Das Uckerlamm - Max Victor - E-Book

Das Uckerlamm E-Book

Max Victor

0,0

Beschreibung

Die Herde des Schäfers Jan Kurz mit einhundertachtundsechzig Schafen liegt eines Morgens tot auf der Weide, erschossen von Handfeuerwaffen mit Schalldämpfern, ein skurriler Tatort. Die ermittelte Munition stammt aus Beständen des Kalten Krieges, geliefert an die französische Fremdenlegion. BND-Chef Krause wittert eine aggressive Attacke ausländischen Kapitals auf die malerischen Weiten der Uckermark. Er schaltet erneut seinen Agenten Witzler ein, um ein Ohr im Ermittlerteam des Landeskriminalamts Eberswalde zu haben. Es treten unglaubliche Verbindungen zutage. Die Mächte des Geldes gehen über Leichen, gedeckt von Staatsanwaltschaft, Banken und Behörden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 318

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich danke den Weiten der Uckermark, die mir immer wieder Ruhe geben nach aufregenden Wochen und Kraft nach auszehrenden Tagen.

Wie Goethe schon sagte:

Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.

Max Victor

Inhaltsverzeichnis

Uckermark, Friedrichsfelde

Berlin, Chausseestraße

Polen, Kosztryn

Schorfheide, Joachimsthal

Uckermark, Friedrichsfelde

Berlin, Chausseestraße

Eberswalde, Kripo

Berlin, Chausseestraße

Schorfheide, Joachimsthal

Berlin, Chausseestraße

Schorfheide, Joachimsthal

Schorfheide, Eberswalde

Berlin, Chausseestraße

Eberswalde, Landeskriminalamt

Schorfheide, Joachimsthal

Werneuchen, ehemaliger Militärflugplatz

Uckermark, Friedrichsfelde

Eberswalde, Landeskriminalamt

Schorfheide, Joachimsthal

Eberswalde, Landeskriminalamt

Uckermark, Kaakstedt

Eberswalde, Landeskriminalamt

Marseille, Hotel Pullmann

Schorfheide, Joachimsthal

Eberswalde, Landeskriminalamt

Uckermark, Friedrichsfelde

Eberswalde, Landeskriminalamt

Schorfheide, Joachimsthal

Schorfheide, Kurtschlag

Eberswalde, Landeskriminalamt

Schorfheide, Joachimsthal

Eberswalde, Landeskriminalamt

Schorfheide, Joachimsthal

Zehdenick, Burgwall

Eberswalde, Landeskriminalamt

Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder,

Schorfheide, Joachimsthal

Eberswalde, Bollwerkstraße

Uckermark, Haßleben

Eberswalde, Landeskriminalamt

Berlin Karow, Bucher Chaussee

Uckermark, Haßleben

Schweiz, Bern

Eberswalde, Landeskriminalamt

Uckermark, Friedrichsfelde

Berlin, Chausseestraße

Eberswalde, Landeskriminalamt, Kantine

Schorfheide, Joachimsthal

Uckermark, Böckenberg

Schorfheide, Joachimsthal

Amsterdam, Flughafen Schipohl

Eberswalde, Landeskriminalamt

Schwedt, Gerichtsmedizinisches Institut

Schweiz, Bern, Helvetiaplatz 6

Uckermark, Friedrichsfelde

Berlin, Chausseestraße

Schorfheide, Joachimsthal

Schweiz, Bern, Helvetiastr. 6

Schweiz, Bern

Schweiz, Bern, Helvetiastraße 6

Uckermark, Friedrichsfelde

Berlin, Chausseestraße

Paris, Flughafen Charles de Gaulle

Uckermark, Gerswalde

Uckermark, Friedrichsfelde

Schorfheide, Joachimsthal

Uckermark, Pinnow

Eberswalde, Landeskriminalamt

Uckermark, Friedrichsfelde

Uckermark, Friedrichsfelde

Der blitzblanke Audi Allroad von Krause-M stand etwas abseits der großen Scheunenanlage, die seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben schien. Ich kannte diesen Ort, so manches gute Stück Lamm hatte ich hier direkt beim Erzeuger geholt, lecker, frisch und bezahlbar. Etwas fehlte heute; das Geblöke der Herde war nicht zu hören.

Ich war gestern Abend mit der letzten Maschine in Tegel gelandet und nach einer sich ewig hinziehenden Kofferabfertigung erst kurz nach drei Uhr im Bett gewesen. Krause-Ms morgendlicher Anruf hatte mich aus dem Tiefschlaf gerissen. Er klang verwirrt.

»Andi, bist du im Lande? Ich hab hier einen unfassbaren Tatort mit über hundert Toten. Könntest du mal rüber nach Friedrichsfelde zum Schäfer Kurz kommen? Ich warte vor Ort.«

Ich brauchte keine halbe Stunde. So früh lag der durchschnittliche Uckermärker noch in der Falle und schnarchte sich in den trägen Sonntagmorgen. Krause-M stand mit Schäfer Jan Kurz am Wassertrog. Eben hatte er mich erblickt und winkte mit beiden Händen. Ein frischer Wind blies mir entgegen, die leichte Jacke war die falsche Wahl gewesen. Als ich den Trog erreichte, bot sich mir der Anblick eines Kriegsgebiets. Vor nicht einmal achtundvierzig Stunden hatte ich einen blutigen Ort im Nordirak verlassen, und jetzt sah es mitten im friedlichen Deutschland genauso aus. Auf der Wiese lagen unzählige tote Schafe, nicht fünf, nicht zehn, nein, einhundertacht- undsechzig, wie Jan Kurz mit Tränen in den Augen leise murmelte. Aber was wollte Krause-M von mir? Selbst er als Leiter der Mordkommission in Eberswalde hatte hier eigentlich nichts verloren. Ich war weder Veterinär noch Seuchenbekämpfer. An einigen Schafen sah man Blutflecken. Vielleicht hatten die neuen Wolfsbewohner Brandenburgs ein Schlachtfest gehalten. Die Sinnlosigkeit dieses Gedankens erwischte mich in dem Augenblick, als er mir rausrutschte.

