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In den letzten Jahrzehnten sind in den westlichen Gesellschaften die Freiheitsspielräume der individuellen Lebensgestaltung enorm gewachsen, traditionelle Rollenvorgaben und gesellschaftliche Bindungen wurden aufgelöst. Die alte Frage »Was darf ich tun?« ist abgelöst worden von der neuen Frage »Wozu bin ich fähig, was kann ich tun?«. Dadurch sehen sich die Menschen heute mit einer neuen Quelle des Leidens konfrontiert: ihrer Unfähigkeit, die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten für ein gelingendes Leben zu nutzen. Die Ausbreitung einer neuen Sprache des Leidens über narzisstische Persönlichkeitsstörungen und depressive Erkrankungen ist die Folge. In seiner monumentalen Studie verfolgt Alain Ehrenberg diese Entwicklung anhand zweier groß angelegter Fallstudien in Frankreich und den USA.
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Seitenzahl: 856
Alain Ehrenberg
Das Unbehagenin der Gesellschaft
Aus dem Französischenvon Jürgen Schröder
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
La Société du malaise © Odile Jacob, 2010
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur – Centre National du Livre und der Maison des sciences de l'homme.
Ouvrage publié avec le concours du Ministère francais chargé de la culture – Centre National du Livre et la Maison des sciences de l'homme.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Erste Auflage 2011
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-74670-7
www.suhrkamp.de
5Zum Gedenken an meinen Vater,Leib Ehrenberg, genannt Léo.
7Wir fühlen [...] uns immer von neuem zu ganz unsinnigen begrifflichen Formulierungen gedrängt, wie etwa ›Individuum und Gesellschaft‹, die es so erscheinen lassen, als ob ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ zwei verschiedene Dinge seien, wie Tisch und Stuhl, wie Topf und Tiegel. Man kann sich dann in lange Diskussionen darüber verwickelt finden, welche Beziehung zwischen diesen scheinbar getrennt existierenden Objekten bestehe [...].
Norbert Elias
Was ist Soziologie?, 1970
Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.
Robert Musil
Das hilflose Europa, 1922
... mein Hauptkriegsziel wird es sein, zu beweisen, daß [...] es auf dasselbe hinausläuft, über das Wesen der Philosophie und über das Wesen der Sozialforschung Klarheit zu gewinnen. Denn jede lohnende Untersuchung der Gesellschaft muß philosophischen Charakters sein, und jede lohnende Philosophie muß es mit der Natur der menschlichen Gesellschaft zu tun haben.
Peter Winch
Die Idee der Sozialwissenschaft und ihrVerhältnis zur Philosophie, 1958
Einleitung
Die personale Wende des Individualismus:Unbehagen in der Kulturoder Wandel des Geistes der Institutionen?
Autonomie und Subjektivität: individualistische Soziologie und Soziologie des Individualismus
Untersuchungsgebiet: die Pathologien des Ideals
Vorgehensweise: die amerikanische und die französische Art der Verknüpfung von individuellen Beschwerden und gestörten sozialen Beziehungen
Themen, die Haß und Zorn hervorrufen: Wahrheits- und Kriterienprobleme
Erster TeilDer amerikanische Geistder Persönlichkeit
1. Kapitel
Das beunruhigte Selbstvertrauen: vom moralischen Individualismus zum amerikanischen Charakter
Puritanismus, Liberalismus, Romantik:Die dreifache Grundlegung des amerikanischen Self
Puritanismus: der Bürgerkrieg inmitten des Selbst – Liberalismus: das politische Glaubensbekenntnis des self-government – Romantik: das Selbstvertrauen ist ein Vertrauen auf Amerika – Die Psychologie als demokratische Methode
Die erste Krise des amerikanischen Individualismus:Persönlichkeit, Psychologie, Psychotherapie
Der neurasthenische Moment oder die Krise des moralischen Charakters – Psychoanalyse, Soziologie, Kulturalismus: die Stimmen der Persönlichkeit (1930-1950) – Ein Mann in der Schwebe: die analytische Einstellung zwischen Puritanismus und Demokratie – 1950: David Riesman und die Forderung nach Persönlichkeit
2. Kapitel
Das psychodynamische Ichder amerikanischen Psychoanalyse
Rückkehr nach Europa: Ist das Neurosenmodell hinreichend angemessen?
Die negative therapeutische Reaktion: lieber krank bleiben als gesund werden – Die Charakterneurosen, zweite Wende der 1920er Jahre – Die Wende der Mutter-Kind-Beziehung
Die Ich-Psychologie oder die Rückkehr zu Freud in der amerikanischen Psychoanalyse
Gesundes Ich, neurotisches Ich und narzißtisches Selbst: Wer und wie wird in den Vereinigten Staaten analysiert? – Die Rückkehr des ausgeschlossenen Patienten – Gesellschaftliche Wirklichkeit und klinische Realitäten: der Einfluß des Ich-Ideals auf das Über-Ich
3. Kapitel
Von Ödipus zu Narziß:Die Krise der self-reliance
Die amerikanische Jeremiade oder die neuen Kleider der puritanischen Askese
Hat sich der amerikanische Charakter verändert? – Von der Institution zum Trieb: eine Bedeutungsverschiebung des persönlichen Werts – 1966: der Triumph der Therapie oder das Ende der vertikalen Autorität – Die Tragödie von Narziß oder dieWeigerung des Ich, das alles auf sich zentriert – Der Manager und der Therapeut: zwei komplementäre Gestalten der amerikanischen Krise
Die amerikanische Form der individualistischen Beunruhigung
Epidemiologie: die Messung der Störung – Erkenntnistheorie: Kulturalismus und Funktionalismus – Soziologie: Krise des Liberalismus, Krise der self-reliance – Die Überwindung der Jeremiade: die amerikanische Skepsis gegenüber der Demokratie von Stanley Cavell bis Alexis de Tocqueville
Zweiter TeilDer französische Geist der Institution
4. Kapitel
Das Subjekt der französischen Psychoanalyse
Die exemplarischen Komplexe Lacans:Kollektivpsychologie oder Soziologie?
Die Charakterneurose und der gesellschaftliche Verfall der väterlichen Imago – Eine Durkheim'sche Reform Freuds – Die Lacan'sche Spannung: soziales Ideal und Ich-Illusion
Die Pole der psychoanalytischen Debatte in Frankreich
Die dritte Topik André Greens – Der diskrete Ton der französischen Ich-Psychologien
Die französische Psychoanalyse als Metawissen:Beruf, Massenkultur, Politik
Ein Beruf – Der Eintritt in die Massenkultur – Die Politik der Psychoanalyse – Die Verschränkung von beruflichen und politischen Fragen
5. Kapitel
Von der Autonomie als Bestrebung zur Autonomie als Zustand
Vom politischen Individualismus zur individualistischen Gesellschaft (1789-1980)
Das Volk, die Gleichheit und die soziale Frage – Die republikanische Synthese – Das persönliche Leben als Neuordnung von privatem und öffentlichem Leben
Die Wendung zur Subjektivität oder das Bündnis zwischen Therapeut und Unternehmer
Die befreite Subjektivität: kritisches oder apologetisches Programm? – Gerechtigkeit und Konkurrenz: der neue Geist des Handelns
6. Kapitel
Das Übel der Horizontalitätoder die neuen Kleiderdes republikanischen Gedankens
Eine Welt ohne Grenzen
Freuds Unbehagen – Psychoanalyse der sozialen Bindung, die neue psychische Ökonomie – Die Verschiebung vom Pathogenen zum Normativen
Die Krise des Symbolischen und der Niedergang der Institution: Verliert die Gesellschaft ihre Autorität?
