind. Schrecklich sind solche Königsmorde nicht wegen ihrer Grausamkeit und weil sie nicht verdient waren, sondern wegen der Unvernunft derjenigen, die sie begehen. Wenn die Königsmörder unter dem Einfluß des persönlichen Gefühls der Entrüstung handeln, das durch die Leiden des unterdrückten Volkes hervorgerufen wird, für welche sie Alexander, Carnot, Humbert anklagen zu müssen glaubten, oder wenn sie aus dem persönlichen Gefühl der Rachsucht handelten, so sind solche Thaten begreiflich, so verbrecherisch sie auch sind. Aber wie ist es möglich, daß eine Organisation von Menschen – Anarchisten, wie man sie jetzt nennt – welche Bresci ausgesendet hat und noch andere Kaiser bedroht, nichts anderes erdenken konnte, um die Lage der Menschheit zu bessern, als den Mord der Potentaten, deren Vernichtung ebenso nützlich ist wie das Abschlagen der Köpfe eines Märchenungeheuers, dem an Stelle der abgeschlagenen Köpfe sogleich neue wachsen. Die Könige und Kaiser haben schon lange eine solche Ordnung eingeführt, wie bei den Magazingewehren. Sobald eine Patrone verschossen ist, nimmt sofort eine andere ihre Stelle ein. „Le roi est mort, vive le roi!“ Warum also sie töten?
Nur bei der oberflächlichsten Ansicht kann die Ermordung dieser Leute als ein Mittel zur Errettung des Volkes von der Unterdrückung und von dem Kriege erscheinen, welche Menschenleben vernichten.
Es genügt, sich dessen zu erinnern, daß ebensolche Unterdrückungen und ebensolche Kriege immer entstanden sind, wer auch an der Spike der Regierungen stand: Nicolai oder Alexander, Joseph oder Franz, Napoleon oder Ludwig, Palmerston oder Gladstone, Mac Kinley oder ein anderer, um sogleich zu begreifen, daß nicht irgend welche einzelnen Personen diese Unterdrückungen und Kriege verursachen, unter welchen die Völker leiden. Das Elend der Menschen entsteht nicht durch einzelne Personen, sondern durch eine solche gesellschaftliche Ordnung, bei welcher alle Menschen so miteinander verbunden sind, daß alle sich unter der Gewalt einiger Menschen befinden oder, wie es noch öfter der Fall ist, eines Menschen, welche durch ihre Ausnahmsstellung über dem Schicksal und dem Leben von Millionen Menschen sich oft in einem mehr oder weniger krankhaften Zustande befinden.
Diese Menschen sind von frühester Kindheit bis zum Grabe von einem unsinnigen Luxus umgeben und von der diesen immer begleitenden Atmosphäre der Lüge und Kriecherei. Ihre ganze Erziehung, alle ihre Beschäftigungen konzentrieren sich auf eins: auf das Studium früherer Mordthaten, auf die beste Art von Massenmord in unserer Zeit, auf die besten Vorbereitungen zum Mord. Von Kindheit an werden sie in allen möglichen Formen des Mordes unterrichtet; immer tragen sie Mordwerkzeuge, Säbel, Degen, bei sich. Sie tragen verschiedenartige Uniformen, veranstalten Paraden, Musterungen, Manöver, machen einander Besuche und beschenken sich gegenseitig mit Orden und Regimentern. Und nicht nur findet sich kein einziger Mensch, der ihnen das, was sie thun, mit dem wahren Namen nennt und ihnen sagt, mit Vorbereitungen zum Mord sich zu beschäftigen, sei verbrecherisch, sondern sie hören sogar von allen Seiten nur Beifall und Ausrufe des Entzückens über ihr Thun. Wenn sie ausreiten, bei Paraden oder Musterungen erscheinen, läuft eine Menschenmenge herbei und begrüßt sie mit Begeisterung. Und so muß es ihnen scheinen, daß das ganze Volk seinen Beifall mit ihrem Thun ausspreche. Der Teil der Presse, den sie allein zu sehen bekommen und welcher ihnen der Ausdruck der Gefühle des ganzen Volkes oder der besten Vertreter desselben zu sein scheint, verherrlicht in sklavischer Weise alle ihre Worte und Thaten, wie dumm und sündhaft sie auch sein mögen. Die nahestehenden Männer und Frauen, Geistliche und Weltleute, lauter Menschen, welche die Menschenwürde nicht schätzen, suchen einander zu überbieten in feiner Schmeichelei, verstellen sich vor den Herrschern und betrügen sie in allem und lassen ihnen nicht die Möglichkeit offen, das wahre Leben zu sehen. Diese Menschen können hundert Jahre leben und werden doch niemals einen wirklich freien Menschen sehen und niemals die Wahrheit zu hören bekommen. Man entsetzt sich zuweilen über die Worte und die Thaten dieser Menschen, aber man muß sich nur in ihre Lage hineindenken, um sogleich zu begreifen, daß jeder Mensch an ihrer Stelle ebenso handeln würde. Ein vernünftiger Mensch an ihrer Stelle könnte nur eine einzige vernünftige Handlung vollbringen: diese Stellung aufgeben. Aber jeder Mensch könnte in ihrer Stellung nur ebenso handeln wie sie.