»Nein, Andi, das waren keine Wölfe, das waren Menschen. Die Schafe haben alle Schusswunden im Kopf.«

»Schusswunden?«

»Saubere Kopfschüsse, sorgfältig ausgeführt. Meist nur ein Schuss, so gesetzt, dass es keine Austrittswunde gibt. Das Projektil hat das Gehirn durchschlagen und dann alles im Körper zerlegt, was die kinetische Energie noch so erwischen konnte. Ich würde sagen, Profikiller.«

»Achim, willst du mir allen Ernstes weismachen, hier hätte ein Profikiller hundertsiebzig Schafe erschossen?«

»Gemeinschaftlicher Suizid wäre für mich auch eine angenehmere Erklärung, aber die Viecher haben nun mal alle ein Neun-Millimeter-Loch in der Stirn.«

»Quatsch, hundertsiebzig Schuss hier auf der offenen Weide, so oft hat’s hier das letzte Mal fünfundvierzig geknallt. Nach den ersten zehn Schuss wäre das halbe Dorf hier gewesen. Vergiss es, Achim. Vielleicht haben sie ein Bolzenschussgerät benutzt.«

»Das ist auch nicht viel leiser als eine Pistole.« Schäfer Kurz hatte anscheinend die Stimme wiedergefunden. Als Sportschütze kannte er beide Abschussgeräusche, wie er erklärte. Okay, Bolzenschussgerät schied also auch aus. Dann musste es eine andere Erklärung geben. Der oder die Killer hatten Schalldämpfer benutzt. Langsam dämmerte mir, warum Krause-M und ich hier waren. Ich trat näher an ein ›Opfer‹ heran. Der Schuss musste aufgesetzt erfolgt sein, das Fell rund um die Einschusswunde war schwarz vom Schmauch. Der Gedanke »Das Opfer muss den Täter gekannt haben!« durchzuckte mich kurz, der einsetzende Verstand kommentierte: »Schon klar, Witzler.« Unwillkürlich musste ich über mich selbst lächeln.

»Wie schreckhaft sind denn Schafe, Herr Kurz?«

»Sie können mich Jan nennen, machen eigentlich alle hier.«

»Danke, ich bin Andi.«

Der junge Schäfer nickte, und der Blick auf die Weide ließ seine Stimme wieder dünn werden. »Einzelne Schafe sind an sich schreckhaft und vorsichtig. Wenn sie sich aber in der gefühlten Sicherheit ihrer Herde bewegen, sind sie kaum misstrauisch und trotten den anderen Schafen einfach hinterher. Sie verlassen sich darauf, dass die Führungstiere wissen, was sie tun. Ist dann noch ein Hütehund dabei, sind sie arglos wie Babys.«

»Hast du einen Hütehund?«

»Hatte.« Jan wies an den äußersten Weiderand. Seinen treuen Helfer hatte es also auch erwischt.

»Den will ich mir mal näher ansehen.«

Ich überquerte den Ort des Grauens. Krause-M hatte recht, alle Tiere waren auf dieselbe Art getötet worden, alle bis auf den hütenden Border Collie. Er lag mit verdrehten Gliedern in einer Bodensenke, als wäre er dort hingeworfen worden. Ihm fehlte auf der linken Seite der halbe Kopf. Das Ohr war von der zerschlagenen Schädelplatte abgerissen worden und hielt nur noch mit einigen Hautfetzen am Rest des Fells. Fernschuss, Gewehrschuss, großes Kaliber, hohe Trefferenergie, Profiarbeit, militärisch präzise ausgeführt. Ich kannte diese Art der Arbeit und hatte zahlreiche ihrer Opfer in meinem Leben gesehen, nur war bisher kein Hund dabei gewesen. Der Tatort erinnerte mich an Exzesse paramilitärischer Gruppen im Sudan oder anderen Krisengebieten, in denen zu allem bereite Banden ethnische Säuberungen vornahmen. Den äußeren Schutzring von Wachen und Männern durch Fernbeschuss aufgebrochen, dann eingedrungen und mit brutaler Gewalt alles niedergemetzelt, bis kein Lebenszeichen mehr erkennbar war. Bilder blitzten durch meinen Kopf, Bilder, die ich längst vergessen gehofft hatte.

»Sie haben sich zuerst den Hund geschnappt. Dann haben sie systematisch alle Tiere getötet, kaltblütig und wie es scheint ohne Eile. Höchstwahrscheinlich haben sie Kurzwaffen mit Schalldämpfer benutzt, sodass die anderen Tiere zwar mitbekamen, wie ihre Kameraden niedersanken, aber nicht in Panik gerieten, da nur das mechanische Geräusch der Waffen zu hören war, nicht der Abschussknall.«

»Waffen? Du gehst also von mehreren Tätern aus?« Krause-M folgte meinen Ausführungen konzentriert.

»Fremde Nutztiere auf einer Weide zu töten, ist in Deutschland eine Straftat. Wie lange würdest du dich damit aufhalten wollen? Diese Leute wussten ganz genau, was sie taten. Ist dir etwas aufgefallen, Achim?«

»Es gibt keine Hülsen.«

»Richtig, eigentlich müssten hier einhundertachtundsechzig Messinghülsen herumliegen, ein halbes Buntmetalllager. Es ist aber keine zu finden. Wer immer den Job hier durchgezogen hat, wusste, was er tat und hatte sich bestens darauf vorbereitet. Das war ein ›Auftragsmord‹. Ich kann mir nicht vorstellen, dass militante Veganer durch die Uckermark ziehen und Schafen das Lebenslicht ausblasen, weil sie ihnen die heißgeliebten Kräuter wegfressen. Du wirst unter den Profis auch kaum einen Veganer finden. Ich glaube nicht, dass die Schafe Feinde hatten. Ich bin mir sicher, die Attacke galt dem Schäfer und nicht den Schafen.«

»Da sind wir einer Meinung. Ich habe Jan vorhin mal beiläufig gefragt, ob er einen Verdacht habe, aber der ist angesichts der Situation ziemlich im Eimer, glaube ich.«

Schäfer Kurz hatte sich auf seinen Hosenboden gesetzt und knabberte gedankenverloren auf einem Grashalm herum.

Krause-M wühlte in seinen Manteltaschen und zauberte zwei Schokoladenbonbons hervor.

»Hast Farbe gekriegt, Andi. Im Urlaub gewesen?«

Ich schüttelte lutschend den Kopf. »Dienst im warmen Süden macht einen gesunden Teint.« Ein versuchtes Lächeln konnte Krause-M nicht täuschen.

»Schlimm gewesen?«

Ich nickte. Erinnerungen flogen durch meinen Kopf.