Die Institution, die gesellschaftliche Ordnung und die Person: moralische Autorität und logische Dressur – Eine republikanische Reaktion
7. Kapitel
Die Arbeit, das Leiden, die Anerkennung
Die leidenschaftliche Anprangerung: das Gerechte und das Ungerechte
Das Leiden – Das Mitleid, eine gefährliche Leidenschaft – Die Anerkennung – Eine individualistische, dem Niedergang entgegengesetzte Utopie
Der Stoff des Handelns: die Lebensqualität, der Streß und das psychosoziale Risiko
Eine differenzierte Darstellung der Intensivierung – Wie läßt sich heute die Arbeit charakterisieren? – Beschreibung psychosozialer Risiken – Mobbing, Schuld, Autonomie: eine Frage der Weisungsautorität
8. Kapitel
Die Prekarisierung der Existenz:die neuen Konstellationen der Ungleichheit zwischen geistiger und politischer Gesundheit
Die psychosoziale Klinik: die Wiederherstellung der Macht des Handelns angesichts des neoliberalen Unglücks
Die beiden Klagen – Der Sektor der Psychiatrie und das Netz der seelischen Gesundheit – Das Syndrom des Vertrauensverlustes – Der Sozialarbeiter und der Kliniker: das Unbehagen, Ansatzpunkt für das Handeln – Wiederherstellung des Narzißmus, Selbstachtung, Kompetenzen – Empowerment auf französische Art? – Die Befähigung des Individuums, Akteur seiner eigenen Veränderung zu sein, oder der neue Geist der Institutionen
Die amerikanische Krise der französischen Gesellschaftstheorie
Die persönliche Dimension oder der großeWandel der Gleichheit – Das Unbehagen: erkenntnistheoretisches Hirngespinst und soziologische Wahrheit
Schluß
Wahlverwandtschaftenoder die individualistische Haltunggegenüber ihren Gegnern
Amerikanischer Liberalismus und französischer Antiliberalismus
Um den Individualismus richtig zu verstehen, muß zuvor die Hierarchie bedacht werden
Die seelische Gesundheit, eine individualistische Behandlung des Leidens
Literaturverzeichnis
Danksagung
Die personale Wende des Individualismus: Unbehagen in der Kultur oder Wandel des Geistes der Institutionen?
Die Subjektivität, die Affekte, die Emotionen, die moralischen Gefühle, das psychische Leben prägen heute die gesamte Gesellschaft und hinterlassen deutliche Spuren innerhalb der Wissenschaften. Begriffe wie seelische Gesundheit und psychisches Leiden, die vor der Wende der 1980er Jahre kaum von Bedeutung waren, nehmen nunmehr eine wichtige Stellung ein. Ihre Verbreitung begleiteten zunächst die Bewegung der Emanzipation der Sitten zu Beginn der 1970er Jahre und anschließend die Wandlungen der Organisation von Unternehmen und die Krise des Systems der sozialen Sicherheit, die in den 1980er Jahren begannen und sich im Laufe der 1990er Jahre beschleunigt haben. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich ein gewaltiger und uneinheitlicher Markt für das innere Gleichgewicht ausgebildet, der zahlreiche Berufssparten mobilisiert und die verschiedensten Therapie- oder Betreuungsformen einsetzt. Parallel dazu wurde das psychische Leben in der Wissenschaft zu einem fachübergreifenden Gegenstand für die Biologie durch die Neurowissenschaften anhand der Themen der Empathie und der Entscheidungsfindung, für die Philosophie durch die Welle der naturalistischen Philosophie des Geistes und für die Soziologie oder die Anthropologie durch »die Rückkehr des Akteurs«, »den neuen Individualismus«, »die Rückkehr des Subjekts« oder »die Subjektivierung«. Ob krank oder gesund, die individuelle Subjektivität steht im Vordergrund des Geschehens, und es gibt zahlreiche Leute, die das Geheimnis der menschlichen Vergesellschaftung durch die Erkenntnis der Emotionen zu finden hoffen.
Ob es um seelische Gesundheit oder um psychisches Leiden geht, die Emotionen haben sich in relativ kurzer Zeit an der Schnittstelle von Psychologie, Neurowissenschaften und Soziologie angesiedelt. In diesem Zusammenhang wissen wir nicht 16mehr so genau, wo wir im Spannungsfeld zwischen dem biologischen, dem psychologischen und dem sozialen Menschen eigentlich stehen. Auch wenn diese Ungewißheit nicht neu ist, ist sie doch zu einem Schlachtfeld geworden: Eine Atmosphäre von Lärm und Raserei prägt die Beziehungen zwischen den Praktiken, deren Ziel es ist, die Psyche des Menschen umzuwandeln. Diese Streitigkeiten zeichnen sich insbesondere dadurch aus, daß sie deutlich über die therapeutischen, klinischen oder ätiologischen Kontroversen hinausgehen, die man in anderen Krankheitsbereichen antrifft. Die Akteure sind schnell mit der Metaphysik bei der Hand, springen sofort in die Marktlücke der Ethik und streiten munter über ihre verschiedenen Vorstellungen des menschlichen Subjekts.
Diese Wandlungen vollzogen sich unter der Schirmherrschaft von Werten, die durch den Begriff der Autonomie vereint werden. Dieser bedeutet heute zunächst zweierlei: die Wahlfreiheit im Namen der Selbstmächtigkeit und die Fähigkeit, in den meisten Lebenssituationen selbst zu handeln. Die Autonomie spielt eine Hauptrolle in der Ausrichtung der Gesellschaft und des Wissens auf die individuelle Subjektivität, weil sie eine allgemeine Haltung impliziert: Sie besteht in der Selbstbehauptung, in der persönlichen Behauptung, die im gesellschaftlichen Leben Frankreichs bis zum Ende der 1970er Jahre nur eine begrenzte Stellung innehatte. Die Selbstbehauptung ist sowohl eine Norm, weil sie zwingend ist, als auch ein Wert, weil sie wünschenswert ist. Die Verallgemeinerung der Werte der Autonomie auf die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens ist gleichbedeutend mit einer personalen Wende des Individualismus. Dieser entwirft eine Atmosphäre unserer Gesellschaften, die der seelischen Gesundheit und dem psychischen Leiden ihren sozialen Wert verleiht.
Der Gegenstand dieses Buches ist ein zweifacher. Sein Ziel besteht zunächst darin, Rechenschaft abzulegen über die Veränderungen, die die Vorstellungen von Subjektivität und Autonomie, welche heute systematisch miteinander verbunden sind, zu Schlüsselbegriffen für unsere Gesellschaften erheben. Genauer handelt es sich darum, die Tatsache zu klären, daß die sozialen Beziehungen sich nunmehr in einer Sprache des Affekts darstellen, der sich zwischen dem Übel des psychischen Leidens und dem Wohl der persönlichen Entfaltung oder der seelischen Gesundheit aufteilt. Das Buch trägt außerdem die Hoffnung zu zeigen, daß wir entgegen der landläufigen Meinung viel mehr über 17die Beziehung zwischen den beiden Kategorien des »Psychologischen« und des »Sozialen«1 wissen, als wir glauben.