Was muß im Kopfe eines Herrschers vorgehen, wie der von Natur bescheidene und friedliche Nicolai II.? Er fängt seine Regierung damit an, daß er ehrwürdigen Greisen auf ihren Wunsch, ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden, zur Antwort giebt, die Selbstregierung sei unsinnige Phantasterei, wofür ihn die Organe der Presse und die Menschen, die er sieht, verherrlichen. Er legt ein kindlich-thörichtes Projekt zur Einführung des ewigen Friedens vor, während er zugleich Verfügungen zur Vermehrung des Heeres erläßt – und die Verherrlichungen seiner Weisheit und Tugend finden keine Grenzen. Ohne jede Notwendigkeit, sinnlos und schonungslos, beleidigt und unterdrückt er ein ganzes Volk – die Finnländer. Und wieder hört er nur Beifallsgeschrei. Endlich veranstaltet er ein in seiner Ungerechtigkeit und Grausamkeit entsetzliches Blutbad in China, das weit entfernt ist, mit seinem Projekt des ewigen Friedens zu harmonieren, und von allen Seiten wird er wieder verherrlicht, zugleich für seine Siege und für die Fortsetzung der friedlichen Politik seines Vaters.
Was muß in Wirklichkeit vorgehen in den Köpfen und Herzen dieser Gewalthaber!
Daraus geht hervor, daß an der Unterdrückung der Völker und an den Mordthaten und den Kriegen nicht Alexander und Humbert, nicht Friedrich oder Nicolai, noch Chamberlain, welche diese Unterdrückungen und Kriege leiten, die Schuld tragen, sondern diejenigen, welche sie in die Stellung von Machthabern über das Leben der Menschen gesetzt haben und sie darin unterstützen. Und darum also soll man nicht Alexander, Nicolai, Humbert und die anderen ermorden, sondern man soll aufhören, diejenige gesellschaftliche Gestaltung zu stützen, aus der sie hervorgehen. Die jetzige gesellschaftliche Gestaltung wird aber nur durch den Egoismus und die Verdummung der Menschen gestützt, welche ihre Freiheit und Ehre für erbärmlichen materiellen Gewinn verkaufen.
Die Menschen, welche auf der untersten Stufe der Leiter stehen, geben zum Teil infolge der Verdummung durch den Patriotismus und durch pseudo-religiöse Erziehung, teils wegen persönlicher Vorteile ihre Freiheit und ihre Menschenwürde hin zu Gunsten von Menschen, die höher als sie stehen und ihnen materiellen Gewinn bieten. In derselben Stellung befinden sich auch die Menschen, die auf einer etwas höheren Stufe der Leiter stehen, und gleichfalls infolge von Verdummung und hauptsächlich des Gewinnes wegen auf ihre Freiheit und Menschenwürde verzichten. Dasselbe ist bei noch höher Stehenden der Fall, und so geht es weiter bis zu den höchsten Stufen bis zu jenen Menschen oder zu jener einzigen Person, welche auf dem Gipfel steht und welcher nichts zu erwerben übrigbleibt, für welche die einzigen Motive der Thätigkeit nur die Herrschsucht und Ruhmsucht sind, und welche gewöhnlich so demoralisiert sind durch die Gewalt über Leben und Tod der Menschen und durch die damit verbundene Schmeichelei und Kriecherei der sie Umgebenden, daß sie vollständig überzeugt sind, der Menschheit Wohlthaten zu erweisen, obgleich sie unaufhörlich Böses thun.
Die Völker, welche selbst ihre Menschenwürde des Vorteils wegen opfern, bringen diese Menschen hervor, welche nichts anderes thun können, als das, was sie thun, und dann werden die Menschen zornig über sie wegen ihrer dummen und verbrecherischen Handlungen. Diese Menschen zu töten ist ganz dasselbe, als würde man Kinder verwöhnen und dann dafür züchtigen.