Mein Chef, der ebenfalls Krause hieß, hatte mich und zwei weitere BND-Agenten unmittelbar nach unserem Ermittlungserfolg mit dem ›Uckerrussen‹ in das nordirakische Kriegsgebiet kommandiert. Ein wichtiger Informant der PKK war ihm zwischen die Fronten geraten. Krause war sich nicht mehr sicher, ob Abdul Rasin jetzt für den IS arbeitete oder seine Vereinbarung mit uns noch Bestand hatte. Vor Ort hatten wir feststellen müssen, dass Abdul und zwei seiner Söhne spurlos verschwunden waren. Die Familie war völlig ratlos, sich aber darin einig, dass die Männer von IS-Terroristen auf dem Markt von Al-Qa’im gekidnappt wurden. Bisher hatten sie aber weder Informationen über den Aufenthaltsort, noch darüber, ob sie überhaupt noch unter den Lebenden waren. Wir drangen nach Erlaubnis von Krause mit einer Gruppe amerikanischer ›Freiberufler‹ tief in das IS-Gebiet ein. Nach mehreren Tagen konnten wir das Lager, in dem Abdul und seine Söhne gefangen gehalten wurden, lokalisieren. Praktischerweise befanden sich dort auch die von unseren ›Privatsoldaten‹ gesuchten US-Geiseln. In einer nächtlichen Aktion, die als Kampf zwischen hoch modern ausgerüsteten Söldnern mit Echtzeitsatellitenzugriff und einer auf Gott vertrauenden, wild um sich schießenden Bande ablief, konnten wir unsere Ziele befreien. Zwanzig Minuten später saßen wir in einem im Tiefstflug dahin jagenden Sikorski-Transporthubschrauber ohne Kennung, der uns sicher auf einem versteckten US-Stützpunkt absetzte. Wir vernahmen Abdul und seine Söhne zwei Tage lang. Alle Erkenntnisse teilten wir mehr oder weniger freiwillig mit den US-Spezialisten. Im heimatlichen Dorf gab es einen fürstlichen Empfang, man verwöhnte uns mit einem herrlich duftenden Gemüsecouscous und leckerem frisch gegrillten Lamm. Die von der hellen Sonne Arabiens gebräunte Haut war der einzige Zeuge meines Aufenthaltes.

Krause-M und ich gingen zurück zum Schäfer. »Wie viele Lämmer braucht man eigentlich, um neu zu starten, Jan?«

»Unter fünfzig brauchst du gar nicht anfangen, und dann sollten davon wenigsten zwei Drittel weiblich sein, damit du eine Herde aufbauen kannst. Je mehr Zibben, umso besser. Einen fremden Bock brauchst du sowieso, in einer frischen Herde darf man am Anfang keine Zucht untereinander machen. Für ein ordentliches Lamm muss man schon gute hundert Euro hinblättern, plus Impfung und Entwurmung, da biste schnell zehntausend Euro los. Was zu essen braucht man ja schließlich auch noch, und Geld für ein Bierchen wäre auch nicht schlecht. Tja, wie gesagt, mir geht der Arsch auf Grundeis. Ich werd mal sehen, ob ich bei meinem Schwager in Niedersachsen was finde.«

Berlin, Chausseestraße

»Morgen, Witzler, früh auf heute, aber 6.30 Uhr war Ihre Idee.« Krause zog sich einen Keks aus einer Papiertüte. »Ist mit Hafer, meine Frau meint, das wäre besser für die Verdauung, dabei hatte ich damit noch nie Probleme. Warum mussten wir uns eigentlich so früh treffen?« Mein Chef schob sich den zweiten Keks in den Mund.

»Ich brauche eine Woche Urlaub. Ich möchte zu Mila nach Polen.«

»Nach Polen? Was macht Mila denn in Polen? Die ist doch noch krankgeschrieben, oder?«

»Ist sie schon, aber ihr Chef hat zugestimmt, dass sie ihre Verwandten besucht. Ich musste ja Hals über Kopf los, und da sie keine Lust hatte, sich in Eberswalde zu langweilen, ist sie halt rüber.«

»Haben Sie zwischendurch wenigstens mal angerufen?«

»Machen Sie Witze? Seit wann darf man im Außeneinsatz telefonieren? Manchmal überraschen Sie mich wirklich Chef, oder soll das ein Test sein?«

»Nein, nein, kein Test. Schon erstaunlich, ich hätte schwören können, Sie würden anrufen. Also ich in Ihrer Situation hätte es getan. Ich habe es getan, 1973 aus einem runtergekommenen Hotel in Bukarest. Damals musste man Gespräche in den Westen vom Ostblock aus noch anmelden. Ich habe volle sechs Stunden gewartet und die ganze Zeit Schiss gehabt, dass mein Führungsoffizier auftaucht und mir den Arsch aufreißt. Alles nur, um drei Sätze mit Hilde zu sprechen, dann ist die Scheißleitung zusammengebrochen.«

»Ja, vielleicht hätte ich es machen sollen, aber ehrlich, ich habe von dem Punkt an, als ich irakischen Boden betrat, so unter Spannung gestanden, dass ich an nichts außer an die vor uns stehende Aufgabe gedacht habe. Ich weiß, Chef, das klingt wie ein Werbevideo für den BND, aber ich war wirklich völlig abgekabelt.«

»Na gut, dass ich für Sie eingesprungen bin.« Ich sah Krause verdattert an. »Nicht was Sie denken, Witzler, dafür bin ich viel zu alt.« Krause lächelte.

»Mila hat zweimal angerufen und nach Ihnen gefragt. Ich habe jedes Mal ein wenig mit ihr geplaudert und ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Sie sollten sich beeilen, Witzler, beim letzten Telefonat klang eine Menge Sehnsucht durch. Na los, hauen Sie schon ab.«

Er zog eine Blechschachtel mit Keksmischung aus der Schreibtischschublade und warf die Ökopapiertüte mit den gesunden Haferkeksen in den Papierkorb. »Fürchterliches Zeug.«

Polen, Kosztryn

Na super, das Navi war ausgestiegen. Kein Satellit! Was für ein Quatsch, auch über Polen kreisen Satelliten. Nach einem Neustart erschien die gleiche Ausrede der teuren elektronischen Wegführung. Mein Tiguan verfügte aber über umfangreiches Kartenmaterial. Wohlweislich hatten unsere Häuptlinge die immer spärlicher werdende Ausstattung der Dienstwagen auf ›BND-Standard‹ gebracht. Reservekanister, größeres Werkzeugset, Thermomatten, elektrische Heizdecke und eben gutes, neues Kartenmaterial. Was nutzte einem der alte Shell-Atlas, wenn der Leninplatz vor Jahren heimlich den Namen von Karl Friedrich Schinkel angenommen hatte. Dank der EU-Osterweiterung war das Kartenmaterial mitgewachsen. Hatte früher das Handschuhfach gereicht, gab es jetzt eine geräumige Box unter dem Beifahrersitz. Ich fand meinen Ort der Unwissenheit am knappen außerdeutschen Rand. In Kosztryn/Küstrin war ich über die ehemalige Grenze der Freundschaft gerollt. Vorbei an zwei großen Polenmärkten, auf denen man Plagiate aller gängigen Modemarken für ein paar Euro erwerben konnte, damit die markengeschädigten Blagen endlich Ruhe gaben. Dann hatten mich die Satelliten im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen lassen.