Dieses Buch setzt in einer erneuten Bemühung eine Reihe von Untersuchungen fort, die der Verbreitung der Normen und Werte der Autonomie gewidmet sind, deren beide Facetten das eroberungslustige und das leidende Individuum sind. Die Depression hat die Rolle einer klinischen Entität gespielt, die zwischen der alten Welt der Psychiatrie und des Wahnsinns und der neuen Welt der seelischen Gesundheit und des psychischen Leidens vermittelt. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie die Verschiebung von der Disziplin zur Autonomie begleitet, indem sie zunehmend die Stellung der Freud'schen Neurose, jener Pathologie der Schuld, einnahm, um zum Schatten des Individuums zu werden, dessen Norm die Autonomie ist. Bei einem Lebensstil, der durch die traditionelle Disziplin geprägt ist, gehörte die Frage, die sich für jedermann stellte, zu einem »neurotischen« Typus: Was darf ich tun? Bestimmt jedoch der Bezug zur Autonomie die Geister, wird die Vorstellung, daß jeder aus eigener Kraft es zu etwas bringen kann, indem er aus eigenem Antrieb Fortschritte macht, zu einem Ideal, das in unsere Alltagsgebräuche eindringt, gehört die Frage, die sich für jedermann stellt, zu einem »depressiven« Typus: Besitze ich die Fähigkeit, es zu tun? Die neurotische Schuld ist offensichtlich kaum verschwunden, sondern hat die Gestalt der depressiven Unzulänglichkeit angenommen. Bei der Verschiebung von dem, was man darf, zu dem, was man kann, treten die persönliche Behauptung, die Selbstbehauptung ins Zentrum der demokratischen Gesellschaftsverfassung. Die Fähigkeit, sich auf beherrschte und angemessene Weise zu behaupten, wird zu einem wesentlichen Bestandteil der Sozialisation auf allen Ebenen der sozialen Hierarchie. Dieser Wandel der Normativität stellt das Individuum auf eine Linie, die von der Fähigkeit zur Unfähigkeit reicht. Wenn der Meßschieber sich der Unfähigkeit nähert, läßt die Unfähigkeit sein Schuldgefühl hervortreten, der jeweiligen Sache nicht gewachsen zu sein. In diesem Modus des Defizits, der Unzulänglichkeit oder der Behinderung erscheint die Schuld.
18Zunächst werde ich die Probleme und die vorzuschlagenden Hypothesen aufzeigen, die in diesem Buch untersucht werden, um dann die empirischen Gegenstände, anhand derer sie behandelt werden, und schließlich die verwendete Vorgehensweise zu nennen.
Die seelische Gesundheit und das psychische Leiden bilden in Frankreich den Gegenstand einer Debatte über »das Unbehagen in der Kultur«. Diese Debatte läßt sich in der zweifachen Vorstellung zusammenfassen, daß die soziale Bindung schwächer wird und daß das Individuum im Gegenzug mit Verantwortlichkeiten und Prüfungen überladen ist, die es zuvor nicht kannte. Der Beweis für dieses Unbehagen ist in den Sozialpathologien zu finden, bei jenen Erkrankungen der Bindung, die sich in unserer modernen Welt entfalten. Die Fachleute für seelische Gesundheit sind alle intensiv mit den Beziehungen zwischen der Entwicklung von Werten und Normen des Gesellschaftslebens einerseits und den psychopathologischen Problemen andererseits beschäftigt. Tatsächlich gibt es in den Debatten über das psychische Leiden und die seelische Gesundheit einen ständigen Bezug auf das Gesellschaftsleben und auf die Wandlungen von Institutionen und Normen. So denkt eine große Zahl von Klinikern, daß die Pathologien der sozialen Bindung im Wachstum begriffen sind (wie zum Beispiel die Sucht, der posttraumatische Streß oder die Verhaltensstörungen); die Akteure in den Unternehmen (Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände, die Leitung von Personalabteilungen, Unternehmensberatungen) werden durch das Leid bei der Arbeit und den Streß mobilisiert, die angeblich die Auswirkung eines neuen Drucks seien, der sich aus dem Wandel der Art und Weise des Managements ergibt; die Städte und Gemeinden befassen sich mit den psychischen Leiden der Ausgeschlossenen, Armen, Frauen und Minderheiten, indem sie sich auf den neuen Begriff des psychosozialen Leidens beziehen (denn das soziale Leiden ist psychologischer Natur). Auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Zusammenhängen (der gemobbte Angestellte oder jemand mit einer Psychose sollten unterschiedlich 19behandelt werden) scheint die seelische Gesundheit den Akteuren sowie den Beobachtern dieses Bereichs die Frage nach dem Zusammenleben zu stellen, die Frage nach dem Schicksal der sozialen Bindung in den demokratischen Gesellschaften, in denen der Massenindividualismus und der globalisierte Kapitalismus herrschen. Die Mauern der Anstalt sind zwar gefallen, aber zugleich quillt von überall grenzenloses psychisches Leiden hervor, das seine Antwort in der Suche nach seelischer Gesundheit findet.
Das Thema des Unbehagens, ein Etikett, das zumindest in Frankreich all diese Leiden vereint, ist besonders prägnant. Der alltäglich gewordene Gebrauch von traditionell psychopathologischen Entitäten (Depression, Trauma, Angst usw.) in äußerst zahlreichen und verschiedenartigen Situationen führt sehr häufig dazu, daß sowohl die Akteure als auch die Beobachter von einer Psychologisierung, Psychiatrisierung, Pathologisierung, Medizinisierung und sogar von einer Biologisierung des Gesellschaftslebens sprechen. Die gesellschaftliche Bindung wird schwächer, und als Folge davon muß sich der einzelne immer mehr auf sich selbst stützen, auf seine persönlichen Fähigkeiten, seine Subjektivität, seine »Innerlichkeit«. Daraus ergeben sich jene massenhaften psychischen Leiden und die Vervielfältigung psychologischer, medizinischer, spiritueller Techniken oder sozialer Unterstützung, die sich dieser »Bindungspathologien« annehmen. Die Sorge um die Subjektivität und die Verankerung der Autonomie nähren die Vorstellung, daß unsere Gesellschaften einem dreifachen Prozeß der Entinstitutionalisierung, der Psychologisierung und der Privatisierung des menschlichen Lebens gegenüberstehen. Diese »-isierung« aller Art sagt uns vor allem eines: Die wahre Gesellschaft existiere in der Vergangenheit. Die Leiden seien angeblich durch jenes Verschwinden der wahren Gesellschaft verursacht, jener Gesellschaft, in der es echte Arbeitsplätze, echte Familien, eine echte Schule und eine echte Politik gab, in der man zwar beherrscht, aber beschützt wurde, in der man zwar neurotisch, aber strukturiert war.
Vom Zeitalter der Disziplin zu dem der Autonomie verschiebt sich der Akzent zwar auf einen »persönlichen« Aspekt, aber das Problem ist, daß der Begriff der Person von der französischen Soziologie im allgemeinen nach einer Gleichung betrachtet wird, in der »persönlich« mit »psychologisch« (die Psychologisierung der sozialen Beziehungen) und »privat« (die Privatisierung des Lebens) gleichgesetzt wird. Die individualistische Soziologie kennzeichnet die Autonomie durch die Begriffsreihe persönlich-psychologisch-privat. Die Selbstverständlichkeit dieser Begriffsreihe gilt es aufzubrechen, um eine bessere Deutung der Gesellschaft des Menschen als Individuum zu geben: Das menschliche Leben ist nicht deshalb weniger sozial, weniger politisch oder weniger institutionell, weil es heute als persönlicher erscheint. Vielmehr ist es auf andere Weise sozial.
Um von einer individualistischen Soziologie zu einer Soziologie des Individualismus überzugehen, werden in diesem Buch zwei Hypothesen vorgeschlagen.