Um die Unterdrückung der Völker und die unnötigen Kriege abzuschaffen, und damit niemand über diejenigen in Zorn gerate und sie töten wolle, welche daran schuld zu sein scheinen, dazu scheint sehr wenig nötig zu sein, nämlich nur das, daß die Menschen die Dinge begreifen, wie sie sind und sie mit ihrem wirklichen Namen nennen, daß sie erkennen, daß das Heer ein Mordwerkzeug ist, daß also die Ansammlung und Leitung des Heeres das, was die Könige und Kaiser mit soviel Selbstvertrauen üben, nichts anderes ist, als Vorbereitung zum Mord.
Also, wenn nur Könige, Kaiser und Präsidenten begreifen würden, daß ihre Thätigkeit als Heerführer nicht eine ehrende und wichtige Obliegenheit ist, wie ihre Schmeichler behaupten, sondern eine abscheuliche Sache, die Vorbereitung zum Massenmord, und wenn nur jede Privatperson begreifen würde, daß die Zahlung der Steuern, mit welchen die Soldaten bewaffnet und unterhalten werden, und also noch vielmehr der Eintritt in den Kriegsdienst nicht eine gleichgültige, sondern eine schlechte, schändliche Handlung, nicht nur Zulassung, sondern Teilnahme am Mord ist, so würde von selbst jene so empörende Gewalt der Kaiser, Präsidenten und Könige zerfallen, für welche jetzt die Menschen gemordet werden.
Daraus ergiebt sich also, daß man Alexander, Carnot, Humbert und die anderen nicht töten solle, daß man ihnen aber klarmachen muß, daß sie selbst Mörder sind und, was das Wichtigste ist, daß man ihnen nicht erlauben darf, die Menschen zu morden, welche sich weigern, auf ihren Befehl zu morden.
Wenn die Menschen noch nicht so weit gekommen sind, so zu handeln, so kommt das von der Hypnose her, in welcher die Regierungen, ihrer Selbsterhaltung wegen, die Völker zu erhalten suchen. Und darum kann man dazu mitwirken, daß die Menschen aufhören, sowohl die Könige als einander selbst zu töten, – aber nicht durch Mordthaten – denn der Mord verstärkt im Gegenteil die Hypnose – sondern durch Abmahnung von Mord. Das ist es auch, was ich durch diese Abhandlung bezwecke.
Jasnaja Poljana, 8. August 1900. Leo Tolstoi.
19 Textquelle | Du sollst nicht töten. – Der Christ und das Verhältnis zum Staat. – Christenverfolgung in Rußland 1895. Neue Schriften von Graf Leo N. Tolstoi. Aus dem Russischen übersetzt von L. A[lbert]. Hauff. Berlin: Verlag von Otto Janke [1901], S. 1-17. [Gesamtumfang des Bandes: 133 Seiten]
20 [Kaiserin Elisabeth]
21 [Schah Nasreddin von Persien]
(1893)
Leo N. Tolstoi
Übersetzung eines ersten Teils von Wilhelm Henckel, 189422
‚Erkennet die Wahrheit, und die Wahrheit wird euch befreien.‘ ‚Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten, fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben mag in der Hölle.‘ (Ev. Matth. 10. 28)
‚Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.‘ (1. Korinth. 7, 23.)
Im Jahre 1884 schrieb ich ein Buch unter dem Titel: ,,Worin besteht mein Glaube?“ Ich erklärte darin thatsächlich dasjenige, woran ich glaube.
Indem ich meinen Glauben an Christi Lehre verkündete, konnte ich nicht umhin, auch zu erklären, weshalb ich nicht an jene Kirchenlehre glaube, die man gewöhnlich das Christentum nennt, und die ich für eine Irrlehre halte.
Unter den vielen Abweichungen dieser Lehre von der Lehre Christi wies ich auch auf den Hauptunterschied hin, nämlich auf die Nichtanerkennung des Gebots, daß man dem Bösen nicht gewaltsam widerstreben solle, eine Abweichung, die offenkundiger als andere auf die Verdrehung der Lehre Christi durch die Kirchenlehre hinweist.
Ich und wir alle wußten nur sehr wenig von dem, was bezüglich der Frage vom Nichtwiderstreben dem Bösen in früherer Zeit geschehen und gelehrt worden war. Was die Kirchenväter Origines, Tertullian u. a. über diesen Gegenstand gesagt hatten, wußte ich, ebenso auch, daß es einige sogenannte Sekten, Mennoniten, Herrnhuter, Quäker, gab und noch gibt, die den Christen den Gebrauch von Waffen nicht gestatten, und die den Militärdienst verwerfen; aber was diese sogenannten Sekten zur Erklärung dieser Frage gethan haben, war mir nur wenig bekannt.