Mein Finger fuhr die Landstraße 31 hoch Richtung Chojna, das musste sie sein. Der Scheibenwischer schob den heftigen Landregen mit jedem Wischerschlag von der Scheibe, aber der erwartete Durchblick blieb aus. Nach einigen Kilometern Blindflug tauchte verschwommen das Ortsschild von Sarbinowo auf. Ich sah rüber zur Karte auf dem Beifahrersitz. Dieser kurze Augenblick der Unachtsamkeit genügte, um auf den Ackerschlepper eines polnischen Bauern zu rauschen. Es knirschte nicht, es gab auch kein Geräusch von berstendem Metall, wie oft von Unfallopfern beschrieben. Es gab einfach nur einen satten, kurzen Knall. Vor der Haube des Tiguan verkündete eine Dampfsäule von schweren Kühlerproblemen. Kein Wunder, schließlich steckte in der Mitte des Kühlers der Edelstahlantriebszapfen des Traktors. Die Front des Tiguan hatte sich gründlich verändert. Konstruiert, um die Kräfte des Unfalls aufzunehmen und von den Insassen fernzuhalten, waren die Plastikteile ordentlich gestaucht worden, bevor sie sich zerfetzt vom Wagen entfernt hatten. Die Haube machte einen beachtlichen Bogen nach oben, beide Scheinwerfer waren geplatzt, vom Kühlergrill nicht mehr viel vorhanden, insgesamt ein sauberer Treffer. Und das ausgerechnet in Polen. Auch wenn die Papiere eine deutsche Leasingfirma als Halter angaben, war es ein Dienstwagen des BND. Niemand wusste, ob die polnischen Dienste eine Liste besonderer Kfz-Kennzeichen besaßen. Wir hatten eine solche Liste, so viel stand mal fest. Der Bauer stieg bedächtig aus seinem dreckigen Trecker.

»Is mächtig viel kaputt, kannste nich fahren weiter. Kann ich Schwager anrufen, kann reparieren, hat Hänger für die Auto, Schwager kann gut machen ganz, gar nicht teuer, kann auch machen mit deutsche Versicherung, nix Problem.«

Ich besah mir den Schaden richtig. Der Mann hatte eindeutig recht. War mächtig viel kaputt, die Auto. Möglich, dass Krause über den Auffahrunfall noch lächeln konnte, wenn ich den Dienstwagen aber dem »Schwager, zum Machen ganz« überließ, würde er mir mehr als nur ordentlich Dampf machen. Ich zog mein iPhone aus der Tasche.

»Mila, ich stehe in Sarbinowo und habe einen Traktor gerammt, verdammte Scheiße.«

Mila gluckste vor Lachen. »Kannst du noch fahren, Andi?«

»Ich schon, aber ›die Auto ist völlig kaputt. Der Bauer hat Schwager mit Hänger, wollen holen Auto und machen ganz, kann gut rechnen mit deutsche Versicherung‹. Ich rechne aber eher damit, dass mir Krause den Kopf abreißt, wenn ich Bauers Schwager den Dienstwagen überlasse.«

Mila lachte schallend. »Gib mir mal den Bauern bitte, Andi.«

Der Bauer übernahm das Telefon und nickte während der nächsten Minute mehrmals zustimmend. Er gab mir das Telefon zurück, Mila hatte schon aufgelegt.

»Krieg ich zweihundert Euro von dir für Unfall. Deine Frau hat selber Schwager zu machen Auto ganz.«

Vier Fünfziger später stieg der Bauer wortlos in seinen Traktor, zog die Anhängevorrichtung für seinen Pflug aus meinem Motor und rollte davon. Milas Schwager erschien tatsächlich keine zehn Minuten später.

»Biste Andi? Kommste mit, machen Auto auf Hänger, fahren zu Mila, okay?« Wir luden den waidwunden Tiguan auf seinen Anhänger.

Kurze Zeit später stand ich auf einem stattlichen polnischen Bauernhof im Regen und zog mit Schwager Stephan eine blaue Plane über Anhänger und Wrack.

»Haben nix mehr Platz in Scheune, haben gekauft so viele Ferkel. Is nich genug Platz in Stall für Ferkel, versteh’n?«

Ich verstand, der Junge sprach wesentlich besser Deutsch als ich Polnisch. Die Tür vom Haupthaus öffnete sich, und Mila erschien auf der überdachten Veranda. Flotten Schrittes lief ich durch den prasselnden Regen, geschickt den großen Pfützen ausweichend. Drei Treppen noch, dann hatte ich sie im Arm. Eine kurze Umarmung, ein flüchtiger Kuss. Da hatte ich entschieden mehr erwartet, doch sie zog mich ins Haus, wo schon die gesamte Familie auf dem Flur stand und ›ihren‹ Andi in Augenschein nahm. Vorbei an der Familie ging es bis in die große Bauernküche. Milas Oma, eine polnische Bauernoma, wie man sich eine polnische Bauernoma eben so vorstellt – ein großes, gütiges Gesicht, eine kräftige Statur, eine ausgewaschene Kittelschürze, dicke, wollene Kniestrümpfe, Füße, die in warmen Filzpantoffeln steckten und das berühmte rote Kopftuch mit den weißen Punkten – nahm mich in die Arme und wollte mich gar nicht mehr loslassen.

»Setz dich, Junge, haste Hunger, hab ich dir Suppe warm gemacht, weil hast du doch bestimmt in Regen gestanden mit die kaputte Auto. Komm, is schön heiß, is von Huhn mit Nudeln, macht stark, macht warm.«

Sie schob mich auf die grobe Fensterbank und stellte mir einen Teller dampfende Hühnerbrühe vor die Nase, der in Deutschland als solide Suppenschüssel durchgegangen wäre. Mila saß mir gegenüber und sah zu, wie ich die wirklich köstliche Brühe löffelte. So musste eine Hühnersuppe schmecken. Oma hatte ihren Abwasch beendet und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Der Rest der eben noch so zahlreichen Familienangehörigen hatte sich anscheinend im großen Haus verteilt.