Die erste besagt, daß der Institutionsbegriff in den Sozialwissenschaften an einer Unklarheit leidet, die die Regeln betrifft, die in jeder Gesellschaft, sei sie nun individualistisch oder nicht, den Anteil des Unpersönlichen und des Persönlichen bestimmen: Persönliches und Subjektives gibt es nur, weil es zunächst eine Welt 21von kohärenten, unpersönlichen Bedeutungen gibt, ohne die die Subjektivität schlichtweg nicht artikulierbar wäre. Folglich besteht die Alternative, die ich vorschlage, darin, die zeitgenössischen Entwicklungen nicht in Begriffen der Abschwächung der sozialen Bindung oder des Niedergangs der sozialen Ordnung zu analysieren, sondern in Begriffen von Wandlungen der sozialen Ordnung und des Geistes der Institutionen. Diesen Thesen setze ich die Vorstellung entgegen, daß wir es mit der Verankerung neuer Ideale für das Handeln zu tun haben, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben. Die autonome Handlung ist der am höchsten bewertete Handlungsstil, derjenige, den wir am meisten erwarten und den wir am meisten achten. Er besitzt das größte Ansehen, weil er als der in instrumentaler Hinsicht wirkungsvollste und in symbolischer Hinsicht würdevollste betrachtet wird. Diese Ideale sind in unsere Gebräuche eingeflossen, haben sich in die meisten Alltagssituationen eingegliedert und bilden unsere neue Gewohnheit. Wir haben es mit einem neuen Geist des Handelns zu tun, der auf den höchsten Wert bezogen ist, den heutzutage die Autonomie darstellt.
Die zweite Hypothese schlägt vor, einen Schritt über die Vorstellung hinauszugehen, der zufolge die Gesellschaft als solche psychische Leiden verursacht. Die Behauptung einer Verbindung zwischen seelischen Pathologien und sozialen Werten oder Normen ist kein neues Thema: Es trat am Ende des 19. Jahrhunderts mit der »Nervosität in der Kultur« und der großen Welle der Neurasthenie in Europa und den Vereinigten Staaten in Erscheinung. Aber seit drei oder vier Jahrzehnten hat diese Bewegung eine tiefgreifende Erneuerung in Gang gesetzt: Das Unbehagen ist zunehmend zu einem Merkmal unserer Lebensweisen geworden, und ein massiver Konsens hat sich auf die Kausalbeziehung zwischen seelischer Pathologie und Gesellschaft gegründet. Das psychische Leiden ist zwar vielleicht ein Grund, um auf die eigene Gesundheit zu achten, aber heute stellt es zugleich auch einen Grund dar, auf gestörte soziale Beziehungen einzuwirken. Mit anderen Worten, wir haben eine Veränderung des sozialen Status des psychischen Leidens erlebt. Dieses Leiden hat einen Wert angenommen, der bei weitem über die Psychopathologie hinausgeht – worauf der Begriff des sozialen oder psychosozialen Leidens nachdrücklich hinweist. Daraus ergibt sich das zentrale Axiom der folgenden Analysen: Die Vorstellung, daß die Gesellschaft 22Leiden hervorruft, ist eine gesellschaftliche Idee und folglich ein Gegenstand für die Soziologie. Das bedeutet, daß die seelische Gesundheit nicht bloß als ein Problem der öffentlichen Gesundheit oder als ein wichtiger pathologischer Bereich erörtert werden kann, wie zum Beispiel Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen, denn sie entspricht nicht nur einer präzisen Wirklichkeit, die man im gesellschaftlichen Leben abgrenzen könnte, oder einer Liste von Problemen. Sie gehört zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Haltung, sie kennzeichnet eine bestimmte Atmosphäre unserer Gesellschaften, sie ist ein Geisteszustand.
Meine Alternative besteht in der Entwicklung einer Intuition, die Marcel Mauss in einem berühmten Aufsatz formuliert hat, der 1921 veröffentlicht wurde: »L’expression obligatoire des sentiments« (Der verpflichtende Ausdruck der Gefühle). Dieser Aufsatz geht auf die Rituale der Trauer ein, auf die Tränen, das Wehklagen und den Kummer, der diese Rituale begleitet, aber er scheint mir besonders relevant für das Verständnis dessen zu sein, was sich in unseren Gesellschaften um das psychische Leiden und die seelische Gesundheit herum abspielt.
Eine beachtliche Kategorie mündlicher Ausdrucksformen von Gefühlen und Emotionen hat überhaupt nur kollektiven Charakter [...]. Fügen wir sogleich hinzu, daß dieser kollektive Charakter in keiner Weise der Intensität der Gefühle Abbruch tut, sondern im Gegenteil. [...] Alle diese kollektiven Ausdrucksformen, die gleichzeitig existieren und einen moralischen Wert und eine bindende Kraft im Hinblick auf die Gefühle des Individuums und der Gruppe besitzen, sind mehr als bloße Kundgaben. Sie sind Zeichen, verstandene Ausdrucksformen, mit einem Wort, eine Sprache. Diese Wehklagen sind wie Sätze und Wörter. Man muß sie sagen, aber wenn das so ist, dann deshalb, weil die ganze Gruppe sie versteht. Man tut also mehr, als nur seine Gefühle kundzugeben. Man gibt sie den anderen kund, weil man sie ihnen kundgeben muß. Man gibt sie sich selbst kund, indem man sie gegenüber den anderen und um der anderen willen kundgibt. Es handelt sich wesentlich um eine Symbolik.2
Mauss hat klar herausgestellt, worin der soziale Charakter der Subjektivität, des Affekts, der Emotionen und der Gefühle besteht: Man unterliegt keinem physischen Zwang, sie zum 23Ausdruck zu bringen, wie man zum Beispiel eine Zitrone auspreßt, um ihren Saft zu gewinnen. Es handelt sich nicht um eine Kausalbeziehung zwischen der Trauer und den Gefühlen und ebensowenig um eine soziale Konstruktion, die der Natur durch die Kultur auferlegt wird, sondern eben vielmehr um die Tatsache, daß die Affekte ausgedrückt werden, daß dieser Ausdruck in einem Kontext und nach sozialen Regeln stattfindet und Gestalt annimmt, die ihre Anerkennung und ihren Einsatz für verschiedene Zwecke ermöglichen. Deshalb sind diese Emotionen und Gefühle, wie Mauss hervorhebt, zugleich verpflichtend und willentlich, erwartet und spontan.
Die Hypothese besteht demnach darin, daß die seelische Gesundheit zu der zeitgenössischen Sprache geworden ist, zur verpflichtenden Ausdrucksform nicht nur des Unwohlseins und des Wohlbefindens, sondern auch von Konflikten, von Spannungen oder von Dilemmata eines Soziallebens, das sich an der Autonomie orientiert und das den Individuen bestimmte Weisen des Sprechens und des Handelns vorschreibt. Dem Wandel der Beziehungen zwischen Akteur und Handlung, welche die Autonomie ausmachen, entspricht ein Wandel der Beziehungen zwischen Patient und Erleiden, die den neuen Status des psychischen Leidens charakterisieren. Der Entinstitutionalisierung als Ursache des psychischen Leidens setze ich also die Vorstellung entgegen, daß die seelische Gesundheit ein neues Sprachspiel darstellt, das ein Sprechen und Handeln angesichts der Probleme, Dilemmata und Konflikte ermöglicht, die von der Autonomie hervorgerufen werden. Das Unglück, das Unheil, die Not, die Krankheit sind die Bestandteile dieses Sprachspiels, das darin besteht, persönliches Unheil und gestörte soziale Beziehungen, gemessen am psychischen Leid, zueinander in Beziehung zu setzen und auf diese Weise das individuelle und das gemeinsame Ungemach miteinander zu vereinen. Diese Sprache besitzt ihre Grammatik und ihre Rhetorik, sie legt die Bedeutungen fest und reguliert die Affekte. Sie ermöglicht den sozial geregelten Ausdruck der Klage, denn die Klage ist ein Sprechakt, das heißt, sie richtet sich an Gesprächspartner, die sie verstehen und gegebenenfalls zum Handeln nutzen sollen. Im Unterschied zur herkömmlichen Psychopathologie oder zur klassischen Psychiatrie gehört die seelische Gesundheit somit zu den allgemeinen Phänomenen des Kollektivlebens, die sowohl die soziale Kohäsion als auch die Bedeutung von Ereignissen betrifft, das heißt die soziale Kohärenz.