Mein Buch wurde, wie ich das auch erwartet hatte, von der russischen Zensur inhibiert; aber teils infolge meiner schriftstellerischen Reputation, teils deshalb, weil dieses Buch interessierte, wurde es in Handschriften und lithographierten Abdrücken in Rußland und in Übersetzungen im Auslande verbreitet und rief einesteils – von Leuten, die meine Ansichten teilten – eine Reihe von Mitteilungen über Schriften, die denselben Gegenstand behandeln, andernteils eine Reihe von Kritiken der in dem Buche selbst enthaltenen Ansichten hervor.
Das eine sowohl wie das andere und auch die historischen Ereignisse der jüngsten Zeit klärten mich über manches auf und führten mich zu neuen Ergebnissen und Schlußfolgerungen, über die ich nun berichten will.
Zuerst will ich von den Mitteilungen erzählen, die ich über die Geschichte der Frage vom Nichtwiderstreben dem Bösen erhielt; dann von den Urteilen über diese Frage, die sowohl von geistlichen Kritikern, d. h. von solchen, welche die christliche Religion bekennen, wie auch von westlichen Kritikern, d. h. von solchen, die die christliche Religion nicht bekennen, herrühren; und schließlich will ich die Resultate mitteilen, zu denen ich durch diese und jene Kritiken und durch die historischen Ereignisse der jüngsten Zeit gelangt bin.
I.
Zu den ersten Äußerungen über mein Buch gehören die Briefe amerikanischer Quäker. In diesen Briefen, durch welche die Quäker erklärten, mit meinen Ansichten über die Ungesetzlichkeit jeder Gewaltthat und jedes Krieges für den Christen zu sympathisieren, machten sie mir Mitteilungen über ihre sogenannte Sekte, die seit über 200 Jahren die Lehre Christi vom Nichtwiderstreben dem Bösen bekennt und thatsächlich ausübt, und die den Schutz durch Waffen weder früher anwendete noch jetzt anwendet. Mit diesen Briefen sandten mir die Quäker auch ihre Broschüren, Zeitschriften und Bücher. Ich erfuhr daraus, wie eifrig und für Christen unwiderleglich von ihnen schon seit vielen Jahren die Pflicht, das Gebot vom Nichtwiderstreben dem Bösen durch Gewalt zu erfüllen, und die Unwahrheit der Kirchenlehre, die Kriege und Hinrichtungen gestattet, bewiesen wurde.
Durch eine ganze Reihe von Betrachtungen und Texten wurde nachgewiesen, daß mit einer auf Friedensliebe und Wohlwollen gegründeten Religion der Krieg, d. h. Gewaltthat und Tötung von Menschen, unvereinbar sei; es wurde behauptet und bewiesen, daß zur Verdunklung der christlichen Wahrheit in den Augen der Heiden nichts so sehr beitrug, und daß die Verbreitung des Christentums nichts so sehr verhinderte, als die Nichtanerkennung dieses Gebotes seitens der Menschen, die sich Christen nennen, und als die Gestattung von Kriegen und Gewaltthaten für Christen.
„Christi Lehre, die nicht durch das Schwert, nicht durch Gewaltmaßregeln in das Bewußtsein der Menschen eingezogen ist,“ sagen sie, ,,sondern durch das Nichtwiderstreben dem Bösen, durch Sanftmut, Demut und Friedensliebe, kann sich nur durch das Beispiel des Friedens, der Eintracht und der Liebe unter ihren Anhängern in der Welt verbreiten.“ „Der Christ kann nach Gottes eigener Lehre im Verkehr mit den Menschen nur durch Friedensliebe geleitet werden, und folglich kann es auch keine Autorität geben, die einen Christen zwingen könnte, gegen Gottes Lehre und gegen die Haupteigenschaft des Christen in Bezug auf seinen Nächsten zu handeln.“
„Das Prinzip der Staatsnotwendigkeit“, sagen sie, „kann diejenigen, welche um weltlicher Vorteile willen sich bemühen, Unvereinbares zu vereinigen, zwingen, dem Gebote Gottes untreu zu werden, aber für den Christen, der wahrhaft glaubt, daß die Befolgung von Christi Lehre ihm Erlösung bringt, kann dieses Prinzip nicht ausschlaggebend sein.“ Die Bekanntschaft mit dem Wirken der Quäker und mit ihren Schriften von Fox, Payne und insbesondere mit dem Buche von Dymond (1827) zeigte mir, daß die Unmöglichkeit eines Christentums mit Gewaltthat und Krieg längst schon erkannt und so klar und unumstößlich bewiesen ist, daß man staunen muß, wie eine solche unmögliche Vereinigung der christlichen Lehre mit der Gewaltthat, die von den Kirchen gepredigt wurde und wird, noch bestehen kann. Außer den von den Quäkern erhaltenen Mitteilungen bekam ich aus Amerika fast zu gleicher Zeit Nachrichten über denselben Gegenstand, aber aus einer ganz anderen Quelle, die mir vorher durchaus unbekannt war.