»Ist schöner Mann, dein Andi.« Oma streichelte meine Hand, Mila zwinkerte mir versteckt zu. Der leckeren Suppe folgte eine handgemachte Schale Zitronengrieß. Ich war angekommen, ich war satt, es fehlte eigentlich nur noch eines zu meinem und Milas Glück.

»Oma, jetzt ist es erstmal mein schöner Mann, später kannst du ihn noch mal haben.« Sprach’s, nahm mich bei der Hand und brachte mich in eine Kammer unter dem Dach. Hinter der fest verschlossenen Tür gab es dann den Empfangskuss, den ich eigentlich erwartet hatte.

»Mach mit mir, was du willst, Andi, aber mach es gleich.« Mila zog mich auf ein ausladendes, stabiles Bauernbett. »Wir dürfen nur nicht zu laut sein, wir sind Katholiken!«

Als wir später runtergingen und in der geräumigen Stube mit der Familie einen Indiana-Jones-Film auf Polnisch sahen, versuchte ich in den Gesichtern zu ergründen, ob wir leise genug gewesen waren. Omas verschwörerisches Lächeln ließ mich vermuten, dass sich die Gläubigen mehrmals die Ohren zugehalten hatten.

»Wo warst du, Andi? Weit weg?« Mila lag in meinem Arm, es musste schon weit nach Mitternacht sein. Wir waren tief in den molligen Federbetten verschwunden. Das Haus hatte zwar eine nachgerüstete Zentralheizung aus den Achtzigern, aber der Heizkörper war für eine Wohlfühltemperatur einfach zu klein bemessen.

»Weit weg, Mila, weit weg. Ich darf nicht darüber sprechen.« Mir war die Situation unangenehm. Einerseits konnte ich verstehen, dass Mila sich Sorgen machte, zu Recht, wenn ich mich an den Kampf um das Lager der IS-Miliz zurückerinnerte. Zum anderen war es leider unmöglich, diese Erlebnisse mit ihr zu teilen. Es war schlicht und einfach verboten. Mila schien damit entspannter umzugehen als ich.

»Ist okay, ich kann damit leben. Eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Ich habe nur aus rein weiblicher Neugier gefragt. Hast einen coolen Chef, Andi.« Der letzte Satz ließ mich aufhorchen. Ich hätte Krause mit Tausenden von Adjektiven beschrieben, aber cool wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Krause, der alte Charmeur.

»Er kann einem jungen Mädchen die Angst nehmen.«

»Einem jungen Mädchen? Mila, du bist auch schon ’ne Weile aus der Schule raus.«

Grinsend löschte ich die Nachttischlampe, und wir kuschelten uns aneinander.

»Musst du wieder weg?«

»Nicht heute und nicht morgen, versprochen, Pfadfinderehrenwort.« Milas Frage hatte sicher auf etwas anderes abgezielt, aber ein Nein wäre nicht ehrlich gewesen.

Wir schliefen bis weit in den Tag hinein. Milas Tante hatte Oma mehrfach davon abhalten müssen, uns Frühstück ins Zimmer zu bringen. Gute Tante.

»Sag mal, Andi, wollen wir zurück nach Joachimsthal?« Mila sah mich abschätzend an. »Ich muss hier raus. Die sind alle furchtbar lieb und nett zu mir. Ich kann aber nicht mehr, ich brauche eine Luftveränderung, brauche eine ordentliche Portion Schorfheide mit Kaminfeuer und gefülltem Uckerhuhn bei Markus im ›Grünen Baum‹.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Ein Problem gab es aber, wir hatten kein Auto mehr. Milas BMW war bei ihrem letzten Aufenthalt in Polen geklaut worden, die Reste meines Tiguan standen sicher unter der blauen Plane auf dem Hof.

»Da werden wir wohl mit dem Zug fahren müssen. Wir können den Wagen ja später noch holen. Ich muss Krause sowieso noch anrufen deswegen, vielleicht kann er uns ja auch einen Wagen schicken.«

»Ich hab ein Auto von Papa hier, mit Hängerkupplung, steht hinter der Scheune. Wir müssen nur noch eine Ausrede finden, freiwillig lassen die uns nicht gehen, vor allem Oma, die ist total verknallt in dich.« Sie knuffte mir in die Seite.

Wir nahmen meinen ›coolen‹ Chef als Ausrede, der mich aus dem Urlaub zurückholte, weil meine Anwesenheit bei einer wichtigen Ermittlung unbedingt erforderlich war. Oma kaufte uns die Notlüge nicht so einfach ab, gab sich aber geschlagen, als Mila versprach, noch vor Weihnachten wiederzukommen, selbstverständlich mit Andi.

»Wo hast du den Schlüssel? Ich hole schon mal den Wagen und hänge meinen Schrotthaufen an.«

Mila lachte. »Den kannst du nicht fahren. Ist ein bisschen speziell. Sag mal artig Oma auf Wiedersehen. Ich hol den Wagen!«

Kurze Zeit später erwachte hinter der Scheune ein großer Sechszylinder-Diesel mit tiefen Grummeln zum Leben. Zweifelnd schaute ich über Omas Schulter auf den Hof. Ein knallgrüner Lkw im Renndesign schob sich mit tiefschwarzer Rußsäule am Auspuff langsam vor den Anhänger.

»Kannste mal helfen beim Ankuppeln, Andi, oder musst du Oma festhalten?« Ich war sprachlos.

»Was ist das, Mila?« Ich deutete auf den im unruhigen kalten Leerlauf grummelnden Lkw.

»Das ist ein IVECO Race Truck mit Straßenzulassung. Papa testet damit MONROEs neue pneumatische Stoßdämpfersysteme für Nutzfahrzeuge. Ich hatte die Wahl: entweder sein verlebter, alter Fiesta oder die Rennboulette hier. Ich habe mich für den Großen entschieden. Papa hat sich gefreut, denn er hat kaum Zeit für die vorgeschriebenen Kilometerleistungen. Der Truck hat eine Hängerkupplung für Pkw-Hänger, weil Papa immer den Wohnwagen anhängt, wenn er zum Lausitzring muss, um seine Protokollfahrten für MONROE aufzuzeichnen.« Milas Vater war Vertreter für den Stoßdämpferhersteller MONROE und hatte als mehrfacher polnischer Rallyemeister genug Rennerfahrung, um auch einen ›Dicken‹ gehörig zu scheuchen. Dass Mila die Ambitionen und das Talent ihres Vaters geerbt hatte, bewies sie mit meinem Tiguan immer wieder überzeugend. War abzuwarten, ob sie auch die gut elfhundert Pferdestärken des grünen Monsters bändigen konnte.