24Diese neue Situation der Psychopathologie wird durch das Wesen der seelischen Pathologie ermöglicht. Der Bereich der Psychiatrie zeichnet sich in der Tat durch den besonderen Zug aus, daß er moralische und soziale Aspekte hervorhebt, die in anderen pathologischen Bereichen weniger präsent sind. Die Pathologie betrifft das Subjekt in seiner »Subjektivität«, seiner »Persönlichkeit«, seiner »Innerlichkeit«, das heißt gerade in dem, was die demokratischen Gesellschaften als das Wesen des Menschseins postulieren. Die seelischen Pathologien sind solche der Seele in dem Sinne, daß sie die Vorstellungen, die man sich von sich selbst und den anderen macht (Verfolgung, Verachtung), die moralischen Gefühle (Scham, Schuld) und die Emotionen (Traurigkeit, Verzweiflung, Angst) beeinflussen. Es ist also das Beziehungsleben, das von diesen Pathologien betroffen ist.
Das Thema des Unbehagens in der Kultur spielt hier für die Soziologie also nicht die Rolle eines Mittels, um die Gesellschaft zu verstehen, sondern eines Gegenstands, den sie ausarbeiten soll.
Um meine Alternativhypothese abzustützen und dadurch den Strang der Verwirrung zwischen dem psychologischen und dem sozialen Menschen zu entflechten, werde ich mich auf eine Klasse von Pathologien stützen, die das Auftauchen einer neuen Subjektivität, einer neuen Persönlichkeit symbolisiert, welche mit der Autonomie verbunden ist, und die sich gerade im Zentrum dieser Verwirrung befindet.
Im Laufe der 1970er Jahre setzt sich die Vorstellung durch, daß der öffentliche Mensch zugunsten des privaten Menschen im Niedergang begriffen ist. Als Folge davon wird die Gesellschaft vom Ich der Individuen überwältigt, und die sozialen Bindungen verlieren an Kraft. Diese Vorstellung des Niedergangs fand ihre genaue Entsprechung in einer Klasse von Pathologien, die von der Psychoanalyse in Großbritannien und Amerika seit den 1940er Jahren klar herausgestellt wurde: die narzißtischen Pathologien und die Grenzzustände. Sie bilden die Gruppe der Charakterneurosen. Diese Neurosen sind durch eine Auflösung der Persönlichkeit gekennzeichnet, die es in den »klassischen« Neurosen, den sogenannten Übertragungsneurosen (Hysterie, Obsession, Phobie) 25nicht gab, und durch eine Problematik des Verlusts, die die Problematik des Konflikts in den Hintergrund drängt. Einer ihrer wichtigsten Züge ist die Beeinträchtigung der Selbstachtung und der Persönlichkeit.
Ausgehend von dieser Klasse von Pathologien verhalfen zwei amerikanische Soziologen, nämlich Richard Sennett 1974 in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens und vor allem Christopher Lasch 1979 in Das Zeitalter des Narzißmus, der Vorstellung zum Erfolg, daß das Individuum narzißtisch geworden ist. Die Kandidatur dieses psychoanalytischen Begriffs zur Wahl als soziologischer Begriff wurde seither mit schöner Einstimmigkeit akzeptiert: Im Hinblick auf den Individualismus wurde ein breiter moralischer und sozialer Konsens gebildet, um die Behauptung durchzusetzen, daß Ödipus seinen Platz Narziß überlassen hat. Mehr noch, die Art und Weise, wie sich diese beiden Soziologen auf die Psychoanalyse stützen, um Soziologie zu betreiben, wurde zum großen methodologischen Vorbild, wenn man von den Übeln sprechen wollte, die die individualistischen Gesellschaften hervorbringen.3 In Frankreich greifen die Vertreter dieser These auf die Begriffe von Jacques Lacan zurück, wie zum Beispiel auf den der symbolischen Ordnung, der nunmehr in eine Krise geraten sollte, oder den der väterlichen Imago, der sich heute im Niedergang befindet. Aber es ist dasselbe Vorbild, das hier wirksam ist. Mit Narziß haben wir einerseits eine politische und moralische Sichtweise des Individualismus und andererseits eine Methode, um Soziologie und Psychoanalyse miteinander zu kombinieren. Diese Sichtweise und diese Methode sollen im vorliegenden Buch besprochen werden.
Diese Pathologien machen die große zeitgenössische Neurose aus, und zwar nicht nur deshalb, weil sie die meisten Patienten betreffen, sondern auch deshalb, weil sie seit mehreren Jahrzehnten Gegenstand einer fruchtbaren Literatur sind, in der aufgezeigt wird, wie die Psychoanalyse und die Soziologie (oder die Anthropologie) das Problem der Beziehungen zwischen Symptomen, Persönlichkeit und sozialen Normen sowohl stellen als 26auch lösen. Sie verschränken zwei Fragen miteinander, die die klassische Neurose beiläufig stellte: die der Wandlungen des klinischen Bildes und die des sozialen Wandels. Die Psychoanalytiker neigen zu der Vorstellung, daß sie es weniger mit einem klinischen Bild der Unterdrückung und dem Verbot, dem der Übertragungsneurosen, und mehr mit einem klinischen Bild des Ideals, dem der Charakterneurosen, zu tun haben. Die neue Erscheinung wird im allgemeinen als das Ergebnis eines sozialen Wandels gedeutet, den man folgendermaßen charakterisieren kann: Es geht nicht mehr darum, das Individuum von Zwängen zu befreien, die es daran hinderten, es selbst zu werden, sondern es den krankhaften Verführungen der Ideale zu entziehen, die es dazu zwingen, es selbst zu werden. Der Übergang von einer Verhinderung der Selbstwerdung zu ihrer Pflicht, diese Verschiebung habe angeblich eine neue Subjektivität hervorgebracht: die befreite Subjektivität. Wovon? Eben von den Verboten und von den neurotischen Konflikten, die sie erzeugen. Die unterdrückte Subjektivität litt an Übertragungsneurosen, die befreite Subjektivität leide angeblich an den Pathologien des Ideals. In diesen versammeln sich die Spannungen, die von den Werten und Normen der Autonomie ausgehen. Diese Werte und Normen vergrößern die individuelle Verantwortung in einem solchen Maß, daß die Gesellschaft sozusagen ihre Autorität über die Individuen verliert, indem die Zwänge zur Disziplinierung des Verhaltens gelockert werden, die die Individuen traditionellerweise hinnehmen mußten. Die Leiden am Ideal stellen sich also als Preis für diesen Autoritätsverlust, für diesen Niedergang der sozialen Pflicht dar. Sie seien für die Werte der Autonomie angeblich das, was die klassische Neurose für die Werte der Disziplin war.4
Die Pathologien des Ideals würden somit den hervorstechendsten Aspekt dessen ausdrücken, was wir als menschliche Gemeinschaft geworden sind: Sie würden eine besondere Art von Subjektivität bestimmen, einen Persönlichkeitstyp, eine Art von Innerlichkeit, eine gewisse Tonart unserer kollektiven Psychologie. 27Anhand dieses Wahrzeichens würden sich die eigentliche Identität des modernen Subjekts sowie das moralische und soziale Schicksal unserer Gesellschaften vollziehen.