Ein Sohn von William Lloyd Garrison, des berühmten Kämpfers für die Befreiung der Neger, schrieb mir, daß, nachdem er mein Buch gelesen, in dem er ähnliche Gedanken gefunden, wie die, welche sein Vater im Jahre 1838 ausgesprochen, er mir die von seinem Vater vor fast 50 Jahren verfaßte Deklaration oder Verkündigung des Nichtwiderstrebens – Non resistance – sende, in der Voraussetzung, daß mich das interessieren werde. Diese Deklaration erfolgte unter folgenden Umständen: Als William Lloyd Garrison im Jahre 1838 über die Maßregeln zur Abschaffung des Krieges sprach, kam er zu dem Resultat, daß die Einführung des allgemeinen Friedens nur begründet werden könne auf eine unzweideutige Anerkennung des Gebots, daß dem Bösen in seinem ganzen Umfange nicht durch Gewaltmaßregeln widerstrebt werden dürfe (Matth. 5, 39), wie es die Quäker verstehen, zu denen Garrison in freundschaftlichen Beziehungen stand. Nachdem Garrison zu diesem Resultat gekommen war, schlug er der Gesellschaft folgende von ihm verfaßte Proklamation vor, die auch damals, im Jahre 1838, von vielen Mitgliedern unterzeichnet wurde.
DEKLARATION DER GRUNDSÄTZE, WELCHE VON DEN MITGLIEDERN DER GESELLSCHAFT ZUR EINFÜHRUNG DES ALLGEMEINENFRIEDENS UNTER DEN MENSCHEN ANGENOMMEN WURDEN. Boston 1838.
Wir, die Endesunterschriebenen, halten es für unsere Pflicht, in Bezug auf uns selbst, auf die unserem Herzen teure Sache, auf das Land, in dem wir leben, und auf die ganze übrige Welt, dieses unser Bekenntnis zu verkünden, indem wir darin diejenigen Grundsätze aussprechen, an die wir uns halten, die Ziele, nach denen wir streben wollen, und die Mittel, die wir anzuwenden gedenken, um zu einer allgemeinen, wohlthätigen und friedlichen Umwälzung zu gelangen. Dieses unser Bekenntnis lautet folgendermaßen:
Wir anerkennen gar keine menschliche Regierung, sondern nur einen Herrscher und Gesetzgeber, nur einen Richter und Regierer der Menschheit. Unser Vaterland ist die ganze Welt, unsere Landsleute – die ganze Menschheit. Wir lieben unsere Heimat ebenso sehr wie andere Länder. Die Interessen und die Rechte unserer Mitbürger sind uns nicht teurer, als die der ganzen Menschheit. Wir können daher nicht zugeben, daß es ein Gefühl des Patriotismus gibt, welches Beleidigungen und Schaden, die unserem Volke zugefügt werden, zu rächen gestattet.
Wir bezeugen, daß ein Volk nicht das Recht hat, sich sowohl gegen auswärtige Feinde zu verteidigen, als auch sie anzugreifen. Wir behaupten, daß auch einzelne Personen in ihren persönlichen Beziehungen dieses Recht nicht haben können. Der Einzelne kann keine größere Bedeutung haben, als die Gesamtheit. Wenn die Regierung fremden Eroberern, welche die Absicht haben, unser Vaterland zu verheeren und unsere Mitbürger zu vernichten, keinen Widerstand entgegensetzen darf, so ist es auch nicht gestattet, einzelnen Personen, welche die öffentliche Ruhe stören und die private Sicherheit bedrohen, Widerstand durch Gewalt entgegenzusetzen. Die von den Kirchen verkündete Lehre, daß alle Reiche auf Erden von Gott eingesetzt und gebilligt sind, und daß alle in den Vereinigten Staaten, in Rußland, in der Türkei bestehenden Obrigkeiten dem Willen Gottes entsprechen, ist ebenso unsinnig wie gotteslästerlich. Dieser Grundsatz, stellt unsern Schöpfer als ein leidenschaftliches Wesen dar, welches das Böse anordnet und begünstigt. Niemand wird zu behaupten wagen, daß die in irgend einem Lande vorhandenen Machthaber in Bezug aus ihre Feinde im Geiste der Lehre Christi und nach dessen Beispiel handeln. Und daher kann auch die Thätigkeit dieser Machthaber nicht von Gott eingesetzt sein und muß – nicht durch Gewalt, sondern durch die geistige Wiedergeburt der Menschen – abgeschafft werden.