Sie konnte! Sanft wie auf Hasenpfoten schlich sie über die runden Pflastersteine des Hofes, drückte noch einmal ausgiebig auf das kompressorgetriebene Horn und legte auf der vor dem Haus gelegenen Asphaltstraße einen Start hin, bei dem sie, wie sie mir lautstark erklärte, nur dreißig Prozent des Drehmoments nutzte, weil der Motor noch nicht richtig warm war. Mich drückten die dreißig Prozent in die spartanische Sitzschale wie bei einem Flugzeugstart. Überhaupt hatte das Fahrerhaus eher Ähnlichkeit mit einem Jet-Cockpit. Es gab ein zentrales Informationsfeld, das alle Daten auf einem Zwanzig-Zoll-Bildschirm darstellte. Mila tippte sich per Touchscreen die für sie interessanten Daten in die Vergrößerung. Die meisten Flächen im Fahrerhaus waren abgerundet, es fand sich kaum eine scharfe Kante. Alles war aus Kunststoff und strahlte in Grellgrün. Der Motor dröhnte in solch einer Lautstärke, dass ich das Gefühl hatte, ich würde direkt auf ihm reiten. Mila zog sich einen Satz Kopfhörer von einer elastischen Halterung und zeigte auf eine ebensolche neben meinem Sitz.

»Der wird noch lauter, wir können uns nur über das Intercom unterhalten. Neunzig Grad!«

Damit verkündete sie das Erreichen der Betriebstemperatur. Sie schaltete das knackige Sechzehngang-Getriebe drei Stufen herunter und katapultierte uns in drei Sekunden auf Hundert. Dagegen war die Suzuki Hayabusa von Masslowitz nur eine lahme Nebelkrähe.

»Der Hänger!«, schrie ich in das Intercom.

»Upps.«

Mila bremste gefühlvoll ab und rollte an den rechten Fahrbahnrand. Mehrmals schlich ich um den Hänger, aber anscheinend kannte Schwager Stephan seine Schwägerin zu gut. Der Wagen war mit sechs dicken Spanngurten nach allen Seiten gesichert. Ein guter Katholik, der nicht ausschließlich auf Gott vertraute, der Stephan. Mila zog an der Anhängerkupplung – alles fest. Die Jagd konnte weitergehen. Von Milas Idee, den Wagen gleich in die Chausseestraße zu schleppen, war Krause begeistert, bis ich ihm eine Bildnachricht vom Zugfahrzeug sendete.

»Vergessen Sie es, Witzler, wenn man das Ding in unserer Einfahrt filmt, haben wir morgen hunderttausend Klicks bei Facebook, haha, ›BND flott unterwegs‹. Schleppen Sie den Schrott nach Eberswalde. Ich lasse den Fuhrparkleiter mal klären, ob das nicht ein VW-Händler da oben erledigen kann. Melden Sie sich morgen mal, ich habe eine ganz private Frage.« Na, da war ich ja mal gespannt.

Schorfheide, Joachimsthal

Mila bugsierte den Anhänger mit den traurigen Überresten meines Wagens geschickt rückwärts auf den großen Hof von Matthias’ »Kaiserbahnhof«. In Matthias war beim Anblick des Renn-Lkw der große Junge erwacht, überall fummelte er herum, stellte tausend Fragen und verwarf den schnell gefassten Plan, sich auch so ein ›Teil‹ zuzulegen erst, als Mila ihm den vermutlichen Preis nannte.

Matthias bereitete uns ein leckeres Abendbrot im Kaminzimmer. Wurst- und Käsespezialitäten aus der Region mit selbstgemachtem Sauerkrautsalat und eingelegten Gurken vom letzten Jahr. Wir genossen die uckermärkischen Spezialitäten und freuten uns wie Bolle, wieder daheim zu sein. Matthias bekam von mir gleich eine Kaminholzorder. Wie viele andere Selbstständige in der Region war er ein wandelbarer Geselle. Ließen die Umsätze im Restaurant nach, hörte man seine Kettensäge in den Weiten der Schorfheide. »Brennholz ist so gut wie Bargeld« – Lebensweisheit und gelebte Realität bei Matthias. Die ständig steigende Zahl von Kaminen in Berlin und seinem Speckgürtel hatte den weitsichtigen Wirt vom »Kaiserbahnhof« letzte Woche erst eine neue Kettensäge von Stihl mit extra langem Blatt und neun PS kaufen lassen. Im Augenblick eine bessere Investition als der ebenfalls dringend benötigte Herd für die Küche.

Wir schliefen sehr spät ein in unserem trauten Heim. Zu groß war die Versuchung, Lärm zu machen, ohne irgendwelche Katholiken zu stören. Es war schon früher Vormittag, als ich uns ein einfaches Frühstück ins Bett holte. Mit dem ersten Biss ins Brötchen meldete sich allerdings das iPhone mit Krauses ›privater Frage‹.

»Na, Witzler, schön, wieder zu Hause zu sein, was? Sagen Sie mal, gibt es da oben bei Ihnen Schafe, ich meine junge Schafe, Lämmer?« Krause schien unsicher. Normalerweise kamen seine Fragen perfekt gestellt und auf sofortige Antwort ausgerichtet. Die meisten konnte man mit Ja oder Nein beantworten. Jetzt eierte mein Krause herum.

»Also, Hilde möchte ein Lammkarree machen. Ich habe ihr gesagt, sie solle das Fleisch aus dem Supermarkt holen wie Schnitzel oder Kotelett auch. Sie meint aber, die würden oft jungen Hammel als Lamm verkaufen, und der würde pissig schmecken. Nun weiß ich ja, was ich an Hilde habe, und ich weiß auch, dass ich erzählen kann, was ich will, sie wird bei jedem Stück Lamm, das ich anbringe, vermuten, dass es irgendwo bei EDEKA oder REWE über die Ladentheke gegangen ist. Ich glaube fast, ich muss das Lamm lebend in die Bude treiben, Witzler. Gibt es bei Ihnen Bauern, die Lämmer haben?«

»Ja klar gibt es Bauern, die Lämmer haben. Es gibt aber auch Schäfer, die Lämmer haben, Jungtiere vom Fachmann sozusagen. Einer von ihnen will seinen Hof aufgeben. Ihm wurde gerade die Herde getötet.«

»Herde getötet? Dann haben die doch sicher eine Krankheit, Witzler?«

»Sie wurden erschossen.«

»Erschossen? Lämmer erschossen? Verdammte Scheiße, in was für einer Ecke leben Sie denn?«

Ich erzählte ihm die Geschichte von Jan Kurz und seiner vernichteten Existenz, und eigentlich war schon nach den ersten Sätzen klar, dass Krause darauf anspringen würde.