Es gibt eine optimistische Antwort auf die pessimistische These des Unbehagens, die man vor allem in den Gesellschaftstheorien des Selbst oder des Subjekts findet, deren beide Hauptvertreter der britische Soziologe Anthony Giddens und der Franzose Alain Touraine sind: Die Institution spielt zwar nicht mehr ihre traditionelle Rolle, aber das ist auch gut so, denn sie sperrt die Individuen ein, indem sie sie an ihrer Selbstwerdung hindert (das ist eine konservative Vorstellung). Darüber hinaus wäre sie auch überflüssig, weil die Individuen innere Dispositionen haben (ein Ich, ein Selbst etc.), die es ihnen gestatten, sich als Subjekte oder Akteure zu gestalten und intersubjektive Beziehungen mit den anderen zu begründen.
Ob die Diagnose nun pessimistisch oder optimistisch ist, die Art und Weise, wie man sich die Sache vorstellt, ist vollkommen ähnlich, denn die beiden Lager stimmen darin überein, daß wir es mit einer Doppelbewegung zu tun haben, deren beide Teile in gegenläufiger Richtung Hand in Hand gehen: die Entinstitutionalisierung der sozialen Beziehungen in der einen Richtung und ihre Psychologisierung in der anderen.
Damit wäre die Akte also geschlossen.
Das Ziel dieses Buches besteht darin, sie wieder zu öffnen. Zunächst soll beschrieben werden, wie die Ideale einen solchen Status errungen haben und wodurch sie unsere tiefsten individualistischen Überzeugungen nähren. Anschließend soll gezeigt werden, daß sich die Verworrenheit zwischen dem psychologischen und dem sozialen Menschen etwas auflösen läßt.
Der Psychoanalytiker J.-B. Pontalis hatte 1974 bemerkt, daß die Grenzen der Psychoanalyse bei der Erklärung sozialer Tatsachen und seelischer Pathologien, die in ihr Zuständigkeitsgebiet fallen, in ein und demselben Problem wurzelten:
Beide betreffen den rechtmäßigen Gebrauch des Instruments der Psychoanalyse. Wenn man beispielsweise fragt, unter welchen Bedingungen ein Psychoanalytiker dazu berechtigt ist, soziale oder ästhetische Tatsachen zu behandeln – eine Frage, die nicht nur die Psychoanalytiker angeht –, ist man dann wirklich so weit, wie man meint, von der Sorge entfernt, nach genauen Kriterien die Fälle zu bestimmen, die dem Zuständigkeitsbereich einer psychoanalytischen Behandlung unterliegen? In beiden Fällen geht es doch darum, die Grenzen des Feldes der 28Psychoanalyse festzulegen, zu entscheiden, was sich ihm seinem Wesen nach entzieht.5
Pontalis stellt diese Frage den Psychoanalytikern, aber man muß sie genauso den Soziologen und Philosophen stellen, die psychoanalytische Begriffe verwenden, um aus dem klinischen Material soziologische und politische Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Sache geht sie genauso an wie die Kliniker und Fachleute für seelische Gesundheit, die sich immer wieder fragen, welchen Einfluß die Veränderungen in der Kultur und der Gesellschaft auf die Patienten ausüben. Die Frage läßt sich also in beide Richtungen entfalten: Was kann die Soziologie für sich selbst aus dem klinischen Bild gewinnen und unter welchen Bedingungen? Wie beeinflußt der globale soziale und moralische Kontext einer Gesellschaft die Psychopathologie? Das sind die beiden Fragen, auf die dieses Buch eine Antwort zu geben versucht.
Anhand welcher Vorgehensweise?
Das Methodenproblem, das diese Themen aufwerfen, ist ein zweifaches: Erstens beschränken sich die Debatten auf den typisch französischen Rahmen; außerdem bleiben sie abstrakt, insofern sich der Diskurs des Unbehagens auf der Ebene von Kennzeichnungen wie die »Moderne«, die »Postmoderne«, die »Gesellschaft«, der »Individualismus« usw. vollzieht. Diese beiden Probleme sind miteinander verknüpft: Man extrapoliert vom Falle Frankreichs auf die Allgemeinheit. Dadurch verliert man ein absolut entscheidendes Element aus dem Blick: den Kontext, in den sich diese Fragen einfügen und der ihnen ihre konkrete Bedeutung verleiht. Mehr noch, man vergißt auf diese Weise, auch wenn der Individualismus ein umfassendes System von Vorstellungen und Werten ist, daß er doch gemäß den konkreten Gesellschaften verschiedene Gestalten und Inhalte annimmt. Ein Anliegen des 29vergleichenden Ansatzes besteht darin, aus der nationalen Sichtweise dieser Fragen herauszutreten, indem man sie in einen weiteren Rahmen stellt, der am Ende ermöglicht, sie besser einzuordnen und vielleicht über sie hinauszugehen, wobei der Vergleich zwischen zwei konkreten Gesellschaften auf vorteilhafte Weise die Abstraktion ersetzt, in der »der Diskurs der Moderne« besteht.
Der entscheidende Punkt ist, daß der Mensch nicht einfach in Gesellschaft lebt, sondern in einer besonderen Gesellschaft, die ein konkretes und bedeutsames Ganzes bildet, in dessen Schoß er sich sozialisiert, während er sich gleichzeitig personalisiert. Um aus der nationalen Verzerrung und aus der Verzerrung der Abstraktion herauszutreten, verfolge ich daher den vergleichenden Ansatz, der es ermöglicht, eine Wahrheit durch den Kontrast herauszuarbeiten.6 Das Prinzip dieses Ansatzes läßt sich leicht formulieren: Man muß die Unterschiede berücksichtigen. Ich habe mich dafür entschieden, zwei individualistische Gesellschaften miteinander zu vergleichen: die Vereinigten Staaten und Frankreich. Der amerikanische und der französische Individualismus weisen in ihren Konzeptionen von Gleichheit und Freiheit starke Kontraste auf. Was das Problem angeht, das uns hier beschäftigt, so hat sich der Vergleich zwischen diesen beiden Gesellschaften im wesentlichen aufgrund zweier Hauptunterschiede aufgedrängt, die der Leitfaden dieses Buches sind. Der erste liegt in der Stellung und dem Wert, den die beiden Individualismen der Autonomie zuweisen: Der Begriff der Autonomie spaltet die Franzosen, während er die Amerikaner vereint. Wie wir sehen werden, hat dieser Wertunterschied auch mit den Inhalten zu tun, die in den beiden Gesellschaften dem Begriff der Autonomie zugeordnet werden. Der zweite Unterschied besteht darin, daß die Persönlichkeit oder das Selbst (Self) die Stellung einnimmt, die die Institution in Frankreich besitzt. In Amerika ist der Begriff der Persönlichkeit eine Institution, während in Frankreich die Berufung auf die Persönlichkeit als Entinstitutionalisierung erscheint. Anhand des Vergleichs haben wir also Ansatzpunkte, 30um diese beiden Begriffe zu klären, indem wir sie in ihren jeweiligen Kontexten beschreiben.
Die eigentliche Art und Weise, wie ich die Frage formuliert habe – Unbehagen in der Kultur oder Wandel des Geistes der Institutionen? –, ist französisch, denn das Unbehagen ist kein amerikanisches Sprachspiel, wie wir in den folgenden Ausführungen feststellen werden.