Wir erachten als unchristlich und ungesetzlich nicht nur die Kriege selbst – Angriffskriege sowohl wie Verteidigungskriege –, sondern auch alle Kriegsvorbereitungen: die Errichtung von Arsenalen und Befestigungen aller Art und den Bau von Kriegsschiffen; wir erklären als unchristlich und ungesetzlich die Existenz aller stehenden Armeen, aller Militärbehörden, aller zur Ehrung von Siegen oder gefallenen Feinden errichteten Denkmäler, aller auf dem Schlachtfelde gewonnenen Trophäen, jegliches Feiern von Kriegsthaten, alle durch Kriegsmacht errungenen Aneignungen; wir erklären jegliche obrigkeitliche Verordnung, die von den Unterthanen den Kriegsdienst fordert, als unchristlich und ungesetzlich. Infolge dessen erklären wir es auch für uns unmöglich, nicht nur Militärdienste zu leisten, sondern auch Ämter zu bekleiden, die uns verpflichten, andere Menschen durch Androhung von Gefängnis- und Todesstrafen zum Guten zu zwingen. Wir schließen uns daher freiwillig von allen obrigkeitlichen Einrichtungen aus und sagen uns von aller Politik und von allen irdischen Würden und Ämtern los.
Da wir uns nicht für berechtigt halten, obrigkeitliche Ämter zu bekleiden, so halten wir uns auch nicht für befugt, andere Personen für diese Ämter zu wählen. Und ebenso wenig glauben wir das Recht zu haben, mit anderen zu prozessieren, um sie zu veranlassen, uns dasjenige zurückzuerstatten, was sie uns genommen haben. Wir halten es für unsere Pflicht, demjenigen unsern Rock zu geben, der unser Hemd genommen hat. (Matth. 5, 40.)
Wir glauben, daß das Kriminalgesetz des Alten Testaments: Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, von Jesus Christus aufgehoben und daß nach dem Neuen Testament allen seinen Anhängern in jedem Falle, ohne Ausnahme, anstatt der Vergeltung, die Vergebung der Feinde gelehrt ist. Geld mit Gewalt zu erpressen, ins Gefängnis zu sperren, zu verbannen und hinzurichten ist offenbar keine Vergebung von Kränkungen, sondern Rache.
Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beweisen, daß physische Gewalt die sittliche Wiedergeburt nicht fördert, und daß die sündhaften Neigungen der Menschen nur durch Liebe unterdrückt werden können; daß das Böse nur durch das Gute vernichtet werden kann, und daß man, um sich vor dem Bösen zu schützen, nicht auf die Kraft der Faust rechnen darf; daß die wahre Sicherheit der Menschen nur in der Güte, Langmut und Barmherzigkeit besteht; daß nur die Sanftmütigen die Erde ererben werden, und daß diejenigen, welche das Schwert zücken, vom Schwerte umkommen werden. Und daher bekennen wir uns von ganzer Seele zu der Grundlehre des Nichtwiderstrebens, daß man das Böse nicht durch Böses vergelten solle, sowohl deshalb, um unser Leben, unser Eigentum, unsre Freiheit, das Allgemeinwohl der Menschen und den Frieden desto besser zu sichern, als auch um den Willen dessen zu erfüllen, der König der Könige und Herrscher der Herrschenden ist; wir glauben fest daran, daß diese Lehre, welche allen nur möglichen Vorkommnissen und dem Willen Gottes entspricht, schließlich über alle bösen Mächte den Sieg erringen muß. Wir predigen keine revolutionäre Lehre; der Geist der revolutionären Lehre ist der Geist der Rache, der Gewalt und des Mordes; er fürchtet weder Gott, noch achtet er die Persönlichkeit des Menschen. Wir aber wollen vom Geiste Christi erfüllt sein. Indem wir unser Grundgesetz, das Böse nicht durch Böses zu vergelten, befolgen, können wir auch keine Verschwörungen, keinen Aufruhr oder Gewaltthaten erregen. Wir unterwerfen uns allen Gesetzen und Forderungen der Regierung, mit Ausnahme derjenigen, die den Forderungen des Evangeliums zuwiderlaufen. Unser Widerstand beschränkt sich auf eine demütige Unterwerfung unter die Strafen, die uns wegen unsers Ungehorsams auferlegt werden. Indem wir alle gegen uns gerichteten Angriffe ohne Widerstand ertragen, wollen wir doch unsrerseits das Böse in der Welt, wo es sich auch zeigen mag, oben oder unten, im Gebiete der Politik, der Verwaltung oder der Religion, ohne Unterlaß bekämpfen, indem wir mit allen uns gestatteten Mitteln danach streben, daß alle Erdenreiche sich zu einem Reiche, zum Reiche unsers Herrn Jesus Christus, vereinigen. Wir halten es für eine Wahrheit, die keinem Zweifel unterliegt, daß alles dasjenige, was dem Evangelium und seinem Geiste entgegen ist, der Vernichtung anheimfallen und sofort vernichtet werden muß. Und da wir an die Prophezeiung glauben, daß die Zeit kommen wird, wo die Schwerter zu Pflügen und die Spieße zu Sicheln umgeschmiedet werden, so müssen wir das, ohne Aufschub und soweit es unsre Kräfte gestatten, sofort thun. Alle diejenigen, welche Waffen schmieden oder verkaufen, welche der Kriegsbereitschaft Vorschub leisten, lehnen sich daher gegen die friedliche Herrschaft des Sohnes Gottes auf Erden auf.