»Das ist ja grausam, skurril, Witzler, erschossen von Handfeuerwaffen mit Schalldämpfern, hundertachtundsechzig Schafe, ich muss mir das ansehen. Liegen die da noch rum? Ich meine, ich würde ja Hilde gerne mitbringen, wenn die jedoch eine Weide voller toter Schafe sieht, gibt es bei uns nie wieder Lammkarree.«

»Nein, Chef, der Schäfer verkauft seine Restbestände aus der Kühlung. Alle Schafe, die durch Schüsse starben, wurden abgedeckt und entsorgt. Man hat ihnen das Fell über die Ohren gezogen.«

»Ich weiß, was abgedeckt heißt, Witzler. Aus den Fellen wird Lammnappa gemacht. Hab ’ne Jacke draus, gutes Material, Anfang der Neunziger gekauft, war nicht billig, aber Hilde lässt sie mich nicht mehr anziehen. Sie meint, ich würde damit aussehen wie ein armer Ostler auf der Suche nach Begrüßungsgeld. Vergleiche hat die manchmal. Heute ist Samstag, könnten Sie mit uns mal da hinfahren? Ich meine nur, wenn Sie nichts anderes vorhaben.« Na endlich, eine typische Krausefrage. Ja, ich habe was anderes vor, wäre die falsche Antwort. Ich probierte es mit: »Ich muss mal Mila fragen.«

»Bestellen Sie ihr einen lieben Gruß von mir.« Der alte Fuchs.

»Mila, lieben Gruß von Krause. Er fragt, ob wir mit ihm und seiner Frau zu Jan Kurz fahren können? Sie wollen Lamm kaufen.« Mila war natürlich Feuer und Flamme, als wenn Krause das nicht geahnt hätte.

»Okay, Chef, um zwei bei mir?«

»Halb zwei, Witzler, wir sind schon angezogen!« Es würde halb drei werden, Krause kannte die Baustelle auf der A11 nicht. Es war Samstagnachmittag, und alle Berliner waren raus auf dem Weg ins Umland.

»Andi, soll ich einen Kuchen backen?«

Ich drehte irritiert den Kopf. »Mila, er ist mein Chef, nicht mein Vater.«

»Ach, Andi, komm schon. Ich backe uns ein Blech Apfelkuchen, das können wir mit raus zum traurigen Schäfer Kurz nehmen. Mehl ist aber alle, kannst du zum Hunde-Netto fahren und eine Tüte holen? Mehl und Vanillezucker, davon ist auch keiner mehr da.«

Verschmitzt bat ich um den Schlüssel für den Lkw. Es erforderte einige Überzeugungsarbeit, ihr den aus den Rippen zu leiern. Mila wollte mich doch allen Ernstes mit dem Fahrrad losschicken. Schließlich gab sie sich geschlagen und erklärte mir die umständliche Startprozedur. Als der Motor kalt und laut ansprang, konnte ich ihrer skeptischen Miene entnehmen, dass sie sich um Papas Spielzeug sorgte. Ich ließ es langsam angehen und rollte mich gemütlich die Straße herunter, aber schon beim Abbiegen auf die Landstraße erwachte der Abenteurer in mir. Runter mit dem elektronischen Gaspedal und dem ›Dicken‹ ordentlich Diesel in die Brennräume gesendet. Der antwortete mit durchdrehenden Hinterrädern und einem wedelnden Arsch wie eine Sambatänzerin. Hoppla, das ging aber vorwärts. Jetzt hatte der ›Dicke‹ meinen Respekt. Als ich vor dem Netto mit vier qualmenden Reifen stoppte, hatte ich die Anerkennung des wie immer auf dem Parkplatz herumlungernden Jungvolks mit ihren Polos und Corsas sicher. Ich sprang elegant aus dem Führerhaus und verschwand zügigen Schrittes im Markt. Als ich nur wenige Minuten später mit der gelben Tüte in der Hand aus dem Laden stürmte und die grellgrüne Beifahrertür aufriss, um den Einkauf in die Sitzschale zu werfen, hatte das Jungvolk immer noch die Kinnlade unten. Mein Start und der saubere Drift um den Kreisverkehr erhöhten den Respektfaktor noch einmal um hundert Punkte.

»Kein Kratzer!«, rief ich. Mila äugte aus dem Küchenfenster, ob ihrem besten Stück auch nichts passiert war. Ich brachte ihr den Einkauf, und sie machte sich strahlend an den Apfelkuchen.

Krause rief kurz vor halb zwei an. »Na, Witzler, fertig?«

»Kein Stau auf der A11 gewesen?«

»Keine Ahnung, bin gleich über Prenden/Lanke gekommen, schöne Gegend, gute Straßen. Wir stehen in einer Minute vor Ihrer Tür, sagt mein Navi. Bis gleich.« Auf dem Weg zum Tor hörte ich den A6 mit seinem 3-Liter-Diesel heranröhren.

»Heißes Teil!« Krause begrüßte mich nicht einmal. Er lief schnurstracks zu Milas Rennmaschine. Überall fummelte er herum, strich über die Verkleidung der Hinterräder, zog am Spritzschutz herum, kurzum: Krauses Liebe für den Lkw war entflammt.

Als der Kuchen fertig war, machten wir uns auf den Weg. Krause fragte Mila auf dem Weg nach Friedrichsfelde ein Loch über den Lkw in den Bauch. Dieser Wagen schien ihn wirklich über alle Maßen zu beeindrucken. Seine Frau und Mila hatten das gleiche undefinierbare Lächeln auf den Lippen.

Uckermark, Friedrichsfelde

Vor der großen Scheune tuckerte Jans alter Russentraktor. Der Schäfer war dabei, große Heubunde von seinem Hänger zu laden. Als er uns sah, stellte er die Heugabel beiseite und strich sich die zahlreichen Überbleibsel des natürlichen Trockenfutters von den verblichenen Arbeitsklamotten.

»Hi Andi, ihr seid ja früher als erwartet. Ich mache nur noch schnell den Hänger leer. Eigentlich könnte ich das Heu auch auf der Wiese verfaulen lassen, Fresser hab ich ja eh nicht mehr dafür. Na ja, vielleicht verscheuere ich das Zeug über eBay. Fünf Minuten, dann bin ich bei euch. Ihr könnt euch ja schon mal vorn an den Tisch setzen.«

Auf dem alten verwitterten Holztisch hatte Jan ein grobes, naturfarbenes Leinentuch gelegt. Mitten auf dem Tuch stand ein tönerner, großer Topf voller Feldblumen, die Frauen waren mehr als entzückt.