Die Hin- und Herbewegung zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich wird durch den Kontrast die konkreten Besonderheiten dieser beiden Individualismen, dieser beiden Weisen der Vergesellschaftung7 einerseits und die Besonderheiten zweier Sprachspiele andererseits hervorzuheben gestatten, die das individuelle Übel mit dem gemeinsamen Übel vereinen. Sie wird die Besonderheiten der beiden psychoanalytischen Traditionen und zweier Weisen der Artikulation von Psychoanalyse und Soziologie erkennen lassen. Aussagekräftige Unterscheidungen werden sich aus der Art und Weise der Auffassung der Beziehungen zwischen den Veränderungen der »Persönlichkeit« und den Veränderungen der Normen und Werte ergeben. Es ist bekannt, daß die französische Psychoanalyse, vor allem durch Lacan, das Prunkstück der amerikanischen Psychoanalyse, die Ich-Psychologie, lebhaft kritisiert hat. Es gibt zwar begriffliche Auseinandersetzungen, die sich auf das eigentliche Wesen der Psychoanalyse beziehen. Aber man hat nicht gesehen, daß es ebenfalls Mißverständnisse gibt, die mit Unterschieden im psychoanalytischen Stil zu tun haben, die wiederum auf Unterschiede zwischen den beiden Weisen der Vergesellschaftung zurückgehen.
Da das klinische Bild der Psychoanalyse eine wichtige Stellung in den Beziehungen zwischen den Symptomen, der Persönlichkeit und der Gesellschaft einnimmt, werde ich die Debatten über den Narzißmus, die Grenzzustände und die Ideale innerhalb der amerikanischen und der französischen Psychoanalyse vorstellen. Die Stellung der Psychoanalyse wird durch die Tatsache bestimmt, daß sie im 20. Jahrhundert die Erkenntnis der menschlichen Seele dadurch völlig veränderte, daß sie sich als höchster Bezugspunkt durchsetzte, indem sie den Geist der Finesse der Literatur und den Geist des Systems der Wissenschaft zur Synthese brachte. Sie hat die Sprache der »leidenschaftlichen Äußerung« 31erfunden, die den Menschen gezeigt hat, daß sie, wie Stanley Cavell schrieb, »Opfer des Ausdrucks sind – in jeder ihrer Handlungen und Gesten lesbar; jedes ihrer Worte und jede ihrer Handlungen ist imstande, ihren Sinn zu verraten«8. W. H. Auden hat das in seinem Gedicht »Zum Andenken an Sigmund Freud« von 1939 folgendermaßen ausgedrückt: »Für uns ist er keine Person mehr/ sondern ein ganzes geistiges Klima.« Die Psychoanalyse, »die das Leid so sehr in die Öffentlichkeit gerückt/ und die Zerbrechlichkeit unseres Bewußtseins der Kritik einer ganzen Epoche ausgesetzt hat«,9 gestaltete das Klima des 20. Jahrhunderts, indem sie die subjektiven Elemente klar herausstellte, auf denen unsere Dilemmata als Individuen gründen.
Ich werde also eine Soziologie der Individualismen skizzieren, indem ich mich auf die verschiedenen Auffassungen der Beziehungen zwischen »Persönlichkeit und Gesellschaft« in den Vereinigten Staaten (erster Teil) und in Frankreich (zweiter Teil) konzentriere. Mein Ziel ist es, den Geist, in dem die beiden Gesellschaften den Individualismus auffassen, und seine Transformationen anhand von Argumenten zu beschreiben, die zum Thema der Beziehungen zwischen individuellem Leiden und sozialen Beziehungen entfaltet werden. Anhand dieses Themas untersuche ich zwei Versionen des Mythos der Schwächung der sozialen Bindung. Das ist der zweite Punkt der hier verwendeten Methode.
Die Schwächung der Bindung einen Mythos zu nennen bedeutet, die Tiefe des Themas auszuloten und seinen Anteil an der Wahrheit herauszuarbeiten, aber nicht, es als falsche Ansicht zu bekämpfen. Deshalb unterscheide ich zwischen zwei Analyseebenen in diesem Gewirr von neuen Leiden und Sittenwandel. Auf der soziologischen Ebene betrachte ich sie als Erzählungen, die 32eine der demokratischen Gesellschaft eigentümliche Sorge inszenieren, wobei der Kontrast zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich dazu dient, ihre Kosmologien deutlich hervorzuheben und zwei Varianten des Individualismus zu skizzieren. Gezeigt werden soll, in welcher Hinsicht diese Erzählungen die Rhetorik der Gruppe, ihre Kosmologie zum Ausdruck bringen.10 In diesem Sinne sind sie keine philosophischen oder soziologischen Irrtümer, sondern Notwendigkeiten unseres Soziallebens. Man muß die Schwächung der Bindung in ihren Beziehungen zum Individualismus genauso betrachten wie das, was Wittgenstein über die »Metaphysik als eine Art von Magie« schreibt: »Worin ich weder der Magie das Wort reden noch mich über sie lustig machen darf. Von der Magie müßte die Tiefe behalten werden.« Wittgenstein fügt hinzu: »Ja, das Ausschalten der Magie hat hier den Charakter der Magie selbst.«11 Wenn man die Schwächung der Bindung als Irrtum betrachtete, würde man sich damit begnügen, eine Gegenmythologie vorzuschlagen. Auf dieser Ebene werde ich mich also nicht für die Wahrheit oder Falschheit dieser Erzählungen interessieren, sondern vielmehr für ihren Erfolg oder Mißerfolg. Dagegen werde ich diese Thesen auf der erkenntnistheoretischen Ebene, das heißt als Analyseinstrumente, kritisieren, indem ich zu zeigen hoffe, daß es sich dabei um Hirngespinste, um individualistische Beschreibungen, und nicht um Beschreibungen des Individualismus handelt, denn sie sind einer Kollektivpsychologie verpflichtet, die sie reproduzieren, anstatt sie fernzuhalten.
In meinem Text gibt es also einen polemischen Aspekt, aber dieser hat mit dem Wesen der untersuchten Probleme zu tun: Es sind Themen, die Haß und Zorn hervorrufen.