Nachdem wir nun unsere Grundsätze entwickelt haben, wollen wir auch sagen, auf welchem Wege wir durch den ,,Wahnsinn der Predigt“ zu siegen hoffen. Wir werden uns bemühen, unsre Ansichten unter allen Menschen, zu welchen Nationen, Bekenntnissen und Schichten der Gesellschaft sie auch gehören mögen, zu verbreiten. Zu diesem Zwecke werden wir öffentliche Vorträge halten, gedruckte Proklamationen und Ratschläge verbreiten, Gesellschaften bilden und Bittschriften an alle Behörden einreichen. Überhaupt werden wir mit allen uns zugänglichen Mitteln danach streben, eine gründliche Umwälzung in den Anschauungen, Gefühlen und Thaten in Bezug auf das Sündhafte der Zwangsmittel, den äußern und innern Feinden gegenüber, herbeizuführen. Indem wir an diese große Aufgabe herantreten, erkennen wir vollständig, daß unser Eifer harten Prüfungen unterliegen kann. Wir werden vielleicht Beschimpfungen, Leiden und sogar den Tod erdulden müssen. Unverständnis, Verdrehung unserer Absichten und Verleumdungen erwarten uns. Ein Sturm wird sich gegen uns erheben. Hochmut und Pharisäertum, Ehrgeiz und Grausamkeit, Herrscher und Gebieter, alles kann sich vereinigen, um uns zu vernichten. Ebenso ging es auch dem Messias, dem wir nach Maßgabe unserer Kräfte ähnlich zu werden trachten wollen. Aber alle diese Schrecken flößen uns keine Furcht ein. Wir hoffen nicht auf die Menschen, sondern auf Gott. Haben wir auf den Beistand der Menschen Verzicht geleistet, was kann uns dann noch aufrecht erhalten, als nur der Glaube, der die Welt besiegt? Die Prüfungen, welche uns erwarten, können uns nicht in Erstaunen setzen, sondern es wird uns freuen, wenn wir gewürdigt werden, Christi Leiden zu teilen. Darum stellen wir unsere Seele Gott anheim; denn wir glauben an das, was verkündet wurde: Wer sein Haus, seine Brüder und seine Schwestern, oder seinen Vater und seine Mutter, oder sein Weib und seine Kinder, oder seine Äcker um Christi willen verläßt, wird hundertfach mehr gewinnen und das ewige Leben erben.
Trotz allem, was sich gegen uns rüstet, und im festen Glauben an den zweifellosen, allgemeinen Triumph der Grundsätze, die in diesem Manifest enthalten sind, unterzeichnen wir es mit unseren Unterschriften, hoffend auf die Vernunft und das Pflichtgefühl der Menschheit, mehr aber noch auf die Macht Gottes, der wir vertrauen.