»Ach, ist das schön. Ob er den Topf selbst gemacht hat? Ich würde auch so gerne wieder töpfern. Früher in Pullach war ich in einer Schüler-Mütter-Töpfergruppe, da haben wir so schöne Sachen gemacht. Willi habe ich eine große Vase für sein Büro gemacht, die hat er heute noch.«

Die große Vase wurde wöchentlich von Krauses Sekretärin mit neuen Blumen gefüllt. Ich sah zu Krause herüber, der verdrehte die Augen und Hilde drehte richtig auf.

»Willi, sieh nur, da drüben, ein ganzes Regal mit Vasen und Schüsseln, ach, ist das schön hier.« Sie stand auf und ging zum Regal, Mila im Schlepptau. Vier interessierte Hände wühlten die handgemachten Kleinode durch. Schäfer Jan hatte das Heu verbracht und kam mit drei kühlen Bieren um die Hausecke.

»Und die Damen? Roten Wein, Wasser oder auch ein Bierchen?« Hilde entschied sich für ein Bier, Mila schlug den leckeren Roten aus und nahm ein Wasser.

»Herr Kurz, machen Sie die Töpferarbeiten selbst?« Hilde war neugierig und ließ sich vom abwiegelnden Krause nicht beirren. »Sind ja wirklich schöne Sachen dabei. Die kleinen Vasen sind ja allerliebst. Haben Sie eine Töpferscheibe? Ihre Arbeiten sind alle so symmetrisch.«

»Ja, habe ich, wenn die Damen Lust haben, können Sie gern ein bisschen töpfern, wenn Ihre Zeit das zulässt.« Der Schäfer lächelte sympathisch, dieser Mann wusste, was Frauen wollen. »Hinten im Quergebäude, die zweite Tür, da ist die Werkstatt. Am Regal hängen ein paar Kittel und im Becken steht gewässerter Ton. Die fertigen Arbeiten können Sie ins Brennregal stellen. Ich wollte heute Abend sowieso den Ofen anmachen.« Die Frauen verschwanden augenblicklich in Richtung Quergebäude. Wir stießen die Flaschen zusammen und tranken auf diesen wunderschönen Altweibersommersamstag. Krause setzte ab und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Sagen Sie, Herr Kurz, ist es wahr, dass man Ihre Herde erschossen hat?«

»Nennen Sie mich Jan. Ja, das stimmt, alle Tiere, selbst den Hund.«

»Und Sie haben keinen Verdacht? Ich meine, da kommen so mir nichts, dir nichts ein paar Leute und knallen einfach eine komplette Schafherde ab, wir sind doch hier nicht im Wilden Westen?!« Krause hatte seinen skeptischen Blick aufgesetzt und nahm Witterung auf. Der Schäfer sah gedankenverloren in den nahezu wolkenfreien Nachmittagshimmel. »Tja, schon komisch. Hier passieren in der letzten Zeit eine Menge seltsamer Dinge.«

Jetzt hatte Jan auch meine Aufmerksamkeit.

»Letzten Monat ist der Anton Degner rüber in den Westen, der hatte erst vor drei Jahren angefangen mit einer kleinen Bioherde Rindviecher, hat selber Käse gemacht. Schlachtfleisch konnte man auch bei ihm bestellen. Man kaufte eine Rinderhälfte, die er nach dem Schlachten ordentlich zerlegte, portionierte und einfror. Er hatte sich extra eine neue Kühlung angeschafft, man bekam sein eigenes Fleisch auf Abruf sozusagen. Gutes Geschäftsmodell, ein ganz Teil Berliner hatte bei ihm ›eingelagert‹, und dann macht der einfach von einem Tag zum anderen ab nach Nordrhein-Westfalen. Ist jetzt Schlachter bei Tönnies Fleisch in Rheda Wiedenbrück. Hab ihn gestern angerufen, aber der hat mir nur mufflig geantwortet, komische Type geworden.«

Jan hob die Flasche und nahm einen tiefen Zug. Er ließ die überflüssige Kohlensäure mit einem derben Rülpser ins Freie. Krause zog die Brauen hoch, hob die Flasche und folgte dem Beispiel des Schäfers. Ich erlag ebenfalls der Versuchung, scheiterte aber mit einem zischenden Laut, der mir die Kohlensäure durch die Nase trieb. Beide Herren schüttelten mitleidsvoll grinsend die Köpfe.

»Wollen wir mal nach dem Fleisch sehen?« Ich war drauf und dran, aufzustehen, aber Jan wiegelte ab.

»Noch eine?« Er winkte Krause mit der leeren Flasche und der nickte genüsslich. Jan griff in den Blecheimer unter dem Tisch und zog drei weitere Biere aus dem kalten Wasser. »Prost!«

Wir ließen noch zwei Biere folgen, mein Protest wurde von Krause und Jan abgeschmettert. Als wir dann endlich in der Kühlzelle standen, um Krauses Lamm auszusuchen, schwirrten in meinem Kopf schon die Schmetterlinge.

»Meine Fresse, Jan, was willst du denn mit dem ganzen Fleisch machen?« Krause klopfte auf einen Berg sorgfältig eingeschweißter, gefrorener Lammrücken.

»Dreißig Rücken hab ich an das ›Sabuck‹ verkauft, die machen eine orientalische Woche mit Lamm in allen möglichen Variationen. Da gehen auch fünfzig Packungen Rippen hin. Für Restaurants wie das ›Sabuck‹ ist das natürlich ein sprichwörtlich gefundenes Fressen. Die haben mir bei den Einkaufspreisen ganz schön die Hosen runtergezogen. Die wollten den ganzen Berg haben, aber die Summe war so unverschämt, nee, da schmeiß ich den Rest eher in die Grube. Ach ja, wenn ihr heute noch lecker Lamm essen wollt, Markus hat sich hundert Filets gesichert für einen ordentlichen Preis. Uckermärker halten zusammen.«

Krause stopfte seinen Einkauf in die elektrische Kühlkiste. Die Inventarnummer am Boden verriet zwar nicht auf den ersten Blick, dass es sich um einen ›Beamtenkühlapparat‹ handelte, ich kannte diese Boxen aber sehr gut. Manche Beweisstücke mussten halt gekühlt transportiert werden. Der Gedanke, dass sich schon ein menschliches Körperteil in dieser Kiste befunden haben könnte, ließ mich grinsend den Kopf schütteln.