Die Kontroversen in der Psychoanalyse, in der Soziologie und zwischen diesen Disziplinen sind keine wissenschaftlichen, das heißt sie sind nicht darauf aus, einen wirklichen Konsens auf der Grundlage von reproduzierbaren und verallgemeinerbaren Experimenten zu erreichen, die Beweise dafür liefern und festlegen, 33ob eine Hypothese wahr oder falsch ist. »Die Einigkeit (oder das Fehlen von Uneinigkeit) darüber, was Wissenschaft, wissenschaftliche Verfahren, wissenschaftliche Evidenz konstituiert«, schreibt Stanley Cavell, »ermöglicht es uns, einzelne Fälle von Uneinigkeit auf bestimmte Weise zu lösen. Wissenschaftler zu sein bedeutet einfach, sich auf diese Lösungsformen zu verpflichten und sie kompetent zu handhaben.«12 Im Hinblick auf die sozialen Gegenstände befinden wir uns nicht in einer solchen Situation, denn wir verfügen über keinerlei Verfahren, um zu einer solchen Einigkeit zu gelangen. Wir befinden uns vielmehr in der Nähe der moralischen Debatten, einer »Art von Uneinigkeit, die Haß und Zorn hervorruft«, um mit Sokrates zu sprechen.13 Cavell beschreibt den Typus von Rationalität, der sich in diesen Debatten manifestiert, folgendermaßen: »Gesetzt aber, es wäre für eine moralische [oder soziologische] Auseinandersetzung einfach charakteristisch, daß die Rationalität der Antagonisten nicht davon abhängt, daß es zu einer Einigung zwischen ihnen kommt, daß es so etwas wie eine rationale Uneinigkeit hinsichtlich einer Konklusion gibt.«14 Die Probleme, die hier untersucht werden, gehören zu diesem Typ: Keine Disziplin und keine Methode können zu einem Konsens wissenschaftlicher Art führen, auch wenn sie sich noch so sehr auf die Wissenschaft berufen. Wir haben es hier mit Problemen zu tun, bei denen es Gründe dafür gibt, sich uneinig zu bleiben. Die Argumente, die von Psychoanalytikern, Soziologen und Philosophen ausgetauscht werden, zielen darauf ab (oder sollten jedenfalls darauf abzielen), die Frage zu beantworten, die Sokrates zu den Themen stellte, die Haß und Zorn erregen: Seine »erste Sorge« war: »Um was für eine Art von Fragen handelt es sich dabei?«15 Das Problem besteht 34darin, nicht beobachtbare Entitäten zu identifizieren. Diese Disziplinen haben es mit kriteriologischen Problemen und nicht mit Beweisproblemen zu tun: Die Argumente sind zu nichts anderem in der Lage, als zu der Ausarbeitung von Kriterien beizutragen, die gestatten, die Art von Wirklichkeit zu erhellen, um die es geht. Mit anderen Worten, diese Disziplinen haben es mit einem Problem zu tun, das Wittgenstein ein grammatisches nennt: »Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik.«16
Die Frage, die sich in Frankreich und in den Vereinigten Staaten anhand der Pathologien des Ideals stellt, ist typischerweise eine Frage, die Haß und Zorn hervorruft. Sie läßt sich folgendermaßen formulieren: Haben wir es mit einer Radikalisierung des Individualismus zu tun, der sich am Ende sowohl gegen die Gesellschaft als auch gegen das Individuum wendet? Diese Pathologien polarisieren den destruktiven Aspekt des Individualismus. Das ist ein Teil der Wahrheit des Mythos. Um diesen Aspekt jedoch richtig zu beschreiben, um ihm gerecht zu werden, muß man die Frage: »Was ist die Ursache für diese Pathologien?« durch eine andere Frage ersetzen: »Was versuchen wir darzustellen?« Meine Antwort ist, daß wir durch die Pathologien des Ideals einer Sorge Gestalt verleihen, die für die demokratische Lebensweise kennzeichnend ist und sehr bald schon von Alexis de Tocqueville identifiziert wurde, nämlich die Sorge um die soziale Auflösung, um den Substanzverlust des Gemeinschaftslebens. Die folgende Arbeit möchte zeigen, daß der Glaube daran, daß der »Aufstieg des Individualismus« gleichbedeutend sei mit einer »Abschwächung der sozialen Bindung«, ein natürlicher Zug der Demokratie ist, der praktischen Notwendigkeiten entspricht, und kein Übel, das sie unweigerlich zerstört. Diese Sorge drückt sich in Frankreich und in den Vereinigten Staaten verschieden aus: Bei uns konzentriert sie sich um den Begriff der Institution, während sie sich in den USA auf das Selbst oder die Persönlichkeit bezieht.
1 Ein zweiter Band wird den Beziehungen zwischen dem »Lebendigen« und dem »Sozialen« gewidmet sein, zwischen der Biologie und der Soziologie, und zwar anhand der Neurowissenschaften und dem Auftreten dessen, was man die Gestalt des Kognitionstherapeuten nennen könnte.
2 M. Mauss [1921], »L’expression obligatoire des sentiments«, in: Œuvres, 3. Bd., Paris 1969, S. 277-278.
3 So würdigte 2002 Marcel Gauchet, einer der wichtigsten französischen Philosophen des Individualismus, Lasch dafür, daß er sehr früh schon »den Erdrutsch« identifiziert hatte, der im »Prozeß der Privatisierung des Lebens« bestehen sollte. M. Gauchet, La Démocratie contre elle-même, Paris 2002, S. VI.
4 Die Ersetzung der Neurose durch die Depression warf dasselbe Problem auf. Siehe A. Ehrenberg, La Fatigue d'être soi. Dépression et société, Paris 1998; dt.: Das erschöpfte Selbst, Frankfurt/M. 2008. Diese Frage wurde im 4. Kapitel zu schnell abgehandelt, ohne daß ich mir jedoch des Ausmaßes bewußt gewesen wäre. Dieser Grund hat mich veranlaßt, sie im Einzelnen wieder aufzunehmen.
5 J.-B. Pontalis, »Bornes ou confins?«, in: »Aux limites de l'analysable«, Nouvelle revue de psychanalyse, Herbst 1974, Nr. 10, S. 5.
6 Die gesamte Lehre von Marcel Mauss wird Louis Dumont später in Homo hierarchicus. Le système des castes et ses implications systematisieren (Paris 1966); dt.: Gesellschaft in Indien, übers. v. M. Venjakob, Wien 1976. Siehe auch: L. Dumont, Essais sur l'individualisme. Une perspective anthropologique sur l'idéologie moderne, Paris 1983; dt.: Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt/New York, 1991.
7 J. Donzelot (unter der Mitarbeit von C. Donzelot und A. Wivekens), Faire société. Les politiques de la ville aux Ètats-Unis et en France, Paris 2003.
8 S. Cavell, »La passion«, in: Quelle philosophie pour le XXIe siècle?, Paris 2001, S. 380. Der englische Originaltitel ist »Passionate Utterance«, »Leidenschaftliche Äußerung«.
9 W. H. Auden, »In Memory of Sigmund Freud«, 1939, in: ders., Another Time, London 1940, entnommen aus: 〈www.poets.org/viewmedia.php/prm-MID/15543〉.
10 V. Descombes, »Note sur la comparaison des cosmologies«, in: Proust. Philosophie du roman, Paris 1987, S. 187-192.
11 Zitiert von R. Rhees, »Note préliminaire« zu L. Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers ›The Golden Bough‹, gefolgt von J. Bouveresse, L'Animal cérémoniel. Wittgenstein et l'anthropologie, Lausanne 1982, S. 12; dt.: »Bemerkungen über Frazers ›The Golden Bough‹«, in: R. Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie, Frankfurt/M. 1975, S. 38.
12 S. Cavell, Les Voix de la raison. Wittgenstein, le scepticisme, la moralité et la tragédie, übers v. S. Laugier und N. Balso, Paris 1996 (Originalausgabe: The Claim of Reason. Wittgenstein, Scepticism, Morality, and Tragedy, Oxford 1979), S. 384; dt.: Der Anspruch der Vernunft: Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, übers. v. Ch. Goldmann, Frankfurt/M. 2006, S. 428.
13 Es handelt sich um den Dialog zwischen Sokrates und Eutyphron über Themen, die Haß und Zorn hervorrufen, und solche, die das nicht tun, zitiert von Cavell, S. 373; dt.: S. 415.
14 S. Cavell, Der Anspruch der Vernunft, a. a. O., S. 417, Hervorhebung des Autors.
15 S. Cavell, Der Anspruch der Vernunft, a. a. O., S. 417 f.
16 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 2004 (Originalausgabe 1953), § 373.
37Die Demokratie gibt dem Volk nicht die gewandteste Regierung, aber sie bringt das zustande, was die geschickteste Regierung nicht beizubringen vermag, sie verbreitet in dem ganzen sozialen Körper eine unruhige Geschäftigkeit, einen Überschuß an Kraft, einen Tatwillen, die ohne jene unmöglich sind und die, wenn die Bedingungen nur einigermaßen günstig sind, Wunder vollbringen können. Da liegen ihre wahren Vorzüge.
Alexis de Tocqueville
Über die Demokratie in Amerika
Band 1, 1835, S.366
Ich bin durch die Le Moyne Street gegangen und habe nach dem Haus gesucht, in dem die Familie Bellow vor einem halben Jahrhundert gewohnt hat, aber ich fand nur ein leeres Grundstück [...]. Ringsum nichts als Leere, keine Spur vom alten Leben. Nichts. Doch vielleicht ist es gut so, daß es nichts Greifbares gibt, an das man sich klammern kann. Das zwingt einen, nach innen zu schauen, nach dem zu suchen, was überdauert. Gibt man Chicago nur eine kleine Chance, macht es einen noch zum Philosophen.
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