*
Nachdem dieses Manifest veröffentlicht war, wurde die Gesellschaft der Nichtwiderstrebenden und eine Zeitschrift unter dem Titel „Den Nichtwiderstrebenden“ (Non resistant) gegründet, in welcher die Lehre des Nichtwiderstrebens in ihrer ganzen Bedeutung und in allen ihren Folgerungen, wie sie im Manifest ausgedrückt sind, verkündet wurde. Mitteilungen über das weitere Schicksal der Gesellschaft und der Zeitschrift empfing ich aus der vortrefflichen Biographie W. L. Garrisons, die seine Söhne herausgegeben hatten.23
Die Gesellschaft und die Zeitschrift existierten nicht lange: die Mehrzahl von Garrisons Mitarbeitern an der Sklavenbefreiung fürchtete, daß die in der Zeitschrift ausgesprochenen zu radikalen Forderungen das Publikum von der praktischen Ausführung der Negerbefreiung abschrecken könnte, und deshalb sagte sich die Mehrzahl der Mitarbeiter von dem Bekenntnis des Prinzips des Nichtwiderstrebens, wie es in dem Manifest veröffentlicht war, los; die Gesellschaft löste sich auf, und die Zeitschrift ging ein.
Diese Proklamation Garrisons, welche ein für die Menschheit so wichtiges Glaubensbekenntnis kräftig und beredt verkündete, hätte eigentlich die Menschen erschüttern, in der ganzen Welt bekannt und ein Gegenstand der allgemeinen Prüfung werden müssen. Aber das war nicht der Fall. Sie wurde nicht nur in Europa nicht bekannt, sondern auch unter den Amerikanern, die Garrisons Andenken doch so hoch ehrten, ist diese Proklamation fast unbekannt geblieben.
Ein ebensolches Schicksal hatte auch ein anderer Kämpfer für das Nichtwiderstreben dem Bösen, der unlängst gestorbene Amerikaner Adeen Baloo, der diese Lehre 50 Jahre lang predigte. Wie wenig bekannt alles das, was sich auf die Frage vom Nichtwiderstreben bezieht, geworden ist, kann man daraus ersehen, daß Garrisons Sohn, der in vier großen Bänden eine ausgezeichnete Biographie seines Vaters geschrieben hat, auf meine Frage, ob es jetzt noch Gesellschaften des Nichtwiderstrebens oder Anhänger dieser Lehre gibt, mir antwortete, daß, soviel ihm bekannt sei, die Gesellschaft sich aufgelöst habe, und daß keine Anhänger dieser Lehre mehr existieren, während doch zu der nämlichen Zeit, als er mir schrieb, in Hopedale (Massachusetts) ein Mitarbeiter Garrisons, Adeen Baloo, noch lebte, welcher 50 Jahre seines Lebens der mündlichen und schriftlichen Propaganda dieser Lehre vom Nichtwiderstreben gewidmet hatte. Später erhielt ich auch einen Brief von Wilson, einem Schüler und Gehilfen Baloos, und trat mit diesem selbst in Verbindung. Ich schrieb ihm, er antwortete mir und sandte mir seine Schriften. Hier folgen einige Auszüge daraus: ,,Jesus Christus, mein Herr und Lehrer“ – sagt Baloo in einem Artikel, der über die Inkonsequenz der Christen handelt, die das Recht der Verteidigung und des Krieges anerkennen – ,,ich gelobte, indem ich alles verließ, ihm bis zum Tode nachzufolgen, ob es mir nun gut oder schlecht ergehen würde. Aber ich bin Bürger der demokratischen Republik der Vereinigten Staaten, der ich Treue geschworen habe, daß ich die Konstitution meines Landes, auch wenn es notthut mit dem Opfer meines Lebens, aufrecht erhalten werde. Christus fordert von mir, daß ich Andern dasjenige thun soll, was ich wünsche, daß mir die Andern thun. Die Konstitution der Vereinigten Staaten verlangt von mir, daß ich zwei Millionen Sklaven (damals waren es Sklaven, jetzt kann man unbedingt ‚Arbeiter‘ dafür sagen) gerade das Gegenteil von dem thun soll, was ich wünsche, daß man mir thun möchte, d. h. daß ich sie in voller Knechtschaft, in der sie sich befinden, zu erhalten helfen soll. Aber das macht nichts, ich fahre fort zu wählen und gewählt zu werden; ich helfe zu regieren, ich bin sogar bereit, für irgend einen Verwaltungsdienst mich wählen zu lassen. Es hindert mich das nicht, Christ zu sein, und ich fahre fort, das Bündnis mit Christus, ebenso wie mit der Regierung, zu bekennen und zu erfüllen, ohne mich dadurch beschwert zu fühlen.
Jesus Christus verbietet mir, denen, welche Böses thun, zu widerstreben, ihnen Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut und Leben um Leben zu rauben. Meine Regierung fordert von mir ganz das Entgegengesetzte, sie gründet ihren Schutz, auf Galgen, Flinte und Schwert, indem sie diese Waffen gegen ihre inneren und äußeren Feinde anwendet. Und infolgedessen wird das Land mit Galgen, Kerkern, Arsenalen, Kriegsschiffen und Soldaten versehen.